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Loes den Hollander

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Beschreibung

Das Böse liegt in der Familie Von klein auf hat Thea unter ihrem kaltherzigen, strenggläubigen Vater gelitten. Jetzt ist er achtzig und auf Theas Pflege angewiesen – doch sie fühlt sich wie eine Gefangene. Zum runden Geburtstag des Vaters kommen die übrigen Geschwister zu Besuch. Streit gab es immer, diesmal eskaliert er: Ist die Mutter damals wirklich freiwillig fortgegangen und hat nie wieder von sich hören lassen? Das Familientreffen gerät zum blutigen Albtraum, als Thea aus dem Hinterhalt angeschossen wird – und sie ist nicht das letzte Opfer aus dem Kreis der Geschwister …

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Seitenzahl: 448

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Loes den Hollander

Das vierte Gebot

Thriller

Deutsch von Annette Wunschel

Für Hugo,

der seiner Mutter ein guter Sohn war.

Und seine Mutter wusste das.

ERSTER BRIEF AN MEINEN VATER

Manchmal ertappe ich mich bei dem Wunsch, deine ganzen Märchen aus meinem Gedächtnis zu löschen, wie man das mit einem Text am Rechner macht, der einem nicht gefällt. Einfach die Delete-Taste drücken.

Leerer Bildschirm.

Angenehm leer.

Überraschend wohltuend leer.

Ich führe diese Phantasie immer noch etwas weiter. Ich möchte dich aus meinem Leben löschen. Also stelle ich mir vor, wie ich deinem klapprigen alten Körper so einen kleinen Delete-Schubs gebe. Und weg ist Vater.

Auf ewig verschwunden.

Zur Hölle gefahren, wo du hingehörst.

Doch wenn ich mich diesen Gedanken hingebe, fühle ich mich schuldig. Das schaffst du immer noch, dieses ungesunde Schuldgefühl in mir aufsteigen zu lassen.

Wie machst du das bloß?

Die Welt ist voller Versuchungen, hast du uns unablässig ermahnt. Der Teufel steckt in allem, was euch in eurer Verblendung anziehend erscheint. Zum Beispiel die Disco oder das Fernsehen. Ihr denkt, solche Dinge machen das Leben reicher; dabei wird ihm etwas genommen: Tiefgang, Besinnung, reines Glück.

Zum Tanzen gehe ich trotzdem wahnsinnig gern. Ich tanze, bis mir die Füße wehtun, das macht mich glücklich. Wenn ich tanze, denke ich ausschließlich an angenehme Dinge, und dabei kommen mir die besten Ideen.

Die Frau wurde aus Adams Rippe erschaffen, hast du uns gelehrt. Sie und der Mann wurden einander gegeben, um sich gegenseitig zu helfen, doch in einer ehelichen Beziehung trifft allein der Mann die Entscheidungen. Wahre Liebe ist auf Vertrauen und Hingabe gegründet, und die Frau zeigt ihre eigentliche Stärke, indem sie sich unterwirft. Denn erst mit diesem Schritt schenkt sie dem Mann ihr volles Vertrauen. Das zeugt dann von Mut und Einsicht.

Ich bin nur allergisch gegen alles, was mit Abhängigkeit zu tun hat. Mir wird schon übel, wenn ich bloß das Wort «unterwerfen» höre. Da bekomme ich direkt Gewaltvisionen. Und dem Mann, dem ich mein volles Vertrauen schenken könnte, bin ich auch noch nicht begegnet. Weil du mein Vertrauen sozusagen fachkundig zerstört hast. Aber dass ich deswegen feige bin, das kann ich nicht behaupten.

Der Sonntag ist der Tag des Herrn, das war eines deiner unerschütterlichen Prinzipien. Du hast diesen Satz tausendfach wiederholt, ihn uns regelrecht eingebrannt. Exodus 20, Vers 8: «Gedenke des Sabbattags, dass du ihn heiligest.»

An die Sonntage bei uns zu Hause erinnere ich mich nur allzu gut. Wenn ich morgens die Augen aufschlug, lag schon dieser Druck auf meiner Brust. Und jeden Sonntagmorgen hoffte ich aus tiefster Seele, der Himmel möge es schütten lassen. Denn wenn es aus Eimern goss, konnten wir unmöglich aus dem Haus gehen. Außerdem standen bei Regen die Chancen schlechter, dass der Eisverkäufer sich in unsere Straße verirrte, was hieß, dass wir auch sein Bimmelglöckchen nicht zu hören brauchten, mit dem er die Leute aus den Häusern lockte. Dieses Bimmeln war etwas Grausames. Kaum drang der erste Ton an mein Ohr, hatte ich schon diese ekelerregende Lust auf Vanilleeis mit Schlagsahne. Auf so einen sternförmigen Klacks Schlagsahne, der das mit Eis gefüllte, knusprige Waffelhörnchen krönt und sich beim Abschlecken über die halbe Wange und Nasenspitze verteilt. Schon bei der bloßen Vorstellung fing ich an zu geifern. Doch unsereins durfte am Sonntag kein Eis essen. Wir durften am Sonntag überhaupt nichts, was unter Umständen hätte Spaß machen können.

Wenn es regnete, waren die Sonntage vielleicht nicht ganz so schlimm. Dann bildeten die Kirchgänge eine willkommene Abwechslung zu deinen stundenlangen Bibelvorlesungen, bei denen Mutter uns Mädchen zeigte, wie man Socken stopft, oder mit uns Bordüren an ein Tischtuch nähte. Manchmal fing ich einen Blick von ihr auf, wenn sie kurz von der Arbeit aufsah. In diesen Momenten sah ich, dass ihre Augen seufzten. Es dauerte höchstens eine Sekunde, denn wenn sie merkte, dass ich sie beobachtete, änderte sie ihren Blick und verwandelte sich zurück in die emsige, ergebene und unbeirrbar frohgemute Ehefrau, die sich für einen Lehrer an einer christlichen Grundschule schickte. Es waren immer nur Sekunden, in denen ihre Augen etwas anderes ausdrückten als ihre Hände, denn du fuhrst jedes Mal dazwischen. Das geschah ohne Worte: Ein drohender Blick von dir genügte, um Mutters Gedanken wieder in die von dir vorgegebene Richtung zu lenken.

Im Kellerschrank lag eine neunschwänzige Katze.

Simon und ich wissen, wie es sich anfühlte, wenn man damit verprügelt wurde. Du hast immer behauptet, Gott der Herr zwinge dich zum Eingreifen, wenn eines deiner Kinder sich schwer versündigt hatte. Als schwere Sünden galten bei uns zu Hause: das Fluchen, die Habsucht, das heimliche Fernsehen bei den Nachbarn und unsittliche Handlungen. Für Letzteres bezog Simon die meisten Prügel. Wie er es auch anstellte – ob er sich im Bett oder unter der Dusche selig stöhnend einen runterholte –, du hast ihn jedes Mal erwischt. Aber du hast auch kein Mittel gefunden, es ihm abzugewöhnen; da konntest du tun, was du wolltest.

Der Prügel liegt noch heute im Kellerschrank, hinten auf der Ablage. Er ist leicht zu übersehen, wenn man nur einen raschen Blick hineinwirft. Er liegt da als stummer Zeuge von Einschüchterung, Zwang und Indoktrination. Manchmal hast du uns Kinder alle gleichzeitig vor die Tür geschickt, mit der strikten Anweisung, erst nach einer Stunde wieder aufzutauchen. In meiner Erinnerung stehst du in solchen Momenten breitbeinig vor dem Kellerschrank; und wie Mutter schaute, wenn wir als schweigende Kolonne an ihr vorbei aus dem Haus schlichen, weiß ich auch noch sehr gut. Sie schaute, als ob sie am liebsten mitgegangen wäre. Sie versuchte zu lächeln, damit wir uns keine Sorgen machten, aber aus ihrem Blick sprach nackte Angst. Wenn wir dann wieder ins Haus durften, herrschte zwischen euch immer eisiges Schweigen. Und für den Rest des Tages schenkte Mutter dir keinerlei Beachtung.

Was passierte eigentlich, wenn wir Kinder uns verziehen mussten? Was hast du mit Mutter gemacht? Hast du sie auch bestraft? Aber wofür? Sie hat doch nie geflucht? Sie sah doch auch nicht heimlich fern? Sie naschte doch nicht aus der Keksdose? Sie gehorchte dir doch aufs Wort? Du konntest doch sogar für sie wählen gehen, da sie selbst sich nie angemaßt hätte, auf irgendetwas Einfluss zu nehmen. Aus welchem Grund musstest du so oft dafür sorgen, dass keine Zeugen anwesend waren? Mutter wird doch nicht etwa auch onaniert haben?

