Das verstaatlichte Kind - Gunda Frey - E-Book + Hörbuch

Das verstaatlichte Kind E-Book und Hörbuch

Gunda Frey

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Beschreibung

Spätestens seit Lockdown und Schulausfall hinterfragen Eltern den Sinn vieler Maßnahmen rund um Schule und Kindeswohl. Zu Recht. Psychotherapeutin Gunda Frey warnt: "Wir erschaffen eine traumatisierte Generation!" Kinder werden heute von Geburt bis Schulabschluss den Zwängen eines auf "Funktionieren" optimierten Systems ausgesetzt – Rücksichtnahme auf ihre Bedürfnisse: meist Fehlanzeige! Das Ergebnis: Kinder, denen Eltern, Erzieher und Lehrer nicht das ermöglichen, was gut, gesund und nötig wäre. Die Resultate sind fatal. Dieses Buch ist ein Weckruf für alle, denen die Zukunft unserer Kinder am Herzen liegt. Anhand von zahlreichen Beispielen aus der Praxis zeigt die Autorin, was im herrschenden System im Argen liegt, und liefert Ideen, wie man mit der richtigen Haltung und den richtigen Werten das Schlimmste vielleicht noch verhindern kann.

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Seitenzahl: 250

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Zeit:5 Std. 49 min

Sprecher:Gunda Frey

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Gunda Frey

Das

verstaatlichte

Kind

Optimiert, reguliert, traumatisiert – wie unsere Gesellschaft ihre Kinder versaut

Copyright 2022:

© Börsenmedien AG, Kulmbach

Gestaltung Cover: Daniela Freitag

Gestaltung und Satz: Sabrina Slopek

Bildquelle Cover: Torsten Faltin

Herstellung: Daniela Freitag

Lektorat: Rotkel e. K.

Korrektorat: Elke Sabat

ISBN 978-3-86470-811-4

eISBN 978-3-86470-812-1

Alle Rechte der Verbreitung, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Verwertung durch Datenbanken oder ähnliche Einrichtungen vorbehalten.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

Postfach 1449 • 95305 Kulmbach

Tel: +49 9221 9051-0 • Fax: +49 9221 9051-4444

E-Mail: [email protected]

www.books4success.de

www.facebook.com/plassenbuchverlage

www.instagram.com/plassen_buchverlage

Für alle Kinder in unserer Gesellschaft

Für alle Eltern

Für unser aller Zukunft

Inhalt

Vorwort

1.Was ist nur los mit unseren Kindern?

Emotionale Belastung als Erklärung für Verhalten

Wie ein Trauma funktioniert

2.Schwangerschaft und Geburt

Jedes dritte Kind wird via Kaiserschnitt geboren // Zahlen – Daten – Fakten

Was das für Säuglinge bedeutet

Langfristige Folgen

3.Kindergarten

Massenhaltung Kind // Zahlen – Daten – Fakten

Raumgröße

Betreuungsschlüssel

Eingewöhnungsphase

Auswirkungen auf die gesamte Entwicklung unserer Kinder

Langfristige Folgen

4.Grundschule und offene Ganztagsschulen

Grundschule und Nachmittagsbetreuungsplätze für alle

Die Bedürfnisse unserer Kinder

Was ist Familie noch wert?

5.Weiterführende Schule

PISA und Co lassen grüßen

Bindung geht vor Bildung

Blickwechsel bitte

6.Die Pandemie

Das Spiel mit der seelischen Gesundheit unserer Kinder

Ein Schrecken ohne Ende

Was unser Bildungssystem wirklich benötigt

7.Gesamtgesellschaftliche Folgen

Eine traumatisierte Gesellschaft

Folgen für Wirtschaft und Gesellschaft

8.Ein radikaler Schnitt mit radikalen Folgen

Geschwindigkeit, Einfachheit und Klarheit

Sind wir bereit? Ursachenbehebung statt Symptombekämpfung

Ist die Verstaatlichung gewollt? Die Sache mit den Werten

Was unsere Kinder wirklich benötigen

Das Haus

9.Die zukünftige Gesellschaft – eine Vision

Wie sieht das praktisch aus?

10.Was ist nun zu tun?

Wir alle und dennoch jeder Einzelne

Die Haussanierung

Die Politik: Ein Dach, welches Schutz bietet

Die Institutionen oder auch „Gewerke“

Die Fachkräfte oder auch „Facharbeiter“

Die Eltern oder auch das „Fundament“

Die Wirtschaft oder die „Mauern“

Ausbildungsinhalte

Die Digitalisierung als ein Werkzeug

Kommunikation als Grundlage

Verbindung schaffen

Das WIR gewinnt

11.Sie haben die Wahl

12.Angst oder Liebe

Danksagung

Literaturverzeichnis

Endnoten

Vorwort

Was ist mit unseren Kindern los? Auffälligkeiten, ADHS-Diagnosen, immer mehr Studien, die dokumentieren, dass es unseren Kindern nicht gut geht. Was genau passiert hier? Ist dies alles der Pandemie geschuldet oder befinden wir uns grundsätzlich auf dem falschen Weg?

