Kindern geben, was sie brauchen - Gunda Frey - E-Book

Kindern geben, was sie brauchen E-Book

Gunda Frey

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Beschreibung

Mehr Leichtigkeit im Umgang mit Kindern

Die Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin Gunda Frey erklärt, wie die Welt von Kindern funktioniert und welche Rolle wir Erwachsenen darin spielen. Sie will stärken, Vorurteile nehmen und eine neue Blickrichtung ermöglichen. Im Fokus stehen dabei die Welt der Gefühle und Bedürfnisse und der gesunde Umgang mit ihnen. Denn Frey ist überzeugt: »Kinder entwickeln Störungen, weil sie in ihrer Entwicklung gestört werden«. Sie geht diesen Störungen auf den Grund, vermittelt Hintergrundwissen und bietet Lösungsansätze. Die Autorin hat kein geringeres Ziel, als ein gesellschaftliches Bewusstsein für die Bedürfnisse unserer Kinder zu schaffen und dass am Ende jeder sagen kann: »Das Leben mit Kindern ist leicht und macht Spaß!«

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Seitenzahl: 266

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Mehr Leichtigkeit im Umgang mit Kindern

Eltern wünschen sich für ihre Kinder den bestmöglichen Start ins Leben. Wie sie ihr Kind dabei am besten unterstützen können, erklärt die erfolgreiche Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin Gunda Frey. Sie gibt Eltern Hintergrundwissen über die Bedürfnisse von Kindern an die Hand, und befähigt sie damit, wieder mit Kinderaugen auf die Welt zu schauen sowie sich selbst besser zu verstehen.

Wie jeder Respekt vor der Individualität und den Gefühlen eines Kindes entwickeln kann, zeigt sie mit vielen Alltagsbeispielen und durch Übungen zur Selbstreflexion. So können Eltern eingefahrene Wege verlassen und ihren Kindern eine störungsfreie Entwicklung ermöglichen.

Dieses Buch ist ein leidenschaftliches Plädoyer für den Respekt vor der Individualität und den Bedürfnissen von Kindern.

Gunda Frey, erfolgreiche Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin und Traumatherapeutin, ist eine Visionärin, und hat sich die »BildungsEvolution« zum Ziel gesetzt. Sie ist Coach und Speakerin, hält Vorträge zum Thema Kinder und Bildung und gibt Workshops in Schulen und in pädagogischen Institutionen. Ihr Podcast »Entwicklungssprünge« ist einer der beliebtesten Kanäle zu Elternfragen. Über ihre Social-Media-Aktivitäten erreicht sie Tausende von Menschen.

www.gunda-frey.com

GUNDA FREY

Kindern geben, was sie brauchen

Wie sich Kinder frei und selbstbewusst entwickeln

Kösel

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Verlagsgruppe Random House FSC® N001967

Copyright © 2020 Kösel-Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlag: Weiss Werkstatt, München

Umschlagmotiv: © getty images / Catherine Delahaye

Außenredaktion: Dr. Daniela Gasteiger, München

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-641-25917-4V003

www.koesel.de

Inhalt

Erstes Kapitel

Why – Warum dieses Buch?

Echt jetzt?

Warum schreibe ausgerechnet ich dieses Buch?

Was hast du davon?

Was hat dein Kind von diesem Buch?

Zweites Kapitel

Emotionen als Basis für eine gute Entwicklung

Liebe

Grundbedürfnisse

Bedürfniserfüllung – Was braucht es dazu?

Drittes Kapitel

Verstehe das Kind

Anerkennung des Seins und der Einzigartigkeit

Gesehen werden

Offenheit

Erlaubnis

Sicherheit

Klarheit

Special:

Umgang mit digitalen Medien

Viertes Kapitel

Verstehe dich selbst

Die eigene Biografie

Verantwortung

Vertrauen

Reflektierte Eltern

Special:

Schule – Eltern und Lehrer, die die Perspektive wechseln können

Die Rückkehr zum positiven Denken

Die Macht der Worte

Fünftes Kapitel

Praktische Umsetzung und Methoden

Freiraum zur Entfaltung

Logische Konsequenzen

Special:

Was Bestrafung beim Kind auslöst

Routinen und Rituale

Motivation

Anleitung

Gefühle leben

Unterstützung und Hilfe

Schützender Rahmen

Verlässlichkeit

Sexuelle Aufklärung

Was nun?

Nachwort von Michael Ehlers

Für Lilly, Ben und JasonDanke für alles!

Erstes Kapitel

Why - Warum dieses Buch?

»Ich habe nachgemessen. Mein Kind ist großartig.«

»Mama, warum darf die Polizei bei Rot über die Ampel fahren?«

»Warum hat deine Freundin so viele Löcher im Gesicht?«

»Warum ist es nass draußen, obwohl es nicht geregnet hat?«

Kinder fragen uns sprichwörtlich Löcher in den Bauch. 90 Prozent aller Fragen fangen mit »Warum« an. Kinder entdecken so die Welt, verstehen sich dadurch selbst im Zusammenhang mit allem anderen. So soll genau diese Frage hier am Anfang stehen. Denn letztendlich hat dieses Buch ein Ziel: Das Wohl unserer Kinder.

Echt jetzt?