In nächster Zeit werde ich dir eine Reihe weiterer Briefe schreiben. Ich will dir sagen, was mich seit Monaten beschäftigt.

Es dir ins Gesicht schreien.

Es auf dich abfeuern.

Es über dir ausleeren.

Ich will, dass du daran erstickst!

1

Heute wird das Thermometer erneut auf fünfunddreißig Grad steigen, hat der Mann vom Wetterbericht angekündigt. Wenn diese Hitze noch zwei Tage anhalte, müsse von einer Hitzewelle gesprochen werden: Es wäre die erste seit fünfzehn Jahren.

Thea ist in aller Herrgottsfrühe aufgestanden, um das Haus auf Vordermann zu bringen und herauszuputzen. Dabei saß sie gestern fast bis Mitternacht an der Nähmaschine, damit die neuen Röcke und Blusen auch fertig wurden. Jetzt hängen sie frisch gebügelt und gestärkt an der Kleiderschranktür in Theas Zimmer. Die Schnitte sind bieder, um nicht zu sagen unförmig. Sie verhüllen ihre Figur. Sie verhüllen jedoch auch, was sie darunter anhat. Thea findet diesen Gedanken aufregend. Sie genießt die Vorstellung, bald in ihren neuen biederen Sachen im Dorf herumzuspazieren, ohne dass die entgegenkommenden Leute auch nur im Entferntesten ahnen, was sie unter dem langen Rock trägt: sexy Unterwäsche.

Thea weiß, wie hausbacken ihr äußeres Erscheinungsbild wirkt. Vor allem auf Leute in ihrem eigenen Alter, soweit sie nicht zur gleichen Kirchengemeinschaft gehören. Sie hat sich früh an abfällige Bemerkungen über ihr Äußeres gewöhnt, vor allem über ihre Kleidung und Haartracht; das fing schon an, als sie noch zur Schule ging. Es gehörte zu den täglichen Streitereien zwischen den Kindern der katholischen Schule und denen der «wahren» christlichen Schule: Der katholische Nachwuchs beschimpfte die «wahren» kleinen Christen als salbadernde Trampel, Frömmler und Bibelfanatiker; und die wiederum zerrissen sich eifrig das Maul darüber, dass diese papistischen Schwachköpfe Bilder anbeteten – und Maria verehrten! Doch die «wahren» christlichen Kinder brüllten nie so laut wie die katholischen, denn es war ihnen streng verboten, auf der Straße zu schreien oder zu schimpfen. Thea erinnert sich noch gut, wie ihr Vater sich während der Mahlzeiten mit seinem dröhnenden Bass über die respektlose Erziehung der katholischen Kinder verbreitete. Und sie sieht ihn auch noch genau vor sich, wie er ihnen mit hoch erhobenem Zeigefinger befahl, auf keinen Fall auf die Hänseleien zu reagieren, weder mit Worten noch mit Taten. Thea sank trotzdem jedes Mal der Mut, wenn andere Kinder sich wegen ihrer langen Röcke über sie lustig machten oder über den dicken Zopf herzogen, den sie bis heute über den Rücken hängen hat. Jetzt beschimpft sie zwar keiner mehr laut, doch sie spürt immer noch häufig die Blicke von Leuten, die hinter ihr herstarren.

Im Dorf hat sich viel verändert. Die meisten jungen Leute sind in die großen Städte abgewandert, angelockt durch allerlei Freiheiten, die sie sich dort erlauben können. Ein Großteil von ihnen hat allem, was mit dem Glauben zusammenhängt, endgültig abgeschworen. Nur wenige von Theas ehemaligen Schulkameraden wohnen noch im Dorf und leben weiterhin nach den Gewohnheiten und Vorschriften der alten Gemeinschaft. Sie gehen nach wie vor zur Kirche, und ihre Kinder sehen genauso angepasst aus, wie sie selbst früher ausgesehen haben. Es stimmt zwar, dass ihre Gemeinschaft stetig schrumpft. Doch wenn Thea ihnen beim Einkaufen begegnet, sind es immer noch genug, um sich beklommen zu fühlen. Gegenwärtig setzt sich die feste Gruppe von Gläubigen, die der hiesigen Kirche angehören, aus Mitgliedern zusammen, die in mindestens sieben benachbarten Dörfern wohnen. Ein paar der Kirchenangehörigen sind sogar aus Den Helder und Schagen. Trotz der Entfernung besuchen auch sie immer noch zweimal an jedem Sonntag dieselbe Kirche in Oosterland, die von jeher ihr Versammlungsort war.

Die anderen sollten gegen zehn Uhr kommen. Sara bringt Salate mit, und Esther hat versprochen, wie immer eine Bowle anzusetzen. Thea hofft, dass ihre Schwester diesmal einen Schuss von diesem leicht moussierenden Rosé hineingegeben hat, der die Bowle spritziger macht.

Simon hat beim letzten Familientreffen zu Ostern eine Flasche davon mitgebracht; und während sie zu dritt in der Küche Brötchen bestrichen, schlug er Esther vor: «Schütt’s einfach rein und sag kein Wort darüber. Oder sag, es ist alkoholfreier Wein, der bloß den Geschmack hebt. Oder glaubst du, Gott macht dir wegen dem bisschen Alkohol die Hölle heiß?»

Esther setzte eine besorgte Miene auf. «Nein, aber lügen will ich deshalb auch nicht», antwortete sie unschlüssig. «Und eine Meinungsverschiedenheit beim Essen möchte ich erst recht nicht haben. Du weißt, wie sehr Vater alkoholische Getränke verabscheut.»

Für heute hat Thea auf jeden Fall vorgesorgt. In einem der Schränke über der Anrichte wartet eine Flasche Rosé, genau die schwach moussierende Sorte, die ihr für die Bowle vorschwebt. Sollte Esther also wieder ihre wässrige Brühe anschleppen, wird sie einfach einen unbeobachteten Moment abwarten und den Rosé hineinkippen.

Wenn die ganze Familie zu Besuch kommt, backt Thea immer ein großes Blech Apfelkuchen. Laut Johan muss das so sein. Immer Apfelkuchen, nie etwas anderes. Vater ist es nun mal so gewohnt, behauptet Johan, und dass es das einzige Gebäck sei, das Vater noch wiedererkenne.

Für Simon ist dieser Spruch wieder mal typisch für ihren Bruder. «Wie bitte? Wann hat denn Vater je etwas anderes als Bibeltexte gekannt?»

«So ein Apfelkuchen ist nun einmal etwas Gediegenes», schwatzte er neulich drauflos, als er und Pieter bei Thea Kaffee tranken. «Wenn man ihn genauer betrachtet, springen einem die christlichen Züge förmlich ins Auge. Ein schlichter und anständiger Kuchen, das ist er! Thea, beim nächsten Familientreffen solltest du zur Abwechslung mal eine richtig geile Schokoladentorte backen. Schokolade hat etwas Verdorbenes, nicht? Und für die Verzierung nimmst du richtig fette Schokokringel. Huch, mir wird gleich ganz anders.» Er richtete seinen Blick auf Pieter und grinste anzüglich. «Weißt du was? Auf der Heimfahrt besorge ich uns noch einen Riesensack Schokomuffins. Dann kannst du aber was erleben!»

Thea musste herzlich lachen. Gefolgt ist sie Simons Vorschlag trotzdem nicht. Es schien ihr nicht ratsam. Johan würde eine Schokoladentorte als eine reine Provokation ihrerseits auffassen und sie zum Anlass für einen seiner Wutanfälle nehmen. Und am Geburtstag ihres Vaters möchte sie mit Sicherheit keinen Streit vom Zaun brechen. Schon gar nicht, wenn Anna danebensitzt.

Der Apfelkuchen schmeckt am zweiten Tag am besten, dann ist die Marzipanmasse, die Thea für den Teig verwendet, erst so richtig durchgezogen. Das Blech steht, mit Alufolie abgedeckt, im kühlen Keller.

Es ist halb zehn. Die Schwester vom ambulanten Pflegedienst ist noch mit Vater zugange, der geduscht werden muss.

Thea sieht von der Küche aus, dass Anna auf dem Grundstück den Katzen nachrennt, und klopft ans Fenster. «Nicht so wild», ruft sie gestikulierend. «Die Sonne scheint schon zu stark. Nachher wird dir wieder schlecht.»

Harm hat sich noch schnell aufs Rad gesetzt, um im Dorf Schlagsahne zu kaufen; daran hatte Thea gestern nicht mehr gedacht. Harm ist sich nie zu schade für solche kleinen Botendienste, wenn sie selbst nicht mehr weiß, wo ihr der Kopf steht.

