Das verspätete Klassentreffen - Thomas Staufenbiel - E-Book
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Das verspätete Klassentreffen E-Book

Thomas Staufenbiel

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Beschreibung

Dieser verfluchte Skandal! Es gibt viel mehr aus jener Zeit zu berichten, aber gerade dieser Vorfall ist allen in Erinnerung geblieben. Es war aber auch an Peinlichkeit unübertroffen. Wann geschah das nochmal? Ende der Achtziger Jahre, mitten in meinem neunten Schuljahr. Es ist alles derartig lange her und doch verfolgen mich diese Dinge bis heute. Erst vor kurzem wurde mir wieder bewusst, dass die Zeit nicht alle Wunden heilt. Die Jugendsünden liegen inzwischen weit hinter mir. Ich muss schon eine Weile nachdenken, um mich an alles zu erinnern. Deshalb nahm ich mir vor, die ganze Sache aufzuschreiben. Um Himmelswillen nein, das sind nicht meine Memoiren geworden! Daran sollte ich als Endvierziger noch nicht denken. Es ist eher die Geschichte, warum aus manch einem von uns gerade der wurde, der er heute ist. Zuerst stellte sich die Frage wo ich anfangen sollte. Spitznamen fielen mir ein, wie Löwe, Ulli oder Karnickel. Ich dachte an manchen Spaß, die Blüten der Pubertät und an die erste Liebe. Gerne wäre ich sofort mitten in die Dinge gesprungen – in medias res – wie Direktor Petzold es damals nannte. Doch so ging es diesmal nicht, denn es fehlte ein Rahmen. Und genau den lieferte mir kürzlich unser erstes Klassentreffen. Coole Sache denken sie jetzt vielleicht. Ich aber sagte als Erstes: „Das ist doch wohl ein Scherz.“

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Veröffentlichungsjahr: 2022

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2022

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Hannes Winkler erzählt

 

Das verspätete

Klassentreffen

 

 

 

nobody told me there'd be days like these

strange days indeed

niemand hat mir gesagt, dass es Tage wie diese geben würde

seltsame Tage in der Tat

John Lennon (Nobody told me, veröffentlicht 1984)

 

 

 

 

 

 

für Daniela

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Geschichte und alle darin erwähnten Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeiten mit lebenden oder realen Personen

wären rein zufällig.

Vor dem Spiegel      7

Der erste Eindruck

Die Sache mit dem Neuen

Je später der Abend …

Die Sache mit der Pubertät

Wie ausgehungert

Die Sache mit den Dummheiten

Die immer selben Grüppchen

Die Sache mit dem Ärger

Ein weiteres Bier

Die Sache mit der Party

Noch eine Erinnerung

Die Sache mit dem Verlieben

Entscheidung heißt Existenz

Die Sache mit der Liebe

Neue Wege

Die Sache mit dem Neid

Tischgespräche

Die Sache mit den Folgen

Zu später Stunde

Wieder vor dem Spiegel

Die Sache mit dem Skandal

 

Vor dem Spiegel

 

Jochen Leopold, Ulrike Block, Stefan Stadler, Sonja … Sonja?

„Hm, und schon hat's mich“, denke ich bei mir und schaue zum wer weiß wievielten Mal in den großen Spiegel. Warum ich das tue, ist mir ehrlich gesagt selbst nicht vollends klar. Ich bin wie ich bin und das wird auch heute Abend nicht anders sein.

Sonja, Sonja …? Verflixt noch eins warum fällt mir dieser Name nicht ein. Ich bin vergesslich geworden in all den Jahren. Schön, dass ich mich an meinen eigenen immer noch erinnere.

„Johannes Winkler“, sage ich halblaut zu meinem Spiegelbild. Die Worte brechen sich am Glas und ich wiederhole sie, bis sie schließlich keinen Sinn mehr ergeben.

‚Lassen wir es bei Hannes‘, denke ich bei mir und berufe mich auf meinen Spitznamen, der mich seit frühsten Kindheitstagen begleitet. Nicht, dass er mir sonderlich gefällt, das soll niemand denken, ich konnte ihn mir schließlich nicht aussuchen. Meine Mutter entschied sich bei ihrer Hochzeit für den Familiennamen, obwohl ich nicht einmal sagen kann, ob sie eine Wahl gehabt hätte. Wer schließlich Johannes vorschlug – den Vornamen meines Urgroßvaters mütterlicherseits – lässt sich heute nicht mehr rekonstruieren. Er schien jedoch beiden Elternteilen nicht sonderlich viel zu geben und so riefen sie mich seither nur noch Hannes. Weil auch das wohl nicht recht zu mir passen wollte, bekam ich oftmals bedeutungsschwere Titel angeheftet. Da rief man mich dann ‚Mein Gott, Hannes‘ oder kurz ‚Bengel‘. Namen sind Schall und Rauch, hat meine Großmutter immer gesagt und nannte mich des Öfteren Herbert. So hieß mein Großvater, der dreiundvierzig an der Ostfront fiel.

