Der letzte Freitag - Loes den Hollander - E-Book

Der letzte Freitag E-Book

Loes den Hollander

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Beschreibung

Sie hat Schuld auf sich geladen. Jetzt soll sie sterben. In Sandra van Dalsums Ehe kriselt es schon seit längerem. Der charismatische Jochem ist der letzte in einer Reihe von Seitensprüngen. Doch dieses Mal ist es ernster als sonst – und viel komplizierter, denn Sandras Liebhaber ist zugleich der Freund ihrer Tochter. Als Jochem zusammen mit einer Unbekannten brutal ermordet in einem Hotelzimmer gefunden wird, beschleicht Sandra ein schrecklicher Verdacht: Der Anschlag galt ihr …

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Loes den Hollander

Der letzte Freitag

Aus dem Niederländischen von Isabel Hessel

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Sie hat Schuld auf sich geladen. Jetzt soll sie sterben.

 

In Sandra van Dalsums Ehe kriselt es schon seit längerem. Der charismatische Jochem ist der letzte in einer Reihe von Seitensprüngen. Doch dieses Mal ist es ernster als sonst – und viel komplizierter, denn Sandras Liebhaber ist zugleich der Freund ihrer Tochter. Als Jochem zusammen mit einer Unbekannten brutal ermordet in einem Hotelzimmer gefunden wird, beschleicht Sandra ein schrecklicher Verdacht: Der Anschlag galt ihr …

Über Loes den Hollander

Loes den Hollander ist in den Niederlanden bekannt durch ihre Geschichten in der Zeitschrift «Libelle». «Der letzte Freitag» ist ihr erster Roman, mit dem sie auf Anhieb in die oberste Riege der holländischen Thrillerautoren aufgestiegen ist.

Inhaltsübersicht

Für meinen Har …Prolog1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. Kapitel39. Kapitel40. Kapitel41. Kapitel42. Kapitel43. Kapitel

FÜR MEINEN HAR, DEM ES GELUNGEN IST, SICH NICHT EINZUMISCHEN.

Prolog

Lange starrt sie auf den letzten Absatz unter dem Zeitungsartikel, dann fasst sie einen Entschluss. Oben liegt ihr Handy. Sie wird Angelique anrufen, jetzt. Verbot hin oder her. Schließlich geht es um ihre Zukunft. Stefan entscheidet nicht über ihre Zukunft, er soll lieber dafür sorgen, dass sie hier wieder rauskann.

Wie ihr die Decke auf den Kopf fällt! Sie muss mit Angelique reden, aber auch mit Ed und Liesbeth. Und mit ihrer Mutter, sogar ihre Mutter will sie sprechen. Sie läuft ins Schlafzimmer und gibt Angeliques Handynummer ein. Fast im gleichen Moment wird abgehoben.

«Hallo?»

«Bist du’s, Lique?»

«Wer spricht da?»

«Ich bin’s, Sandra.»

Sie hört, wie Angelique vor Schreck den Atem anhält. «Leg auf San, ruf mich jetzt nicht an.»

«Aber ich lese gerade, dass du mit dem Telegraaf reden willst.»

«Ich rede mit niemandem. Leg auf San! Es ist gefährlich.»

Die Verbindung wird unterbrochen. Sandra starrt einen Moment lang vor sich hin. Was soll das denn heißen? Angelique klang anders als sonst. Wo steckt sie nur? Im Hintergrund waren Geräusche zu hören, aber welche?

Natürlich, jetzt fällt es ihr ein. Die Turmuhr in Amstelveen, in der Nähe des Geschäfts. Was sie gehört hat, war der Glockenschlag von Big Ben, drei Zeilen der Melodie. Also ist es Viertel vor zehn, und Angelique ist in Amstelveen. Aber sie hat sich ohne Namen gemeldet.

Und sie sprach von Gefahr.

Und klang ängstlich.

Ich muss Stefan anrufen, durchzuckt es sie. Er muss so schnell wie möglich zu Angelique. Sie schnappt sich das Handy vom Bett und drückt die Direktwahltaste. Seine Nummer erscheint. Beim ersten Rufton entscheidet sie sich anders und unterbricht die Verbindung.

«Ich gehe selbst», sagt Sandra laut.

1

In der Stadt wimmelt es von Touristen. Auf dem Oudezijdsvoorburgwal drängt sich eine Gruppe Japaner vor dem Fenster einer Prostituierten. Sie nimmt die Aufmerksamkeit gelangweilt zur Kenntnis. Der Haufen besteht ausschließlich aus Männern, die sich offenbar bestens amüsieren. Sie johlen und stoßen sich gegenseitig in die Rippen. Einer deutet mit obszönen Gesten auf seinen Schritt.

Sandra weicht ihnen auf die Straße aus, doch energisches Hupen treibt sie rasch auf den Gehweg zurück. Sie ist schrecklich spät dran. Es ist wieder so ein Tag, an dem von früh bis spät alles schiefgeht. Erst hat sie verschlafen, dann ist die Kaffeemaschine übergelaufen, weil sie vergessen hatte, den alten Kaffee wegzuschütten, und als sie endlich außer Atem und mit rotem Gesicht im Geschäft ankam, hatte sie einen längst vereinbarten Termin mit einer ihrer besten Kundinnen verpasst. Und ausgerechnet gegen halb zwei, als sie sich gerade auf die Socken machen wollte, rief auch noch der Wirtschaftsprüfer mit einer langen Fragenliste zum Jahresbericht an.

Schon zehn vor halb drei, sieht sie auf der Kirchturmuhr. Die Kirche liegt in derselben Straße wie das Hotel De Beurs, wo sie immer um zwei verabredet sind. Wenn er bloß nicht denkt, sie hätte ihr Treffen vergessen oder sei wieder gegangen. Sie stakst noch schneller vorwärts, bleibt aber wenige Meter vor den Stufen zum Hoteleingang wie vom Donner gerührt stehen. Da ist es wieder, dieses merkwürdige Echo ihrer eigenen Schritte, irgendwo hinter ihr. Ob ihr jemand nachgeht? Sie dreht sich schnell um, aber die Straße ist menschenleer. Was ist das nur? Keine Zeit jetzt, sie zuckt die Achseln und steigt die Stufen hoch.

«Guten Tag, gnädige Frau», grüßt der Portier sie höflich, als Sandra die Rezeption ansteuert. «Augenblick, ich hole den Fahrstuhl für Sie.» Sie würde zu gern wissen, was dieser Mann wirklich denkt, wenn er sie auftauchen sieht. Er lächelt jedes Mal das gleiche unbeirrbare Lächeln, und der Text steht ebenfalls fest: «Guten Tag, gnädige Frau, Augenblick, ich hole den Fahrstuhl für Sie.»

Nie eine Anspielung auf den Grund ihres Besuchs, nie irgendeine Frage. Sobald sie den Aufzug betreten hat, beugt sich der Portier galant vor und drückt auf den Knopf neben der Nummer 3. Dann zieht er sich einen Schritt zurück, und die Türen schließen sich.

 

Sandra würde den Weg auch blind finden: Ihr Ziel liegt in der dritten Etage, aus dem Aufzug nach rechts, das letzte Zimmer auf dem Gang. Zimmernummer 314. Die Zahl steht in zierlichen schrägen Goldziffern an der Tür. Sie stürmt hinein, geradewegs in seine ausgebreiteten Arme.

