Das verschwundene Grab der Manns - Heiner Welter - E-Book

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Heiner Welter

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Beschreibung

"Viccos Gedanken kreisten um die verschiedenen Familientra­gödien, die ihm auch mit dem Abstand von Jahrzehnten weder verständlicher noch erklärbarer geworden waren. Ich schaute zum grau bewölkten Himmel hinauf, aus dem vereinzelte Regentropfen fielen. Vicco schien dies nicht zu berühren, weder schlug er den Kragen hoch, noch machte er Anstalten seinen altmodischen Schirm mit dem gedrechselten Handgriff zu öffnen." Eine unerklärliche Sehnsucht treibt den viel beschäftigten Mediziner Hans Wehner immer wieder in den Park der Toten. Auf den verschlungenen Wegen des Waldfriedhofs begegnet er dem rätselhaften Viktor und seiner Familie. Sie sind auf der Suche nach einem verschwundenen Grab. Sie berichten Hans aus ihrer Zeit, die allem Anschein nach nicht die seine ist, und vom bewegten Leben einer namhaften Künstlerfamilie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Hans sucht immer wieder die Nähe seiner neuen, geheimnisvollen Freunde und gerät immer stärker in den Sog einer faszinierenden Zwischenwelt. Der Chirurg Prof. Dr. Dr. Heiner Welter ist Autor zahlreicher fachmedizinischer Publikationen, Buchbeiträge und Ausbildungsfilme. Neben der Literatur- und Theaterwissenschaft beschäftigt er sich seit vielen ­Jahren mit der Neueren und der Bayerischen Geschichte. Mit diesem Romandebüt veröffentlicht er sein erstes belletristisches Werk.

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Heiner Welter

Das verschwundene

Grab der Manns

Roman

Den großen Frauen meines bescheidenen Lebens:

Barbara, Elfi und Gabi.

In alphabetischer Reihenfolge,

steter Liebe und großer Dankbarkeit.

Heiner Welter,Jahrgang 1948, Studium der Medizin, Literatur- und Theaterwissenschaften 1968 – 75 an der Universität Köln. Nach medizinischem Staatsexamen und Promotion Ausbildung zum Chirurgen an der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU): dort Habilitation 1986, Professur 1994. Seit 1989 als Chirurg in leitenden Positionen tätig. 1993 – 98 Studium der Neueren und Bayerischen Geschichte (W. Ziegler) an der LMU. Verheiratet seit 1977 mit der Literatuwissenschaftlerin, Theologin und Radiologin Dr. Gabriele Conradi. Kinder Julia, Frederic und Benjamin. Lebt in Krailling. Autor zahlreicher medizinische Publikationen, Buchbeiträge und Ausbildungsfilme.

1. Der magische Park

Schon vor Wochen wollte ich eine neue Lesebrille in Auftrag geben. Seither trug ich das Rezept des Augenarztes ständig in meiner Brieftasche und ärgerte mich täglich über die nachlassende Sehkraft. Gleichwohl fehlte mir der Antrieb etwas dagegen zu unternehmen. Heute nun, nachdem mir schon bei der morgendlichen Zeitungslektüre die Arme wiederum nicht lang genug erschienen um scharf lesen zu können, plante ich endlich Abhilfe zu schaffen.

Da ich wieder einmal, was meine Arbeit mir nur selten erlaubte, mittags zu Hause essen wollte, war ich zu ungewohnter Zeit mit meinem altersschwachen Wagen auf der großen Ausfallstraße unterwegs. Das Reklameschild eines Optikers nahm ich erst kurz vor einer großen Kreuzung wahr, nachdem mich eine Ampel zum Halten gezwungen hatte. Eine Parklücke bot sich an. Schnell hatte ich das Fahrzeug abgestellt und hastete über die Straße. Doch auf dem Weg zum Optiker sah ich rechts von mir, wie ein ersehnter Rastplatz, die ersten Bäume des Waldfriedhofs, der dem umliegenden Viertel seinen Namen leiht.

Urplötzlich verspürte ich, ohne dass ich eine plausible Erklärung wusste, einen unausweichlichen Zwang diesen Ort, den ich seit Jahren nicht mehr betreten hatte, sofort aufzusuchen. Lockten mich die zahlreichen Prominenten, die hier ihre Ruhe gefunden hatten: von Stuck, Krone, Junkers, Kortner, Fritz Wunderlich, Michael Ende und fast alle bayerischen Ministerpräsidenten? Jeder Totenkult lag mir fern, aber in mir stiegen Erinnerungen an zahlreiche Beerdigungen auf, die ich gerade hier erlebt hatte, mit einem immer gleichen Herzklopfen, für das ich keine Erklärung fand.

Meine Gedanken wanderten zurück: Allzu gegenwärtig war mir noch jener bitterkalte Januartag des Jahres 1984, an dem der mächtige, alte Chirurg Zinkler in Gegenwart einer großen Zahl seiner Schüler zu Grabe getragen wurde. In neuen, aber zu engen Haferlschuhen fror ich von der ersten bis zur letzten Minute dieser würdevollen Beisetzung, noch schlimmer aber auf dem Rückweg, der sich ungewöhnlich dehnte. Ich verlief mich in diesem Irrgarten, dem aus meiner Sicht hilfreiche gradlinig-geometrische Strukturen fehlen. Noch vor Ende der Kondolenz-Zeremonie war ich aufgebrochen, vielleicht auch um der Schar der meist eitlen Günstlinge Zinklers auszuweichen, die selbst noch dieses Ereignis nutzten, um sich wichtigtuerisch und stets nach allen Seiten lächelnd zu präsentieren.

Der Alte hatte in alttestamentarischer Herrlichkeit über Karrieren entschieden; manchmal war es nur ein Zucken seiner rechten Augenbraue, das sein Urteil widerspiegelte. Beteiligte aber verstanden sofort und beugten sich seinem Willen.

Aber es gab noch einen weiteren Grund früher als üblich aufzubrechen. An diesem Tag stand im Pathologischen Institut eine Sitzung an, die ich keinesfalls versäumen durfte, so oft ich auch von Universitätskarrieren in anderen Instituten oder Kliniken träumte. So beschleunigte ich meine Schritte, erreichte aber erst nach einem ermüdenden Umweg das große Eingangsportal.

So intensiv es mich seinerzeit an meinen Arbeitsplatz zurückgezogen hatte, so mächtig war heute nun meine Sehnsucht, diesen Ort wieder einmal aufzusuchen. Die neue Brille erschien mir plötzlich unwichtig, das hatte Zeit bis zur nächsten Woche.

So erreichte ich das Friedhofsportal, dessen beide Begrenzungen wuchtige Säulen darstellen, auf denen je eine Sphinx thront, jeweils eine der anderen zugewandt. Kaum wollte ich diesem Einlass zur Insel der Toten einen kurzen Blick schenken, scheuchte mich ein rasch einfahrender silbergrauer Leichenwagen von der Einfahrt zurück. Erst recht erschrak ich, als gleich hinter ihm ein zweiter erschien. Ich erinnerte mich an meine frühe Ausbildungszeit in Pathologie und Gerichtsmedizin. Damals nämlich standen sie, noch im bewährten Schwarz, in großer Zahl im Hinterhof des Instituts, wo sich die Gerüche einer benachbarten Essigfabrik mit denen der Sektionssäle mischten.