Ich schaue wieder in den Spiegel. Soll ich doch lieber ein Jackett anziehen. Es wäre schon etwas feierlicher als dieser Rollkragenpullover.

„Hannes …“, sage ich zu mir selbst und gleichzeitig so laut, dass ich damit meine Tochter Lisa auf den Plan rufe.

„Es ist mal wieder soweit. Paps redet mit sich selbst“, ruft sie aus der oberen Etage herunter. Dadurch aufmerksam geworden, erscheint nun auch meine Frau Sabine im Flur.

„Hast du gerufen“, will sie wissen.

„Nö, ich doch nicht“, antworte ich gespielt lässig und versuche meine Nervosität zu überdecken. Lisa beugt sich über das Geländer und feixt sich eins zurecht, aber Sabine ignoriert die Albernheiten unserer Tochter.

„Sieht doch gut aus“, lobt sie mein Outfit und streicht hier und da über den Pullover, um imaginäre Fussel zu entfernen.

„Kann sein, dass Heidi gleich anruft, nur dass du es weißt“, fährt sie in ihrer ureigenen Redensart fort.

„Sie hat eine Nachricht geschrieben. Ich weiß nicht, was sie schon wieder will, klang wichtig.“

„Machst wieder den Retter der Nation oder was?“, frage ich völlig überflüssigerweise, aber Sabine ist mit ihren Gedanken bereits ganz woanders. Sie schiebt mich zur Seite und dreht sich vor dem Spiegel in alle Richtungen.

„Oh mein Gott“, denke ich bei mir, „gleich geht’s wieder los.“ Womit ich recht habe, habe ich recht.

„Wird Zeit, dass es Frühling wird, dann kann ich wieder laufen gehen. Guck dir doch mal an, wie ich aussehe.“

Sabine übertreibt – wie immer. Sie ist knapp ein Jahr älter als ich, wird allerdings oft bedeutend jünger geschätzt. Ihre durchtrainierte Figur lässt keine Wünsche offen und wirkt trotz allem sehr weiblich. Klar, sie ist kein Model, aber das würde mir auch gar nicht gefallen.

Ich könnte mich diesem Thema noch weiter hingeben, doch ich schiebe meine Frau liebevoll beiseite und erobere den Spiegel erneut für mich.

„Meinst du nicht, ich sollte lieber ein Hemd anziehen?“, frage ich, doch Sabine ist noch immer in Gedanken bei ihrer angeblich etwas ausladenden Figur. Ich schüttele den Kopf und hake nach:

„Also was sagst du nun?“

„Ja, zieh ein Hemd an, das kommt besser“, ist ihre klare Antwort. Versteh einer die Frauen. Dann klingelt das Telefon und Sabine verschwindet im Wohnzimmer.

„Ach Heidi, du bist es, schön, dass du anrufst.“

Mehr will ich nicht hören, denn die Tonlage der gespielten Freude wird höher und ich komme mir plötzlich wie in der Oper vor. Ich schließe die Wohnzimmertür und hole mir ein frisches Hemd aus dem Schlafzimmerschrank. Dann stoße ich beinahe mit Lisa zusammen, die urplötzlich hinter mir aufgetaucht ist. Wir erschrecken uns beide und sie kann sich vor Lachen kaum halten.

„Was bist du denn heute so albern?“, frage ich meine neunzehnjährige Tochter.

„FaceTime mit Jessi“, meint sie knapp. „Lange Geschichte.“

Das sagt sie immer, wenn es ein Geheimnis bleiben soll. Ganz ehrlich – ich möchte es auch lieber nicht wissen.

Also ziehe ich den Rollkragenpullover aus und das Hemd an. Dann trete ich wieder eine Etage tiefer vor den Spiegel.