Ihre Schwester Esther ist der Meinung, dass sie mit Harm – ihrem Gärtner und Mädchen für alles – viel zu vertraut umgeht. Der Mann gehöre schließlich nicht mal der Kirche an. Thea lässt sie meistens reden. Was würde sie anfangen ohne Harm, ganz allein mit ihrem dementen Vater und einer schwachbegabten Schwester?

Simon macht es Spaß, sie wegen Harm aufzuziehen. «Na, Schwesterherz, was läuft denn zwischen euch zwei Hübschen?», erkundigt er sich regelmäßig. «Was ist das – sieht ganz appetitlich aus, kann arbeiten wie ein Pferd, hat Humor und liest auch noch Bücher?»

«Hör schon auf, Spinner», entgegnet Thea meist lachend, um sich seine Aushorchversuche vom Leib zu halten. «Der Bursche ist zehn Jahre jünger als ich. Der geht samstagabends in die Disco und macht Jagd auf junge Mädchen.»

Das gehört ebenfalls zu den Dingen, die Esther ein Dorn im Auge sind: Der Kerl geht auch noch in die Disco.

«Harm ist kein Leibeigener», hat Thea ihr erst neulich erklärt, als Esther wieder klagte, dass Discobesuche nicht mit der Glaubensüberzeugung ihrer Familie vereinbar seien. «Er arbeitet nur für uns. Was er mit seiner Freizeit anfängt, geht uns überhaupt nichts an.» Nach dieser Zurechtweisung hatte Esther mindestens eine Stunde lang finster dreingeschaut.

Wo kann Anna bloß stecken? Auf dem Grundstück ist sie nicht mehr zu sehen. Aus der Scheune dringt ein Geräusch – was hat sie dadrin verloren? Thea läuft schnell hinaus auf den Hof; die Katze der Nachbarn schießt an ihren Füßen vorbei. «Anna, wo steckst du?», ruft sie von draußen ans Scheunentor. «Komm bitte raus! Unser Besuch wird gleich da sein.»

Sie öffnet das Tor. Für ihr Gefühl geschehen in diesem Augenblick zwei Dinge gleichzeitig: Irgendwo im Raum explodiert etwas mit einem ohrenbetäubenden Knall, und im selben Bruchteil der Sekunde durchzuckt ein reißender Schmerz ihre rechte Schulter und schleudert sie rücklings zu Boden.

2

Die junge Frau vom ambulanten Pflegedienst will nichts gehört haben. Sie hatte schon alle Hände voll damit zu tun, erzählt sie, Herrn van Dalen unter Kontrolle zu halten, der laut um Hilfe schrie und ständig versuchte, sie in die Pulsadern zu beißen. Sie will diese Arbeit in Zukunft auf keinen Fall mehr allein machen: Der Mann hört nicht zu und versteht nicht, was man ihm sagt, aber er regt sich schon wahnsinnig auf, wenn man bloß auf seine Hose zeigt. Er lässt sich mit keinen Mitteln zur Vernunft bringen, bis man die Dusche wieder abdreht und ihn anzieht. Ihrer Meinung nach geht es nicht länger ohne eine zweite Pflegekraft. Allein, betont sie, steht sie für diese Arbeit jedenfalls nicht mehr zur Verfügung.

Laut Harm war der Knall noch weit in der Umgebung zu hören. Als es passierte, fuhr er gerade unten auf dem Fahrweg neben der Straße, ein gutes Stück vor der letzten Biegung. Von dort konnte er das Haus noch nicht sehen. Plötzlich gab es einen lauten Knall, danach war Totenstille. Kurz darauf hörte er Reifen quietschen, als ob ein Auto mit Vollgas davonraste. Dann bog er um die Kurve und konnte in der Ferne nur noch eine Staubwolke sehen. Den Wagentyp hat er nicht erkannt. Wenig später fand er in der Scheune Thea, die in einer großen Blutlache lag. Er dachte zunächst, sie sei tot, aber dann atmete sie doch noch. Sie versuchte, etwas zu sagen, immer wieder. Es klang wie: «Keine Polizei… selbst schuld.» Anna presste sich währenddessen starr vor Schreck an die Küchentür im Hof und wiederholte ständig nur die Wörter: «Piff, paff, peng! Piff, paff, peng…»

Mit seinem Handy rief er die Einhundertzwölf, danach setzte er sich zu Thea auf den Boden. Von dort brüllte er der Pflegeschwester seine Anweisungen zu: «Bring Anna ins Haus! Hol ein Kissen für Theas Kopf… Und lass das Gerede über Herrn van Dalen, du siehst doch, was hier los ist!»

Thea lag mit kreideweißem Gesicht am Boden und blutete stark. Sie atmete flach, und Harm wusste nicht ein noch aus. Und es dauerte fast geschlagene fünfzehn Minuten, bis der Notarztwagen mit lautem Sirenengeheul auf das Grundstück raste. Gleichzeitig traf die Polizei ein, und nur Augenblicke später kam zum Glück schon Simon.

Harm erzählt ihm die Geschichte wieder und wieder. «Mann, ich dachte, die packt das nicht, die stirbt mir unter den Händen. Du weißt, ich bin nicht so fromm wie ihr, aber eines kannst du mir glauben: In den Minuten hab ich Jesus praktisch vom Kreuz runtergebetet.»

Simon klopft ihm auf die Schulter. «Es hat auch geholfen, Harm. Es hat wirklich geholfen.»

Die Rettungsärzte brachten Thea nach Den Helder ins Krankenhaus. Sie hatte Glück im Unglück. Die Kugel war in der Schulterkapsel stecken geblieben und konnte durch eine Operation entfernt werden.

Thea hat viel Blut verloren, berichtet Simon, doch ein paar Infusionen bringen sie bestimmt wieder auf die Beine. «Das ist das Wichtigste», wiederholt er erleichtert. «Die Kugel hat keine bleibenden Schäden verursacht.»

Vor einer halben Stunde ist er mit der Nachricht aus dem Krankenhaus zurückgekehrt, dass der Schuss Thea nicht lebensgefährlich getroffen hat. Die Turmglocke der Kirche in Oosterland schlägt zweimal. Das Grundstück ist mit gelbroten Bändern abgesperrt worden, und zwei Männer von der Spurensuche durchkämmen weiterhin die Scheune. Sie haben die Angehörigen des Opfers gebeten, die kriminaltechnischen Untersuchungen nicht zu behindern.

Johan und Sara sitzen mit Vater unter dem großen Sonnenschirm im Garten hinterm Haus. Sie haben Vater in die Mitte genommen und versuchen abwechselnd, ihm den Vorfall zu erklären. Aber er vergisst alles sofort wieder. Sara gibt Johan hinter Vaters Rücken ein Zeichen, sich nicht mehr weiter zu bemühen.

Doch Johan will nicht aufgeben. «Auf Thea wurde geschossen, Vater. In der Scheune. Siehst du mich mal an, ja? Ich rede von Thea, deiner Tochter. Du weißt doch noch, wer Thea ist?»

Vater mustert seinen ältesten Sohn andächtig und nickt. «Thea», wiederholt er. «Die von Gott ist.»

«Genau, Vater, Gott hat sie beschützt, sie hat großes Glück gehabt. Wir haben alle einen Riesenschreck bekommen, und das an deinem Geburtstag! Am achtzigsten noch dazu! Den wollten wir doch mit der ganzen Familie feiern.» Sein Vater nickt. «Siehst du, er versteht genau, was ich sage», wendet Johan sich etwas herablassend seiner Frau zu. «Er versteht genau, was ich sage. Und dass er heute achtzig wird, weiß er auch.»

«Achtzig?», wiederholt Vater zögernd. Er betrachtet Johan aus großen Augen. «Meinen herzlichen Glückwunsch», sagt er höflich.

«Klar, der versteht wieder mal alles», mischt sich Simon in das Gespräch ein. «Lass ihn doch in Frieden. Du machst ihn nur noch konfuser, als er schon ist.»

«Ich lasse ihn nicht in Frieden», erwidert Johan verärgert. «Für mich ist Vater immer noch ein vollwertiger Mensch, und so behandle ich ihn auch.»

Simon zuckt die Achseln. «Tu, was du nicht lassen kannst.» Er geht auf Esther zu, die aus dem Haus gekommen ist. «Gibt’s schon was zu essen, Schwesterherz?», fragt er. «Mein Magen knurrt vor lauter emotionalem Aufruhr.»