Noch ein Erziehungsratgeber? Muss das denn sein? Vielleicht war das Ihr erster Gedanke. Und dennoch halten Sie dieses Buch jetzt in Ihren Händen. Vielleicht wissen Sie noch nicht, ob Sie es kaufen sollen, und blättern gerade einmal darin herum. Oder Sie sind wild entschlossen und haben es bereits gekauft. Egal wie es ist, dahinter steckt der gleiche Wunsch: Es richtig machen zu wollen. Also, das mit der Kindererziehung. In Ihnen wohnt der leise Wunsch, Ihre Kinder so zu begleiten, dass sie später als Erwachsene in der Lage sind, ihr Leben zu meistern, oder? Warum aber fällt es uns oft so schwer?

Ich weiß noch: Als ich Mutter geworden bin, war meine erste Ratgeberin eine Hebamme. Sie war einfach nur wundervoll. Sie hat mich sehr gut informiert und motiviert. Ich dachte, ich wäre auf alles vorbereitet. Die Geburt war dann aber doch so ganz anders als erwartet. Geplant war eine Hausgeburt. Geworden ist es ein Kaiserschnitt mit Vollnarkose. Kinder halten sich oft nicht an unsere Pläne. Da lag ich also im Krankenhaus mit Schmerzen aufgrund der Operation, konnte mich kaum bewegen, war aber gut informiert. Ich wusste genau, was ich wollte und was nicht. Nur leider sah das Pflegepersonal das alles ganz anders. Eine Krankenschwester kam in mein Zimmer, nahm meinen Sohn und wollte mit ihm entschwinden. Daraufhin protestierte ich so laut, wie ich eben konnte. Entnervt kam die Schwester zurück, um mir mitzuteilen, dass mein Sohn nun die Standarduntersuchung bekomme. Auf meinen Einwand »Nur in meinem Beisein« reagierte sie mit einem verächtlichen Blick, nach dem Motto: »Die Frau kostet mich nur Zeit, sie tut ja so, als ob ich ihr Kind umbringen wollen würde«. Ich bestand dennoch darauf, dabei zu sein. Als ich sah, welche Standarduntersuchung gemeint war, war ich heilfroh über meine Entscheidung. Mein Sohn wurde mehrfach zur Blutabnahme in die Ferse gepiekt. Er schrie wie am Spieß. Natürlich wollte ich dabei sein, ihn trösten, ihm Mut zusprechen und sagen, dass alles gleich vorbei sein würde. Von da an war ich beim Pflegepersonal unten durch. Ich bekam keine Hilfe oder Unterstützung mehr, vermutlich dachten sie: »Die weiß ja eh alles besser.« Nein, wusste ich nicht. Es war mein erstes Kind und ich war genauso verunsichert wie jede erstmalige Mutter. Der Junge war doch noch so klein und zerbrechlich. Ich hatte Angst, ich könnte an dem kleinen Wurm etwas kaputt machen. Das Stillen klappte auch nicht wie gewünscht. Dem Pflegepersonal war das egal, sie befanden lapidar: »Gib ihm doch einfach die Flasche.« Nein. Ich wollte mein Kind stillen. Mein Sohn wurde inmitten meines Studiums geboren, das ich unbedingt beenden wollte. Das ging am besten und unkompliziertesten, wenn ich ihn stillte, von den anderen Vorteilen des Stillens einmal abgesehen. Keine Sorge, ich bin keine esoterische Stillverfechterin. Meinen zweiten Sohn habe ich beispielsweise nicht gestillt. Aber wie gesagt, das Leben mit Kindern kommt immer anders, als man denkt. Also lag ich ziemlich alleingelassen und ohne Unterstützung im Krankenhaus. Mein Sohn trank inzwischen die Milch nur noch vom Löffel. Den nahm er aber nicht in den Mund, sondern die Schwestern träufelten ihm die Milch zwischen die Lippen und er musste nur noch schlucken. Da riss mir der Geduldsfaden. Ich habe mich auf eigene Verantwortung, mit Schmerzen wegen des Kaiserschnitts, mitsamt meinem Sohn selbst entlassen. In jenem Moment wusste ich zumindest, was ich nicht wollte: In diesem Krankenhaus bleiben.

Zu Hause angekommen, rief ich erst meine Hebamme, dann meine Freundin, Mutter von sechs Kindern, an. Mit der Hilfe dieser beiden wundervollen Frauen brachte ich meinem Sohn in den nächsten Wochen das Trinken an meiner Brust bei. Und sie gaben mir das gute Gefühl, dass ich meinem Urteil trauen konnte.

Und darin liegt die Schwierigkeit: Es gibt so viele Ratgeber, und in jedem steht etwas anderes: »Stillen als Pflicht bis Zwang – sonst ziehst du dir einen Zombie groß.« »Jedes Kind kann schlafen lernen – du musst es sich nur unter Kontrolle die Seele aus dem Hals schreien lassen.« »Ihr Kind hat bestimmt ADHS1, es kann im Stuhlkreis nicht still sitzen. Bitte gehen Sie mal mit ihm zum Arzt und lassen das prüfen.«