«Ich hab mir schon Sorgen gemacht», hört sie. Was er noch sagen wollte, geht in einem langen, intensiven Kuss unter. Beide keuchen vor Erregung. So fangen sie ihre gemeinsamen Stunden immer an: ausgehungert und gierig, ungeduldig an Knöpfen und Reißverschlüssen zerrend. Sandra löst sich als Erste aus der Umarmung.

«Ich geh nur schnell duschen», sagt sie, «kommst du auch?» Sie zieht ihn hinter sich her ins Badezimmer.

«Kurz absprühen, o.k.» Sein Blick lässt ein Prickeln in ihrem Unterleib aufsteigen. «Aber schnell …»

***

Sie rauchen. Beide haben vor Monaten damit aufgehört, aber wenn sie miteinander schlafen, muss es einfach sein. Über eine Zigarette nach intensivem Sex geht gar nichts, findet Sandra. Heute hat sie vier mitgenommen. Die erste ist fast aufgeraucht. Sie ziehen immer abwechselnd.

Er reserviert das Zimmer immer von zwei bis fünf, und wenn sie ein Stündchen länger bleiben, sagt auch niemand etwas. Ihre Handys haben sie ausgeschaltet. Die Vorhänge sind geschlossen, die Nachttischlampen verbreiten warmes Licht. Sandra spürt, wie seine Fingerspitzen über ihren Bauch streichen und weiter nach unten abdriften. Sie stöhnt vor Lust, und im nächsten Moment hält sie den Atem an. Sein Mund streift über ihre Brustwarzen.

«Oh Gott!», schreit sie wenig später. Sein Mund sucht ihre Lippen. Sie sehen sich in die Augen.

«Graublaue Augen mit einem feinen dunkelblauen Rand um die Iris», flüstert er. «Deine Augen machen mich verrückt. Wo hast du die bloß her?»

Sie lächelt.

«Von meinem treulosen Opa», flüstert sie zurück. «Meine Mutter lebt schon immer in Angst, ich könnte ihm nachschlagen. Wenn sie wüsste, was ich hier tue … die würde tot umfallen.»

 

Nach der Meinung ihrer Mutter hat Sandra keinerlei Erinnerung an ihren Großvater. Tatsächlich war sie ein sechsjähriges Mädchen, als er verschwand, aber Sandra erinnert sich noch sehr genau an ihn. Nicht an sein Verschwinden, davon hat sie wenig behalten. Es wurde auch nur hinter vorgehaltener Hand diskutiert, und etwaige Fragen wurden vom Tisch gewischt oder mit vagen Erklärungen beschieden. Opa sei krank und müsse sich irgendwo ganz lange ausruhen, damit er wieder gesund werden könne, versuchte ihre Mutter Sandra weiszumachen. Sandra weiß noch genau, dass sie ihr kein Wort glaubte.

Sie war Opas ältestes Enkelkind und sein kleiner Liebling. Er schenkte ihr viel mehr Aufmerksamkeit als ihrer jüngeren Schwester Miranda. Sandra weiß noch, dass er sie oft mit dem Fahrrad abholte. Auf dem Gepäckträger war ein Kindersitz montiert.

«Halt deinen Opa gut fest», sagte er immer, sobald sie losfuhren, woraufhin Sandra die Arme um seinen Rücken schlang. Er nahm sie mit zu den Weiden, wo Kühe und Schafe grasten. Oder sie gingen zum großen Teich Enten füttern. Opa erklärte ihr, wie die Bäume hießen, an denen sie vorbeikamen, wie die Kaninchen lebten, die vor ihnen wegliefen, und warum es gefährlich war, zu nah am Wasser zu stehen. Sie aßen die Leberwurstbrote, die er mitgebracht hatte und die immer in einer Papiertüte mit der Aufschrift Hema steckten. Oma kaufte sämtliche Fleischwaren bei Hema, wo die Preise am günstigsten waren. Sandra war verrückt nach Leberwurst.

«Du bist Opas allerliebstes kleines Mädchen», versicherte Opa ihr, «wir werden immer Freunde sein. Und wenn du groß bist, ziehe ich in deine Nähe, damit du dich um mich kümmern kannst auf meine alten Tage.» Dann baute sie in ihrer Phantasie schon ein Häuschen im Garten für ihn.

Sandra war mit ihrem Opa am liebsten allein, weil es dann keine Spannungen gab. Sobald ihre Mutter oder Großmutter in der Nähe war, änderte sich etwas. Manchmal schnappte Sandra Teile von dem auf, worüber sie redeten.

«Ich habe ihm klipp und klar gesagt, dass dies das allerletzte Mal ist», hörte sie ihre Oma wenige Wochen vor Opas Verschwinden lauthals verkünden. «Ich hab es satt! Hinterher fängt er sich wieder etwas ein, und ich darf nochmal dieses Zeug schlucken, von dem sich mir der Magen umdreht. Noch ein einziges Mal, und er fliegt raus!»

«Ich versteh nicht, wieso du noch abwarten willst», antwortete Sandras Mutter spitz. «Du weißt genauso gut wie ich, dass er nie damit aufhören wird! Warum nicht gleich Nägel mit Köpfen machen?»

«Du verstehst das nicht. Ich liebe diesen Mann, ich will ihn nicht verlieren. Wenn dein eigener Mann noch am Leben wäre, würdest du bei so was auch ein Auge zudrücken.»

Sandra hat das empörte Schnauben ihrer Mutter noch im Ohr.

«Bitte nicht die Leier! Ja, Mutter, mein Mann ist tot, aber ich kann dir versichern, dass er mich nie so behandelt hätte. Abgesehen davon, dass ich mich nie so hätte behandeln lassen. Wenn das Liebe sein soll, möchte ich lieber den Rest meines Lebens davon verschont bleiben», höhnte sie.

Opa hatte graublaue Augen mit einem feinen dunkelblauen Rand um die Iris. Manchmal stellte er sich mit Sandra vor einen Spiegel.

«Schau», sagte er dann, und beide drückten ihre Nasen gegen das Glas, um es besser erkennen zu können.

«Schau gut hin. Wir haben genau die gleichen Augen.»

Sandra erinnert sich noch sehr gut daran, wie stolz seine Stimme klang, wenn er das sagte, und an die Aufregung, die sie dabei verspürte. Sie hätte damals nie gewagt, es laut auszusprechen, aber tief in ihrem Innern wäre sie lieber Opas Kind gewesen als das ihrer Mutter.

Und plötzlich war er weg. Oma dachte erst, er hätte wieder irgendwo eine junge Dame aufgegabelt. Darum bebte sie schon vor Zorn. Aber als er am Abend noch immer nicht nach Hause kam, wurde sie unruhig.

Zwei Tage später fand man seine Kleider, seine Brieftasche und seinen Ehering in der Nähe des Sloterplas. Die Brieftasche war leer, bis auf einen Zettel mit einer handschriftlichen Notiz: «Es tut mir leid», stand da.

Wochenlang suchten sie mit Stangen das Wasser nach ihm ab, doch ohne Ergebnis. Wahrscheinlich hatte ihn die Strömung mitgerissen, lautete die Erklärung. Er konnte etliche Kilometer abgetrieben und irgendwo auf dem Grund hängengeblieben sein. Vielleicht würde man ihn – oder das, was von ihm übrig war – eines Tages zufällig entdecken.