Seit 36 Jahren arbeite ich mit Kindern und Jugendlichen. Ich hatte schon früh einen besonderen Draht zu den Jüngsten unserer Gesellschaft. Vielleicht habe ich sie von Anfang an besonders gut verstanden, da ich meine eigene Kindheit nicht unbedingt als zufrieden und glücklich erlebt hatte. Und dies, obwohl ich in einer sozial starken Familie mit vielen Möglichkeiten groß geworden bin. Heute weiß ich, dass zu einem gesunden Aufwachsen viel mehr gehört als ein sozialer Status mit den entsprechenden Möglichkeiten. Ich entwickelte aus meinem eigenen „sich nicht verstanden fühlen“ ein empathisches Verstehen, welches die Leidenschaft erweckte, junge Menschen begleiten und unterstützen zu wollen. Anfänglich tat ich dies ehrenamtlich in kirchlichen Kontexten. Jugendarbeit, Leitung von Freizeiten und die Organisation von Kongressen für Jugendliche prägten meine eigene Jugendzeit. Ich begann in dieser Zeit auch schon, Mitarbeiter von Jugendtreffs zu begleiten und zu unterstützen.

So lag der Wunsch, auch beruflich mit Kindern und Jugendlichen zu arbeiten, nicht sehr fern. Ich studierte Lehramt auf Sekundarstufe II mit den Fächern Geschichte und Religion. Drei Semester lang, dann habe ich hingeschmissen. Das Studium hatte nicht viel mit dem zu tun, was ich machen wollte: Kinder und Jugendliche ein Stück ihres Weges zielorientiert zum Guten zu begleiten. Ich empfand das Studium als Ausbildung zur Fachidiotin mit viel zu wenig pädagogischem Kontext. Also blieb ich vorerst bei meiner leidenschaftlichen ehrenamtlichen Arbeit mit vor allem Jugendlichen und erlernte einen handwerklichen Beruf mit viel Kontakt zu Menschen und wurde Augenoptikerin.

Es wurde mir jedoch immer deutlicher, dass Empathie und gesunder Menschenverstand allein oft nicht reichen. An so vielen Stellen fehlte mir das Wissen, um Jugendliche wirklich zielorientiert unterstützen zu können. Die Probleme schienen vielschichtiger zu werden; Mobbing wurde immer mehr zum Thema, aber auch Versagensängste in der Schule und eine große Unsicherheit in Bezug auf die Zukunft. Also beschloss ich, Sozialpädagogik zu studieren. Ich wollte einfach mehr wissen, wie ich helfen, unterstützen und begleiten kann.

Meine erste Anstellung nach dem Studium endete in einer Katastrophe. In einer Jugendwohngruppe kam es zur Eskalation zwischen einem Jugendlichen und mir. Ich hatte verstanden, dass ich die Oberhand behalten muss. Der Konflikt schaukelte sich hoch, am Ende gab es einen abgängigen Jugendlichen, Sachschaden und eine frustrierte Sozialpädagogin, nämlich mich. Auch die Inhalte dieses Studiums brachten mich nicht weiter. Ich wusste immer noch nicht, wie ich jungen Menschen in Extremsituationen eine Hilfe sein konnte.

Es folgte die Ausbildung zur Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin. Endlich hatte ich das Gefühl, genug Handwerkszeug zu haben, um Kindern und Jugendlichen wirklich helfen zu können. Aber erst mit der absolvierten Traumatherapie-Ausbildung habe ich verstanden, was bei so vielen Kindern und Jugendlichen wirklich los ist und wie ich sie zielgerichtet unterstützen kann. Ich liebte es, Kinder und Jugendliche zurück in ihre Stärke zu bringen. Ich wähnte mich am Ziel meiner Träume mit einem Job, der mich mit Freude erfüllte.

Gleichzeitig war ich sehr erstaunt, dass es diesen Beruf noch gar nicht lange gibt, obwohl ein so großer Bedarf besteht. Den Beruf Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut gibt es nämlich erst seit 1999, nur zwölf Jahre später, 2011, eröffnete ich meine Praxis. Für diesen Beruf gab es schon damals einen immer größer werdenden Bedarf. Meine Praxis war ruckzuck voll. Endlich konnte ich den ganzen Tag das tun, was ich für meine Bestimmung hielt. Ich „reparierte“ Kinder.

Nach ein paar Jahren kamen Kinder erneut zu mir, Kinder, die ich zuvor erfolgreich behandelt hatte – dachte ich zumindest. Nach einer Zeit der Selbstzweifel kam ich zu der Erkenntnis, dass ich nichts übersehen oder falsch gemacht hatte. Vielmehr wurde deutlich, dass, wenn man etwas Gesundes in ein krankes System gibt, es eben krank wird. Vor allem wenn es sich um junge Menschen in der Entwicklungsphase handelt. Und dann war er auf einmal da, der eine Satz:

Kinder entwickeln Störungen – weil wir sie in der Entwicklung stören!

Meine Sicht änderte sich. Nachdem ich zuvor all meine Kraft und Zeit darauf verwendet hatte, Kindern und Jugendlichen aus ihrem persönlichen Dilemma herauszuhelfen, wollte ich von nun an dafür sorgen, dass sie gar nicht erst in so viele Dilemmas hineingeraten. Ich wollte keine Kinder mehr reparieren – ich wollte dafür sorgen, dass sie gesund bleiben. Wenn wir Erwachsenen unsere Kinder in ihrer Entwicklung stören, dann muss das Ziel sein, die Erwachsenen zu stärken und mit entsprechendem Wissen zu versorgen.