«Wie kannst du jetzt nur ans Essen denken!», ruft Sara ihm empört hinterher. «Deine Schwester liegt schwer verletzt im Krankenhaus, sie hätte genauso gut sterben können! Wer weiß, vielleicht sind wir alle in Gefahr! Hier, jetzt, in diesem Augenblick. Will hier denn keiner wissen, was eigentlich passiert ist?» Ihre Stimme überschlägt sich vor Aufregung. «Ihr wollt jetzt doch nicht ernsthaft Salat essen?»

«Im Haus sind Leute von der Kriminalpolizei», teilt Esther den anderen nüchtern mit; sie schenkt Saras wachsender Hysterie keinerlei Aufmerksamkeit. «Sie warten im Wohnzimmer und möchten mit uns sprechen. Mit uns allen.» Esther dreht sich um und läuft zum Haus zurück. Simon folgt ihr.

«Geh ruhig auch», sagt Sara zu Johan. «Ich passe in der Zwischenzeit auf Vater auf. Anscheinend bin ich hier die Einzige, die das, was heute passiert ist, nicht für vollkommen normal hält.»

Johan zuckt nur die Achseln.

3

Es sind zwei, ein Mann und eine Frau. Und sie ist offenkundig die Vorgesetzte.

«Linda de Waard», stellt sie sich mit kräftigem Händedruck vor. «Kriminalpolizei. Das ist mein Kollege Dirk van Galen.»

Johan wendet sich unmittelbar an den Mann. «Werden Sie diese Untersuchung leiten?», will er wissen.

Dirk grinst in Lindas Richtung. «Die Chefin steht dort, wenn’s recht ist. Ich bin neu dabei.»

Auf Johans Stirn erscheint die bekannte Zornesfalte. «So», brummt er. Er würdigt den weiblichen Teil des Ermittlerduos keines Blickes und setzt sich.

Linda fragt reihum, wer sie sind und in welcher Beziehung sie zum Opfer stehen. «Wer von Ihnen kann uns sagen, welche Personen in dem Moment im Haus waren, als auf Ihre Schwester geschossen wurde?», fragt sie Simon, und der deutet sogleich auf Harm.

Harm nickt. «Ich sollte heute im Garten hinterm Haus Unkraut jäten», sagt er. «Und ich war eingeladen zum Kaffeetrinken und zum Mittagessen. Der alte Herr van Dalen hat Geburtstag.»

Linda nickt. «Aber Sie waren nicht in dem Moment im Haus, als geschossen wurde?»

Harm schüttelt den Kopf. «Ich war kurz ins Dorf, um Schlagsahne zu kaufen.»

«Und wer war im Haus?»

«Also, Herr van Dalen natürlich. Er wurde gerade von der Schwester vom Pflegedienst gewaschen. Thea war da – die Frau, die niedergeschossen wurde. Und Anna, eine andere Tochter von Herrn van Dalen.»

«Als Sie aufbrachen, um Schlagsahne zu kaufen – haben Sie da etwas Verdächtiges bemerkt?»

Harm schüttelt den Kopf. «Nein, überhaupt nichts. Nichts, was anders war als sonst.»

«Gab es Verkehr auf der Straße? Haben Sie irgendwo ein unbekanntes Fahrzeug halten sehen?»

Harm schüttelt erneut den Kopf. «Nein», seufzt er, «nein. Ich habe nichts gesehen. Als ich ins Dorf radelte, bin ich keinem einzigen Auto begegnet. Aber das besagt natürlich nichts. Das Einzige, was ich Ihnen sagen kann, ist, dass sich jemand im Höllentempo mit seinem Auto davongemacht hat, und zwar in Richtung Oosterland.»

«Wo ist die andere Schwester?», will Linda wissen.

«Sie schläft», antwortet Johan. «Wir haben ihr Valium gegeben; das bekommt sie öfter, wenn sie sich zu stark aufregt. Sie hat Thea schließlich blutüberströmt am Boden liegen sehen, wissen Sie.»

«Kann ich sie sprechen?»

Es ist eine Weile still nach Linda de Waards Frage. Sie schaut stirnrunzelnd in die Runde. Schließlich beendet Simon das Schweigen. «Anna ist schwach begabt, auch wenn man den Ausdruck heutzutage nicht mehr verwenden darf, glaube ich. Aber Sie verstehen, was ich meine.»

Linda nickt. «Wissen Sie, ob sie den Täter gesehen hat?», fragt sie Simon.

«Soweit ich verstanden habe, nein.» Er wendet sich zu Harm. «Aber das weißt du besser.»

«Sie sagte, dass sie im Keller war, um sich den Kuchen anzuschauen», erzählt Harm. «Durch das Kellerfenster hörte sie, wie Thea ‹Anna› rief. Dann gab es einen Knall. Das ist, was ich ihren Worten entnommen habe. Ich denke, sie muss die Treppe hochgelaufen und nach draußen gerannt sein, denn als ich auf den Hof fuhr, lehnte sie stocksteif und keuchend an der Küchentür und brüllte immer nur: ‹Piff, paff, peng!›»

«Hat jemand von Ihnen eine Vorstellung, wer Ihre Schwester ermorden wollte?», fragt Linda de Waard die drei Geschwister.

«Ermorden?», entgegnet Esther erschrocken. «Wollte jemand sie umbringen?»

«Vielleicht», antwortet Linda. «Oder was dachten Sie denn, was da in der Scheune passiert ist?»

Esther schluckt mehrmals hintereinander und räuspert sich. «Ich dachte… ein Unfall oder so. Ein Einbrecher, den Thea ertappt hat. Ich habe es ihr schon so oft gesagt: Lass gute Türschlösser einbauen. Hier liegt doch alles zum Mitnehmen bereit. Früher ging das, aber heutzutage muss man sich in Acht nehmen. Man trifft nicht mehr bloß in der Stadt komische Leute, wissen Sie. Auch hier draußen. Ausländer und so. Ich meine, ich will natürlich niemanden diskriminieren, aber… das Haus liegt am äußersten Dorfrand. Man ist hier im Handumdrehen weg, wenn man sich davonmachen will, das haben wir ja jetzt miterlebt. Man ist in einer Weise verwundbar, dass…» Sie verstummt abrupt und blickt die Inspektorin ein wenig empört an. «Thea hat keine Feinde, wirklich nicht. Sie ist immer hier, bei Vater.»

Erneut breitet sich eine sonderbare Stille aus.

«Ist das wirklich so?», fragt unvermittelt Dirk van Galen. «Ist Ihre Schwester immer hier, bei Ihrem Vater?» In seiner Stimme schwingt ein ungläubiger Ton.

«Sie ist von Montag bis Freitag immer hier», antwortet Johan kurz angebunden. «Am Samstag und Sonntag möchte sie freihaben, dann müssen entweder Sara oder Esther ihre Aufgaben übernehmen. Es sei denn, es gibt etwas zu feiern, so wie heute. Unser Vater hat heute Geburtstag.» Der Polizeibeamte nickt.

«Aber ich tu das doch gern!», hebt Esther hervor. «Diese Arbeit nehme ich ihr gern ab.» Es wird nicht so recht deutlich, wen sie überzeugen möchte.

«Ach! Ich dachte immer, du tust das für deinen Vater», schnauzt Johan.

Esther sieht aus, als könnte sie jeden Augenblick in Tränen ausbrechen.

«Ist dieser Tonfall für irgendetwas gut?», fällt Simon dazwischen. «Wirst du nie aufhören, an Thea herumzunörgeln? Sei froh, dass sie bereit ist, einen großen Teil ihres Lebens zu opfern, und es uns so ermöglicht, unser eigenes Leben zu führen.» Er wirft seinem Bruder einen wutentbrannten Blick zu. Johan schweigt mit zusammengepressten Lippen.

«Wohnen Sie hier in der Gegend?», möchte Linda von Esther wissen. Sie geht nicht darauf ein, dass zwischen den Geschwistern eine ziemlich angespannte Atmosphäre entstanden ist.

«Ich wohne in Hoorn, ganz in der Nähe von Johan und Sara», antwortet Esther tonlos.

Linda wendet sich Simon zu. «Und Sie?»

«Ich suche mein Glück ein bisschen weiter weg», erwidert Simon lächelnd; seine Blicke sind immer noch auf Johan geheftet. «Die Art Glück, die ich brauche, findet sich nicht leicht in diesem Dorf und seinem vernagelten Umfeld. Ich wohne in Amsterdam.»

«Dein sogenanntes Glück steht in offenem Widerspruch zur Bibel», blafft Johan.

«Glaub mir, Johan, du wirst Vater jeden Tag ähnlicher», seufzt Simon.

«Danke, ich nehme das als Kompliment.»

«Verzeihung! So war’s nicht gemeint.»

«Es stünde dir besser, wenn du auch ein paar Züge von ihm übernehmen könntest. Wenn du, wie er, nach deinem Verstand leben würdest.»