Oma wohnte damals ein paar Wochen bei ihnen. Sie wollte nicht allein sein, war völlig verstört und sprach kaum ein Wort. Sandras Mutter war auch nicht gerade gesprächig. Sie lief mit grimmiger Miene herum, und Sandra ging ihr lieber aus dem Weg. Es herrschte eine seltsame, brodelnde Atmosphäre im Haus. Die Bewohner rechneten jeden Moment mit einem Vulkanausbruch, konnten aber nicht ausmachen, aus welcher Richtung er kommen würde. Schließlich erklärte der Kriminalbeamte, der die Untersuchung leitete, der Fall werde abgeschlossen. Man trete auf der Stelle und könne im Moment nichts weiter tun als abwarten und auf die Hilfe des Zufalls hoffen. Oma kehrte daraufhin wieder in ihr eigenes Haus zurück und entfernte alles, was Opa gehört hatte. Später hat Sandra sie einmal gefragt, ob denn das Foto noch existiere, das einmal von ihr und Opa gemacht worden war, kurz bevor sie zu einer Radtour aufbrachen. Sie weiß noch heute genau, wie das Foto aussah: Opa stand lachend neben dem Fahrrad, Sandra saß hinten auf ihrem Sitz. Beide winkten der Person zu, die das Foto aufnahm.

«Natürlich nicht», lautete die knappe Antwort, «oder meinst du, ich will den Kerl nochmal wiedersehen?»

Doch nicht jeder glaubte, dass Opa sich ertränkt hatte. Zum einen war er ein sehr guter Schwimmer, zum anderen genoss er das Leben viel zu sehr, wie die Einschätzung von Sandras Mutter lautete.

«Mich hält er nicht zum Narren», darauf beharrt sie noch immer. «Der war doch ein viel zu großer Schürzenjäger, um sich umzubringen! Dem ist einfach der Boden zu heiß geworden, da hat er sich aus dem Staub gemacht, dieser Feigling! Wer weiß, wo er sich jetzt herumtreibt und mit wem. Es würde mich gar nicht wundern, wenn irgendwo noch ein Haufen Halbgeschwister von mir rumlaufen würde! Aber ich will’s gar nicht wissen. Für mich ist er gestorben.»

 

Er ist ganz schön in Form heute. Sie haben schon drei Zigaretten geraucht, und er macht immer noch keine Anstalten aufzuhören. Sandra fährt mit der Nase an seinem Hals entlang und zieht die Luft ein.

«Schon wieder so ein tierisch gutes Parfüm. Lass mich nochmal riechen, es muss ja wieder zwei Wochen vorhalten.»

«Vierzehn Tage sind auch viel zu lang», murmelt er in ihr Haar. Als sie seinen Bauch berührt, hört sie, dass ihm der Atem stockt.

«Vierzehn Tage sind gerade lang genug, damit man sich wieder heftig begehrt», neckt sie ihn, «am Ende willst du mich ganz schrecklich.» Sie spürt, wie die Erregung wieder in ihr aufkeimt. Die kleine Uhr auf dem Nachttisch zeigt zehn vor vier an. Sie stößt einen Seufzer aus.

«Aber du hast recht», gibt sie zu, «vierzehn Tage sind wirklich eine Ewigkeit. Manchmal packt mich die Lust schon Samstagmorgen wieder, dann kann’s mir nicht schnell genug gehen bis zum übernächsten Freitag.»

«Und du findest immer noch, dass es für uns keine Zukunft gibt?»

Sandra nickt. «Das sollten wir beide nicht einmal wollen», sagt sie leise. «Wir würden es bloß irgendwann bereuen.»

«Du meinst, wegen des Altersunterschieds?»

Sandra zuckt die Achseln. «Der spielt auch eine Rolle», sagt sie. «Es ist schon ein bisschen lächerlich, oder nicht?»

Er zieht die Schultern hoch und schweigt. Sie fährt ihm mit der Fingerspitze sanft über die Nase.

«Vielleicht auch nicht», gibt sie zu. «Aber wenn du in deiner Kanzlei wirklich Partner werden willst, darfst du dich nie mit mir blicken lassen. So aufgeschlossen sind deine Kollegen auch wieder nicht.»

Einen Moment lang ist es still.

«Und irgendwann wirst du dir Kinder wünschen», fährt sie fort. «Siehst du mich in meinem Alter nochmal einen Kinderwagen vor mir herschieben? Ich bin eher reif für die ersten Enkel.»

Er legt die Hand auf ihren Mund.

«Nicht! Vielleicht lassen wir es ja irgendwann sein, aber noch nicht jetzt. Noch lange nicht.»

Er küsst sie leidenschaftlich. Beide atmen heftiger.

«Es ist schon nach vier. Du wirst müde sein», sagt Sandra.

«Müde? Wer sagt das?»

2

Eduard kann sich an den meisten Wochentagen schon gegen zehn Uhr abends kaum noch auf den Beinen halten vor Müdigkeit. Er braucht einen festen Rhythmus, von dem er am liebsten so wenig wie möglich abweicht. Jeden Tag zur selben Zeit aufstehen, jeden Tag zur selben Zeit ins Bett gehen, außer sonntags, dann ist das Geschäft geschlossen.

Sandra lernte ihn kennen, als sie zur Realschule ging. Sie war damals sechzehn, Eduard vierundzwanzig. Er war der Sohn von Herrn van Dalsum, ihrem Biologielehrer, und kam in seiner Eigenschaft als Jungunternehmer vorbei, um während des Biologieunterrichtes Meerschweinchen und Kaninchen vorzuführen. Sein Vater war sehr stolz auf ihn, woraus er kein Hehl machte. Ein vierundzwanzigjähriger Sohn, der schon völlig selbständig eine eigene Tierhandlung in der Kinkerstraat führte, das war schon eine Leistung. Er empfahl auch seinen Schülern, sich an Eduard ein Beispiel zu nehmen. Der stand ein wenig betreten da, während sein Vater ihn in den höchsten Tönen lobte. Er fühlte sich sichtlich unwohl. Sandra schmolz dahin. Eigentlich hatte sie für Meerschweinchen und Kaninchen nichts übrig, fand, dass sie stanken. Aber sie riss sich zusammen und kraulte ihr Fell, während sie dafür sorgte, dass sie selbst ganz in Eduards Nähe zu stehen kam. Wie beiläufig drückte sie ihre Hüfte gegen seinen Oberschenkel, er glitt hastig ein Stück zur Seite. Ihre Blicke kreuzten sich flüchtig, doch Sandra glaubte in seinen Augen ein schüchternes Interesse zu erkennen. Er wandte sie nur gleich wieder ab.

Er erregte sie. Es war das erste Mal in ihrem Leben, dass ein Mann einen derartigen Eindruck auf sie machte. Sie hatte Lust, ihn überall anzufassen, und war gleichzeitig etwas erstaunt über sich selbst.

«Brauchst du für samstags zufällig eine Aushilfe?», fragte sie.

 

Ihre Mutter zog die Augenbrauen hoch, als Sandra ihr eröffnete, sie werde nun samstags bei Eduard van Dalsum arbeiten.

«Was willst du denn in einer Tierhandlung? Ich dachte immer, du könntest den Gestank nicht leiden? Das ist sicher wieder nur eine deiner Launen.»