Was ich sehe, ist ein schlanker Mann Ende vierzig, mit hoher Stirn, struppigen kurzen Haaren, einem Vollbart und vorsichtigen Falten im Bereich der Augen. Die sportliche Figur ist mir von damals geblieben, nur der leichte Bauchansatz lässt sich nicht mehr kaschieren. Bei diesem Anblick greife ich mein Selbstgespräch von eben noch einmal auf:

„Hannes Winkler, du bist, wer du bist.“

Aber heute bin ich mir nicht sicher, ob es nicht doch darum gehen wird, wer ich einmal war. Vor vielen Jahren, um genau zu sein, vor etwas mehr als dreißig.

Kunkel. Sonja Kunkel. Wie ein Blitz schießt mir der Name durch den Kopf und ich bin tatsächlich ein bisschen stolz auf mich. Gut, dann fehlen mir nur noch dreiundzwanzig. Aber mal ehrlich, wer erinnert sich nach dieser langen Zeit noch an alle Mitschüler seiner ehemaligen Klasse?

Bis vor drei Wochen war mir das auch völlig egal. Genau bis zu dem Moment, als ich den Briefkasten aufschloss und eine Einladungskarte herausnahm. Ich las und las noch einmal, bis ich mich ernsthaft fragte, ob das Ganze ein dummer Scherz sei. Ich entschied nach einigem hin und her, dass es wohl keiner ist und wollte mich gerade darüber ärgern, wie die meine Adresse herausbekommen haben, als mir die Unterschrift auffiel. Herzlichst Jana. Fehlte nur noch, dass sie statt des Wortteils Herz, eines dahin gemalt hätte. Der anstrengende Tag war wohl schuld an meinem Unmut, denn Jana war damals eine sympathische Schülerin und eine gute Freundin.

Ich zupfe wieder an meinem Hemd herum und erinnere mich dabei fatal an Sabines nervige Art und Weise. Dann sinken meine Hände hinab, bis die Arme schlaff am Körper herunterhängen.

Das ist doch alles so lange her und jetzt sollte plötzlich unser erstes Klassentreffen stattfinden. Kommt das nicht ein wenig spät? Wir gingen damals schweigend auseinander. Jeder hatte seine Ideen und dem spannenden Erwachsenenleben standen wir offen gegenüber. Doch ob wirklich jemand studierte, Informatiker, Lehrer oder Einzelhandelsverkäuferin wurde, erfuhr ich nie. Wir liefen am letzten Schultag auseinander und ich sah in den nächsten Monaten nur selten jemanden von ihnen wieder. Dann ging ich für eine lange Zeit fort aus dieser Stadt und war dann eben mal weg. Doch ich muss zugeben, mit zunehmendem Abstand lockt doch hin und wieder die Neugier.

Wieder blicke ich in diesen Spiegel, ein wahres Monstrum aus uralter Zeit. Er hängt gleich neben der Eingangstür und ist viel zu groß für unseren, dagegen winzig erscheinenden, Flur. Ich habe mich von Anfang an gefragt, was dieses eisenumrandete etwas hier zu suchen hat. Doch jeder Einwand prallte an seiner leicht zerkratzten Spiegelfläche ab. Sabine ließ sich nicht beirren und so ackerten wir das zentnerschwere Erbstück mithilfe von Freunden in unser überschaubares Heim. Das war vor ein paar Jahren, kurz nach dem Einzug.

Wir wollten endlich ein eigenes Heim und diese Siedlung war gerade fertiggestellt worden. In naturnaher Stadtrandlage gehört uns nun ein Reihenhaus. Im Erdgeschoss befinden sich Wohnzimmer, Küche, Gäste-WC und der besagte Flur mit dem Spiegel. Die Etage darüber beherbergt drei Zimmer und ein Bad. Ganz oben bis in die Dachspitze hinein, das ist mein Refugium, ein geräumiges Arbeitszimmer. Keller? Nein, keinen Keller. Unter der Bodenplatte befand sich früher einmal ein Acker. Vielleicht wuchsen hier Korn oder Raps, jetzt sind es steinerne Einheitsbauten, Reihenhäuser mit akkuraten Vorgärten und kniehohen Heckengrenzen.

Blickt man vorn aus dem Fenster, schaut man auf das kleine Grundstück der gegenüberliegenden Häuserzeile, hinten sieht man über das eigene Grundstück bereits die nächsten Vorgärten. Idyllisch, zweckmäßig. Im Nachhinein betrachtet unterscheidet es sich wenig von den Plattenbausiedlungen aus Kindheitstagen. Manchmal kommt es mir tatsächlich so vor, als hätte sich zu damals rein gar nichts verändert.