Simon hebt theatralisch die Hände. «Wow! Sagtest du eben ‹Verstand›? Hängt denn Glauben mit Denken zusammen? Meines Erachtens deutet Glauben gerade auf die Abwesenheit von Gehirnzellen hin. Oder jedenfalls auf das Nichtbenutzen deines Hirns.»

Linda schreitet ein, um eine weitere Auseinandersetzung der Brüder zu unterbinden, und fragt unvermittelt: «Ich vermute, Ihre Mutter lebt nicht mehr?»

Eine unbehagliche Stille tritt ein. Johan sieht starr geradeaus, Simon streicht sich nachdenklich über die Wange, und Esther ringt mit den Tränen.

«Unsere Mutter hat dieser Familie vor fünfzehn Jahren den Rücken gekehrt», antwortet Johan. «Unser Vater und sie waren verreist, und sie beschloss dann, nicht mehr zurückzukommen. Sie hatten Streit wegen einer Familienangelegenheit. Sie wollte nicht zugeben, dass sie unrecht hatte. Sie hat uns einfach sitzengelassen.»

«Das ist Vaters Version», erklärt Simon widerspenstig.

«Und die soll auf einmal in Zweifel stehen?», fragt Johan mit aufbrausender Stimme.

«Nicht auf einmal. Diese Geschichte habe ich ihm noch nie geglaubt», antwortet Simon, während er Johan starr anblickt.

«Hat Ihre Mutter sich danach nie wieder bei Ihnen gemeldet?», erkundigt Linda sich bei Simon.

«Nie wieder», lautet die Antwort, mit scharfer Betonung von «nie». «Sie sollten in eine Feriensiedlung in Putten fahren. Es war das erste Mal in ihrem Leben, dass sie einen Urlaub gebucht hatten. Meine Mutter wollte das gern! Meine Mutter verging manchmal vor Sehnsucht nach einer anderen Umgebung als der endlosen Ebene von Nordholland und der Eintönigkeit von Den Oever, wo alles vorhersehbar ist. Mein Vater jedoch weigerte sich. Urlaub hätte angenehm sein können, wissen Sie. Und angenehme Dinge meidet man, wenn man im Herrn verwurzelt ist. Wenn man so tief im Herrn verwurzelt ist wie mein Vater, besteht das Leben aus Leid und Verzicht. Alles, was angenehm sein könnte, ist sozusagen definitionsgemäß des Teufels.»

«Halt doch dein Maul!», schreit Johan auf einmal. «Wie kannst du es wagen, dein eigenes Nest so zu beschmutzen?»

Simon schaut ihn direkt an. «Du nennst es ‹beschmutzen›. Ich nenne es ‹die Wahrheit sagen›.» Er wendet sich wieder an Linda de Waard. «Um es nochmal klarzustellen: Mein Vater behauptet, dass meine Mutter sich bei diesem Urlaub abgeseilt hat. Diese Schande wurde hier dann vollkommen unter den Teppich gekehrt; es war streng verboten, jemals wieder den Namen meiner Mutter auszusprechen. Ich bin mit Thea nach Putten gefahren.» Er wendet sich erneut Johan zu. «Ja, du hast vollkommen richtig gehört. Nach Putten, zwei Jahre nachdem unsere Mutter – wie es hier genannt wurde – ihre Familie im Stich gelassen hatte. Thea erzählte euch, dass sie zu einem christlichen Jugendwochenende in Limburg fahren wollte, was aber nicht stimmte. Wir sind einfach in diese Feriensiedlung marschiert und haben allen möglichen Leuten Mutters Foto gezeigt, überall nachgefragt, ob jemand sie wiedererkannte. Wir haben sogar ein Foto von Vater herumgezeigt. Aber alle schüttelten den Kopf oder zuckten die Achseln. Niemand konnte sich an sie erinnern, an keinen von beiden. Laut dem Besitzer der Häuser sind die meisten Gäste jedes Jahr wiedergekommen; man hätte also erwarten können, dass Gäste wie Vater und Mutter, die nur einmal dort gewesen sein sollen, den anderen aufgefallen wären. Aber nichts dergleichen. Keinerlei Anzeichen dafür, dass irgendjemand ihre Gesichter wiedererkannte oder sich an sie erinnerte. Und auch der Besitzer selbst versicherte, er könne sich nicht entsinnen, sie je gesehen zu haben. Es ist also sehr die Frage, ob sie je dort waren.»

«Und danach? Was haben Sie dann getan?», will Linda de Waard wissen.

«Danach haben wir gehofft, dass es wahr gewesen ist», sagt Simon mit tränenerstickter Stimme. «Dass meine Mutter wirklich zu neuen Ufern aufgebrochen und irgendwo glücklich geworden ist. Frei und glücklich…»

Im Zimmer ist es totenstill. Nur das Ticken der Pendeluhr auf dem Kamin ist zu hören. Ein lautes Ticken. Ein nachdrückliches und irritierendes Ticken.

«Mir fällt auf einmal etwas ein», spricht Harm in die Stille hinein. Er versucht, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken. «Sie sagte was. Thea sagte etwas. ‹Selbst schuld, keine Polizei.› Etwas in der Art, ja.»

«Was ist denn das für eine seltsame Familie?», fragt Dirk van Galen sich laut, als er mit Linda zum Auto zurückgeht.

«Tja», meint sie nachdenklich, «was soll ich dazu sagen? Es könnte auf jeden Fall mehr dahinterstecken, als man auf den ersten Blick sieht. Es gibt viele unterschwellige Spannungen. Auch mehrere Bündnisse. Diesen Knaben Simon hast du übrigens mit einem ziemlich auffälligen Interesse angeglotzt.»

«So ein Schnuckel aber auch! Der ist eine Sünde wert, oder?»

«Allerdings», stimmt Linda ihm zu. «Und bild dir bloß nicht ein, dass der noch einen Lehrer braucht. Der hat’s selbst erfunden und besser gemacht. Aber genug über diesen Simon. Ein provozierender Typ, keine Frage. Über den werden wir uns sicher noch öfter unterhalten.»

«Aber ob er echt ein aktives Mitglied der Schwulengemeinde ist?»

«Ich bin erst mal neugierig, was für eine Frau unsere angeschossene Thea ist. Und was sie mit der Äußerung ‹Selbst schuld, keine Polizei› meinte. Wir fahren ins Krankenhaus und schauen, ob sie schon verhört werden kann.»

ZWEITER BRIEF AN MEINEN VATER

Manchmal träume ich mehrere Nächte hintereinander von unserer Mutter. Wir haben sie schon seit fünfzehn Jahren nicht mehr gesehen – das ist eine lange Zeit. Wenn du jemanden über einen so langen Zeitraum nicht gesehen hast, verblassen selbst die persönlichsten Erinnerungen; du weißt am Ende nicht mehr genau, was für eine Stimme oder welchen Augenausdruck der betreffende Mensch hatte. Nur in meinen Träumen fallen die Jahre weg, und sie ist mir wieder vollständig gegenwärtig. Sie trägt immer dieses herrliche, klatschmohnrote Sommerkleid, das sie deinetwegen nie außer Haus anziehen durfte. Das Kleid war viel zu fröhlich, viel zu weltlich, viel zu provokant. Eigentlich wolltest du, dass sie das Kleid in den Sack für die Armen gab, vielleicht hättest du es auch am liebsten gesehen, wenn sie es gleich ganz zerschnitten hätte. Das Kleid war dir ein Dorn im Auge, aber der Kampf um dieses Kleidungsstück war einer, den du nicht gewinnen konntest. Manchmal begehrte Mutter ganz offen gegen eine deiner Ansichten auf und schien dich sogar mit Absicht herauszufordern. Das passierte nicht oft, aber wenn, dann saß es auch. Um das klatschmohnrote Kleid drehte sich einer der Konflikte, die Mutter mit dir austrug und bei denen sie weder deinen Forderungen noch deinen Repressalien nachgab. Ihr einziges Zugeständnis in diesem Streit war, dass sie das Kleid nie außer Haus trug. Zum Ausgleich dafür hatte sie es aber an jedem sonnigen Sommertag im Haus an. Wir konnten ihr als Kinder keine größere Freude machen, als ihr zu sagen, dass wir das Kleid schön fanden. Wir sagten es allerdings nur, wenn du nicht zu Hause warst. Und wenn du doch da warst, passte Mutter gut auf, dass du dich nicht in der Nähe aufhieltest und unsere Worte nicht hören konntest.