Also habe ich ein Weiterbildungsinstitut gegründet und bilde nun mit einem großartigen Team pädagogische Fachkräfte weiter. Pädagogische Fachtage an Schulen und in Kindergärten, Inhouse-Schulungen, Fachvorträge und viele Seminare in unserer Academy zeigen mir mit wachsender Deutlichkeit: Der Bedarf steigt und steigt. Die Verhaltensauffälligkeiten von Kindern und Jugendlichen scheinen jährlich mehr und mehr zu werden, was die pädagogische Arbeit nicht leichter macht. An so vielen Stellen fehlt das grundlegende Verständnis für den Zusammenhang des Verhaltens von Kindern mit seiner Ursache. In den Elterngesprächen in therapeutischen Kontexten habe ich oft in sehr hilflose Augen geschaut. Es ist, als ob wir als Gesellschaft vergessen haben, was Kinder benötigen, um zu gesunden Persönlichkeiten heranzureifen. Durch meinen Podcast bekam ich weitere Einblicke in die pädagogische Wüste in unserer Gesellschaft. Alles fügte sich zusammen wie ein Puzzle.

Auf der einen Seite steht das Wissen, was unsere Kinder wirklich brauchen. Ich habe nicht aufgehört, selbst zu lernen und mich fortzubilden, bis ich gelernt hatte, jedes Kind zielorientiert zu unterstützen, welches zu mir kam. Ich machte mir einen Namen besonders als Expertin im Bereich ADHS und Trauma. So viele Eltern kamen auf Geheiß der Kita: „Ihr Kind ist nicht normal. Es kann keine 30 Minuten still sitzen, es kann sich nicht konzentrieren. Lassen Sie beim Psychologen mal ADHS abklären.“ Es ist schon krass, dass kleinen Menschen heutzutage abverlangt wird, solch eine lange Zeit still zu sitzen. Meines Erachtens sind 80 Prozent aller ADHS-Diagnosen falsch. Ein verborgenes Trauma verursacht annähernd die gleiche „Symptomatik“ wie ein ADHS. In meiner Praxis mehrten sich die Anfragen in Bezug auf ADHS. Fast immer fand ich statt eines vermeintlichen ADHS ein nicht verarbeitetes Trauma. Mein Standardsatz war dann: „Wir kümmern uns erst um das Trauma und sehen dann, wie viel ADHS noch übrig bleibt.“ Neben den klassischen Traumafolgestörungen durch Gewalt oder Unfälle waren es besonders die versteckten Traumata, die viel Leid in Familien brachten: Geburtstraumata, frühe Traumata mit langfristigen Einschränkungen der Entwicklung und Beeinträchtigungen für ganze Familien. Schultraumata, entstanden durch Unachtsamkeit, enden in Schulverweigerung, Depression, Angststörung und sozialer Phobie.

So wuchs auf der anderen Seite die Erkenntnis, dass wir in unserer Gesellschaft mit allen Strategien, Konzepten und auch Ansichten genau das Gegenteil von dem tun, was gut ist für unsere Kinder. So wie ich vor zwei Jahren gesagt habe: „Ich habe keinen Bock mehr, Kinder zu reparieren, die andere kaputt machen“, sage ich heute: „Es muss etwas zum Wohl unserer Kinder passieren in Deutschland, wenn wir als Gesellschaft die Zukunft aktiv und positiv gestalten wollen.“ Der falsche Blick auf unsere Kinder hat meines Erachtens katastrophale gesamtgesellschaftliche Folgen.

Zuallererst braucht es Aufklärung. Viel zu wenige Menschen wissen, welche Auswirkungen unsere jetzigen Verhaltensweisen, Bestimmungen und auch unsere Art der Kommunikation auf die Entwicklung unserer Kinder haben. Und noch weniger Menschen denken über die Langzeitfolgen und Auswirkungen auf unsere gesamte Gesellschaft nach.

Die Fragen in mir wurden immer drängender: Ist es uns als Gesellschaft eigentlich bewusst, was wir unseren Kindern unbewusst antun mit der Art und Weise, wie wir mit ihnen umgehen? Und haben wir eine Vorstellung davon, welche langfristigen Folgen dies für unsere gesamte Gesellschaft hat? Durch ein stetig größer werdendes Netzwerk, viele Podcast-Interviewpartner und noch mehr persönliche Gespräche erhielt ich Einblick in die vielen sozialen Lebenswelten von Kindern. Ein scheinbar nicht aufzuhaltender Trend mit katastrophalen Folgen wurde mir immer deutlicher: Es ist gewollt, dass unsere Kinder mehr Zeit in staatlichen Einrichtungen verbringen als innerhalb einer familiären Lebensgemeinschaft. Aber kaum jemand macht sich darüber Gedanken, was dies für die Kinder und somit langfristig für unsere Gesellschaft bedeutet.

Dieses Buch verfolgt daher zwei Ziele:

1. Aufklärung!

Wir müssen uns darüber bewusst sein, was wir tun und vor allem welche Auswirkungen unser Handeln hat. Für mich ist es unabdingbar, dass alle, die mit Kindern leben oder arbeiten oder Entscheidungen für sie treffen, Kenntnisse über die kurzfristigen und langfristigen Folgen von nicht verarbeitetem emotionalem Stress bei Kindern haben. Darin liegt die Hoffnung begründet, dass dieses Wissen ein neues Bewusstsein schafft und zu verändertem Handeln führt. Darum geht es im ersten Teil.