Doch Sandra behauptete steif und fest, dass die Arbeit sie interessiere, außerdem wolle sie ihr Taschengeld ein wenig aufbessern. Für dieses Argument war ihre Mutter weitaus empfänglicher. Sie ergänzte von sich aus, dass es Sandra weiß Gott nicht schaden konnte, wenn sie lernte, was es hieß, Verpflichtungen zu haben. Nach ihrer Ansicht nahm Sandra das Leben viel zu leicht. Es sei höchste Zeit, dass sie am eigenen Leib erfuhr, dass einem nichts in den Schoß gelegt wird.

«Manchmal ähnelst du deinem Großvater etwas zu sehr», blaffte sie regelmäßig, «so ausschweifend und flatterhaft, wie er es war.» Dabei blickte sie drein, als hätte Sandra gerade einen bewaffneten Raubüberfall begangen.

Dass Eduard ein Mann und Sandra eine junge Frau war, war für ihre Mutter kein Anlass zur Sorge. Für sie war Sandra noch ein Kind, und Eduard hatte einen anständigen und soliden Eindruck auf sie gemacht, als sie eines Samstagnachmittags in sein Geschäft kam, um sich vorzustellen. Ihre Mutter sah in ihm keinen potenziellen Verführer, womit sie völlig richtiglag. Die Initiative ging allein von Sandra aus. Irgendwie rief dieser junge Mann etwas in ihr wach, dem sie sich nicht entziehen konnte. Manchmal betrachtete sie seine Hände, während er die Kaninchenställe ausmistete. Dann hatte sie das Bedürfnis, diese Hände zu ergreifen und auf ihre Brüste zu drücken. Wenn er hinter einem der Regale einem Kunden zu einer neuen Hundefuttermarke riet, kam es vor, dass ihr allein vom Klang seiner Stimme die Knie zitterten. Wenn sie dann im Bett lag, stellte sie sich vor, wie es mit ihm zusammen sein müsste, und die bloße Vorstellung führte zu nie gekannten Sensationen zwischen ihren Beinen. Sie träumte von seinen Händen auf ihrem Körper, von seinem Mund an Stellen, die sie selbst kaum zu berühren wagte. Manchmal erwachte sie mit einem seltsamen Vibrieren im Unterleib, das sich erst legte, wenn sie ihre Oberschenkel mit aller Kraft zusammenkniff. Augenscheinlich hielten viele der weiblichen Kunden, die das Geschäft besuchten, Eduard ebenfalls für einen attraktiven Mann. Die Frauen flirteten unverhohlen mit ihm, obwohl ihre Eheringe sichtbar am Finger steckten. Eduard ging jedoch auf keinen der Annäherungsversuche ein, sodass sich Sandra fragte, ob er sie überhaupt wahrnahm. Was sie betraf, beförderte sie diese Schlampen am liebsten, so schnell es ging, wieder aus dem Laden.

 

Eduard war ein gutaussehender Mann, das war nicht zu leugnen. Er war groß und kräftig, aber nicht dick. Sein dunkler, voller Schopf fiel ihm oft über die Augen. Mit einer ärgerlichen Handbewegung wischte er sich dann den Vorhang aus der Stirn. In solchen Momenten fand Sandra ihn zum Auffressen. Aber davon merkte er nichts. Ich kann warten, bis ich schwarz werde, wenn ich ihm den ersten Schritt überlasse, war ihre Überlegung. Nach Ladenschluss an einem Samstagnachmittag, als sie noch gemeinsam das Geschäft aufräumten, merkte sie, dass sein Blick auf ihr ruhte. Sie lächelte ihn an.

«Na, du», sagte sie, «schaust du mich auch mal an?» Rasch wandte er den Blick ab. Sandra stellte sich neben ihn. Auf einmal herrschte eine starke Spannung zwischen ihnen. Eduard seufzte, trat aber nicht zur Seite. Sie strich mit den Fingerspitzen erst über seine Wange, dann über seine Lippen. Im nächsten Augenblick spürte sie seine Arme um sich.

***

«Schwanger?», keifte ihre Mutter. «Wie um Himmels willen ist das möglich?»

«Man nehme eine Eizelle und einen Samen, du weißt schon», antwortete Sandra, «oder glaubst du noch an den Klapperstorch?», fügte sie frech hinzu.

Ihre Mutter wurde fuchsteufelswild. «Halt dein loses Mundwerk, ich bin nicht eine deiner Freundinnen», schnauzte sie Sandra an, «was fällt dir überhaupt ein, so mit mir zu reden?» Sie schäumte vor Wut. «Gott, ich hätte es wissen müssen, es liegt in der Familie. Wir gehen zum Hausarzt und vereinbaren einen Termin für die Abtreibung.»

«Wir gehen nirgendwohin», antwortete Sandra kühl, «er wird mich heiraten.»

 

Über dem Geschäft in der Kinkerstraat befand sich eine Wohnung, die Eduard als Lagerfläche benutzte. Sie räumten die Zimmer aus, und Eduard mietete in der Nähe eine Garage, die als Magazin dienen konnte. Seine Eltern halfen beim Streichen und Tapezieren. Anfangs verhielt sich Eduards Vater eher reserviert. Er war Sandra gegenüber unsicher, schließlich war sie noch immer eine seiner Schülerinnen. Eduards Mutter hingegen schien eine herzliche und kluge Frau zu sein, die Sandra ganz selbstverständlich in ihre Familie aufnahm. Wenige Wochen genügten, und Sandra galt als Familienmitglied.

«Es war schon eine Überraschung für uns, dass Eduard plötzlich auf Freiersfüßen herumlief», vertraute seine Mutter Sandra an. «Wir hatten uns schon ein wenig Sorgen gemacht, weil er nie ausging und sich nicht für Mädchen zu interessieren schien. Er ist immer so ernst, ich hatte schon befürchtet, er würde sein Lebtag nur mit Kaninchen reden. Vielleicht gelingt es dir ja, ihn ein bisschen aufzutauen. Da bin ich mir sogar sicher.» In ihrer Stimme lag nicht die Spur eines Vorwurfs, im Gegenteil, sie schien froh, eine Schwiegertochter zu bekommen.

Sandras Mutter verhielt sich ihrem zukünftigen Schwiegersohn gegenüber zunächst sehr distanziert. Sie beschwerte sich, Eduard hätte doch seinen Verstand benutzen sollen, und wenn er zu Besuch kam, verlieh sie ihren Worten Nachdruck, indem sie mit zusammengepressten Lippen dasaß und schwieg. Sie versuchte Sandra dazu zu kriegen, dass sie doch noch abtreiben ließ, und wurde in diesem Punkt von ihrer eigenen Mutter unterstützt. Mach doch erst die Schule zu Ende, lautete deren guter Rat. Was willst du denn machen, ohne einen Abschluss in der Tasche? Im Augenblick mag dir ja alles ganz wunderbar vorkommen. Du bist wahrscheinlich bis über beide Ohren verliebt … Aber man kann nie wissen, was in zehn Jahren ist. Stell dir vor, du musst dich eines Tages selbst ernähren. Wie soll das gehen? Du kannst später noch genug Kinder bekommen, wozu denn die Eile?

Sandra ließ den Wortschwall über sich ergehen und schwieg. Die meiste Zeit über war sie bei Eduard oder half seinem Vater beim Anstreichen und Tapezieren ihrer zukünftigen Wohnung. Es machte sie ruhig.