Oft wurden Opfer von Massenunfällen oder Familientragödien angeliefert oder abgeholt, deren Sterben und Tod am nächsten Tag die Boulevardpresse vermarktete. So erschüttert mich noch heute die Geschichte jener Kollegin, die nach dem Unfalltod des Ehemannes in Depressionen verfiel und schließlich ihre beiden Töchter und dann sich selbst mit Narkotika tötete. Immer noch sehe ich vor mir die sterblichen Überreste der beiden Buben, die in Giesing auf den Schienen stehend einen vorbeirasenden Zug anstarrten, den Gegenzug auf dem eigenen Gleis aber nicht bemerkten. Ein stark verschuldeter Familienvater sah keinen Ausweg mehr und tötete seine sechsköpfige Familie mit einem Schlachtermesser, das er anschließend sich selbst in die Brust rammte.

Vor diesen Familientragödien verblassten die Einzelschicksale, sofern es sich nicht um Prominente wie die verunglückte Frau eines bayerischen Ministerpräsidenten, den Selbstmord der verlassenen Freundin eines bekannten Fernsehmoderators oder die „Zweitsektion“ von Hitlers Stellvertreter handelte. Nicht ohne Vergnügen las ich Jahre später das Buch unseres legendären Rechtsmediziners und Dauer-Dekans „Kalte Chirurgie“. Wie er sah ich damals meine beruflichen Ambitionen im Spannungsfeld zwischen Rechtsmedizin und Chirurgie, zwischen kalter und messerscharfer Chirurgie.

Wie viele waren wohl seit der Eröffnung des Friedhofs im Jahre 1907 über diesen Weg leblos transportiert oder manchmal, dachte ich, einfach entsorgt worden? Letzteres schon deshalb, weil die „Ruhefristen“ immer kürzer wurden. Der gut durchlüftete, lockere Boden des Waldfriedhofs erlaubte ein schnelles Verwesen der Verstorbenen Das hatte mir erst kürzlich sein neuer Direktor erklärt. Zehn Jahre Ruhezeit seien da schon großzügig bemessen, wurde mir versichert.

Unweigerlich musste ich dabei auch an meinen Freund Franz denken, der auf einem harmlosen Bergpfad an der Rotwand gestürzt und zu Tode gekommen war. Leider erfuhr ich zu spät von diesem Unglück und versäumte so seine Beisetzung. Ja, jetzt wurde es mir klarer: Eben dieses Grab musste ich sogleich besuchen, seiner gedenken, der auch meiner Frau Gertraud schon in Studienzeiten nahegestanden war.

Vor dem rechten Pfosten des Portals verdeutlichte mir eine angegraute Ansammlung von Schnee, der mit Splitt, Papierfetzen und Blättern des letzten Herbstes durchsetzt war, dass die Wärme dieses Tages nur ein Vorbote des Frühlings war. Noch war der unfreundliche Winter der Großstadt nicht überwunden.

Nach wenigen Schritten auf dem breiten Hauptweg des Friedhofs blickte ich wie geblendet zum strahlend blauen Himmel hinauf. Das war der von mir so geliebte erste Föhnwind, der nicht selten ein schmerzhaft grelles Licht verbreitet und den Kopf mit eiserner Zwinge umfasst, um so einen dumpf dröhnenden, manchmal auch bohrenden Schmerz auszulösen.

Für mich war das gut erträglich, da der bevorstehende Frühling in mir eine wohltuende Hoffnung auf längere und wärmere Tage und damit auf mehr Lebensfreude weckte. Der Winter blieb für mich immer eine Zeit des Todes, der Frühling brachte mir Hoffnung auf neues Leben. Noch aber waren wir nicht so weit: Zu sehr lag der ausklingende, lange Winter über der noch weitgehend schlafenden Natur. Ein paar Föhntage würden kaum ausreichen, das Eis auf meinen Laufwegen des Kreuzlinger Forstes zu schmelzen. Zwar waren die wenigen Schneeglöckchen, die ich in diesem Jahr schon gesehen hatte, schon verwelkt oder gebrochen, aber sie standen auch an begünstigten, von der Sonne bevorzugt erwärmten Stellen.

In der Tiefe dieses Totenwaldes aber hielten sich herbstliche Feuchtigkeit und winterliche Kälte bisweilen noch bis in den späten Mai. Nicht einmal Gertrauds Onkel Pepperl besuchte dann diesen Ort. Im Sommer aber konnte er halbe Tage hier ausharren und sich mit seinen zweiundachtzig Jahren als Sieger über die Verblichenen feiern. Onkel Pepperl nämlich ging dann von Grab zu Grab, errechnete das Alter der Toten und glich es mit dem eigenen ab. Nicht selten strahlte er dabei über das ganze Gesicht und nickte zustimmend, empfand sich als Triumphator im Wettkampf ums Überleben. Vor Jahren hatte er mich, noch während meiner Besuche in den Semesterferien, einige Male mitgenommen und sprach dann offen mit mir über seine Vorlieben und Obsessionen angesichts des massenhaft dargebotenen Todes. Wir standen uns sehr nahe, sonst hätte er sich wahrscheinlich nicht in dieser Weise geöffnet.

Doch – entgegen allen Unterstellungen – war ich es wirklich nicht gewesen, der im Familienkreise über Onkel Pepperls Friedhofsbesuche geplaudert hatte. Dennoch kamen sie auf und provozierten so manche spöttische Bemerkung. Dies verletzte mich sehr, denn Onkel Pepperl bedeutete mir viel, nicht nur wegen seiner Liebe zum Totenreich. Nun dauerte es wohl Monate, bis der Onkel wieder Vertrauen zu mir aufbaute.

Diese Vorliebe für Friedhofsbesuche teilte in meiner Familie niemand. Man war mehr dem Leben und seinen Festen zugewandt. Dies wurde mir schon in jungen Jahren bewusst, als ich noch in einer rheinischen Kleinstadt zu Hause war und dort im Laufe der Jahre eine Vielzahl von Beerdigungen miterlebte. Weder Mutter noch Großmutter wurde es zu viel, allen diesen Einladungen nachzukommen. Selbst flüchtige Bekannte wollte man mit zu Grabe tragen. Aber es ging dabei – das wurde mir früh bewusst – weniger um das Aussegnungsritual und die eigentliche Bestattung als um die anschließende Leichenfeier. Wie selbstverständlich wurde auch ich, etwa vom sechsten Lebensjahr an, in diese Festivitäten einbezogen. Als etwas anderes habe ich diese Beerdigungen nämlich nie empfunden.

2. Erstes Erleben des Todes

So verstand ich das Sterben immer nur als einen Teil des Lebens, wenn auch den Endteil, das Finale. Für mich war es deshalb auch selbstverständlich, unseren Sohn Benno zur Beerdigung seines Großvaters mitzunehmen. Das aber führte zu einem heftigen Disput mit Gertraud. Zunächst nahm sie meine Entscheidung scheinbar hin, einige Tage später aber folgten Vorhaltungen: Der Sechsjährige sei durch das Verschwinden des Sarges in des Grabes Tiefe psychisch belastet worden. Er schlafe derzeit schlecht. Und dies sei natürlich meine Schuld, die des gefühllosen Vaters. Es dauerte Wochen, bis Gertraud von dem Thema abließ. Benno erschien mir hingegen völlig unauffällig, abgesehen von der Tatsache, dass er eines Tages unserem sanftmütigen Hund Julius ins rechte Ohr biss.