Unsere Mutter gebar im Verlauf von sieben Jahren fünf Kinder. Als ich sechzehn war, erzählte sie mir, dass Annas Geburt sie fast das Leben gekostet hätte. Die Hebamme, die ihr bei jeder Geburt beistand, rief im letzten Moment den Hausarzt, und der musste das Kind buchstäblich im Schweiße seines Angesichts herausziehen. Anna befand sich in einer Steißlage. Als sie schließlich auf der Welt war, bekam Mutter eine schwere Blutung, weil die Plazenta festsaß. Unsere Mutter wurde mit heulenden Sirenen in die Notaufnahme gefahren, und noch im Rettungswagen flehte sie den Arzt an, dafür zu sorgen, dass sie sterilisiert würde. Als sie aus der Narkose aufwachte, erfuhr sie nicht nur, dass sie von der Plazenta erlöst war. Ihr Hausarzt teilte ihr zudem streng vertraulich mit, dass der Gynäkologe ihren Wunsch erfüllt hatte.

Als Mutter mir diese Geschichte erzählte, war bei uns zu Hause gerade einiges los. Ich hatte die ultimative Schande über alle gebracht – die schlimmste, die man sich vorstellen kann –, und du warst außer dir vor Wut. Mutter wachte aber wie eine echte Glucke über mich, du bekamst keine Gelegenheit, zu nah an mich heranzukommen. Wir haben sehr vertrauliche Gespräche miteinander geführt, und damals erzählte sie mir alles über ihre Mutterschaft. Nach Annas Geburt hast du Mutter nie gefragt, wie es kam, dass sie nicht mehr schwanger wurde. Hast du sie überhaupt je etwas gefragt, was mit Intimität oder persönlichem Interesse zu tun hatte? Ich erinnere mich, dass wir dir als Kinder manchmal neugierige Fragen stellten. Wir wollten wissen, wie unser Vater und unsere Mutter einander kennengelernt hatten. Ich traute mich sogar, dich zu fragen, wieso du ausgerechnet mit meiner Mutter verheiratet warst. Die Antwort stand deines Erachtens in Genesis 2, Vers 18 und 24:

«Und Gott der Herr sprach: Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei; ich will ihm eine Gehilfin machen, die um ihn sei. Darum wird ein Mann Vater und Mutter verlassen und an seinem Weibe hangen, und sie werden sein ein Fleisch.»

Wir kicherten als Kinder immer wieder über dieses Ein-Fleisch-Sein unserer Eltern. Bei Mutter konnten wir uns durchaus vorstellen, dass sie so etwas wie Geschlechtsverkehr hatte – aber bei dir? Keiner im Haus sah dich je unbekleidet, höchstens in deiner langen Unterhose und deinem langärmligen Hemd. Es war für uns undenkbar, dass du diese Hose und dieses Hemd jemals ablegen könntest, unserer Ansicht nach behieltest du sie sogar unter der Dusche an. Also stellte sich die Frage, wie du überhaupt Kinder gezeugt haben solltest. Es gab unseres Erachtens nur eine Möglichkeit: das Hemd ein winziges Stück hoch, die Hose ein ebenso winziges Stück runter. Und selbstverständlich im Dunkeln und verborgen unter Decken. Unserer festen Überzeugung nach hatte außer deiner Mutter überhaupt niemand je deinen Piephahn zu Gesicht bekommen, ja, wir waren uns sogar sicher, dass du ihn selbst noch nie angeschaut hattest.

Wenn ich von Mutter träume, fehlt sie mir. Mir fehlt das Gefühl von Geborgenheit, wenn sie mit der Bürste meine langen Haare glatt strich. Wir durften kein kurzes Haar haben, das war aus deiner Sicht unschicklich. Frauen mit kurzgeschnittenem Haar sähen aus wie Männer.

Wir durften auch keine kurzen Röcke tragen. Frauen, die kurze Röcke trugen, sähen aus wie Huren. Du hast uns jeden Tag aufs Neue eingeimpft, dass die Welt durchweg aus Versuchungen bestünde und dass jeder Mensch den Lebensauftrag hätte, ihnen zu widerstehen.

«Der Mensch ist von Natur aus sündig», hieltest du uns vor.

War unsere Mutter sündig? Was tat sie denn Falsches? War es nicht gut, dass sie uns küsste, uns in den Armen wiegte, uns immer zuhörte und immer für uns zu Hause war, dass sie uns mit den Hausaufgaben half, uns ohne Umschweife aufklärte, unsere Kleider nähte und uns beibrachte, wie man Apfelkuchen und gefüllten Spekulatius backt – und dass sie uns geduldig tröstete, wenn du uns wieder eine Tracht Prügel mit der neunschwänzigen Katze verpasst hattest?

In meinen Träumen ist Mutter glücklich. Ihre Augen strahlen, sie lacht und kitzelt mich am Rücken, wie sie es früher tat. Sie bringt mir eine Überraschung mit, ein schönes Wandposter von einer Elefantenmutter mit ihrem Jungen, und sie sagt, dass ich ihrer Meinung nach in einem früheren Leben ein Elefant war. Wie sei es sonst zu erklären, dass ich mich Elefanten so verbunden fühle?

Solche Sachen sagt sie mir immer flüsternd. Sie redet leise, und dabei behält sie die Wohnzimmertür im Auge. Sie erklärt, dass Vater solches Gerede nicht leiden kann und dass wir ihn besser nicht böse machen sollen.

In diesem Teil meines Traumes lehne ich mich auf. An dieser Stelle bin ich kein Kind mehr, sondern die erwachsene Frau von jetzt, und ich zerspringe fast vor Wut.

Wie bitte? Wir sollen ihn nicht böse machen? Und warum bitte nicht? Was kann mir so ein christlicher Waschlappen schon anhaben, der eine neunschwänzige Katze braucht, um seinen Willen durchzusetzen? Warum sollte ich Angst vor so einer wandelnden Bibel haben, einem Sprücheklopfer ohne jede Achtung vor Menschen, die anders denken als er? Wer weiß, vielleicht warst du in einem früheren Leben eine Art König Herodes. Oder ein anderer aus der langen Reihe von Psychopathen, die im Namen Gottes ganze Scharen von Menschen abschlachten ließen und sogar die eigenen Kinder opferten. Du hast die entsprechenden Bibelpassagen immer mit einer Art persönlichem Stolz vorgelesen. Ich durfte mir nicht die Ohren zuhalten, und ich durfte auch nicht kotzen vor Entsetzen. Meine Mutter flüsterte mir ins Ohr, dass ich in solchen Momenten einfach weghören und an lustige oder gut schmeckende Sachen denken sollte. Zum Beispiel daran, wie man an einem Sommertag im Garten ein Zelt aufbaut, oder an heiße Schokolade mit Schlagsahne nach dem Schlittschuhlaufen. Ich versuchte krampfhaft, ihren Rat zu befolgen, doch oft genug zerschlug deine donnernde Stimme diese kleinen gedanklichen  Ablenkungsmanöver.

Wieso dich also nicht «böse machen»? Wir hätten dir viel häufiger widersprechen sollen. Wir hätten dich offen auslachen sollen. Hätten deine Sprüche durch den Kakao ziehen sollen. Deinen Gott anzweifeln sollen.

Wir hätten uns öffentlich von dir abwenden sollen. Wir hätten dir unmissverständlich zeigen sollen, dass wir ausschließlich unsere Mutter liebten. Und nicht dich!

Ich träume immer von einer Mutter, die mich an sich drückt. Ich spüre ihre starken Arme um mich und rieche ihren weichen Körper. Sie versucht auch oft, Johan festzuhalten, aber der taucht ihr unter den Händen weg. Esther wird verlegen, Anna will überhaupt nichts lieber, und Simon kriecht schon fast in sie hinein. Manchmal versuchen wir alle gleichzeitig, auf ihren Schoß zu klettern.

Wenn diese Kuschelorgien stattfinden, bist du nie zu Hause.

In meinen Träumen nimmt Mutter mich in eine Welt mit, wo ich nie gewesen bin. Ich weiß später nicht mehr, ob ich dort Farben gesehen habe, oder Bäume oder Wasser oder Erde.

In meinen Träumen rede ich mit Mutter über alles, was mit mir und in meiner Umgebung geschieht. Ich rede nie über dich.

Vielleicht bist du für mich schon gestorben. Das wäre eine gute Idee, Vater. Wie lange willst du eigentlich noch weiterleben? Wie lange, denkst du, kann ich es noch aushalten, dich anzuschauen? Dich anzufassen? Dich zu hören?

Zu riechen?

Wie lange noch, Vater?