Sie heirateten im kleinen Kreis. Nur Sandras Mutter und Großmutter sowie Eduards Eltern waren dabei. Letztere überraschten sie mit einem Wochenende in einem Hotel am Meer, sozusagen als Hochzeitsreise. Sie kamen das ganze Wochenende kaum nach draußen.

Sobald Eduard junior auf der Welt war, schlug die Haltung von Sandras Mutter um. Sie war kaum von dem Baby loszueisen und kam fast jeden Tag vorbei, um sich gurrend und allerhand Unfug treibend über die Wiege zu beugen. Vergessen waren alle vorher geäußerten Bedenken über die Tatsache, dass ihre Tochter mit siebzehn und ohne Schulabschluss Mutter wurde. Manchmal schien es fast, als hätte sie und nicht Sandra das Kind geboren.

«Vielleicht war es ja doch die beste Lösung», sagte sie eines Tages. Damals war der kleine Eduard drei Monate alt und lachte immerzu. Sandra sah dem fröhlichen Kerlchen manchmal geschlagene drei Stunden lang zu.

«Was meinst du?», fragte sie ihre Mutter. «Welche Lösung und wofür?»

«Ein Kind bedeutet viel Verantwortung, man muss den ganzen Tag Rücksicht nehmen. Das Leben ändert sich, wenn man Kinder bekommt.» Sie schwieg einen Augenblick, und Sandra wartete ab, was noch folgen würde.

«Na, ich meine … du hast doch die gleichen Flausen im Kopf wie dein Opa! Vielleicht wäre es gar keine so schlechte Idee, gleich mehrere Kinder hintereinander zu bekommen, umso weniger Unsinn bildest du dir ein …»

Sandra starrte sie mit offenem Mund an.

 

Sie rauchen ihre vierte Zigarette. Sandra fühlt sich matt und zufrieden, ihr ganzer Körper ist entspannt. So entspannt, wie man sich nur nach sehr intensivem Sex fühlt. Jetzt einfach schlafen, denkt sie mit einem tiefen Seufzen, traumlos und fest. Wegdämmern in eine Welt, wo man für niemanden erreichbar ist. Sich den eigenen Schwingungen hingeben und fühlen, was man nur fühlen kann, wenn man ganz mit sich allein ist. Sie bemerkt seinen fragenden Blick.

«Sag mir, was du denkst …»

Sandra lächelt und stupst ihn auf die Nase.

«Das geht nicht mal dich was an», antwortet sie neckend.

Er betrachtet ihren Körper. «Ich würde gern mal eine ganze Nacht lang mit dir schlafen», sagt er.

«Ob wir da viel schlafen würden?»

Er pikst sie in die Seite, und Sandra quietscht vor Lachen.

«Nicht, bitte», kichert sie, «ich bin kitzlig!»

Dann wird sie wieder ernster. «Eine ganze Nacht», murmelt sie nachdenklich, «wenn das irgendwann möglich wäre …»

«Im Moment bleibt uns noch eine Dreiviertelstunde», flüstert er ihr heiß ins Ohr. «Rat mal, worauf ich wieder Lust habe.»

 

«Du hast ständig Lust», beschwerte sich Eduard regelmäßig, als sie frisch verheiratet waren. «Ich kann da nicht mithalten.»

Sandra fühlte sich abgewiesen und sagte nichts. Nachdem sie mit Eduard zusammengezogen war, hatte sie schnell erkannt, dass zwischen ihrer und seiner Libido ein himmelweiter Unterschied bestand. Um den für sie errechneten Zeitpunkt herum, als ihr riesiger Bauch ziemlich im Weg war, brauchte sie ihr Bett nur anzusehen, und schon schlief sie ein. Sie machte keine Anstalten, Eduard zu verführen, und schmiegte sich zufrieden an ihn. In den ersten Monaten nach der Geburt ihres Babys war sie dann zu sehr mit Füttern, Windelnwechseln und Sich-an-das-Muttersein-Gewöhnen beschäftigt, um Sex ernsthaft zu vermissen. Sie konnte stundenlang neben der Wiege sitzen und die winzigen Wurmfingerchen ihres Babys bestaunen, die kleine Stupsnase und die Schmatzgeräusche, die es im Schlaf von sich gab. Die schönsten Momente brachen an, wenn es aufwachte und sie mit einem strahlenden Lächeln überraschte. Sie war sich absolut sicher, dass sie nie und nimmer ein anderes Wesen mehr lieben könnte als dieses Kind. Manchmal überfiel sie der Gedanke an all die lauernden Gefahren, die den Kleinen draußen erwarteten. Man hörte oder las ja gelegentlich von Kindesentführung oder gar Kindsmord. Aber so viel stand fest: Wer je auf die Idee kommen sollte, ihrem Kind etwas anzutun, der würde es garantiert keinem mehr weitererzählen. Den würde sie mit bloßen Händen ermorden.

Als die Schwangerschaftshormone langsam den Rückzug antraten, fing sie wieder an, sich für Eduard zu interessieren. Sie stillte das Baby ab und wünschte, Eduard würde ihre Brüste jetzt wieder berühren. Doch an den Werktagen war er abends meistens zu müde, um noch aus den Augen zu schauen. Immer früher zog es ihn ins Bett, wo er einschlief, sobald sein Kopf das Kissen berührte. Also versuchte Sandra ihn zu verführen.

«Sonntagabend», versprach er, wenn er merkte, dass sie sich mit einer diskreten Zurückweisung nicht zufriedengab. «Sonntagabends bin ich nie müde. Dann machen wir ein Fest daraus, das verspreche ich dir.»

Doch Sandra verstand unter einem Fest etwas anderes als Eduard.

«Nicht so eilig», ermahnte sie ihn, «warum so hastig? Wir haben doch alle Zeit der Welt. Was ist bloß los mit dir?»

Eduard bemühte sich nach Kräften, es ihr recht zu machen, aber es war nie genug.

«Kümmer dich doch erst mal um mich», flüsterte sie ihm manchmal ins Ohr, «bring mich richtig zum Schreien. Danach verwöhn ich dich, abgemacht?»

Ihre Worte erreichten das genaue Gegenteil, weil sie Eduard nervös machten. «Du rückst mir zu sehr auf die Pelle», beschwerte er sich. «Ich hab ja kaum Luft zum Atmen, und unter Zwang macht es keinen Spaß. Kannst du’s dir nicht selbst machen, ich meine …»

Für Sandra war das ein Schlag ins Gesicht.

Die Spannungen häuften sich. Spannungen, die weniger ins Auge fielen, wenn sie – selten genug – guten Sex miteinander gehabt hatten, was noch am ehesten der Fall war, wenn Sandra nicht die Initiative ergriff und Eduard auf seine Art machen ließ. Alles wurde wieder anders, als Sandra zum zweiten Mal schwanger wurde. Sie konzentrierte sich auf das wachsende Leben in ihrem Bauch, was es ihr leichter machte, Eduard in Ruhe zu lassen. Nach Marijes Geburt wiederholte sich das Muster aus Begehren und Abwehr, so unentrinnbar wie Ebbe und Flut. Damals hatte Sandra ihren ersten Liebhaber.