Nach dieser düsteren Erfahrung von Benno, die sich am Wohnort des Großvaters im Rheinland abgespielt hatte, schilderte ich ihm häufig meine einprägsamen Erlebnisse in dieser Region. Zu gerne erinnerte ich mich an meine Kindheit dort und dabei besonders an die große Gaststätte meines Onkels Hermann Ohnesorge in Kölns Innenstadt. Abend für Abend stellte er den umschwärmten Mittelpunkt seiner illustren Gäste dar. Dort sang ich schon als Achtjähriger mit Stammgästen wie Werner Höfer oder Hennes Weisweiler Karnevalslieder, und das nicht nur am Rosenmontag, wenn nämlich regelmäßig der Karnevalszug an unserm Hause vorbeizog. Wir konnten dann wählen, ob wir vom sechsten Stockwerk aus den besseren Überblick genießen oder aber im Erdgeschoss Bonbons und Pralinen fangen wollten. Die Erwachsenen feierten in geschlossener Gesellschaft ganze Tage hindurch, ich selbst suchte mir immer mal wieder eine ruhige Ecke zum kurzen Zwischenschlaf. Aufgewacht erhielt ich neben alkoholfreien Getränken nicht selten meine Lieblingsspeise, ein übergroßes Eisbein mit Sauerkraut und Kartoffelpüree. Die Erwachsenen aber sangen, während das Bier bis zum Aschermittwoch in Strömen floss. An diesem Tag tauchte dann auch mein Großvater Friedrich wieder auf, der meist zwischenzeitlich den Anschluss an seine Familie verloren hatte. Das geschah zumindest alle zwei bis drei Jahre in der Karnevalszeit.

Einige Jahre später – die Großeltern waren allesamt verstorben und das Studium hatte mich nach einer freudlosen Gymnasialzeit in einer Klosterschule des kargen Westerwaldes ins Rheinland zurückgeführt – verbrachte ich in Onkel Hermanns Gaststätte einen zunächst recht lustigen Abend. Plötzlich jedoch sprach der Onkel von seinem bevorstehenden Ende. Es sei genug, er habe von diesem ganzen Leben die Nase voll, nun sei wirklich bald Schluss. Aber man solle bei seiner Beerdigung nur recht ausgelassen feiern, viel essen und trinken und keinen noch so harten Witz auslassen.

So hatte ich den lebenslustigen, wohlbeleibten Onkel bisher noch nie erlebt. Auch die Freunde am Stammtisch schüttelten verständnislos den Kopf und schoben ihre Biergläser zur Tischmitte, gleichsam als wollten sie den Umtrunk beenden. Nein, das durfte sein Ernst nicht sein, so könne er weder denken noch handeln.

Das konnte doch nur eine Stimmungsschwankung sein. Oder wollte er sich uns einmal ganz anders denn als Unterhalter präsentieren? War es vielleicht eine Altersdepression oder wollte er uns nur erschrecken? Den Anwesenden glückte es jedoch schnell, ihn wieder auf andere Gedanken zu bringen: „Hermann, die nächste Runde! An deinem Achtzigsten laden wir das ganze Freudenhaus hierhin ein. Dann lassen wir es hier so richtig krachen!“

„Na, ob ich das wohl noch erlebe? Gut, aber was soll’s! Heute trinke ich euch alle erst einmal unter den Tisch!“ Onkel Hermann lachte wieder so, wie wir ihn alle kannten. Bereits eine Stunde später verließ ich die Runde, da eine Anatomie-Prüfung bevorstand und meine Wissensdefizite mir nicht verborgen geblieben waren. Onkel Hermann verabschiedete mich ausgelassen und prophezeite mir eine große Zukunft als „Damenschneider“. Verlegen lächelnd eilte ich nach Hause, um mein lückenhaftes Anatomiewissen aufzubessern.

Etwa sechs Wochen später, an diesen letzten Abend in seiner Gaststätte erinnerte ich mich nur noch unscharf, berichtete mir meine Mutter von Onkel Hermanns Tod. Es hatten sich wirtschaftliche Schwierigkeiten entwickelt, der Pachtvertrag seines Lokals sollte nicht mehr verlängert werden. In dieser Situation hatte er sich erhängt. Im Wohnraum im sechsten Stock über seiner Gaststätte, von dessen Balkon aus wir Jahr für Jahr den Rosenmontagszug beobachtet hatten, hing er in seinen letzten Minuten an einer robusten Deckenlampe. Aber, so betonte meine Mutter eindringlich, ich solle keinesfalls über diesen Selbstmord sprechen, mit niemandem natürlich ... Dies gab sie mir mit auf den Weg. Erst bei Onkel Hermanns Beerdigung erfuhr ich, dass sein Schwager Andreas Jahre zuvor in Panik vor einer eingebildeten Krebserkrankung denselben, vermeintlich unausweichlichen Ausweg gewählt hatte.

Aber auch bei diesem, wie bei jedem früheren, Leichenschmaus sprach man nur kurz über den Tod und frühere Todesfälle. Sehr schnell fand man ins pralle rheinische Leben zurück, schrie nach Bier und Braten, verriet, welcher brave Ehemann aus dem näheren Biotop derzeit welche Nachbarin vögele, und sang bald darauf wieder die Lieblingshymne der Kegelbrüder: „Nach der Tagesschau, nach der Tagesschau, geht es wieder auf die Frau ...“

Wieder Jahre später, wie ich hatten mehrere jüngere Mitglieder der weiteren Familie der Sehnsucht nach dem Süden nachgegeben und sich dort niedergelassen, empfand ich Beisetzungen im bayerischen Oberland ähnlich lebensfroh: Frisches, kühles Weißbier, dampfende Knödel und saftiger Schweinsbraten ließen kaum länger andauernde Trauer zu. Gerade auf dem Lande werden Leben und Sterben seit jeher als zusammengehörig gesehen und als Alltäglichkeit erlebt, obwohl der Kranke auch hier immer häufiger zum Sterben ins Krankenhaus verbannt wird. Jedenfalls ließ man nach der Beisetzung sehr schnell den verstorbenen Sepp oder Toni hochleben und prostete sich permanent zu, bis schließlich eine bleierne Biermüdigkeit um sich griff. So war ich bei einem Anlass dieser Art schließlich hinter einer Gartenbank eingeschlafen, bevor mich Gertraud übel gestimmt weckte und zum Aufbruch mahnte.

3. Letzte Ruhe im Waldfriedhof

Noch bei diesen Gedanken verweilend schreckte ich hoch, da nicht weit von mir eine unangenehm helle, grell klingende Glocke die Friedhofsruhe zerschnitt. Ja, das genau war jene Glocke, die mir schon bei Zinklers Beisetzung so störend aufgefallen war. Selbst die wie immer konspirativ beieinanderstehenden Schüler fuhren damals zusammen und bemühten sich, schnell die Aussegnungshalle zu erreichen.

Worüber mochten sie gesprochen haben? Wer von den eigenen Schülern den nächsten vakanten Lehrstuhl erhalten solle oder etwa über die derzeit besten Anlagemöglichkeiten für ihr Geld? Wo sollte es hingebracht werden: in die Schweiz, nach Liechtenstein, San Marino oder Übersee?

Oder hatten sie etwa über ihre Freundinnen gesprochen, über deren Vorlieben und Besonderheiten? Zutrauen konnte man ihnen solche Gespräche auch unter den Arkaden der Aussegnungshalle.

Die Zinkler’sche Klinik erfolgreich zu durchlaufen, galt als harte Männerschule. Ordinarius konnte nur werden, so lautete jedenfalls das Gerücht, wer innerhalb der Klinikmauern mindestens ein uneheliches Kind gezeugt hatte. Entsprechend mühte man sich.