Ich schaue auf die Uhr. Es ist beinahe sechs. Überflüssigerweise rechne ich mir noch einmal die Fahrzeit bis zum Restaurant ‚Goldener Schwan‘ aus und konstatiere dann: ‚Au man, das könnte knapp werden‘. Aber was solls. Wie sagte eine alte Freundin oft: ‚Die zuletzt kommen, werden am ehesten gesehen‘. Mein Gott, will ich das wirklich? Jetzt aber zügig.

Meine Frau schiebt ihren Kopf durch den Türspalt, ruft ihrer Heidi ins Telefon, dass sie kurz warten soll und sieht mich an.

„Musst du nicht los?“, fragt sie mich. Ich nicke gestresst. Dann legt sie – Gott weiß warum, sonst tut sie das während eines Telefonates nie – das Mobilteil bei Seite und nimmt mich in den Arm.

„Wird schon werden“, meint sie aufmunternd und gibt mir einen dicken Schmatzer auf meine trockenen Lippen. Sie will mich aufmuntern. Ich habe allerdings meine berechtigten Zweifel, dass sie es heute schafft.

„Die sind bestimmt genauso aufgeregt wie du“, ruft sie mir noch zu und verschwindet wieder im Wohnzimmer.

Ich suche derweil meine Autoschlüssel und höre wieder Sabines affektiertes Gelächter. Das stresst mich zusätzlich. Ich könnte jetzt die Zimmertür aufreißen und dem Theater mit einer schroffen Frage ein Ende bereiten. In Gedanken sehe ich meine Frau, die sich auf der beigefarbenen Couch herumlümmelt und ein Wochenendlächeln aus ihrem Gesicht strahlen lässt. Ich höre sie Worte in den Telefonhörer rufen und dabei gegen den klaren Raumklang des Flachbild-Fernsehers ankämpfen. Wozu muss das Teil ständig eingeschaltet sein?

Und dann fällt es mir wieder ein. Der Autoschlüssel muss auf meinem Schreibtisch liegen. Super, also ganz nach oben und da liegt er wirklich. Wer es nicht im Kopf hat, hat es in den Beinen.

Beim Heruntergehen treffe ich noch einmal auf Lisa, die im Türrahmen ihres Zimmers auf mich wartet.

„Bleibst du heute zu Hause?“, frage ich sie schon halb auf nächsten der Treppe stehend.

„War gestern zu lange. Muss auch mal schlafen.“

Sie scheint meine Nervosität zu spüren.

„Alter, chill mal, siehst stylisch aus, kann nichts schiefgehen.“

„Isso“, antworte ich auf ihr Kompliment, auch wenn ich diese Jugendsprache nicht wirklich leiden kann.

Sie grinst und schließt dann hinter sich die Tür.

Bevor ich kurze Zeit später endlich das Haus verlasse, nehme ich meinen Wintermantel, setze die Gleitsichtbrille auf, schaue ein letztes Mal in den Spiegel und befinde mich für ausgehfertig.

Vor der Haustür zünde ich mir eine Zigarette an und blase den Rauch in die eisige Winterluft. Am allerliebsten würde ich umkehren. Meinetwegen könnte ich mich noch einmal an den Computer setzen und die halbe Nacht arbeiten, bloß nicht zu diesem verdammten Klassentreffen. Aber da ist etwas, das mich nicht umkehren lässt. Nennen wir es doch einfach Neugier. Dreißig Jahre. Je mehr ich mich anstrenge, desto mehr Erinnerungen drängen sich mir auf.

Da gab es Anke Ritter, unsere jüngste Lehrerin, bei deren Unterricht keiner fehlen wollte und auch Dirk. Ja richtig Dirk Maier, ein korpulenter Schüler, der es absolut nicht leicht hatte. Ich ziehe noch einmal an der Zigarette und denke nun an Herrchen und Hündchen. Die beiden gehören ebenfalls dazu und werden sicher heute Abend dabei sein. Schikanieren nannte man ihre Machenschaften damals. Ein bisschen harmlos, wie ich finde. Heute würde man das wohl eher als Mobbing betrachten. Bezeichnung hin oder her, die Sache an sich war nichts Ungewöhnliches.

Wieder zweifle ich. Soll ich tatsächlich fahren? Aber Gevatter Neugier lässt mich nicht zur Ruhe kommen, selbst bei dem Gedanken an Carla.