 

Nikos war Grieche. Er stammte aus Thessaloniki und war mit einer von Sandras Nachbarinnen verheiratet. Seine Frau verdiente den Unterhalt, Nikos war Hausmann. Er konnte durch bloßes Handauflegen Kopfschmerzen verschwinden lassen, erzählte eine andere Nachbarin Sandra. Sie habe es am eigenen Leib erfahren, sonst hätte sie die Geschichte auch nicht geglaubt. Es stimme aber wirklich. Der Nachbarin zufolge schwebten Nikos’ Hände einfach ein paar Minuten knapp über der Stirn seiner Patienten in der Luft, und schon spürte man, wie die Kopfschmerzen verflogen. Bei Bedarf konnte man ihn jederzeit zu sich bitten, und er wollte auch nicht dafür bezahlt werden.

Sandra litt eigentlich nie unter Kopfschmerzen, aber sie fand Nikos anziehend. Ein waschechter Grieche mit dunklem Lockenkopf und nahezu schwarzen Augen. Sie war ihm schon gelegentlich im Supermarkt begegnet und hatte allein von der Art, wie er sie ansah, weiche Knie bekommen. Allmächtiger, was für ein Mann! Sie überlegte angestrengt, wie sie mit ihm in Kontakt treten konnte. In ihrem Kopf meldete sich eine warnende Stimme, die ihr riet, ihm lieber aus dem Weg zu gehen. Aber warum? Sie wollte doch nichts Böses.

Wie sich herausstellte, war es gar nicht nötig, eine List zu ersinnen. Eines Mittags stand er einfach vor ihrer Tür. Es wirke wahrscheinlich etwas dümmlich, meinte er, wenn ein erwachsener Mann eine Tasse Zucker borgen kam, aber er habe vergessen, sich einzudecken. Ob Sandra ihm aushelfen könne? Er sprach dümmlich wie dummlich aus.

Als er die Tasse, die Sandra mit Zucker gefüllt hatte, entgegennahm, berührte seine Hand kurz die ihre. Sie sahen sich an.

«Ich komme morgen Nachmittag zuruck», sagte er, «wenn die Kinder in der Schule sind.» Als er fort war, lehnte Sandra einen Augenblick am Türpfosten. Der kommt mir nicht über die Schwelle, dachte sie fest.

 

Beim ersten Mal nahm er sie auf dem Küchentisch, nachdem er sie mit sanften Fingern schon in höchste Erregung versetzt hatte. Sandra glaubte vor Wonne zu sterben. Schon am nächsten Nachmittag stand er wieder vor der Tür, und Sandra ließ ihn rasch eintreten. Die Nachbarn mussten ja nicht unbedingt mitbekommen, dass er zu ihr kam, wobei sie sich natürlich immer noch auf Migräneattacken rausreden konnte. Seitdem besuchte er sie mindestens zweimal pro Woche. Sie liebten sich durchs ganze Haus, vom Keller bis zum Dachboden und wieder zurück. Währenddessen sprachen sie kaum ein Wort. Nur ihr keuchender Atem und ihre Lustschreie waren zu hören, aber sie achteten darauf, dass nichts nach draußen drang. Manchmal sah Sandra Eduard auf einem Fleck stehen, wo sie noch vor wenigen Stunden mit Nikos gelegen hatte. Dann musste sie tief durchatmen, um die Nerven zu behalten. Wenn es wieder Sonntagabend war, ließ sie Eduard wie gewohnt gewähren, ohne Fragen zu stellen.

In der Zeit, in der Sandra mit Nikos schlief, wurden sie einmal von Ed junior erwischt. Er war damals ungefähr drei und war plötzlich aus seinem Mittagsschlaf erwacht. Nikos hatte Sandras Bluse schon aufgeknöpft und wollte gerade ihre Brüste küssen, als der Knirps auf einmal mitten im Wohnzimmer stand.

«Was tut ihr da?», fragte er schlaftrunken. Unter seiner Nase hing eine große Rotzglocke, die er hochzuziehen versuchte.

«Mama hat Kaffee über ihr Oberteil geschüttet», sagte Nikos unbeirrt. «Sie geht nur kurz in die Küche und wäscht den Flecken aus. Wenn du mal herkommst, kann ich dir deine Rotznase abputzen.»

Wenig später brachte er den Jungen wieder ins Bett. Als er zurücckam, riss er Sandra entschlossen an sich. Sie zögerte zunächst, aber Nikos ließ sich nicht aus dem Konzept bringen. Ein Auge und beide Ohren auf die Tür gerichtet, gab sie sich ihm hin. Obwohl ihr eigentlich nicht ganz wohl dabei war, war es unwahrscheinlich erregend.

 

Auf einmal kam Nikos nicht mehr, und Sandra rätselte über den Grund. Ob seine Ehefrau dahintergekommen war? Sie rechnete jeden Abend damit, dass es an der Haustür klingelte und Nikos’ Frau ihr eine grässliche Szene machen würde. Es geschah aber gar nichts, was sie bald nervös zu machen begann. Vielleicht war er ja krank? Sie lief ihm auch nirgends mehr über den Weg, er schien wie vom Erdboden verschluckt.

«Hast du’s schon gehört?», erkundigte sich eines Nachmittags die Nachbarin, die neben Nikos wohnte, als Sandra mit den Kindern spazieren ging. «Das von dem Griechen? Anscheinend macht er mit allen Patientinnen mehr als nur Handauflegen! Einer soll er sogar was angehängt haben, statt sie von was zu befreien …»

Sandra sah die Nachbarin bestürzt an.

«Ich will sagen, er hat hier in der Gegend ein uneheliches Kind gezeugt», erklärte die Frau spitz.

«Ja, ich versteh schon», sagte Sandra hastig. «So ein Mistkerl!»

Sie fühlte sich betrogen.

3

Ob das Betrügen dem Menschen im Blut liegt? Sandras Mutter zufolge schon, wobei sie sich stets auf das Verhalten ihres Vaters beruft.

«Bei ihm ist das angeboren», sagt sie mitunter, wenn das Gespräch auf Opa fällt. Mit den Jahren scheint sie ihm gegenüber doch etwas milder gestimmt. «Vielleicht konnte er selbst nichts dagegen tun», hat sie erst kürzlich zu Sandra gesagt und sich gleich darauf widerlegt, indem sie über das viele unnötige Leid zu reden begann, das er ihrer Mutter zugefügt hatte.

«Du ähnelst ihm von allen Enkelkindern am meisten», sagt sie manchmal nachdenklich, «ich kann nur hoffen, dass die Ähnlichkeit rein äußerlich ist.» Auf derartige Bemerkungen reagiert Sandra nie.

Wo fängt Betrügen eigentlich an?, fragt sie sich gelegentlich. Nun ja, im Grunde kennt sie die Antwort. Sie weiß zum Beispiel, dass andere sie für eine Betrügerin halten würden, wenn bekannt würde, was sie sich alles geleistet hat beziehungsweise leistet. Aber ganz einverstanden ist sie mit diesem Urteil nicht. Für ihr Gefühl bedeutet Betrug, dass man einem anderen Leid zufügt. Sie tut aber Eduard gar nicht weh. Er weiß ja nicht, was sie treibt, und sie wird es ihm sicher nicht unter die Nase reiben. Nur ihre Kollegin Angelique weiß von ihrem gegenwärtigen Liebhaber, aber nicht, um wen es sich handelt. Würde sie seine Identität kennen, wäre es allerdings fraglich, ob sie Sandras Abstecher noch unterstützen würde. Angelique verschafft ihr jeden zweiten Freitagnachmittag, wenn Sandra sich davonstiehlt, ein Alibi. Sie ist gespaltener Ansicht, was die Eskapaden ihrer Kollegin betrifft: Einerseits lehnt sie Fremdgehen ab, andererseits ist sie schrecklich eifersüchtig.