Nun aber, nach dem Ruf der Glocke, versammelten sie sich schnell vor dem Sarg des Verstorbenen, den ich noch unmittelbar nach seinem Tode in einem Ambulanzraum seiner alten Klinik aufgebahrt gesehen hatte. Er war nämlich nicht weit von seiner alten Arbeitsstätte, mitten auf dem Sendlinger-Tor-Platz, tot zusammengebrochen. Die Notärztin versuchte vergeblich ihn zu reanimieren: Sie wusste nicht um seine Grunderkrankung, die eine erfolgreiche Wiederbelebung ausschloss. Schwestern unserer Ambulanz hatten ihm den damals üblichen Kopfverband angelegt, der das Herunterfallen des Unterkiefers verhindert. So wirkte er auch im Tode würdevoll, ganz so wie wir ihn gekannt hatten.

Orgelmusik – Reden hatte sich der Verstorbene verbeten – begleitete die kurze Trauerfeier, bevor der Sarg auf einen Wagen gestellt und nach draußen auf den hart gefrorenen und mit Schnee bedeckten Weg gezogen wurde. Nun sprach niemand mehr, während unter den festen Winterschuhen der eisige Untergrund knirschte. Jeder schien in Gedanken fern vom eigentlichen Geschehen zu sein. Mir selbst ging es nicht anders; erst als der lange Trauerzug anhielt, blickte ich mich um. Von früheren Besuchen her erkannte ich, dass wir uns in der Nähe der Gräber zweier Literaten, denen ich mich lange schon verbunden fühlte, befinden mussten.

In diesem Gräberfeld war 1920 auch Lena Christ beigesetzt worden, die, nachdem sie wegen des Verkaufs eines gefälschten Bildes vor Gericht geladen worden war, hier im Waldfriedhof am 31.06.1920 – einem Tag, den es nie gegeben hatte – mit Gift vor ihrem zukünftigen Grab, in dem schon der Stiefvater ruhte, Selbstmord begangen hatte.

Nicht weit entfernt befand sich auch das Grab Frank Wedekinds, der 1918 an den Folgen einer Blinddarmoperation gestorben war. In früheren Jahren war ich immer wieder tief beeindruckt vor dieser Grabsäule gestanden, auf der ein Pegasus siegreich über den Tod zu reiten schien.

Diesen Gedanken hing ich noch nach, als mir plötzlich klar wurde: Ich hatte die Aussegnungshalle nun schon mindestens zweimal umrundet. Weshalb war ich nicht weiter in den Waldfriedhof hineingegangen? War ich in Trance? Ja, schoss es mir plötzlich durch den Kopf, auch Baron von Schrenck-Notzing war 1929 hier begraben worden, von dessen Hypnosesitzungen auch Thomas Mann so tief beeindruckt war und die man in erhaltenen Kurzfilmen sehen kann.

Die Bilder vom Januar 1984 ließen sich jedoch einfach nicht aus meinem Gehirn verdrängen. Immer wieder sah ich die Karrieristen vor mir, die mein Freund Franz-Xaver Stutz zu vorgerückter Stunde als Olympioniken der Wissenschaft zu bezeichnen pflegte. Auch er glaubte lange, nur im ärztlichen Beruf volle Erfüllung in medizinischen und wissenschaftlichen Belangen zu finden. Persönlicher Ehrgeiz sollte ebenso befriedigt werden wie das Bedürfnis zu helfen und zu heilen. Nun diskutierten wir oft die Frage, ob wir nicht unser Leben mit übergroßen und falschen Zielen überlastet hätten. Waren nicht diese Fachkollegen klüger aufgestellt, die sich bedingungslos einem mächtigen Chef unterworfen hatten und ihm in Kadavergehorsam gefolgt waren? Franz-Xaver sprach immer wieder von der Unmenschlichkeit der Fachidioten, die unsere Universitäten in großer Zahl bevölkern. War es aber nicht doch vernünftiger sich anzupassen und ganz nach jenem Bild zu leben, das die namhaften Chefs vorgaben? Wie war das noch mit dem Eid des Hippokrates? Mussten wir nicht unsere Lehrer verehren, von ihnen lernen und ihrem Vorbild folgen?

Auch mich hatten die großen Entwicklungen der Wissenschaften, besonders der Chirurgie und Transplantationsmedizin, in der Zeit um 1967 begeistert.

Aber, da ich mich allmählich zwischen Klinik und Wissenschaft eingepfercht fühlte, begab ich mich seit Jahren zunehmend auf Distanz zur gelebten Universitätsmedizin. Die offensichtliche Skrupellosigkeit gegenüber Patienten und Kollegen, verbunden mit einer grenzenlosen Geld- und Machtgier der leitenden Ärzte, nahmen mir die Ideale und Illusionen der frühen Assistentenjahre. War es bis vor wenigen Jahren noch ausschließlich Fachliteratur gewesen, so las ich inzwischen – sieht man einmal von wenigen Ausnahmen ab – nur noch Belletristisches.

Ausgangspunkt meiner persönlichen Literatur-Exkursionen war dabei Thomas Manns Novelle „Tonio Kröger“, die ich während der Pubertät mit Begeisterung gelesen hatte, da ich in ihr die Einsamkeit und Verlassenheit erlebte, die auch ich in dieser Lebenssituation empfand. So sehe ich in mir einen Hans Hansen, der aber anders lebt und reagiert, als sich der Dichter diese Person vorstellte. Der pseudointellektuelle Tonio bleibt mir dagegen völlig fremd. Mit den aufgezeigten Extremen kann ich wenig anfangen. Existieren denn überhaupt solche Gegenpole und Vereinfachungen menschlicher Typen in einer Zeit umfassender genetischer Vermischung in Europa? Von Globalisierung möchte ich gar nicht erst sprechen. Wo finden wir wirklich diese einseitigen Charaktere, dazu noch geklont zu einem Äußeren, damit es dem Bild des Dichters entspricht?

Ist denn die Vereinfachung tatsächlich, wie oft behauptet wird, ein Beweis für die literarische Größe des Werkes? Muss der blauäugige Blonde heute noch beneidet werden, findet er nicht eher Spott als Bewunderung, während Künstler und Wissenschaftler hoch angesehen sind, der Blonde aber eher dem Umfeld ungesunder körperlicher Dressur und sportlicher Extremleistungen zugeordnet wird? Sollte dies vielleicht, wie Freund Franz-Xaver es immer wieder betonte, nicht auch für die Medizin gelten?

So kamen mir die Prachtathleten der angewandten Medizin in den Sinn, die ich in den letzten fünf Jahren, seitdem ich zunächst nebenberuflich für das Beratungsbüro meines Onkels Franz-Josef Herrligkommer tätig war, kennenlernen konnte. Auch diese „blonden“ Mediziner sah ich eher mit Distanz, konnte keine besonderen Sympathien für sie entwickeln, aber viel weniger noch Neid auf das von ihnen Erreichte.

Aus dieser Situation heraus wurde mir schnell deutlich, wie schwer es ist, gewünschtem Erscheinungsbild und fachlicher Kompetenz gerecht zu werden, beides miteinander zu verbinden. Der Arzt, den wir als Headhunter für eine leitende Position vorschlagen sollen, muss schließlich einiges bieten: fachliche, wirtschaftliche und soziale Kompetenz, Einfühlungsvermögen, Führungsqualitäten, aber auch ein ansprechendes und sympathisches Äußeres. Eine manchmal unlösbare Aufgabe, der man nur durch Kompromisse gerecht werden kann.