2. Inspiration!

Neue Handlungsstrategien benötigen neue Ideen. Im zweiten Teil des Buches möchte ich zum konkreten Umdenken anregen. Es ist an der Zeit, neue Wege zu gehen. Es ist fünf nach zwölf. Es gilt, eine „pädagogische Klimakrise“ abzuwenden.

Es ist ein Blick unter vielen möglichen auf unsere Kinder und unsere Gesellschaft. Sicherlich ist er gefärbt durch meine persönlichen Erfahrungen und Begegnungen. Ich würde mich freuen, wenn Sie sich dieser Blickrichtung öffnen, auch wenn sie nicht die allumfängliche Wahrheit ist. Diese gibt es in meinen Augen nicht. Aber sie ist ein Teil der Wahrheit, belegt durch viele Studien und Kennzahlen, vor denen wir nicht die Augen verschließen dürfen.

Gunda Frey, März 2022

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Was ist nur los mit unseren Kindern?

Eine besorgte Erzieherin nimmt Kontakt zu mir auf. Ein kleiner Junge in ihrer Gruppe (vier Jahre alt) hat nach dem Lockdown einen Waschzwang entwickelt. Er steht unaufgefordert circa alle 20 Minuten auf und wäscht sich die Hände. Als die Erzieherin ihm sagt, dass er das nicht müsse, entgegnet dieser empört: „Aber ich will nicht, dass meine Oma stirbt.“

Der Vater eines 14-Jährigen bittet um Unterstützung. Sein Sohn habe Angst vor dem Online-Unterricht entwickelt. Der Junge erzählt mir, dass alle Bildschirme während des Online-Unterrichts schwarz sind. Für ihn kommt jede Ansprache des Lehrers aus dem Nichts und versetzt ihn zunehmend in Panik. Also meldet er sich an und stellt dann die Kamera aus und das Mikro auf stumm. Er geht nicht mehr raus, trifft keine Freunde mehr und hat deutlich zugenommen. Der Besuch der Schule nach dem Lockdown fällt schwer. Er lebt weiterhin zurückgezogen.

Eine 19-jährige Studentin hat ihr Studium abgebrochen. Sie macht jetzt eine Ausbildung. Da sie allein lebt, fehlen ihr die Sozialkontakte. Sie kämpft deutlich mit einer depressiven Symptomatik und hat sich vor dem Abbruch des Studiums selbst in eine Klinik eingewiesen.

Diese Beispiele sind keine Einzelfälle und zeigen die Auswirkung der Pandemie auf unsere Kinder. Aber schon vor der Pandemie gab es eine besorgniserregende Entwicklung im Hinblick auf die psychische Gesundheit unserer Kinder. Bereits 2019 kämpfte jedes vierte Kind mit psychischen Störungen.1 In Behandlung sind sie oft wegen Depressionen und Angststörungen. Die Barmer Krankenkasse belegt in ihrem Arztreport, dass sich die Inanspruchnahme von Psychotherapie durch Kinder und Jugendliche in den letzten elf Jahren mehr als verdoppelt hat, in manchen Regionen beträgt der Anstieg bis zu 236 Prozent.2 Jährlich nimmt knapp eine Million Kinder psychotherapeutische Hilfe in Anspruch.3 Bei einer Wartezeit von derzeit ein bis zwei Jahren kann man davon ausgehen, dass eine weitere Million Kinder auf ein psychotherapeutisches Hilfsangebot wartet.

Neueste Studien zeigen eine Verschiebung weg von Depressionen und verwandten Störungen zu einer scheinbar anderen Problematik: 2020 wurden 60 Prozent mehr Kinder wegen Adipositas behandelt als 2019.4 Auch andere Essstörungen wie Bulimie haben zugenommen. Aber ist dies eine wirkliche Verschiebung oder handelt es sich nur um eine andere Ausdrucksform des gleichen Problems?

Schon seit geraumer Zeit wird immer offensichtlicher, dass mit unseren Kindern etwas nicht stimmt. Allein wenn ich die Zahl der ADHS-Diagnosen betrachte, wird mir ganz schwindelig. Konzentrationsschwierigkeiten, Schlafstörungen, Traurigkeit, sozialer Rückzug, oppositionelles (trotziges oder feindseliges) Verhalten, soziale Unsicherheit und vieles mehr beeinträchtigen das Leben unserer Kinder. Wir sehen es an der großen Lustlosigkeit, an der „Kein Bock“-Haltung – kein Bock auf Schule und auch kein Bock auf Engagement. Oftmals steht hinter dem „Kein Bock“ Angst: Angst vor der Zukunft. Sie scheint für unsere Kinder immer unsicherer zu werden. Aber welche Rückschlüsse ziehen wir aus diesem Trend? Unsere Kinder und unsere Jugendlichen sind nicht anpassungsfähig? Oder wissen es nicht zu schätzen, in einem solch wohlhabenden Land zu leben? Wohl eher nicht. Denn auch die Kinderarmut in Deutschland steigt weiter an.5