Mama, Papa, Oma, Opa, Tante, Onkel, Erzieher, Lehrer, Hebamme, Kinderarzt – jeder sagt etwas anderes. Wie soll man sich da noch zurechtfinden? Woher weiß ich, was nun richtig ist und was nicht? Je nach Erziehungsratgeber gibt es unterschiedliche Antworten. Und Sie mittendrin. Vielleicht sind Sie gerade erst Mutter oder Vater geworden, halten dieses Wunder auf dem Arm und schwören sich, dass Sie alles für dieses bezaubernde Wesen tun werden, damit es gut groß wird. Aber leider wissen Sie oft nicht, was das konkret ist. Ihr Kind hat leider keine vollautomatisierte Leuchtreklame über seinem Kopf, die sofort angeht, wenn es weint, und mitteilt: »HUNGER«, »KUSCHELN«, »WINDELVOLL«. Am Anfang müssen Sie alles erraten. Vielleicht ist Ihr Kind auch schon älter und Sie fragen sich in der einen oder anderen Situation: »Was ist nun richtig?« Vielleicht fällt Ihr Kind aus der gesellschaftlich vorgegebenen Norm, und Sie bekommen die entsprechenden Aufforderungen: »Unternehmen Sie etwas. Ihr Kind passt nicht.«

Allein mit dem Thema »Nicht-in-die-Norm-Passen« könnte ich mehrere Kapitel dieses Buches füllen. Nur zwei kleine Beispiele.

Mein erster Sohn hat sich als Scheidungskind seinen Platz erkämpfen müssen. Manchmal wird er noch heute in der Schule von Lehrern abgestempelt, weil er eine kurze Sturm-und-Drang-Phase hatte, obwohl sein Verhalten inzwischen vorbildlich ist.

Mein zweiter Sohn kam zu mir, als er zwei Tage alt war. Die leibliche Mutter war sehr jung und aus der Sicht des Jugendamtes nicht in der Lage, für ihn zu sorgen. Die Schädigung durch den Drogenkonsum der Mutter während der Schwangerschaft reichte aus, um ihn zu einem besonderen Kind werden zu lassen. Er ist außergewöhnlich charmant und liebenswert, mit einer Menge Potenzial. Aber er passt nicht in unser System. Sein Wesen stellt das Lehrpersonal vor eine Herausforderung, der es nicht gewachsen ist. Er wurde aussortiert, obwohl er viel zu begabt für eine Förderschule ist. Inzwischen haben wir Glück gehabt: Das Jugendamt bezahlt ihm eine Privatschule, damit er die gleiche Chance auf ein normales Leben bekommt wie andere Kinder auch.

Was ich damit sagen will: Bei beiden Söhnen habe ich mich nicht davon abbringen lassen, auf mein Gefühl zu hören – von Beginn an. Und es hat uns dreien gut getan.

Ist dieses Buch ein klassischer Erziehungsratgeber nach dem Motto: »Machen Sie dies auf die eine Weise und das auf die andere Weise«? Nein. Jedes Kind ist individuell und besonders. In meinen Augen wäre ein solcher Ratgeber nicht möglich – oder er würde so dick werden, dass ihn keiner lesen will. Ist es ein Buch der Kritik an unserem Bildungssystem? Vielleicht ein bisschen. Aber da wir alle ein Teil des Systems sind, wäre es dann auch Kritik an jedem Einzelnen. Das wäre dumm von mir. Ich möchte Sie ja gewinnen und nicht vor den Kopf stoßen.

Dieses Buch soll eine Hilfestellung sein, sich in dem Dschungel der unterschiedlichen Meinungen und Methoden zurechtzufinden. Das Einzige, was Sie dazu benötigen, ist ein bisschen Hintergrundwissen darüber, was Kinder wirklich brauchen. So wie im echten Dschungel: Dort ist es beispielsweise hilfreich zu wissen, welche Pflanzen giftig sind oder wo gefährliche Schlangen leben. Den Dschungel durchschreiten müssen Sie selbst. Dafür braucht es Mut und Durchsetzungsvermögen. Deshalb ist es hilfreich, sich selbst zu kennen, seinem Bauchgefühl vertrauen zu können. Also will dieses Buch Ihre Intuition stärken, Vorurteile wegnehmen, eine andere Blickrichtung ermöglichen. Jeder soll und kann mit Kindern leben oder arbeiten und aus tiefstem Herzen sagen: »Das macht Spaß und ist leicht!« Wir haben alles, was wir dazu benötigen, in uns. Und da ich ermutigen möchte, werde ich ab jetzt ins Du wechseln. Ich bin selbst Mutter und möchte dir als fachkompetente Freundin ein paar Anregungen geben, wie die Welt der Kinder meiner Meinung nach funktioniert und welche Rolle wir Erwachsenen darin spielen. Ich freue mich, wenn du den einen oder anderen Impuls aufnimmst und umsetzt, zu deinem eigenen Wohle und dem Wohl deines Kindes oder deiner Kinder.

Warum sind so viele Kinder (vermeintlich) gestört?

Die Flut an Anfragen für Psychotherapie für Kinder, deren Verhalten als problematisch gilt, ist schon jetzt nicht zu bewältigen. Die allgemeine Wartezeit auf einen Therapieplatz von ungefähr einem Jahr ist für keinen zumutbar. Eine wichtige Frage in diesem Zusammenhang ist, was genau eigentlich so schiefläuft? Wenn Kinder auf die Welt kommen, sind sie in der Regel physisch und psychisch gesund. Natürlich gibt es Ausnahmen, zum Beispiel bei einer Frühgeburt oder einem lebensbedrohlichen operativen Eingriff direkt nach der Geburt. Was passiert also auf dem Weg des Heranwachsens, dass Kinder Störungen herausbilden und in ihrer Entwicklung sprichwörtlich aus der Rolle fallen? Ich rede von den auffälligen Kindern, die nicht still sitzen können, von ihren verschiedenen Phobien bis hin zur Schulphobie, von Zwangsstörungen und Essstörungen bis hin zu selbstverletzendem Verhalten. Für mich ist die Antwort ganz einfach und klar:

Kinder entwickeln Störungen, weil sie in ihrer Entwicklung gestört wurden.