Stand ich vor wenigen Jahren auf der Suche nach einer leitenden Stellung selbst noch vor Personalberatern, so bin ich heute nicht mehr der Betroffene, finde mich aber in einer vergleichbaren Problematik wieder, nur auf der anderen Seite des Tisches. Nicht immer ging es bei unserer Arbeit um derartige Personalentscheidungen. Nicht selten galt es innerklinische Organisationsformen zu durchleuchten und zu ändern, dann wieder einzelne Klinik-Leistungen an externe Einrichtungen zu übertragen. Wahrscheinlich wäre mir eine derartige Umstellung in Thematik und Arbeitsweise nicht gelungen, wenn ich nicht in Onkel Franz-Josef, der im Freundeskreis mit der ungewohnten Abkürzung Frajo angesprochen wurde, einen humorvollen und jederzeit hilfsbereiten Vorgesetzten gefunden hätte, der aus jeder Lebenssituation ein positives Ergebnis zu gestalten wusste.

So lernte auch ich bald meinen persönlichen Weg vom Universitätsassistenten zum Berater und Headhunter als logische und sinnvolle persönliche Entwicklung zu erkennen und zu bejahen. Inzwischen fühle ich mich gefragt und genieße auch ein wenig die Macht, die mir plötzlich zugefallen ist.

Und wieder läutete die schrille Glocke der Aussegnungshalle. Vor dem Eingang formierte sich ein Trauerzug, der aus nur drei Personen bestand. Der einfache, schmucklose Kiefernsarg war schnell auf ein Gefährt verladen, der dann von zwei Totengräbern in großer Eile davongezogen wurde. Kein Blumenschmuck, die Trauergäste blickten wie peinlich berührt in verschiedene Richtungen beziehungsweise auf den Boden. Eine solche Situation erschüttert mich grundsätzlich mehr als der Anblick eines Toten, den ich ja oft genug von Berufs wegen erlebt hatte. Hier wird mangelnde Betroffenheit in demonstrativer Offenheit an den Tag gelegt.

Ganz anders war es bei der Beisetzung des Anfang der 1990er Jahre verstorbenen früheren bayerischen Ministerpräsidenten gewesen. Da dieser in meiner Nachbarschaft lebte, hatte ich ihn in den letzten Jahren häufiger gesehen und gesprochen. Er verkörperte für uns alle den gütigen Landesvater, den wir gern noch länger als Ministerpräsidenten erlebt hätten. Unvergessen blieb mir die Anekdote, die man mit seinem Ausscheiden aus dem höchsten Amt verband.

Sein Parteivorsitzender wollte ihn nach sechzehn Jahren als Ministerpräsident beerben. Daraufhin antwortete er diesem: „Mich kann nur ein Höherer abberufen!“ und zeigte zum Himmel hinauf. Daraufhin entgegnete der mächtige Parteivorsitzende: „Und ich bin der Höhere!“ So blieb er für mich weiter der wirkliche Landesvater, bis zu seinem Tode, bis zu seiner Beisetzung, an der ich teilnehmen wollte, wenige Tage nachdem er an einem Heiligabend im Kreise seiner Familie verstorben war.

Bei dieser Beisetzung nun gab es keinen Zutritt zum Inneren der Aussegnungshalle, in der sich Familie, politische Prominenz und geladene Gäste versammelt hatten. Für mich bestand nicht einmal die Möglichkeit, auch nur in die Nähe dieses Gebäudes zu gelangen. Der Weg zum Grab schließlich war sehr kurz, da sich das Ehrengrab der Stadt München am Hauptweg nahe dem Eingang des Waldfriedhofs befindet. Der Sarg und die unmittelbar folgenden Personen, darunter natürlich auch der amtierende Ministerpräsident, wurden durch Sicherheitsbeamte abgeschirmt.

Dieser Polizeischutz für einen Sarg erinnerte mich an eine Erzählung Konstantins von Bayern, der die Beerdigung seiner Großmutter kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs – es war 1946 – beschrieb. Aus Angst vor einer Entführung des Sarges der Infantin durch spanische Monarchisten, die Monate zuvor aus dem Konzentrationslager Dachau entlassen worden waren, wurde Polizeischutz erforderlich. Nur führte dieser Trauerzug nicht über einen Waldweg, sondern durch eine in Trümmern liegende Münchner Innenstadt zur ebenfalls stark beschädigten Michaelskirche, wo der Zugang zur Fürstengruft erst durch ein Räumkommando vom Schutt der eingestürzten Kirchendecke befreit werden musste.

4. Eine ungewöhnliche Begegnung

Diese Gedanken an Vergangenes wollte ich nun endlich abschütteln und verspürte dabei eine feste Entschlossenheit, von dieser Aussegnungshalle weg tiefer in den Friedhof hineinzugehen. Wollte ich das Grab meines Freundes Franz auf kurzem Wege erreichen, durfte ich mich jedoch nicht zu weit von der Friedhofsmauer entfernen und musste dann deren Verlauf folgend mich nach etwa einhundert Metern nach links wenden. Unterwegs könnte ich noch den kleinen Kuppelbau des Mausoleums der Zirkusfamilie Krone besuchen. Ein reizvolles Gebäude, in dessen Innerem ein Marmorelefant über die Ruhe der Toten zu wachen scheint.

Um diese besondere Grabstelle aber zu erreichen, musste ich den breiten Weg verlassen, der von der Aussegnungshalle nach Westen und damit auch zum Grab des Freundes führt. Nicht weit von der Friedhofsmauer kam ich so zum Grabfeld 12. Ich atmete bewusst tief ein und aus, da mir schlagartig die Luft um mich herum – allen physikalischen Gesetzen zum Trotz – gleichermaßen dünn wie ungewöhnlich warm erschien. Sekunden später sah ich plötzlich zwischen mir und dem Mausoleum einen mittelgroßen Mann, bekleidet mit einem braunen, abgewetzten Ledermantel. Sein Gesicht war von mir abgewendet, der Blick zu Boden gesenkt, während er mit seiner rechten Fußspitze einen Kreis in das Kieselsteinbett des Weges malte.

Als ich dem Fremden so nahe war, dass wir uns die Hände hätten reichen können, drehte er sich schnell zu mir um und überraschte mich mit einem strahlenden Lächeln. Neben seiner hohen Stirn fielen mir sogleich zwei parallel zueinander verlaufende Narben im linken Wangenbereich auf, die wohl aus seiner Zeit bei einer schlagenden Verbindung herrührten.

In seinem offenen und hellen Gesicht leuchteten klare Augen, deren Farbe ich zunächst nicht sicher ausmachen konnte. Seine Lippen bewegten sich kaum, als er mich ansprach: „Ich sah Sie schon von Ferne und hoffte, Sie würden Ihren Weg zu mir einschlagen und diesen Pfad hier beschreiten, der mir immer vertraut, lieb und gleichfalls in Schmerz verbunden bleiben wird ...“

Suchend streiften seine Augen über ein aufgelassenes Areal zwischen Weg und Friedhofsmauer, das allenfalls Platz für drei Gräber bieten würde.

„Wissen Sie, meine Sehkraft hat in den letzten Jahren deutlich nachgelassen. So verirre ich mich selbst dort, wo ich mich ein Leben lang wie selbstverständlich bewegt habe. Ich sehe ihn einfach nicht mehr ... finde ihn nicht mehr, diesen wunderschönen Grabstein mit den Mohnblumen.“

„Sie suchen ein Grab?“, fragte ich leiser und vorsichtiger, als es sonst im Umgang mit Fremden für mich typisch war.