4

Linda de Waard will sich im Schwesternzimmer anmelden. Der Pförtner des Krankenhauses hat sie und Dirk an die chirurgische Abteilung verwiesen, denn seiner Ansicht nach ist Frau van Dalen dort eingeliefert worden. Ihr Bruder Simon erwähnte, dass er nach Hause geschickt worden war, weil Thea wegen der Narkose die kommenden Stunden noch schlafen würde. Jetzt ist es fast fünf Uhr. Linda vermutet, dass die Patientin mittlerweile halbwegs wach sein dürfte. «Wir stellen uns nur kurz vor und fragen sie ein paar allgemeine Sachen», hat sie Dirk instruiert. «Morgen kommen wir zurück, um uns ausführlicher mit ihr zu unterhalten.»

«Und was glaubst du, was du heute herausfindest?», hat Dirk gefragt.

«Nicht viel. Aber die Narkose wirkt noch nach, also plaudert sie möglicherweise etwas aus, das sie uns bei klarem Verstand eher verschweigen würde. Glaub mir, es gibt immer irgendeinen Grund, wenn auf Leute geschossen wird. Und die Opfer sagen auch nie ohne Grund, dass sie keine Polizei dabeihaben wollen. Vielleicht will sie den Täter decken und hat keine Ahnung, wie verwundbar sie das macht. Ich will einfach jede Möglichkeit nutzen, um etwas aus ihr herauszuholen.»

Das Schwesternzimmer, ein breiter Kasten in der Mitte des Gangs, ist unbesetzt. Nur ein paar Patienten sind unterwegs und rollen ihre fahrbaren Infusionsständer neben sich her. Den Gang aufwärts stehen an den Wänden Schiebewagen, auf denen sich alles Mögliche türmt: Wäscheberge, blaue Krankenakten, Filzschreiber, leere und beschriebene Formulare.

Linda trommelt mit den Fingern auf den Empfangstresen. «Wo stecken die Leute?», brummt sie. «Wohl beim Kaffeetrinken, oder wie?»

Aus dem Nichts erscheint neben ihnen eine Krankenschwester.

«Sie kommen etwas früh», stellt sie fest.

«Werden wir denn erwartet?», will Linda wissen.

«Äh, nein. Ich dachte, Sie wollen jemanden besuchen.»

Linda zückt ihren Ausweis. «Kriminalpolizei», sagt sie knapp. «Ich würde gern einen Augenblick mit Frau van Dalen reden. Sie wurde heute Vormittag hier eingeliefert. Ist sie schon ansprechbar?»

«Augenblick, ich rufe die Oberschwester», antwortet die Krankenschwester und hastet über den Flur in ein offenes Zimmer.

Wenig später erscheint eine andere Schwester. «Anja van den Olver», stellt sie sich vor und gibt Linda und Dirk die Hand. «Wie ich höre, möchten Sie Frau van Dalen sprechen.» Sie schweigt kurz und scheint zu zögern. «Sie liegt noch im Aufwachraum», fährt Anja dann fort. «Sie hatte kurz nach ihrer Schulteroperation eine Fehlgeburt.»

«Weiß die Familie schon davon?», erkundigt sich Linda.

«Ich habe vor einer Viertelstunde bei ihr zu Hause angerufen und mit einem Bruder von ihr gesprochen, Simon hieß er. Er ist auf dem Weg hierher ins Krankenhaus. Ich erwarte ihn jeden Moment.»

«Dann warten wir noch auf ihn», entscheidet Linda.

Simon sieht leichenblass aus. Der Schreck sei ihm furchtbar in die Glieder gefahren, berichtet er. Nein, er habe absolut nichts davon gewusst, dass Thea schwanger war.

«Wissen Sie, von wem das Kind sein könnte?», fragt Linda.

«Ich habe keine Ahnung», antwortet er. «Ich weiß nicht einmal etwas von einem Freund.»

«Ist es möglich, dass Ihre Schwester sich an ihren freien Wochenenden mit jemandem getroffen hat?», erkundigt sich Linda.

«Wann soll sie sich denn sonst mit jemandem treffen? Den Rest der Woche hängt sie bei unserem dementen Vater fest.» Er starrt an Linda vorbei. «So ein verdammter Mist, dass sie das nochmal durchmachen muss.»

«Hatte sie schon früher eine Fehlgeburt?», will Dirk wissen.

«Nein», sagt Simon kurz angebunden.

Dirk will eine weitere Frage stellen, doch Linda signalisiert ihm mit einer Handbewegung, dass er aufhören soll.

Die Oberschwester kommt zurück, um Simon abzuholen. Er darf seiner Schwester guten Tag sagen. Sie ist wach und hat nach ihm gefragt. «Ich denke, Sie beide sollten besser morgen wiederkommen», schlägt die Schwester Linda und Dirk vor. «Oder noch besser übermorgen. Frau van Dalen hat viel durchgemacht. Es hat sie alles sehr angegriffen.»

«Übermorgen kommen wir wieder», sagt Linda.

5

Ihr ganzer Körper fühlt sich geschwollen an. Thea würde sich lieber auf die Seite drehen, aber es geht nicht. Über der rechten Schulter trägt sie einen dicken Verband, im linken Arm steckt eine Infusionskanüle. Sie hat stechende Schmerzen im Unterleib. In der Nähe hört sie ein knarrendes Geräusch. Jemand scheint an ihr Bett getreten zu sein. «Haben Sie Schmerzen?», fragt eine weiße Erscheinung über ihr.

Thea blinzelt und öffnet die Augen. Sie erkennt eine Frau. «Ja. In der Schulter. Und im Bauch.»

«Das dachte ich mir. Ich gebe Ihnen etwas, dann legt es sich. Sie werden nichts merken. Ich spritze es in den Infusionsschlauch.»

Thea sieht, wie die Frau in der Nähe des Arms mit der Kanüle hantiert.

«Ich habe mich noch nicht vorgestellt. Ich bin Patty, ich habe Nachtdienst», teilt die Frau mit.

«Ist es Nacht?», will Thea wissen.

«Drei Uhr morgens.»

«Welcher Tag ist heute?»

«Es ist Sonntagmorgen.»

«Seit wann liege ich hier?»

«Seit gestern Vormittag. Wissen Sie noch, was mit Ihnen passiert ist?»

Thea denkt lange nach. «Ich lief zur Scheune», sagt sie schließlich. «Ich dachte, Anna wäre reingegangen. Ich hörte einen Knall…»

«Das stimmt. Sie wurden niedergeschossen. Haben Sie irgendeine Ahnung, wer das getan haben könnte?»

«Allerdings», lautet die grimmige Antwort. Unmittelbar danach schließt Thea wieder die Augen.

«Wirkt das Mittel schon?», fragt Patty noch, doch es kommt keine Reaktion. Thea schläft bereits tief.

Jemand nimmt ihr Handgelenk. Thea öffnet die Augen und schließt sie schnell wieder.

«Ich zähle bloß Ihren Pulsschlag», flüstert die Stimme der Frau, die sie an ihrem Bett hat stehen sehen. Diese Frau ist ihr schon früher einmal aufgefallen.

«Ich muss pinkeln», sagt jemand ganz in der Nähe.

«Sie haben einen Katheter», erwidert die Krankenschwester, die offenkundig ihr Gesicht gedreht hat, um mit der anderen Person zu sprechen. «Dadurch kommt es Ihnen so vor, als hätten Sie Harndrang. Achten Sie gar nicht darauf; solche Empfindungen gehören nun mal dazu.»

«Das bereitet katheterisierten Patienten immer Probleme», pflichtet Thea ihr bei.

«Da spricht jemand vom Fach», stellt die Krankenschwester fest.

«Ich habe auch im Pflegebereich gearbeitet», erklärt Thea.

«Ja? Schön! Sind Sie auch Krankenschwester?»

«Pflegerin.»

«Und wo haben Sie gearbeitet? In einem Pflegeheim?»

«In der Pflegeambulanz. Bis bei meinem Vater die Demenz anfing. Seither pflege ich ihn.»

«Das muss hart sein. Wie eine verkehrte Welt. Gewöhnlich sorgen doch die Eltern dafür, dass es den Kindern an nichts fehlt, und nicht umgekehrt.»

Bei meinem Vater nicht, würde Thea am liebsten sagen. Mein Vater hat nie dafür gesorgt, dass es mir an nichts fehlte. Doch sie schweigt.

«Schlafen Sie schön weiter», sagt die Stimme neben ihr freundlich.

Thea hat einen Traum, der ihr bekannt vorkommt. Sie läuft durch den Garten und streut Futter für die Hühner aus. Die Tiere laufen glucksend und gackernd um ihre Füße herum und hacken einander mit den Schnäbeln, um ein Korn zu ergattern.

«Ruhig, Herrschaften!», ruft sie. «Nicht so gierig, ihr Neidhammel, es ist genug für alle da!»