Nun muss es nicht ausgerechnet, wie bei der Geschichte meines Pflegesohnes, das extreme Beispiel von Drogenkonsum während der Schwangerschaft sein. Mögliche weitere Störungen in der Kindesentwicklung basieren schlicht auf der Tatsache, dass wir verlernt haben, die Welt durch die Augen der Kinder zu betrachten: Wir können ihre Bedürfnisse nicht fühlen.

Warum müssen kleine Kinder eine halbe Stunde und länger in einem Stuhlkreis still sitzen? Es werden so viele Eltern mit ihren Kindern zu mir oder zum Kinderarzt geschickt, weil sie mit drei oder vier Jahren einfach nicht ruhig auf dem Stuhl sitzen wollen.

Warum dürfen Kinder keinen Lärm mehr machen?

Ich bin die ersten drei Jahre meines Lebens in der Türkei aufgewachsen, in Istanbul, um genau zu sein. Wir haben in einem Haus mit mehreren türkischen Familien gelebt. Die waren immer besorgt, wenn wir Kinder ganz leise waren. Dann kamen sie zu uns und fragten meine Mutter, ob wir krank seien und sie für meine Mutter zur Apotheke gehen sollten.

Warum werden in den meisten Schulen schlechte Leistungen bewertet? Es wird benotet, was Kinder nicht können, aber ihre Stärken werden nicht gestärkt. Schule erzeugt Druck auf verschiedenen Ebenen: Der Druck, pünktlich um 8 Uhr morgens da zu sein, die Klassenarbeit abzugeben, auch wenn man noch nicht fertig ist, der PISA-Studie und anderen Studien gerecht zu werden, gute Noten zu schreiben, verglichen zu werden, sich acht Stunden am Tag oder länger an das System anzupassen und dabei stets zu funktionieren und die Erwartungen von außen zu erfüllen. Es gibt noch viele weitere Beispiele. Und du wirst wahrscheinlich zustimmen und sagen: »Genau, das Bildungssystem ist schuld, der Kindergarten, die Schule. Die Politiker sollen endlich mal etwas tun!« Aber Moment, so einfach ist es auch nicht.

Wie Erwachsene Kinder in ihrer Entwicklung stören

Merle, ein gebildetes, hübsches Mädchen kommt zu mir in die Praxis. Sie hat noch ein Jahr bis zum Abitur und bringt ein Paket von Diagnosen mit: Depression, soziale Phobie2, ADS3. Sie möchte ein gutes Abitur absolvieren, ist aber antriebslos und traut sich nicht, die erforderliche mündliche Leistung zu zeigen. Schon im Erstgespräch wird deutlich, dass da ein »Splitter« ziemlich tief in ihrer Seele sitzt und noch immer starke Schmerzen verursacht. Eine Verhaltenstherapie hat sie bereits erfolglos hinter sich gebracht. Ich frage nach dem Splitter, dieser Erfahrung, die immer noch so schmerzt. Sie berichtet von ihrer ersten Schulwoche. Sie hatte sich so auf die Schule gefreut, war wissbegierig und lebensfroh. Am Ende dieser ersten Schulwoche sagte der Lehrer: »Alle Kinder, die ein Nomen mit I sagen können, dürfen früher in die Pause gehen.« Meine Patientin meldete sich und sagte voller Stolz: »Igitt«. Der Lehrer entgegnete darauf trocken: »Das ist kein Nomen, du bleibst als Letzte sitzen.« Als sie mir davon berichtet, rollen ihr die Tränen über die Wangen. Sie kann den Schmerz und die Scham noch voll spüren, ganz genauso wie vor elf Jahren. Diese Erfahrung mit den damit verbundenen Gefühlen hatte sich fest eingebrannt. Ein tiefgehender Glaubenssatz wurde in dieser Stunde geboren: »Ich bin dumm.« Die Mutter berichtete mir bei einem anderen Termin zudem von der Geburt, die durch das unachtsame Verhalten der Hebamme als traumatisch bezeichnet werden kann. Beide Ereignisse haben dieses Mädchen in ihrer Entwicklung gestört. So konnte sie dann später, während der Abiturphase, nicht ihr gesamtes Potenzial abrufen, weil der Schmerz so tief saß.