Um zu verstehen, was mit unseren Kindern wirklich los ist, lohnt es sich, den Blick weg von den Symptomen hin zu den Ursachen zu lenken. So wie es bei allen Dingen eine Ursache und Wirkung gibt, so gibt es für die steigende Zahl von Verhaltensauffälligkeiten auch eine Ursache. Das Verhalten von Kindern ist lediglich ein Ausdruck ihres inneren Erlebens. Sieht man genau hin, senden unsere Kinder uns eine ganz deutliche Botschaft. Mit ihrem auffälligen Verhalten schreien sie uns förmlich an: „Seht her. Es geht uns nicht gut. Wir kommen nicht klar.“

Es ist ähnlich wie bei einer Pflanze: Wir kaufen sie und stellen sie dorthin, wo sie hübsch aussieht. Nach einiger Zeit werden die ersten Blätter welk, die Blüten fallen ab. Die Pflanze zeigt: Mir geht es nicht gut. Gedeiht eine Pflanze nicht, stellen wir uns meistens Fragen wie: „Habe ich sie genug gegossen? Steht sie am richtigen Platz? Habe ich den Dünger vergessen?“ Zeigt hingegen ein Kind „welke Blätter“, fragen wir uns, was mit dem Kind nicht stimmt, anstatt uns zu fragen, was wir vielleicht versäumt haben. Wir kategorisieren die Symptome in Störungen und geben den Kindern oder ihren Eltern die Schuld an ihrem Verhalten. Wir beschneiden junge Menschen in der Erwartung, dass sie dann neue Blätter produzieren.

Uns ist ein grundsätzliches Verständnis dafür abhandengekommen, was Kinder uns mit ihrem Verhalten signalisieren. Wir scheinen auch nicht mehr zu wissen, was sie wirklich brauchen. Vielleicht fehlt uns auch die Bereitschaft, dies wissen zu wollen. Pflanzen brauchen Licht, Wasser und Dünger. Die einen benötigen einen Standort in der Sonne, andere mögen etwas mehr Schatten. Bei Pflanzen wissen wir, was zu tun ist, oder wissen zumindest, wo wir es nachlesen können. Wissen wir das bei unseren Kindern auch? Ich habe in meiner Praxis viele verunsicherte Eltern erlebt, die nicht (mehr) wussten, was ihre Kinder wirklich brauchen, um sich gesund und störungsfrei zu entwickeln. Wer sich mit dem Thema auseinandersetzen mag, findet es ausführlich beschrieben in meinem Buch „Kindern geben, was sie brauchen“6. Dort geht es um ein Grundverständnis, was passiert, wenn wir Kindern eben nicht geben, was sie brauchen. Diese Methodik des Verstehens kommt aus der Traumatologie.

Emotionale Belastung als Erklärung für Verhalten

Woher kommt nun all das nicht „normgerechte“ Verhalten? Eine sehr einfache Antwort wäre, dass jeder Mensch und jedes Kind einzigartig ist und eigentlich in gar keine Norm passen muss. Dann wäre jegliches Verhalten von Kindern als normal und gesund anzusehen. Wir hätten dann lediglich die Aufgabe, ihnen das Andersartigsein zuzugestehen und nicht abzutrainieren. Davon sind wir jedoch weit entfernt. Stattdessen haben wir angefangen, Verhalten in Symptome und in Störungen zu klassifizieren. Angesichts der Zunahme von psychotherapeutischen Behandlungen und Verhaltensweisen, welche eben als solche Störungen klassifiziert werden, lohnt sich aber ein zweiter Blick.

Belastende Kindheitserfahrungen spielen hier eine wichtige Rolle, denn diese Erfahrungen bleiben sozusagen im System stecken, wenn es keine Möglichkeit der Aufarbeitung gibt. An dieser Stelle setze ich diese Belastungserfahrungen mit dem Begriff Trauma gleich. Was ist ein Trauma? Der Begriff kommt aus dem Griechischen und bedeutet „Verletzung“. Im psychischen Kontext ist eine Verletzung der Seele gemeint. Ein seelisches Trauma kann immer dann entstehen, wenn für ein emotional anstrengendes Erleben keine geeignete Bewältigungsstrategie zur Verfügung steht. Dabei hat fast jedes Trauma Auswirkungen auf die seelische und auch körperliche Gesundheit des Einzelnen und prägt seine Zukunft maßgeblich – und sei es durch aus dem Erleben entstandene blockierende Glaubenssätze. Aber dazu später mehr. Erst einmal geht es um das klassische Traumaverständnis.

Nehmen wir ein Beispiel: Wird ein Kind von einem Hund gebissen, kann es sein, dass diesem Erleben von Schmerz, Angst und Hilflosigkeit keine Bewältigungsstrategie gegenübersteht. Dann wird in der Folge dieses Kind Angst vor jeder Art von Hunden entwickeln und sie als Sicherheitsverhalten in Zukunft meiden. Aus einem solchen Trauma entsteht nicht zwingend eine andauernde schwere Problematik, auch wenn die Angst vor Hunden eine Einschränkung im zukünftigen Leben des betroffenen Kindes bedeutet. Ein Trauma kann aber auch zu einer sogenannten „posttraumatischen Belastungsstörung“ führen.