Ihr Vater ist im Gewächshaus damit beschäftigt, die Fuchsien und Dahlien zu gießen. Seine Kiefer mahlen. Thea versucht ihn zu ignorieren. Sie läuft zu den Kaninchenställen und öffnet den ersten Verschlag. Sie packt ein Kaninchen nach dem anderen am Nackenfell und setzt sie zu den Kaninchen in der zweiten Box. Danach säubert sie den leeren Verschlag und legt frisches Stroh auf den Boden. Sie spült die Tränken gründlich aus und füllt sie wieder mit Wasser. Sobald sie alle Kaninchen in den ersten, gereinigten Verschlag zurückgesetzt hat, wiederholt sie die ganze Prozedur mit dem zweiten. Aus den Augenwinkeln sieht sie, wie ihr Vater langsam durch das Gewächshaus schlurft, hier und da ein abgestorbenes Blatt entfernt und einzelne Pflanzentöpfe verstellt. Das hat etwas mit dem Lichteinfall im Gewächshaus zu tun, denkt Thea. Sicher weiß sie es nicht; das Gewächshaus ist für sie verbotenes Terrain. Außer Vater dürfen nur Johan und Esther hineingehen. Während sie ihren Vater schweigend beobachtet, denkt sie an den gestrigen Vorfall. Thea versuchte Vater günstig zu stimmen, indem sie sagte, dass sie die Pflanzen im Gewächshaus so schön fände. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass er daraufhin ausfällig gegen sie werden könnte. «Du hast im Gewächshaus nichts zu suchen!», rief er. «Lass dich bloß nie erwischen, wenn du reingegangen bist.»

«Ich war doch gar nicht drin», verteidigte sie sich. «Ich hab durch die Fenster hineingeschaut.»

«Du achtest mir darauf, dass sie nicht mehr hineingeht», sagte Vater zu Johan, ohne Thea überhaupt zuzuhören.

«Darauf kannst du dich verlassen», versprach Johan.

«Aber ich bin doch gar nicht hineingegangen.» Thea stampfte auf den Boden. Am liebsten hätte sie Johan vors Schienbein getreten. Sie tobte innerlich vor Wut. Johan grinste abschätzig in ihre Richtung. Er hatte einen gemeinen Zug um den Mund.

Als sie mit dem Reinigen der Kaninchenställe fertig ist, ruft sie Anna. «Räum du den Mist weg», weist sie ihre Schwester an. «Du weißt ja, wie’s geht.»

Anna holt Schaufel und Besen aus der Kammer neben der Küche und fängt an, das schmutzige Stroh aufzukehren. Sie zieht ein Gesicht. «Das stinkt», sagt sie. «Eklig.» Ohne irgendeine Überleitung fragt sie Thea: «Wann kommt Mutter zurück?»

Jedes Mal endet der Traum auf diese Weise. Anna fragt, wann Mutter zurückkommt, und Thea fühlt, wie sich das Blut aus ihren Wangen zurückzieht. Ihr wird schwindlig, sie schwankt. Sie stürzt. In dem Moment, als ihr Kopf den Boden berührt, schrickt sie aus dem Schlaf hoch.

Auf einmal steht jemand neben ihr. «Was ist los?», fragt eine Stimme.

Thea öffnet die Augen.

«Sie haben geschrien. Haben Sie schlecht geträumt?» Die Krankenschwester hat ein unbekanntes Gesicht.

Thea blinzelt und fragt: «Patty?» An diesen Namen kann sie sich noch erinnern.

«Nein, ich bin Simone. Patty hatte Nachtdienst.»

«Und jetzt ist nicht mehr Nacht?»

«Es ist neun Uhr morgens. Ich kann Ihnen helfen, wenn Sie sich waschen möchten.»

Doch Thea schläft schon wieder.

Sie ist in einem anderen bekannten Traum gelandet.

«Ich will an die Sozialakademie. Ich will Sozialarbeiterin werden», sagt sie zu ihrem Vater. Esther ist auch im Zimmer. Sie schaut Thea griesgrämig an. Thea schüttelt den Kopf in Esthers Richtung, als wollte sie sagen: Hilf doch mal mit und fall mir nicht in den Rücken.

Vater hebt die Hand. «Es reicht», erklärt er, und Thea hört an seiner Stimme, dass er mit seiner Geduld am Ende ist. Du musst jetzt vorsichtig sein, denkt sie. Darfst ihn nicht böse machen, sonst musst du die neunschwänzige Katze aus dem Keller holen. «Ich sage es jetzt zum letzten Mal: Du gehst nicht an die Sozialakademie. Dort lernst du nichts, was du brauchen kannst. Liederliches Pack ist das dort. Ein Sündenpfuhl. Du machst Pflege. Ich habe dich schon eingeschrieben, die Ausbildung beginnt Mitte September. Solange du dem Lehrgang folgst, wohnst du intern im Schwesterntrakt.»

«Und danach?»

«Danach suchst du dir eine Stelle in der Nachbarschaft, damit du wieder zu Hause wohnen kannst.»

«Weißt du, wer die Schirmherrin des Schwesternwohnheims ist?», fragt Esther und kichert laut, nachdem Vater aus dem Zimmer gegangen ist. «Eva Mantje, die Schwester des Kirchenältesten Mantje.»

Vor Theas innerem Auge taucht ein strenges, sauertöpfisches Gesicht auf. «Wenn ich schon unter keinen Umständen an die Sozialakademie gehen darf, warum dann auch auf keinen Fall an die Pabo, so wie du?», will Thea von Esther wissen. «Mit einer pädagogischen Ausbildung könnte ich auch Lehrerin werden. Ich will überhaupt keinen Pflegeberuf lernen.»

«Vater hält dich nicht für intelligent genug, um die Pabo zu schaffen», entgegnet Esther geringschätzig. «Du und Simon, ihr seid einfach nicht so schlau wie Johan und ich.»

«Du kommst auch noch dahinter.» Thea spricht bewusst ganz langsam, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen. «Irgendwann kommt ihr beide auch noch dahinter.»

«Vater!», ruft Esther und stellt sich schrecklich verängstigt.

Die Tür geht auf, und Vater steht drohend in der Öffnung. «Was ist hier los?», poltert er.

Esther zeigt mit dem Finger auf Thea. «Sie hat mir gedroht!», kreischt sie. «Sie hat gesagt, dass sie mich umbringt!»

«Du lügst!», schreit Thea. «Du lügst, wenn du nur den Mund aufmachst! Du dreckige Lügnerin. Du miese, gottverdammte Lügnerin!»

Mit einem Sprung steht Vater vor ihr. Seine Augen treten vor Zorn fast aus den Höhlen. «Habe ich dich das zweite Gebot nicht gelehrt?», spuckt er Thea ins Gesicht. «Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen?»

Thea starrt ihn eine Weile mucksmäuschenstill an.

«Habe ich dich das nicht gelehrt?», wiederholt ihr Vater.

Thea nickt.

«Und wie geht es weiter?», schreit er, während Thea schluckt. «Wie lautet das zweite Gebot weiter?»

«Denn der Herr wird den nicht ungestraft lassen, der Seinen Namen missbraucht», sagt Thea tonlos. Sie weiß, dass sie diesmal der neunschwänzigen Katze nicht entrinnen kann.

Es rüttelt wieder jemand an ihrem Arm. «Sie träumen ja schon wieder», hört Thea eine Stimme sagen, die sie schon einmal gehört haben muss.

Sie öffnet die Augen und versucht sich den Namen der Schwester ins Gedächtnis zu rufen.

«Simone», hilft ihr das Mädchen auf die Sprünge.

Thea nickt. «Habe ich lange geschlafen?», will sie wissen.

«Keine fünf Minuten seit dem letzten Albtraum. Soll ich Sie jetzt nicht doch waschen und Ihnen ein frisches Nachthemd anziehen? Dann können wir vielleicht über angenehmere Dinge reden. Wie fühlen Sie sich?»

Thea muss darüber nachdenken. «Ich habe weniger Schmerzen», stellt sie fest. «Wie lange muss ich hierbleiben?»

«Der Chirurg schaut in einer Stunde vorbei», erwidert Simone.

6

Mit Anna ist heute Morgen rein gar nichts anzufangen. Sara hat schon auf alle Arten versucht, zu erreichen, dass ihre Schwägerin sich wäscht und anzieht: schmeichelnd, einladend, freundlich, verständnisvoll, endlos geduldig. Doch was sie auch tut, Anna bleibt launisch und querköpfig.

«Ich will Theea!» Das ist das Einzige, was Anna von sich gibt. «Theea soll kommen.»

Schließlich ist Sara mit ihrem Latein am Ende gewesen und hat Esther angerufen. Doch klüger ist sie dadurch auch nicht geworden.