„Ja. Ja. Ein ganz besonderes ...“ Sein Gesicht hatte sich deutlich verändert. Der sinnliche Mund wandelte sich zu einem schmalen Strich. Die buschigen Augenbrauen verfinsterten die tief liegenden Augenhöhlen. Die beiden Schmisse der linken Wangenregion schienen deutlicher hervorzutreten.

„Gerne helfe ich Ihnen bei der Suche, obwohl ich mich gerade hier nicht so sehr gut auskenne.“ Hilfsbereitschaft war mir von meiner Mutter bereits seit jüngsten Kindertagen als wichtigste Tugend anerzogen worden. So wunderte es mich überhaupt nicht, dass plötzlich das Bild meiner Mutter vor mir stand und ich ihre Stimme deutlich hörte: „Hans, hilf ihm nur. Ihm geht es wie dir, auch er ist ein Suchender, hilf nur! Etwas begann sich in mir zu sträuben, denn ich hatte mich immer wieder gegen das gewehrt, was ich im Handeln der Mutter als Helfer- Syndrom empfunden und deshalb aus tiefer Seele abgelehnt hatte.

Ich erschrak. Wie lange hatte ich nicht mehr an sie gedacht? Und weshalb heute diese Erinnerung, diese Vision jener Frau, die immer versucht hatte, Grundtugenden, wie sie es nannte, in mir anzulegen? Die beruflichen Belastungen der letzten Wochen hatten mir keine Zeit gelassen, über derartig scheinbar Fernes aus meiner Vergangenheit nachzudenken.

Mein Gegenüber schien ähnlich verwirrt, er erwiderte stockend: „Gerne, gerne, aber eigentlich müsste ich mich hier selbst gut auskennen. Wie oft weilte ich schon hier, hier am Grabe der Mutter und meiner jüngsten Schwester ...“

„Und Ihr Vater?“, entfuhr es mir gleichermaßen spontan wie unsicher. Es war nie meine Art, so direkt ausforschend fremden Menschen zu begegnen. Weshalb dann jetzt diese Neugierde gegenüber einem Fremden, der mir zwar auf den ersten Blick sympathisch, jedoch auch ungewöhnlich fern erschien? Ja, fern, obwohl er vorgab, Konkretes in der Nähe zu suchen, blickte er, nachdem er gesprochen hatte, regungslos in die Ferne, ohne dabei etwas zu fixieren.

Ich versuchte, meine taktlose Frage zu überspielen und fragte: „Wird Ihnen vielleicht schlecht? Sie sind in der letzten Minute recht blass geworden. Kann ich Ihnen helfen? Vielleicht etwas zu trinken besorgen?“

Tatsächlich erschien mir der Fremde von einer wächsernen Blässe, die ich sonst nur von Leichen kannte. Wie oft hatten sie scheinbar schlafend und entspannt auf unseren Sektionstischen gelegen, selbst wenn ihre letzte Stunde ihnen gewalttätig geschlagen hatte. Dieser Gedanke verwirrte mich noch mehr.

Ich wartete. Erst nachdem mehr als zwei Minuten vergangen waren und mein Gegenüber immer noch steinern in die Ferne blickte, fixierte ich ihn mit zunehmender Dringlichkeit.

Meine Augen fanden seinen Blick nicht. Dennoch schien er allmählich in die Gegenwart zurückzukehren, reckte seinen Hals weit aus dem Kragen seines Ledermantels, betrachtete seine großen, aber dennoch feingliedrig wirkenden Hände und schaute mich plötzlich belustigt und augenzwinkernd an: „Junger Mann, bedenken Sie nur, ich bin nicht mehr der Jüngste. Erreichen Sie erst einmal mein Alter und bleiben Sie dabei geistig klar und aktiv! Denken Sie nur, ich habe an zwei Weltkriegen teilgenommen, na gut ..., mehr oder weniger aktiv. Aber ich habe jene Zeiten durchlebt, gehungert und organisiert ... na, Sie wissen schon. Krankheiten haben meine Existenz und die meiner Lieben gefährdet, Familientragödien kamen hinzu. Und nun, nach zwei Weltkriegen, die ich erleben musste, frage ich Sie, kann sich Deutschland noch einmal erholen?“

„Nach zwei Weltkriegen, die Sie erlebten ...?“, entfuhr es mir. Ich stockte und sprach in meiner Verunsicherung ungewohnt langsam: „Ich nehme an, während der Nachkriegszeit des Ersten Weltkrieges könnten Sie schon gelebt haben, aber kann man, ich denke mal, kann man als Kleinkind, kann man da wirklich ...?“ Ich geriet nun sogar in ein törichtes Stottern. „... kann man wirklich als Kleinkind dies alles erleben und verarbeiten? Außerdem, wenn ich Sie so betrachte, nicht einmal so alt hätte ich Sie geschätzt, dass Sie Weltwirtschaftskrise und Inflation hätten erleben können.“

„Wie alt bin ich denn?“, entgegnete mir der Fremde herausfordernd. Tatsächlich traf er mich mit der unerwarteten und unangenehmen Frage. Leider war es mir gelungen, andere Menschen in ihrem Alter zutreffend einzuordnen. So waren mir etwa bei der Einschätzung des Alters von Patienten immer wieder peinliche Fehler unterlaufen. Fehlte mir Menschenkenntnis, beobachtete ich meine Mitmenschen zu ungenau? War dies eine Kontaktstörung und vielleicht auch meine Triebfeder aus der Inneren Medizin in Rechtsmedizin und Pathologie zu wechseln?

Doch bevor ich mich an einer Schätzung versuchen konnte, sprach der Fremde schon weiter: „Sie brauchen kein Misstrauen zu hegen, ich verstelle mich nicht ...“

Mich überlief ein kalter Schauer. Genau diese Frage hatte ich mir zuvor selbst gestellt. Wie konnte der Fremde meine Gedanken erahnen? Sollte es wirklich etwas wie Telepathie geben?

„Machen Sie sich keine unnötigen Gedanken, ich würde mich niemals über eine Fehleinschätzung Ihrerseits lustig machen. Ich glaube nur, dass Sie mich und meine Zeit a priori nicht richtig einschätzen können. Was wissen Sie denn vom Ersten Weltkrieg? Haben Sie vielleicht bei der Bayerischen Kavallerie gedient oder ich? Lange vor den Materialschlachten hatte ich Ordnung und Drill wie selbstverständlich in mich aufgesogen, nur Gott und dem Gewissen verantwortlich!“

Mir wurde es zunehmend unwohl. Unruhe beschlich mich, da ich nicht so recht wusste, ob ich hier einem geistig Verwirrten oder aber einem Menschen gegenüberstand, der seinen Spaß mit mir trieb. So versuchte ich, möglichst emotionslos mehr über den Unbekannten zu erfahren: „Sind Sie so sicher die Zeit des Ersten Weltkriegs genau zu kennen? Könnte es nicht so sein, dass Sie sich nur zu intensiv mit der Geschichte dieser Jahre beschäftigt haben und nun mehr in dieser Epoche als in unserer leben? Aber, nun sagen Sie mir doch bitte, was Sie wirklich an diesem schönen Ort der Ruhe und Einsamkeit suchen.“

Der Blick des Fremden schweifte über die Gräber der nächsten Umgebung, seine Augen wirkten unstet und flackernd, bevor sie den kleinen Kuppelbau in etwa fünfzig Metern Entfernung fixierten.