In der ICD 10 (Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme) ist eine posttraumatische Belastungsstörung für Erwachsene klar definiert: Es braucht ein Ereignis von „außergewöhnlicher Bedrohung oder mit katastrophenartigem Ausmaß“, welches „bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung auslösen würde“. Zusätzlich werden bestimmte Symptome benannt. Neben Reizbarkeit, Wutausbrüchen, erhöhter Schreckhaftigkeit, Konzentrationsschwierigkeiten und Schlafstörungen sind in der ICD 10 noch Vermeidungsverhalten und Wiedererleben der Belastung verzeichnet. Diese Aufzählung zeigt Parallelen zu diversen „Auffälligkeiten“, die eine Vielzahl von Kindern zeigt: Konzentrationsschwierigkeiten, Wutausbrüche, Schreckhaftigkeit, Reizbarkeit und Schlafstörungen. Einzig das Ereignis von außergewöhnlicher Bedrohung oder mit katastrophalem Ausmaß scheint zu fehlen.

Es gibt jedoch Studien, die den Zusammenhang von belastenden Kindheitserfahrungen, die nicht nur von katastrophalem Ausmaß waren, und psychischen, körperlichen und sozialen Beeinträchtigungen im weiteren Leben festgestellt haben. Die ACE-Studie 1998 und 2002 hat genau diesen Zusammenhang untersucht.7 Als belastende Kindheitserfahrungen, sprich Traumata, wurden in dieser Studie sowohl körperlicher als auch sexueller Missbrauch benannt, aber auch schwerer emotionaler Missbrauch und das Aufwachsen in einem Haushalt mit einem Alkoholiker oder Drogenkonsumenten, einem Familienmitglied im Gefängnis, einem geistig kranken oder chronisch depressiven Familienmitglied oder in einem Haushalt, in dem die Mutter körperlich misshandelt wurde oder in dem beide biologischen Elternteile nicht vorhanden waren. Dies alles sind Lebensumstände, die für einen Teil unserer Bevölkerung normal sind. Keiner würde erst mal vermuten, dass Kinder beeinträchtigt sein könnten, weil ein Elternteil depressiv ist.

Die Auswertung dieser Studie besagt, dass belastende Kindheitserfahrungen

•„quasi in jeder Familie erlebt werden unabhängig vom sozialen Status. Vielmehr noch, gerade in sozial starken Familien sind solche Erfahrungen häufig anzutreffen, obwohl sie meist unerkannt bleiben.

•auch nach 50 Jahren noch tiefgreifende Auswirkungen haben. Diese Auswirkungen zeigen sich sowohl in psychischen Erkrankungen wie Essstörungen, Süchten, Depressionen, Suizidversuchen und Burn-out als auch in körperlichen Erkrankungen wie zum Beispiel Diabetes und Herzerkrankungen und zusätzlich in sozialen Beeinträchtigungen durch eine eingeschränkte Arbeitsfähigkeit.

•somit die Hauptfaktoren für Gesundheit und soziales Wohlergehen sind.“8

Gerade die Langzeitstudie über 50 Jahre zeigt, dass Traumata zu weitaus schlimmeren Folgen führen können als zu einer akuten Belastungsreaktion. Vielmehr wird unser ganzes physisches und psychisches System in eine Dauererregung versetzt, welche auf die Abwehr einer drohenden Gefahr ausgerichtet ist. Dies hat weitreichende Folgen über die Symptomatik von Konzentrationsschwierigkeiten und Schlafstörungen hinaus, wird aber selten in Argumentationen einbezogen.

Zur Verarbeitung der Belastungserfahrung wird das Ich zum Schutz ungünstige Strategien wählen. Sie dienen dazu, den Schmerz nicht wieder fühlen zu müssen, führen aber zu weiteren Problemen. Wird zum Beispiel eine belastende Erfahrung in öffentlichen Verkehrsmitteln erlebt, wie eine Demütigung oder ein sexueller Übergriff durch Betatschen, und das Kind weigert sich in Zukunft, mit dem Bus zu fahren, wäre dies eine Vermeidungsstrategie. Ziel ist es, nie wieder ein solches Erlebnis zu haben. Einem Kind, welches öffentliche Verkehrsmittel meidet, drohen weitere Beeinträchtigungen. Es kann nicht mehr eigenständig zur Schule mit dem Bus fahren oder Freunde besuchen. Das kann wiederum zu dem Versuch führen, einen Mangel an Freundschaften zu kompensieren. Maßloses Essen ist hier eine von vielen Möglichkeiten, aber auch andere Verhaltensmuster wie Perfektionismus gehören dazu oder selbstverletzendes Verhalten. Übermäßiges Essen führt nachweislich wiederum zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen: Extreme Fettleibigkeit kann einen frühen Tod nach sich ziehen. Darüber hinaus gibt es verschiedene weitere gesundheitliche Beeinträchtigungen auf körperlicher und seelischer Ebene.

In der gesamten Forschung wird immer mehr der Zusammenhang von körperlicher Erkrankung und psychischem Stress deutlich. Stress ist dabei weitaus mehr als zu viel Arbeit oder zu viele Termine. Es geht um traumatischen Stress in Form von nicht verarbeitetem, anstrengendem emotionalem Erleben. Den Umkehrschluss, mehr auf die psychische Gesundheit zu achten, bekommen wir (noch) nicht hin.