Erwachsene stören Kinder in ihrer Entwicklung in den meisten Fällen nicht bewusst und mit Absicht. Bei diesem Fallbeispiel waren das Verhalten einer Hebamme und eines Lehrers die Auslöser für eine Traumatisierung. Als traumatisch können alle Ereignisse bezeichnet werden, die starken emotionalen Stress verursacht haben, der nicht verarbeitet wurde. Ein Erinnern an dieses Ereignis macht dadurch heute noch Stress. Studien belegen, dass solche Erlebnisse in den ersten sechs Lebensjahren zu massiven Entwicklungsstörungen führen können.4 Kognitive Einschränkungen sind als Folge möglich, aber auch soziale Defizite: Kinder können dann Gefühle nicht benennen, Signale in sozialen Kontexten nicht erkennen oder sie haben schlichtweg Angst. In meinen Augen gibt es zwei Hauptkategorien von Verhaltensweisen aufseiten der Erwachsenen, die die Entwicklung ihrer Kinder stören:

Unachtsamkeit bis hin zu Gewalt oder Vernachlässigung

Gewalt, Vernachlässigung, sexueller Missbrauch oder andere Erlebnisse mit hoher emotionaler Belastung, wie Tod oder Trennung, sind leicht nachzuvollziehende Entwicklungsblocker. Hier reicht unsere Vorstellungskraft aus, um sagen zu können, dass Erlebnisse wie diese für ein Kind traumatisch sein können. Aber oftmals reichen bereits vermeintlich weniger verletzende Erfahrungen aus.

Der zuvor im Beispiel genannte Lehrer etwa war unachtsam. Er konnte nicht wissen, welche Folgen sein Ausspruch haben könnte. Denn es ist zu berücksichtigen, dass ein erlebter traumatischer Stress nicht per se von der Intensität der belastenden Situation abhängt. Jeder Mensch empfindet die gleichen Dinge subjektiv anders. Was für das Mädchen ein schwer zu verarbeitendes Erlebnis war, ringt einem anderen Menschen vielleicht nur ein Schulterzucken ab. Ereignisse aber, die auch nach mehreren Jahren noch starken emotionalen Stress auslösen, können als traumatisch bewertet werden. Bei mehreren als traumatisch empfundenen Erfahrungen ist die Wahrscheinlichkeit einer Entwicklungsstörung relativ groß. Das heißt im Umkehrschluss: Es braucht eine erhöhte Achtsamkeit im Umgang mit Kindern.

Wiederholung des eigenen Dramas

Die zweite Störungsform tritt meist dann auf, wenn Erwachsene ihr eigenes Drama nicht aufgelöst haben. Als Beispiel sei hier eine Mutter genannt, die in ihrer Grundschulzeit gemobbt wurde und fortan unter sozialen Ängsten litt. Mit der Einschulung ihres Sohnes wiederholte sie unbewusst ihr eigenes Drama und übertrug es auf den Jungen. Sie befürchtete also, ihrem Sohn würde das Gleiche widerfahren wie ihr. Um jeden Preis wollte sie ihn vor den »bösen anderen Kindern« beschützen. Also brachte sie ihn jeden Tag bis in den Klassenraum und überprüfte während der Pausen, wie sich die Kinder ihrem Sohn gegenüber verhielten. Dieser Junge hatte dadurch nicht genügend Freiraum, sich selbst zu entdecken und frei zu entwickeln. Stattdessen zeigte er bald die gleiche Ängstlichkeit, die seine Mutter damals hatte. Durch ihr Verhalten hatte sie ihm konstant signalisiert: »Die Welt ist böse.«

Jetzt denkst du vielleicht: »Immer achtsam sein – das kann ja keiner leisten.« Oder: »Na ja, so schlimm ist es bei mir ja nicht.« In der Tat, fehlerfrei können wir unsere Kinder nicht erziehen. Und jeder von uns trägt seine eigenen inneren Dramen und Baustellen mit sich herum. Aber genau darum geht es ja: Veränderung im Kleinen für mich und somit auch für meine Kinder. Achtsamkeit kostet nicht viel. Sie ist so etwas wie ein geschultes Bewusstsein. Dazu will dieses Buch beitragen; es soll dir helfen, dein Bewusstsein für dein Kind zu schulen. Vielleicht bist du gar nicht so überängstlich wie jene Mutter. Aber auch eine Mutter, die ihrem Nachwuchs das Klettern oder Balancieren auf Mauern verbietet, weil es ja gefährlich sein könnte, schränkt die Entwicklung ein. Es ist schon komisch – wenn Kinder laufen lernen, feuern wir sie an und freuen uns. Jedes Hinfallen wird mit Ermutigungsrufen und positiver Bestätigung kommentiert: »Du schaffst das! Versuch’s noch mal!« Sobald Kinder diese Entwicklungshürde gemeistert haben, dreht sich im Kopf von uns Erwachsenen etwas um. Die Anfeuerungs- und Ermutigungsrufe werden geändert in »Vorsicht!«- und »Pass-auf!«-Rufe. Ist dir das schon einmal aufgefallen?

Höchststand in der Fremdunterbringungsquote

Es ist erschreckend. Noch nie zuvor wurden so viele Kinder fremd untergebracht wie in der heutigen Zeit. In dem Zeitraum von 2006 bis 2016 hat sich die Zahl der Inobhutnahmen verdreifacht.5 Kinder werden in Obhut genommen, weil bei den leiblichen Eltern eine Kindeswohlgefährdung besteht. Teenager melden sich freiwillig beim Jugendamt und bitten um Fremdunterbringung, weil sie es zu Hause nicht mehr aushalten. Was ist nur mit unserer Gesellschaft los? Anscheinend wissen wir nicht mehr, was Kinder wirklich brauchen: Respekt, Wärme, Liebe, Nähe, Lob und Anerkennung, Kontrolle, Wertschätzung und Schutz. Fremdunterbringung heißt aber nicht automatisch, dass es den Kindern besser geht. Eine Inobhutnahme vor dem sechsten Lebensjahr hat weitreichende Folgen für die gesamte Entwicklung eines Kindes. In manchen Fällen sind diese Maßnahmen zwingend erforderlich. In anderen jedoch nicht. Allerdings fehlt es den Heimen, Pflegefamilien und Jugendämtern oftmals an Wissen darüber, was Kinder wirklich benötigen. Es bräuchte Familienhilfe und Beratung, die die Familien umfassend darin unterstützt, ihre Aufgabe gut zu meistern. Leider habe ich die Erfahrung gemacht, dass die Kompetenz vieler Sozialarbeiter eher fragwürdig ist. »Ich weiß, wie das geht. Ich habe ein Buch darüber gelesen«, war die Aussage einer Mitarbeiterin des Jugendamtes, die für die Betreuung von Pflegefamilien zuständig ist.