„Dies dort ist das Grabmal – vielleicht sollte man es auch eher ein Mausoleum nennen – der Familie Krone. Sie kennen doch diese Zirkusfamilie, nicht wahr?“

Der kleine, aber eindrucksvolle Rundbau hatte mich schon vor Jahren fasziniert. Beim ersten Besuch glaubte ich vor einer schlichten Kapelle zu stehen. Doch der Name über dem Eingang, den man leicht übersehen konnte, da das Innere alle Aufmerksamkeit auf sich zog, verdeutlichte die Natur des Gebäudes: eine Familiengruft. Im Innenraum überraschte den Unvoreingenommenen dieser liegende Elefant aus Marmor: Assam, Carl Krones Lieblingselefant. Die Bronzetafeln an der mit erlesenem Stein getäfelten Innenwand wurden erst dann erkennbar, wenn sich die Augen an die Dunkelheit des Raumes gewöhnt hatten. Auf ihnen waren die Porträts der prominenten Verstorbenen scherenschnittartig abgebildet.

Aber darüber wollte ich eigentlich bei aller Begeisterung für Mausoleen und interessante Grabmale mit dem Fremden nicht sprechen: „Welches Grab suchen Sie aber nun wirklich? Wo sind Ihre Mutter und Schwester beigesetzt worden? Liegen diese Begräbnisse länger zurück, und ist das Grab deshalb vielleicht aufgelassen worden? Sie sollten dort drüben“, dabei zeigte ich in Richtung der benachbarten Aussegnungshalle, „dort drüben sollten Sie die Friedhofsverwaltung aufsuchen. Dort gibt es Friedhofsbücher, die bis 1907, das war ja das Jahr der Einweihung dieses Waldfriedhofs, zurückreichen. Jedes Grab ist registriert, durchnummeriert, die Grabsteine sind sogar skizziert und werden im Falle der Aufhebung quasi ausgetragen. Das hatte schon unser Baumeister und Friedhofsplaner Hans Grässel veranlasst, dessen Ehrengrab Sie gleich hinter dem Friedhofsportal links finden werden.

Ja, alles perfekt organisiert wie am Jüngsten Tag: Keine Seele wird vergessen!“

Die Mimik des Fremden signalisierte eine Mischung aus Verlegenheit und Resignation: „Unterstellen Sie mir wirklich, ich sei nicht mehr in der Lage das Grab meiner Mutter zu finden? Wie oft bin ich hier gewesen, wie oft sind wir alle hier an der Friedhofsmauer gestanden. Allein die vielen Besuche unmittelbar nach der Beerdigung meiner Schwester, damals im Sommer 1910, als wir uns erstmals hier versammelten. Alle schienen wir vereint in diesem Schmerz, der meinen Bruder Tommy dazu veranlasste, unser aller Existenz aus geschwisterlichem Solidaritätsgefühl heraus infrage zu stellen. Zu dieser Äußerung ließ sich der sonst so rationale Bruder wenige Tage nach der Beisetzung hinreißen. Und das, nachdem er zuvor alles für den letzten Weg der Schwester organisiert hatte. Hier, genau hier ist er gestanden, nahe dieser Friedhofsmauer, die heute die Grenze zu einem Jahrmarkt zu sein scheint: Hören Sie nur! Bitte, seien Sie mal ganz leise!“

Ich hatte nichts gesagt und auch nichts Bemerkenswertes vernommen. Während er den linken Zeigefinger fest auf seine nun wieder wulstig vorquellenden Lippen presste, wies er mit dem rechten zur benachbarten Durchgangsstraße: „Hören Sie nur mal dieses eigentümliche Rauschen, näher kommend, immer lauter werdend, um dann, huiiii, rasch wieder zu verschwinden. Bevor Sie nahten, guter Mann, fiel es mir bereits auf. Und ich grübelte über die Ursache. Derartiges erinnert mich an Karussells, die ich vor dem schrecklichsten aller Kriege gelegentlich zusammen mit den Kindern meines Bruders besuchte. Aber wer denkt heute noch an solch’ vordergründige Vergnügen, da unser Vaterland in Trümmern liegt und es nur noch darum geht zu überleben. Was also soll dieser Lärm, was rauscht so Unheil verheißend an uns vorbei?“

Hinter meinen Schläfen begann es zu klopfen. Mein viel zu regelmäßiger Atem begann mich zu stören, so als hätte er etwas mit dem Lärm der Straße gemeinsam, während mein Gegenüber fortfuhr, verständnislos den Kopf zu schütteln. Er maß mit ausladenden Schritten die Abstände zwischen den Gräbern dieser Reihe und einem imaginären Punkt aus.

„Es scheint wie 1937 zu sein. Auch damals hatte die Friedhofsverwaltung unseren Grabstein einfach abgeräumt, den Grabhügel zertreten und lediglich etwas Blumenerde zurückgelassen. Ja, damals ... Die Brüder befanden sich erst seit wenigen Jahren im Exil. Ich glaubte zunächst an Absicht, an eine dümmlich dumpfe Rache der braunen Machthaber. Aber heute? Die Amerikaner haben uns doch von den Nazis befreit. Da dürfte es sich nur um eine Gedankenlosigkeit handeln. So wie es übrigens im Nachhinein betrachtet auch damals nur die Tat von Bürokraten war, die feststellten, dass die Grabmiete nicht bezahlt war. Aber heute?“

„Jetzt hab ich’s“, rief er plötzlich mit einem siegessicheren Lachen, das seine strahlend weißen Zähne zum Vorschein kommen ließ. „Ich hab’s! Jetzt weiß ich, woran mich dieser Lärm dort draußen erinnert. Vor dem letzten Kriege besuchte ich einmal ein Autorennen auf der Avus in Berlin. Natürlich, da klang es ähnlich zur Besuchertribüne hinauf. Liefern sich hier etwa Automobilisten ein Rennen? Ist etwa neuerdings eine Rennstrecke in der Nähe unseres ruhigen Parks eingerichtet worden?“

Meine Gedanken bewegten sich nun in eine ähnliche Richtung. Ich erinnerte mich an den Ausgang der letzten Formel-1-Weltmeisterschaft, die ich von Anfang bis Ende verfolgt hatte. Nicht ohne den sonntäglichen Unwillen meiner Frau Gertraud zu erregen, die das Aufheulen der Boliden stets mit dem Surren eines wild gewordenen Bienenschwarms verglich. Daher verfolgte ich als gehorsamer Ehemann diese Rennen in der Regel nur mit Fernsehbild, aber ohne Ton.

„Hören Sie mir noch zu?“ Die Frage brachte mich wieder in die Gegenwart zurück.

„Aber natürlich. Das Rauschen, ja, Sie wissen sicher, wie stark der Straßenverkehr in den sechzig Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg zugenommen hat. Damals verirrten sich nur einzelne Autos hierhin. Seinerzeit sah man noch häufig, wie mir Onkel Pepperl berichtet hat, Pferdefuhrwerke aus Hadern herüberkommen. Heute fahren hier die Autos manchmal Stoßstange an Stoßstange Richtung Autobahn oder in der Gegenrichtung nach Laim hinüber. Das erklärt natürlich diese ständige Störung der Friedhofsruhe.“

Das wächserne Gesicht des Fremden verfärbte sich daraufhin noch mehr in einen kalten Grauton und aus den zusammengepressten Lippen klang es entsetzt: „Sechzig Jahre? Was soll seither alles geschehen sein? Sollte ich diesen Wandel etwa verpasst, übersehen haben? Ist deshalb unser Grab verschwunden? Ausradiert, aufgehoben, beseitigt, während die anderen Familienmitglieder sich weiterhin im Exil befanden und mir nicht beistehen konnten?