Weitere Studien belegen, dass es einen Zusammenhang zwischen belastenden Kindheitserfahrungen – also erlebten Traumata – und psychischen Auffälligkeiten gibt. Eine Studie zeigt zudem, dass Kinder mit einem diagnostizierten ADHS oftmals sehr viele solcher belastenden Kindheitserfahrungen, also Traumata, erlebt haben. Des Weiteren wurde ein klarer Zusammenhang erfasst zwischen der Schwere eines ADHS und der Anzahl der Belastungsfaktoren.9 Mit anderen Worten, je mehr schwierige und emotional anstrengende Erlebnisse ein Kind in jungen Jahren durchleiden musste, umso wahrscheinlicher wird es eine ADHS-Symptomatik zeigen. Entwicklungspsychologisch betrachtet gibt es Phasen erhöhter Verwundbarkeit für chronisches Stresserleben.10 Besonders in der frühen Kindheit und während der Pubertät weist das menschliche Gehirn eine erhöhte Plastizität (Eigenschaft der Veränderung) und damit eine erhöhte Empfindsamkeit für Erfahrungen auf. Dies wird in weiteren Ausführungen noch eine Rolle spielen.

So entwickeln sich möglicherweise Störungsbilder aufgrund von traumatischen Erfahrungen. Zum Beispiel kann traumatischer Stress bei der Geburt zu einer Regulationsstörung führen. Kinder mit einer Regulationsstörung haben Schwierigkeiten, sich selbst zu regulieren. Dies zeigt sich durch vermehrtes Schreien oder Verweigerung der Nahrungsaufnahme. Werden die Ursachen nicht erkannt und behandelt oder kommen weitere als traumatisch erlebte Erfahrungen hinzu, können sich weitere Störungen wie eine Bindungsstörung oder ein ADHS entwickeln. Aber auch Suizidalität, Angststörungen, Essstörungen und selbstverletzendes Verhalten haben ihre Ursache fast immer in nicht verarbeitetem emotionalem Stress. Je nach Alter und weiteren belastenden Erfahrungen können fast alle psychischen Störungen ursächlich als eine Traumafolgestörung eingestuft werden.

Wenn es bei Kindern nun nicht unbedingt ein Ereignis von katastrophalem Ausmaß braucht, welche Erlebnisse können dann zu solch einem Trauma führen? Das ist sehr unterschiedlich und subjektiv und hängt davon ab, welche Ressourcen zur Verarbeitung zur Verfügung stehen. Je nach Entwicklungsphase können die verschiedensten Situationen zu solch einem Erleben führen – auch der Tod des geliebten Hamsters.

Wir halten also fest: Es gibt einen klaren Zusammenhang zwischen erlebten Traumata und psychischen Auffälligkeiten. Es gibt sogar einen Zusammenhang zwischen erlebten Traumata und körperlicher Gesundheit. Es geht jedoch um viel mehr als eine Einteilung in Störungsbilder. Kinder zeigen ihren Versuch der Verarbeitung des Erlebten in vielfältigen Verhaltensweisen. Störungsbilder sind unterteilt in Symptome. Zeigt ein Kind sozialen Rückzug und Konzentrationsschwierigkeiten und mangelndes Interesse an vorher interessanten Dingen und verliert Gewicht, dann wird es als depressiv klassifiziert. Die Störung des Sozialverhaltens zum Beispiel weist die gleichen Symptome, sprich Verhaltensweisen auf wie ein Trauma nach DSM-IV, dem weltweiten Klassifikationssystem psychischer Störungen:

•Mangelnde Affekttoleranz und -regulation (das heißt so viel wie: Das Kind kann nicht gut mit Emotionen umgehen, findet aus einem Wutanfall nicht heraus, zeigt nicht die ganze Palette von Gefühlen von Traurigkeit über Scham bis hin zu Frust, aber auch echter Freude)

•Impulsives Verhalten/Kontrollverlust (damit ist gemeint, dass Wörter und Taten sofort folgen, ohne dass das Kind darüber nachzudenken scheint. Oft zeigt es sich auch in einem großen Risikoverhalten oder im Konsum von Alkohol oder Drogen)

•Verzerrte Wahrnehmung im Sinne einer generalisierten Attribuierung von Feindseligkeit (das heißt, diese Kinder fühlen sich ständig falsch verstanden und ungerecht behandelt. Gleichzeitig haben sie nicht die Fähigkeit, sich in den anderen hineinzuversetzen und empathisch mitzufühlen)

•Dysfunktionales Weltbild (dieses ist geprägt durch eine fehlende Zukunftsperspektive und ein großes Maß an Hoffnungslosigkeit)

Wir reden hier also insgesamt von einer mangelnden Fähigkeit, mit Gefühlen umzugehen. Bei Kindern zeigt sich dies oftmals durch aufbrausendes Verhalten, Wutanfälle, aber auch in Weinerlichkeit und Ängstlichkeit. Die Steuerungsfähigkeit, das heißt die Fähigkeit, nicht direkt das zu tun, was in den Kopf schießt, sondern überlegt zu handeln, ist stark eingeschränkt oder gar nicht vorhanden. Die betroffenen Kinder fühlen sich ständig angegriffen oder übervorteilt. Auch die fehlende Zukunftsperspektive und die Hoffnungslosigkeit haben ihren Ursprung in nicht verarbeitetem emotionalem Stress – sprich Traumata. Kleinere Kinder zeigen ihren emotionalen Stress auch deutlich zum Beispiel durch regressives Verhalten, das heißt, sie haben scheinbar von der einen auf die andere Sekunde etwas vergessen, was sie schon konnten. Sie fangen wieder an, am Daumen zu lutschen, machen wieder in die Hose oder können das gelernte Einmaleins auf einmal nicht mehr. In welcher Entwicklungsphase Kinder wie genau reagieren, wird in späteren Kapiteln erörtert.