Es braucht ein gesamtgesellschaftliches Umdenken, was den Umgang mit unseren Kindern und Familien angeht.

Warum schreibe ausgerechnet ich dieses Buch?

MeineeigeneKindheithabeichoftalsnichtganzsoglücklicherlebt.IchbinineinergutbürgerlichenFamiliedesMittelstandesgroßgeworden.IchhabezweiältereSchwesternundmeineElternhabenallesgetan,umunsnachbestemWissenundGewissengroßzuziehen.BisaufdiedamalsnochüblichenSchlägemitdemKochlöffelbeimanchen»Straftaten«istnichtsSchlimmerespassiert.WarumhabeichmeineKindertagedannnichtalsglücklicherlebt?EinGrundistmitSicherheitdieSchulzeit.Ichwarschonimmeretwasanders,binderZeithinterhergehinkt.IchwurdeineineGanztagsgrundschuleeingeschult.AlsichdasdritteSchuljahrerreichthatte,wechselteichaufeineweiterentferntliegendeSchule,inwelcherderUnterrichtbereitsmittagsendete.IchhabeeinfachnichtbiszumspätenNachmittag,wieinderGanztagsgrundschule,durchgehalten.ZudemwaresinmeinerFamiliesozusagenderausdrücklicheWunsch –wennnichtsogareinePflicht –Abiturzumachen.SowurdenwiralleamgleichenGymnasiumangemeldet,natürlichnacheinander,verstehtsich.IchmusstediefünfteKlasse»freiwillig«wiederholen.Ichhabenurdagesessen,geträumtundmitmeinenStiftenBildergemalt.Ichwarnochnichtsoweit.HeutewürdeichwohleineADS-Diagnosebekommen.Schulehatmichüberfordert.NachmittagshabeichzuHausegesessenundgeheult.DieHausaufgabenhabenmichnochmehrüberfordert.MeineElternwaren»sehrklar« –sagensie.Ichnenneesstreng.IchmussteTextesolangeschreiben,bissiefehlerfreiwaren.DasistfürmichbisheuteeineKunst,dieichnichtbeherrsche.Alsokannstdudirvielleichtvorstellen,wiegroßmeinFrustwar.InderachtenKlassehabeichdannnocheinmaleineEhrenrundegedreht.ErstimzehntenSchuljahrhabeichverstanden,wieSchulefunktioniert,undhalbwegsmitgemacht.NachinsgesamtelfSchuljahreninMittel-undOberstufe,stattregulärneunJahren,hieltichendlichmeinAbiturzeugnisindenHänden.ÜberdenachtjährigenBildungsgangbiszumAbitur,G8 genannt,brauchteichdamalszumGlücknichtnachzudenken.DaswäreeinenochgrößereKatastrophegeworden.

Ein anderer Grund für meine als nicht so glücklich empfundene Kindheit ist das Erziehungsverständnis, in dem ich groß geworden bin. Bei uns war Gerechtigkeit besonders wichtig. So wurden wir drei Mädchen alle genau gleich erzogen. Was sich zunächst fair anhört, war für mich jedoch ein Problem. Ich, Gunda, und zwar so, wie ich war, habe mich nicht wahrgenommen gefühlt. Außerdem war ich in den meisten Fällen noch nicht so weit wie meine Schwestern.

Vielleicht durch mein eigenes Unglücklichsein in meiner Kindheit – ohne nach außen ersichtliche Gründe wie Gewalt oder Vernachlässigung – habe ich ein besonderes Gespür dafür entwickelt, was Kinder und Jugendliche wirklich brauchen. Schon mit 17 Jahren habe ich mich in der ehrenamtlichen Jugendarbeit engagiert. Erst half ich nur bei der Einrichtung im Ort mit, dann auch bei der überregionalen. Ich leitete Jugendfreizeiten, schulte Jugendmitarbeiter, brachte ihnen bei, was sie über die Kids wissen mussten. Ich organisierte Jugendkongresse mit und wurde so etwas wie der »Gemeindejugendwart«. Was für ein Wort! Dieser Wart, also ich, kümmerte sich um die Gemeinde-Jugendarbeit im gesamten Rheinland. Ich betreute die Mitarbeiter und kümmerte mich darum, dass es ihnen gut ging. Ich führte zudem viele seelsorgerische Einzelgespräche mit Jugendlichen. Auf Neudeutsch heißt das so viel wie: Ich war ihr Coach.