Natürlich liegt dieser Friedhof weit draußen vor der Stadt. Aus diesem Grunde hatte ich ja auch vor dem Krieg, damals im Jahre 1937, nicht gleich bemerkt, dass man den Grabstein entfernt hatte. Jawohl, wir hatten verpasst rechtzeitig die Miete zu zahlen. Ja, so nannte es meine Frau Nelly: Miete! Aber schließlich haben wir gezahlt, auf Heller und Pfennig! Ich denke, wir haben so viel im Voraus, wenn auch in Raten, gezahlt, dass Schwester und Mutter auch heute noch unbehelligt von Bürokraten ruhen können. Bürokraten nämlich wollten sie damals exhumieren, nicht etwa fanatische und rachelüsterne Nazis, die meinen Brüdern nachstellten, die freilich gegen den braunen Mob geschrieben und so Hass auf sich gezogen hatten. Aber jetzt sollte doch Ruhe eingekehrt sein! Weshalb sollte man heute den Grabstein entfernen?“

5. Die Krankheit des Vergessens?

Seine Wangen hatten sich infolge der Erregung, in die er sich von Satz zu Satz mehr gesteigert hatte, blaurot verfärbt. Dabei zog er leise, aber dennoch eigentümlich pfeifend durch seine schmalen Nasenlöcher Luft ein. Insgeheim suchte ich nach einem Krankheitsbild, das zu diesem Phänomen passte. Aber mehr noch beschäftigte mich in diesem Moment die seelische Verfassung dieses Fremden: Besorgnis, gar Angst um diesen eigenartigen, wenngleich sympathischen Menschen stieg in mir auf. Zwar hatte ich mich weder während des Studiums noch später in der Assistentenzeit intensiv mit der Psychiatrie beschäftigt, aber in diesem Falle erwuchs in mir eine ungewohnte Neugierde, dieses Fachgebiet intensiver zu studieren.

Vage differentialdiagnostische Überlegungen stiegen in mir auf. Schon mit der merkwürdigen Erkrankung meiner Tante Clara Herrligkommer, die sich nach Monaten medizinischer Irrwege als Depression herausgestellte, hatte ich meine Antennen auf derartige Krankheitsbilder gerichtet. Nun aber elektrisierte mich dieses offensichtlich unklare psychiatrische Krankheitsbild. Oder war es nur ein pulmonologisches Problem?

So recht depressiv wirkte mein Gegenüber nicht in seinem abgewetzten Ledermantel, der mich an Filme aus der Kriegszeit erinnerte. Die Häscher der Gestapo trugen diese Kleidungsstücke, Ledermäntel, die Angst und Schrecken verbreiteten. Nicht selten sah man auch nach dem Zweiten Weltkrieg Soldaten auf ihrem Wege aus der Kriegsgefangenschaft in ähnlich geschnittenen Mänteln, aber heute? Fast hätte ich gefragt, ob er diesen Mantel schon seit sechzig Jahren trage, denn sein Zustand legte eine solche Schlussfolgerung nahe.

In dieser Situation lag mir aber wenig am Sprechen, ich grübelte nur: Sollte dieser Fremde vielleicht einer psychiatrischen Klinik entwichen sein? War er gar in die Rolle einer Nazi-Größe geschlüpft und wähnte sich immer noch, lange nach Ende der Gewaltdiktatur, nur auf dem Friedhof sicher und unerkannt?

Ähnlich war es einem inzwischen achtzigjährigen Knecht ergangen, den man erst kürzlich aus dem Keller eines Austragshäuserls hatte befreien müssen, wo er sich mit der Unterstützung einer schizophrenen Bäuerin seit dem Kriegsende versteckt gehalten hatte. Diese Frau schürte seine Angst immer wieder durch Hinweise auf seine NSDAP-Parteizugehörigkeit und die Gnadenlosigkeit der Russen. So musste man ihn unter tatkräftiger Unterstützung von vier Polizisten aus dem Gebäude tragen, um den am ganzen Leibe zitternden Mann einer medizinischen Untersuchung zuführen zu können.

„Erzählen Sie mir doch mehr über diese sechzig Jahre nach Kriegsende“, unterbrach der Fremde unsere Gesprächspause. „Wie weit sind die Russen mit ihrem erklärten Ziel, den Rhein zu erreichen, denn gekommen? Haben sie den Amerikanern, die ja selbst bis Magdeburg vorgestoßen waren, noch weitere Geländegewinne abgerungen? War Truman der erwartet schwache Präsident? Oder hat er den Russen die Zähne gezeigt? Gibt es in Deutschland wieder Stahlwerke und Kokereien oder hat sich dieser Morgenthau mit seinem Plan durchgesetzt, aus Deutschland einen reinen Agrarstaat zu machen?“

Aha, dachte ich mir, nun steht er doch zu seinem Informationsdefizit!

Und als habe er meinen Gedanken erraten, erläuterte er, mit einem tiefen Seufzer beginnend, seine Situation: „Mir ist so vieles entfallen, seit den letzten Wochen dieses alles zerstörenden Krieges. Damals hatte ich einen Unfall, als ich in Schwabing auf der Suche nach dem Haus meiner Kindertage in der Rambergstraße über Schuttberge kletterte.

Eine für uns alle trostlose Zeit. In Schwabing hatte ich mich mit einem Spezl meiner Kindertage verabredet. Wir kannten uns seit der Jahrhundertwende. Er hieß Wiggerl Warzinger und galt bei allen Freunden als pfundiger Kerl.“ Und ein wenig entschuldigend fügte er hinzu: „Habe ich nicht schon von ihm gesprochen?“

Mir erschien es besser, diese Frage zu übergehen und so forderte ich ihn auf, seine Erzählung fortzusetzen: „Erzählen Sie nur, ich habe diese Zeit nicht erlebt, beschäftige mich aber als Amateur-Historiker“ – ich lächelte wahrscheinlich gequält bei diesem Begriff – „sehr mit den Bombardements des Zweiten Weltkriegs und ihren Folgen für die Zivilbevölkerung.“

„Ja, ja, den Wiggerl hatte ich einige Tage zuvor am Hauptbahnhof getroffen, und so verabredeten wir uns, um nach den Resten unserer Kindheit zu suchen, dort in der Rambergstraße, wo für mich das Leben begann.

Der Wiggerl hatte beim Frankreichfeldzug das rechte Bein durch eine Granatsplitterverletzung verloren. Trotz seines persönlichen Schicksals und des auf uns allen lastenden Kriegsverlaufs behielt er seine Lebenslust in einer Form, die ich nur bewundern konnte. Wie wäre ich mit einem solchen Schicksal zurechtgekommen?

In unserer Nachbarschaft betrieb sein Vater zu Beginn des Jahrhunderts einen kleinen Krämerladen, wo man uns Kindern eine Spielecke eingerichtet hatte. Ein Erlebnis! Aber auch von diesem Haus war keine intakte Mauer stehen geblieben. Wiggerls Mutter war erst vor Kurzem, am 17. Dezember 1944, es war einer der schwersten Luftangriffe auf München, zusammen mit Großmutter und Vater im Keller dieses Hauses erstickt.

Diese schrecklichen Ereignisse hatten wir bei diesem Zusammentreffen fast völlig ausgeklammert. Es ging uns nur darum, nach den spärlichen Spuren einer Kindheit zu suchen, als mir beispielsweise die Neffen von Richarda Huch im Ungererbad das Schwimmen beibrachten. Es bleibt mir unfassbar, wie viel Zeit inzwischen vergangen ist, wie viele Freunde von damals nicht mehr leben.“