Ist jedes „auffällige“ Verhalten direkt auf traumatisch erlebten Stress zurückzuführen? Natürlich nicht, es ist wichtig, dieses von entwicklungspsychologisch normalem Verhalten zu unterscheiden. Für ein dreijähriges Kind ist es völlig normal, Angst vor Monstern unter dem Bett zu haben. Dies gehört zu seiner wachsenden Reifung und der Erkenntnis, wer das Kind ist in Bezug zu anderen. Oftmals wissen Eltern nicht mehr, was wann normal ist. Wir vergleichen gern unsere Kinder: Mein Kind kann schon laufen, deins auch? Wir setzen uns damit leider unter Stress. Andere Dinge sind uns jedoch peinlich zu fragen oder zu vergleichen. „Mein Kind hat Angst vor Monstern, deins auch?“, habe ich selten in Gesprächen gehört. Zusätzlich zu dem abhandengekommenen Wissen um die Entwicklungspsychologie lohnt sich jedoch immer ein Blick auf den erlebten Stress eines Kindes.

Wie ein Trauma funktioniert

Ein sechsjähriges Mädchen hat eine starke Angst entwickelt, von der Mama getrennt zu sein. Am Anfang war sie nur gering, inzwischen kann die Mutter nicht einmal mehr kurz das Auto verlassen, um zum Beispiel in der Apotheke etwas abzuholen, ohne dass das Mädchen in Panik verfällt. Dies passt nicht in die entwicklungspsychologischen Fertigkeiten dieses Alters, in dem es darum geht, sich immer mehr als eigenständiges Wesen in der Differenzierung zu seiner Mutter zu begreifen. Bei genauem Hinsehen ist der Grund schnell gefunden. Vor einem halben Jahr war der Vater auf Geschäftsreise und als die Kinder schliefen, ging die Mutter in den Wäschekeller. Das besagte Mädchen wurde wach von einem schlechten Traum und rief nach den Eltern. Als keiner kam, stand sie verzweifelt auf und merkte, dass niemand da war. Das hat sie im wahrsten Sinne des Wortes zu Tode erschreckt. Sie fühlte sich allein und verlassen. Ihr Körper hat dieses Erlebnis dysfunktional abgespeichert und jedes Mal, wenn die Mama sich jetzt entfernt, fühlt dieses Mädchen den Schrecken von damals und bekommt Panik.

Sehen wir uns an dieser Stelle an, was ein Trauma ist und was genau als Folge bei Betroffenen passiert. Der Begriff Trauma stammt wie bereits erwähnt aus dem Griechischen und bedeutet Verletzung, ohne zu konkretisieren, wo und wie jemand verletzt wurde. Das Fachgebiet der Psychotraumatologie befasst sich mit der Entstehung, der Erfassung, dem Verlauf und der Behandlung von seelischen Verletzungen, die infolge von extrem belastenden und/oder lebensbedrohlichen Ereignissen auftreten.11 Ein seelisches Trauma resultiert aus einem Ereignis im Leben eines Menschen, das vom individuellen Organismus als potenziell bedrohlich bewertet wurde, mit überwältigenden Gefühlen von Angst und Hilflosigkeit verbunden war, daher nicht zeitgleich verarbeitet werden konnte und für dessen Verarbeitung auch in der Folge nicht ausreichend Ressourcen (Gesundheit, andere Menschen, Geld, Nahrung, Geborgenheit…) vorhanden waren.12

Trauma ist ein Diskrepanzerlebnis im zentralen Nervensystem zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, das mit Gefühlen von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung des Selbst- und Weltbildes bewirkt.13 Die Erschütterung des Selbst- und Weltbildes bei einem Trauma bezieht sich vor allem auf diese vier elementaren Glaubenssätze:

•„Ich bin sicher.“

•„Ich bin wertvoll.“

•„Ich kann Menschen vertrauen.“

•„Die Welt ist kontrollierbar.“

Diese positiven Glaubenssätze werden im menschlichen Sein verankert, wenn die psychischen Grundbedürfnisse erfüllt werden. Professor Klaus Grawe teilt die psychischen Grundbedürfnisse folgendermaßen ein:

1.das Bedürfnis nach Bindung und Zugehörigkeit

2.das Bedürfnis nach Orientierung und Kontrolle

3.das Bedürfnis nach Lustgewinn und Unlustvermeidung

4.das Bedürfnis nach Selbstwerterhöhung und Selbstwertschutz

Die Erfüllung dieser vier Grundbedürfnisse ist ähnlich elementar für unsere positive Entwicklung wie die Stillung des Bedürfnisses nach genug Nahrung oder Flüssigkeit. Bekommen wir nicht genug Nahrung, schaltet unser Körpersystem auf „Notstrom“, das heißt, alle Organe werden nur noch rudimentär versorgt, um den ganzen Körper am Leben zu erhalten, bis die Gefahr des Verhungerns vorbei ist. Der gesamte Fokus des Organismus wird sich umstellen. Die Nichterfüllung unserer psychischen Grundbedürfnisse hat einen ähnlichen Effekt. In einem ziemlich grausamen Experiment im 17. Jahrhundert