Ich erinnere mich noch an das Bundesjugendtreffen, das vor 31 Jahren in Bochum auf dem Gelände der Zeche Zollverein stattfand. 4000 Jugendliche wurden in sogenannte Familiengruppen aufgeteilt. Ich selbst war eine Familiengruppenleiterin, gerade mal 18 Jahre jung. Meine »Familie« bestand aus zwölf Teilnehmerinnen, die ihre Zelte um ein Familiengruppenzelt herum aufgebaut hatten. Am zweiten Abend vertraute sich mir eine 16-Jährige aus meiner Gruppe an. Sie erzählte von ihrem gewalttätigen Stiefvater. Zeigte mir eine Narbe auf dem Handrücken – da habe der Stiefvater ihr mit der Fonduegabel reingestochen, als sie sich ein Brot nehmen wollte, nur so zum Spaß. Ich war geschockt. Ich fand ein paar aufmunternde Worte und begleitete sie zum abendlichen Konzert. Danach suchte ich mir einen Supervisor. Ich erzählte ihm die Geschichte und sagte: »Wir müssen sofort etwas unternehmen, das Mädchen muss aus der Familie raus.« Mein Supervisor reagierte ganz gelassen: »Sie ist 16 Jahre alt. Sie kann selber zum Jugendamt gehen. Wenn sie es so lange ausgehalten hat, wird sie es auch noch die zwei Jahre, bis sie volljährig ist, aushalten. Sie wohnt in Bayern. Wir können von hier aus nichts tun.« Mein Helfersyndrom wollte und konnte das nicht zulassen. Ich wollte sie retten. Ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen. Am Morgen wusste ich, dass mein Supervisor Recht hatte. Ich konnte sie nicht retten. Sie würde ihren Weg gehen müssen. Bei diesem Treffen konnte ich sie lediglich stärken und ihr eine gute Zeit bereiten, aber nicht mehr.

Auch heute kann ich nicht alle retten, die zu mir kommen. Ich würde wirklich vielen Kindern gerne ein neues Zuhause geben, aber damit allein ist es eben nicht getan. Also habe ich erfolgreich andere Wege gesucht, um Kindern und Jugendlichen helfen zu können. Erst studierte ich Sozialpädagogik, doch diese Ausbildung gab mir nicht genügend Werkzeug an die Hand. So wurde ich Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin. Auch das reichte mir nicht. Ich wollte unbedingt den Zusammenhang zwischen unseren Erfahrungen und unserem Handeln verstehen. Deshalb ließ ich mich zur Traumatherapeutin ausbilden. Das Ziel war immer, Kindern und Jugendlichen bestmöglich dabei zu helfen, ihr Leben meistern zu können. Inzwischen gehöre ich zu den gefragtesten Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten sowie Traumatherapeuten in meiner Region. Das reichte mir noch immer nicht, denn in der Therapie sitzt immer nur ein Kind. Es brauchen aber so viele Kinder Hilfe, eigentlich eine ganze Generation von Kindern. Sie schreien danach, dass wir Erwachsene wieder lernen, mit den Augen der Kinder zu sehen, sie zu verstehen und unser Verhalten und unsere Erwartungen verändern. Aus diesem Grund habe ich dieses Buch geschrieben: In der Hoffnung, dass sich viele Menschen dazu herausfordern lassen, die Perspektive zu wechseln und wieder mit den Augen der Kinder sehen lernen wollen.

Psychotherapeutin, Traumatherapeutin und Ausbilderin

Irgendwann auf meinem Lebensweg hatte ich einmal den Plan gefasst, einen Bauernhof zu betreiben und dort mit Straßenkindern zu leben. Mein Traum war es, diesen Kindern eine Chance zu geben, die sie sonst nicht bekommen würden.

Nach meinem Sozialpädagogikstudium nahm ich daher einen Minijob in einer Wohngruppe an. Dort widerfuhr es mir zum ersten Mal, dass mein empathisches Grundverständnis nicht ausreichte, um mit Jugendlichen zurechtzukommen. Das Studium hatte mir weder praktisches Wissen noch Fertigkeiten vermittelt, um adäquat mit einem traumatisierten Halbstarken umgehen zu können. Damals dachte ich noch: »Hauptsache, ich habe das letzte Wort.« Dieser Schuss ging nach hinten los. Die Situation eskalierte. Der Jugendliche türmte durchs Fenster, nachdem er eine Tür kaputtgetreten hatte.

Spätestens in jenem Moment wusste ich, dass Interesse und Mitgefühl allein nicht ausreichen und mein Studium mir nicht sonderlich geholfen hatte. Also habe ich weiter gelernt und mich zur Psychotherapeutin ausbilden lassen. Ich wusste schon damals instinktiv, dass ich auch mich selbst besser verstehen lernen müsste, um meine zukünftigen Patienten verstehen zu können und sie nicht noch mit meinen eigenen Baustellen zu belasten. Insofern habe ich direkt im Anschluss die Traumatherapie-Ausbildung absolviert. Thomas Hensel, Buchautor, Therapeut und Begründer eines Ausbildungsinstituts, vermittelte mir den sogenannten stressorbasierten Ansatz. Dieser Ansatz geht davon aus, dass unverarbeitete, belastende Lebenserfahrungen als »Stressoren« die Ursache für eine Vielzahl von Störungen sein können. Es geht darin also um den Zusammenhang zwischen unseren Erfahrungen, Gefühlen und täglich getroffenen Entscheidungen, bewusst und unbewusst.6 Endlich verstand ich in Gänze, was mit unseren Kindern heute los ist, wo und wie wir sie unbewusst in ihrer Entwicklung stören. Ich habe verstanden, was nicht verarbeiteter Stress mit Kindern und auch mit Erwachsenen macht. Der Unterschied ist nur, dass wir Erwachsenen uns auch selbst davon befreien können, wenn wir die richtigen Techniken anwenden. Kinder dagegen benötigen dabei unsere Hilfe. Vieles, was ich über Jahrzehnte hinweg intuitiv verstanden und richtig gemacht hatte, bekam jetzt einen Namen und ein Erklärungsmodell. Es ist so einfach und gleichzeitig so anschaulich, dass jeder es verstehen kann.