«Ich wünschte, ich hätte auch den Mut dazu», gesteht sie Sandra in regelmäßigen Abständen. «Der Kick muss gigantisch sein! Aber wie ich mich kenne, würde ich mich sofort verraten. Stell dir vor, Gerben würde fragen, wo ich gerade herkomme … Ich käme garantiert ins Stottern. Und schon wär Schluss mit lustig.»

«Stell dir mal vor», forderte sie Sandra erst letzte Woche auf, «du bist mit Eduard im Theater, und plötzlich taucht dein Lover mit seiner Frau auf … Und vielleicht noch der Portier vom Hotel. Was machst du dann?» Sie schmunzelte bei dem Gedanken.

«Weiteratmen», antwortete Sandra gelassen, «und alle unsere Pokerminen aufsetzen, nehme ich an.» In Wirklichkeit ist ihr schon der Gedanke an derartige Zufälle unerträglich. Sie vertraut darauf, dass Eduard im tiefsten Inneren weiß, dass er nicht der einzige Mann in ihrem Leben ist, er ist schließlich nicht dumm. Doch auch seine Bereitschaft einzustecken wird Grenzen haben. Fast jeder Mann aus Sandras Bekanntenkreis wäre als potenzieller Liebhaber noch irgendwie vorstellbar – außer diesem einen. Sie ist ja selbst nicht ganz glücklich über ihre Wahl. Aber sie schafft es einfach nicht, Schluss zu machen.

Im Grunde ihres Herzens wünscht sie, die Dinge lägen anders. Sie hätte lieber einen Ehemann, der auf sexuellem Gebiet besser zu ihr passt. Sie ist fest davon überzeugt, dass sie sich nie nach einem anderen umschauen würde. Aber so ist es leider nicht. Damals, als die Kinder noch klein waren, hat sie manchmal an Scheidung gedacht. Eduard, der es gespürt hatte, sprach sie darauf an. Zunächst stritt Sandra alles ab, aber als er auf einer ehrlichen Antwort bestand, gab sie es zu. Er erschrak fürchterlich.

«Ich will dich nicht verlieren», sagte er. Es sah aus, als würde er gleich anfangen zu weinen. Doch er riss sich zusammen.

«Ich geb mir Mühe», sagte er, «wirklich. Aber ich werde dir wohl nie geben können, was du brauchst. Ein anderer vielleicht, ich kann es nicht.»

Sandra fragte sich nach dem Gespräch, ob er unter Umständen andeuten wollte, sie hätte freie Hand. Es schien ihr jedoch nicht klug, ihn konkret darauf anzusprechen, das wäre dann doch zu peinlich geworden. Allerdings gab ihr das einen gewissen Spielraum, und den wollte sie nutzen. Auch wenn es sie manchmal wurmt, dass sie Liebhaber hat, und sie sich oft ausmalt, wie es wäre, sich scheiden zu lassen und irgendwo neu anzufangen, ist sie bis heute bei Eduard geblieben. Er ist der ruhende Pol in ihrem Leben, der Mann, mit dem sich alles vertraut anfühlt. Sie gehen beide ihrer geregelten Arbeit nach, was viel Zeit in Anspruch nimmt. Für Sandra wäre es die Hölle, nur zu Hause zu sitzen und das klassische Kinder-Küche-Kegel-Leben zu führen. Das hätte sie bestimmt nicht all die Jahre, die sie inzwischen mit Eduard zusammen ist, ausgehalten. Trotz ihrer Eskapaden hat sie noch immer Gefühle für Eduard. Ein Leben ohne ihn kann sie sich kaum vorstellen, und inzwischen sind sogar die Sonntagabende, die im Lauf der Jahre zum festen Ritual geworden sind, annehmbar für sie geworden.

«Was hältst du davon, wenn wir zwei Hübschen jetzt nach oben gehen?», sagt Eduard so um elf Uhr immer mit Nachdruck. «Dann beweise ich dir, dass ich noch immer ein Mann bin.»

Sandra hat es längst aufgegeben, mit Eduard über ihre sexuellen Bedürfnisse zu reden. Stattdessen manövriert sie ihn so subtil wie möglich in die Richtung, in die sie ihn haben will. Wenn er sie nicht genügend erregt, stellt sie sich vor, er sei ihr Liebhaber. Kürzlich hätte sie sich dann vor Erregung beinah verraten. Sie hatte so intensiv an ihren Geliebten gedacht, dass ihr fast sein Name herausgerutscht wäre.

«Wie?», brummte Eduard. «Wovon redest du?»

«Von gar nichts», besänftigte sie seinen Argwohn, «du machst mich eben ganz verrückt, das ist alles.»

***

Alle Zigaretten sind aufgeraucht. Sie müssen sich anziehen, Abschied nehmen und wie gewöhnlich nacheinander das Hotel verlassen. Aber sie machen noch keine Anstalten.

«Wer geht heute zuerst?», will Sandra wissen.

«Ich nicht.»

«Dann bin ich wohl an der Reihe.» Sie streckt sich und richtet den Oberkörper auf, aber er packt ihre Schultern und zieht sie zurück.

«Nur noch fünf Minuten …»

Sie lacht. «Das geht nicht, wir sind schon eine halbe Stunde zu spät. Ich bin die Älteste, also auch die Vernünftigste.» Sie federt aus dem Bett und geht ins Badezimmer.

«Unglaublich», sagt er bewundernd, «dass du bei zwei Kindern trotzdem so eine Figur hast.»

 

Das hat Sandra schon öfter gehört. Sie wird auch meistens viel jünger geschätzt, als sie ist. Als sie vor ein paar Monaten ihr Handgelenk verstaucht hatte und im Krankenhaus geröntgt werden musste, staunte eine Krankenschwester nicht schlecht, als sie Sandras Geburtsdatum las.

«Achtundvierzig sind Sie?», fragte sie. «Ich hätte eher auf achtunddreißig getippt.»

«Ich habe einen einunddreißigjährigen Sohn», sagte Sandra, «aber das kann ich selbst kaum glauben. Ich bin eine Frau im reifen Alter, aber fühl mich ganz anders.»

 

Eduard junior, den sie kurz Ed nennen, arbeitet als Ingenieur bei Philips. Er reist um die ganze Welt, manchmal sieht sie ihn mehrere Monate nicht. Das ist nicht immer einfach für sie, denn Ed ist und bleibt das Kind, mit dem sie sich am stärksten verbunden fühlt. Vielleicht weil er ihr Erstgeborener ist. Ed ist von beiden Kindern innerlich wie äußerlich am unverkennbarsten von ihr.

Seine Augen sind ebenfalls graublau mit dem feinen dunklen Rand um die Iris. Und wie sie muss er immer seine Grenzen ausloten. Sie nimmt an, dass er keine feste Freundin hat, Frauen aber schon. Den einen oder anderen Namen hat sie noch im Ohr: José in Paris, Marit in Helsinki, Karen in München und Joyce in London.