 

Der erste Eindruck      

 

Die Fahrt zum Restaurant ist ein einziges Chaos, oder kommt es mir heute nur so vor? Die Ampeln stehen auf ‚rote Welle‘ und zudem haben wir ja Wochenende. Ein leichter Schneefall setzt ein und bricht den besonders geübten Sonntagsfahrern das Genick. Alles schleicht und mein Zeitplan klappt wie ein Kartenhaus in sich zusammen.

Als ich endlich den Parkplatz am goldenen Schwan erreiche, stelle ich fest, dass ich definitiv nicht der letzte Ankömmling dieses illustren Abends bin. Ich schalte den Motor ab, atme tief durch und steige aus. Durch die Fenster des Restaurants erkenne ich bereits eine kleine Horde von Menschen, die mir seltsam bekannt vorkommen. Doch bevor ich hier draußen ins Grübeln gerate, erschrickt mich das Horn eines vorbeifahrenden Frachtschiffes. Ich war schon eine Weile nicht mehr hier und vergaß völlig, wie nah das Gebäude am Fluss steht. Die Kälte zwickt an meiner Nase und so betrete ich schließlich den Gastraum.

Es ist, als wäre ich buchstäblich über die Schwelle zur Vergangenheit gestolpert. Wie Geister aus einer längst verdrängten Zeit wirken sie auf mich. Und all ihre Namen fallen mir urplötzlich wieder ein, als ob ein Schleier fällt. ‚Ahhs‘ und ‚Ohhs‘ und ‚Hey schau mal, da ist Hannes‘ prasseln auf mich ein.

Ehrliche und aufgesetzte Freude mischt sich mit den ersten bedeutungsschweren Floskeln.

„Wie geht’s dir?“

„Machst ’n so?“

„Bist alt geworden!“

Dies und anderes schwingt durch den Raum und mit jedem neuen Gast – ich war tatsächlich nicht der Letzte – wiederholt sich das Spiel aufs Neue. Sowie sich die Tür ein weiteres Mal öffnet, springt die Aufmerksamkeit weg von dem gerade noch interessanten und hin zu jenem neuen. Die aufgesetzte Heiterkeit und das oft geheuchelte Interesse schreit geradewegs zum Himmel. Nun gut, war ja zu erwarten.

Plötzlich macht ein Gerücht die Runde.

„Weißt du schon?“

„Hast du gehört, dass…?“

Erstaunte Gesichter und ungläubige Antworten mischen sich mit ehrlicher Betroffenheit.

„Ehrlich jetzt?“

„Nein, der doch nicht!“

Es wird von einem Motorradunfall gemunkelt. Es wäre jemand in den Gegenverkehr geraten. Betretene Stille füllt für eine kurze Zeit den Raum und mutet wie eine Schweigeminute an. Doch von irgendwoher ist das Geräusch von knallenden Sektkorken zu hören und reißt die Gruppe aus ihrer melodramatischen Stimmung. Wie aufgesetzt sie war, ist an der sofort aufflammenden Heiterkeit zu spüren.

Nur wenige Minuten geistert die tragische Geschichte noch im Raum herum. Mathias Sommer wird heute Abend fehlen. Er ist entschuldigt, weil er vor fünf Jahren – man sagt, in einem Anflug von Übermut – ein Überholmanöver antrat. Sein letztes.

Doch davon will sich jetzt keiner die Laune verderben lassen. Es ist wahrhaftig wie damals. Wer wusste vor dreißig Jahren schon mit echtem Leid umzugehen? Nach außen war alles toll und das andere wurde verschwiegen.

Nach wenigen Minuten ist die Stimmung erneut angeheizt und die ersten Grüppchen haben sich gebildet. Gackernde Mädchen und pubertäre Jungen kämpfen um ihre Aufmerksamkeit. So wirkt es zumindest, auch wenn wir heute über erwachsenen Frauen und Männer mittleren Alters sprechen. Noch ist alles unkoordiniert, noch gab es keine Begrüßung, nur Sekt und Bier fließen bereits in Strömen.

Ich selbst stehe neben einem ehemaligen Mitschüler an der Bar und lausche seinen Worten, bis mir der Kragen platzt.

„Ach hör mir auf mit dieser alten Kamelle, allein ihr Name ist ja schon wie ein rotes Tuch“, sage ich wütend und verfluche mich erneut, den langen Weg hierher auf mich genommen zu haben.

---ENDE DER LESEPROBE---