Eigentlich sind die Erkenntnisse zu den Zusammenhängen zwischen früheren Erlebnissen und heutigem Handeln nichts Neues. Der Neurowissenschaftler Joe Dispenza beispielsweise geht darauf ganz eindrücklich in seinem Buch Werde übernatürlich ein. Auch der Coach und Buchautor Robert Betz ermuntert Erwachsene, sich aus dem Drama ihrer Kindheit zu befreien und Frieden zu schließen. Aber was wäre, wenn es dieses Drama in der Kindheit unserer Kinder erst gar nicht gäbe? Wie fundamental wäre es denn, wenn ich mich später nicht erst von etwas befreien müsste, sondern direkt befreit aufwachsen würde?

Da der stressorbasierte und von mir weiterentwickelte Ansatz so einfach ist und dennoch eine große Veränderung für Kinder bedeuten kann, bilde ich inzwischen Traumatherapeuten und -pädagogen in diese Richtung aus. Aber auch das reicht mir noch nicht. Ich erarbeite derzeit mit den beiden Hauptdozentinnen meines Ausbildungsinstituts, Eva Schoofs und Diana Steen, ein eigenes smartes Konzept. Dieses Konzept soll jedem, der mit Kindern arbeitet oder lebt, in Kürze die notwendigen Grundkenntnisse vermitteln, damit das Leben und Arbeiten mit Kindern wieder leicht wird und Spaß macht.

Ich habe mein Leben dem Wohl meiner eigenen Kinder und dem Wohl der Kinder in unserer Gesellschaft verschrieben. Deswegen agiere ich nicht nur als Therapeutin und Ausbilderin in meiner Praxis, sondern trete auch hinaus in die Öffentlichkeit, um auszusprechen, was notwendig ist.

Meine Praxis – Psychotherapie für Kinder

Seit sieben Jahren führe ich eine Praxis für Psychotherapie. Als Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin helfe ich Kindern, mit den unterschiedlichsten Schwierigkeiten fertigzuwerden. Als Spezialistin für ADHS, Traumata und Pflegekinder habe ich mir schnell einen Namen gemacht. Inzwischen muss man bei mir zwei Jahre auf einen Therapieplatz warten. Bei der Vorstellung, dass meinem Kind etwas Schreckliches passiert und es Hilfe bei der Verarbeitung braucht, wird mir bereits ganz anders. Doch im Wissen, es müsste auch noch lange Zeit auf diese Hilfe warten, würde ich als Mutter all meine Kräfte mobilisieren – und wenn ich alle Therapeuten mehrfach anrufen müsste. Aber wie kommt die lange Wartezeit überhaupt zustande? Das ist nicht nur bei mir der Fall. Es gibt inzwischen genügend Studien, die belegen, dass die psychotherapeutische Versorgung nicht zeitnah ermöglicht werden kann.

Zum Verständnis, vereinfacht dargestellt: Eine Abrechnung von Therapieleistungen über die Krankenkasse ist nur möglich, wenn der Therapeut oder Arzt eine entsprechende Zulassung hat. Diese wird in einem besonderen Verfahren vergeben. Es gibt aber nicht unendlich viele Zulassungen. Ein Gremium errechnet, wie viele Augenärzte, Frauenärzte, Allgemeinmediziner und auch Therapeuten eine Stadt benötigt. Diese Entscheidungen richten sich unter anderem nach der Einwohnerzahl. Natürlich werden besondere demographische Daten, wie beispielsweise eine erhöhte Armut in bestimmten Stadtteilen, nicht mit einbezogen. Und das, obwohl erhöhte Armut nachweislich eine Auswirkung unter anderem auch auf die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen hat.7

Die Psychotherapeuten kämpfen für mehr Zulassungen, denn die allgemein lange Wartezeit auf einen Therapieplatz scheint ja auf eine klare Unterversorgung hinzuweisen. Doch ist dem wirklich so? Die Antwort lautet: ja und nein. Ja, es gibt einen Mangel an niedergelassenen Psychotherapeuten. Nein, die Unterversorgung liegt nicht allein in den mangelnden Zulassungen begründet. Diese Sicht wäre zu einseitig. Es gibt auch zu viele Kinder und Jugendliche, die Hilfe benötigen. Das wiederum liegt daran, dass nicht die Ursachen für Störungen bekämpft werden, sondern lediglich die Symptome. Mehr Zulassungen würden bedeuten, dass wir zwar mehr Störungen behandeln könnten. Aber wäre es nicht viel hilfreicher, deren Entwicklung von vorneherein zu verhindern und über potenzielle Ursachen zu informieren?