«In jedem Städtchen ein Schätzchen», scherzt sie gelegentlich. «Du hast was von einem Seefahrer.» Dann grinst Ed und sagt, dass er aber mit keiner der Frauen eine längere Beziehung hat. «Sei frei, hab Spaß dabei», lautet das Motto. Keine Verpflichtungen.

Ed ist der einzige Mensch, mit dem Sandra über ihre Ehe reden kann. Natürlich achtet sie darauf, was sie ihm erzählt, um ihn gegenüber seinem Vater nicht in Verlegenheit zu bringen.

«Warst du immer treu, Mam?», hat er sie einmal gefragt. Sandra zögerte. Ob er sich noch an Szenen von früher erinnerte?

«Ach, sag’s mir lieber nicht. Eigentlich will ich’s gar nicht wissen … Warum seid ihr zusammengeblieben?», schoss er gleich hinterher. Die zweite Frage kam erst recht unerwartet, und Sandra musste sich gut überlegen, was sie sagte.

«Wir kommen gut miteinander aus», meinte sie schließlich. «Wir sind Freunde, streiten uns nicht über Unterschiede. Jeder darf sein, wie er ist.» Sie fand, dass sie das schön formuliert hatte.

Ed fand das auch. «Das hast du schön formuliert, Mam», sagte er beifällig, «das trifft wohl den Nagel auf den Kopf. Für mich geht es in einer Beziehung vor allem um kleine Dinge: sich zusammen wohl fühlen, sein können, wie man ist. Nur dass bei den Frauen, die ich immer kennenlerne, alles super sein muss: superhohes Gehalt, supertolles Haus, supergeiler Sex. Nie mal einfach die normale Nummer, wenn du verstehst, was ich meine … Ich bin das manchmal so leid!»

Sandra lachte laut auf.

«Wart ab, bis die große Liebe auftaucht. Nämlich dann, wenn du’s am wenigsten erwartest. Und dann tust du alles, um sie zu behalten, und wenn du dir die Haare superblond färben musst.»

 

Solche Gespräche führt Sandra nie mit ihrer Tochter. Marije ist jetzt neunundzwanzig. Sie ist sehr intelligent und studiert Medizin. Noch in diesem Jahr wird sie ihr Studium beenden und will sich dann gleich spezialisieren. Internistin wird sie, hat sie bereits angekündigt.

Von Sandras und Eduards Kindern ist Marije bei weitem das kritischste, aber auch das launenhafteste. Sandra sah in ihrer Jüngsten schon immer den Ausreißer innerhalb der Familie. Von Kindesbeinen an konnte sie nie zufrieden sein, weder mit dem, was sie bekam, noch mit ihrer eigenen Leistung. Gut war nie gut genug. Bei jedem Streit musste und würde sie gewinnen, und wenn das mal in die Hosen ging, war Holland in Not. Bis heute nimmt sie jede Konkurrenz zwischen sich und anderen todernst.

«Man könnte glauben, sie will jetzt schon kein Kind mehr sein», sagte Sandra einmal zu Eduard, als Marije ungefähr vier Jahre alt war. «Spielen oder Glanzleistungen liefern ist für sie genau das Gleiche. Sie wird noch ihre ganze Jugend verpassen.»

Eduard sah die Sache weniger düster. «Ein jeder Vogel singt, wie ihm der Schnabel gewachsen ist», sagte er begütigend, «sie macht das schon, nur eben auf ihre Art.»

In der Grundschule übersprang sie eine Klasse, was zur Folge hatte, dass sie bereits mit siebzehn das Gymnasium verlassen konnte. Zu dieser Zeit steckte sie mitten in der Pubertät und war ziemlich unausstehlich. Sie wusste alles besser und brach mit jedem, der ihr über den Weg lief, eine schwerwiegende Diskussion vom Zaun: über Politik, den Papst, das Ozonloch, verlogene Kinostars, den Verzehr von Fleisch, die Ehe. Wenn sie mit ihren Eltern am Esstisch saß, beobachtete sie die beiden oft aus zusammengekniffenen Augen.

«Ich heirate nie!», konnte sie im Brustton der Überzeugung, doch ohne ersichtlichen Anlass erklären. Sandra empfand das als Kritik in ihre Richtung, hütete sich aber, es zuzugeben. Auch Eduard ließ sich wohlweislich nicht auf derlei Provokationen ein. Wenn Marije wirklich unangenehm wurde und versuchte, die beiden aus der Reserve zu locken, brach er das Gespräch kurzerhand ab.

«Nicht in diesem Ton, Fräulein! Such dir jemand anderen, den du auf die Palme bringen kannst.» Eduard war Marije besser gewachsen als Sandra, und er hatte mehr Autorität über sie. Aber auch er konnte nicht verhindern, dass sie nach dem Gymnasium plötzlich nicht mehr studieren wollte, obwohl sie kurz zuvor noch eisern dazu entschlossen gewesen war. Seit Jahren war es ausgemachte Sache, dass sie Ärztin werden wollte, doch von einem Tag auf den anderen stand das nicht mehr auf dem Plan. Ärztin werden war weder cool noch einträglich genug. Außerdem musste man sich sein Leben lang abrackern. Dagegen Wirtschaft studieren – das war’s! Doch schon nach wenigen Wochen war Wirtschaft ihr viel zu dämlich, weshalb sie zu Psychologie wechselte. Danach schien Geschichte das Nächstliegende. Als Sandra und Eduard gerade vorsichtig an diese Studienfachwahl zu glauben begannen, war plötzlich ein Studium an sich kein Thema mehr. Sandra ärgerte sich maßlos über das Verhalten, das Marije an den Tag legte, aber nicht weniger über Eduards unendliche Geduld.

«Jetzt red ihr doch nicht so nach dem Mund! Du kannst nicht zu allem ja und amen sagen, wenn sie doch nur Sprüche klopft. Ich hab die Faxen langsam satt.»

Anstatt zu studieren, wollte Marije nun arbeiten gehen. Sie bewarb sich bei einem Reisebüro und konnte sofort anfangen.

«Ich mache erst ein Praktikum bei einem Reiseleiter in Portugal», kündigte sie an, «das dauert vier Monate. Anschließend bekomme ich einen Jahresvertrag.»

Sandra war erleichtert, als Marije das Haus verließ. Endlich Ruhe innerhalb der eigenen vier Wände, dachte sie. Je weiter ihre Tochter außer Sichtweite war, umso besser. Sandra hatte die Nase gestrichen voll von Marije.

Eduard war weniger erfreut über Marijes Entschluss, aber er ließ sie ziehen. Sie erhielten begeisterte Briefe aus Portugal, später aus Spanien, wo Marije drei Jahre als Reiseführerin an der Costa Brava arbeitete.

Wenn sie über die Wintermonate nach Hause kam, dauerte es nur wenige Tage, bis sie wieder anfingen zu streiten. Sandra ging das unsäglich auf die Nerven, und als Marije dreiundzwanzig war, schnitt sie vorsichtig das Thema Ausziehen an. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass sich ihre Tochter nicht nach einer eigenen Wohnung sehnte, aber Marije lachte ihr laut ins Gesicht. Von ihrem Mann brauchte Sandra keine Unterstützung zu erwarten, der hatte schließlich kein Problem mit Marije.