Das Virus und das Digitale - Roberto Simanowski - E-Book

Das Virus und das Digitale E-Book

Roberto Simanowski

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Beschreibung

Covid-19 ist die Hefe der Digitalisierung: Home-Office, Fernunterricht, Online-Shopping, Video-Streaming, Corona-App – wir erleben einen Sprung in die Zukunft, den es in Echtzeit zu begreifen gilt. Roberto Simanowski unternimmt diesen Versuch und entziffert verschiedene Phänomene des Corona-Alltags aus einer kultur- und medienwissenschaftlichen Perspektive: das Zoom-Meeting als Enthüllung des optisch Unbewussten, die Corona-App als Machtkampf zwischen Technologie und Gesellschaft, die Anti-Corona-Proteste und Verschwörungstheorien als Kollateralschäden des Internet. Das Fazit ist überraschend und bestürzend: So wie die Corona-Krise die Digitalisierung beschleunigt, so beschleunigt diese den Ausbruch der Infodemie, die auf eine viel bedrohlichere Krankheit verweist: Die Krise der Demokratie.

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Covid-19 ist die Hefe der Digitalisierung: Home-Office, Fernunterricht, Online-Shopping, Video-Streaming und Corona-App – wir erleben einen Sprung in die Zukunft, den es in Echtzeit zu begreifen gilt. Roberto Simanowski unternimmt diesen Versuch und entziffert verschiedene Phänomene des Corona-Alltags aus einer kultur- und medienwissenschaftlichen Perspektive: das Bildschirm-Meeting als Enthüllung des Optisch-Unbewussten, die Corona-App als Machtkampf zwischen Technologie und Gesellschaft, die IT-Unternehmen als fünfte Gewalt, die Anti-Corona-Proteste und Verschwörungstheorien als Nebenwirkungen des Internets. Das Fazit ist überraschend und bestürzend: So wie die Corona-Krise die Digitalisierung beschleunigt, so beschleunigt diese den Ausbruch der Infodemie, die auf eine viel bedrohlichere Krankheit verweist: Die Krise der Demokratie.

Roberto Simanowski, geboren 1963, war bis 2018 Professor für Kultur- und Medienwissenschaften in den USA, Hongkong und in der Schweiz und lebt seitdem als Publizist in Berlin und Rio de Janeiro. Sein Buch Todesalgorithmus. Das Dilemma der künstlichen Intelligenz erhielt 2020 den Tractatus-Preis für philosophische Essayistik.

Roberto Simanowski

Das Virus und das Digitale

Passagen Themaherausgegeben vonPeter Engelmann

Deutsche Erstausgabe

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de/ abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-7092-0463-4

eISBN 978-3-7092-5046-4

© 2021 by Passagen Verlag Ges. m. b. H., Wien

Grafisches Konzept: Gregor Eichinger

Satz: Passagen Verlag Ges. m. b. H., Wien

http://www.passagen.at

Inhalt

Vorbemerkung

Prolog

Shutdown

Trac(k)ing-App

Screen-Mining

Deplatforming

Infodemie

Epilog

Anmerkungen

für Luciana zumal jetzt

Vorbemerkung

„Es war die perfekte Krise in doppelter Hinsicht: Keiner hatte sie gewollt, aber alle mussten mit ihr umgehen, sie war völlig unpolitisch, aber voller politischen Sprengstoffs […] Viele beschreiben jene Jahre als eine Zeit des informellen Bürgerkriegs. Denn der Unmut, Frust und Protest war unübersehbar und äußerte sich verstärkt auch auf der Straße. Andere kennzeichnen die Pandemie als Zeit der Einkehr und Offenbarung, als Beginn einer neuen gesellschaftlichen Gesinnung. Denn am Ende war unverkennbar, dass die westlichen Demokratien den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts nur gewachsen sind, wenn sie wieder lernen, das Wohl der Gemeinschaft über die Interessen des Einzelnen zu stellen. Es galt, die Pandemie als Gelegenheitsfenster für eine alternative Politik zu verstehen. Manche sehen deswegen in dieser Krise sogar einen Testlauf für den Kampf gegen den Klimawandel, eine These, die angesichts der Folgejahre allerding nicht unumstritten ist.“1

Es war die Stunde des Staates und der Nation. Es war die Stunde der Exekutive – und der Virologen. Irgendwann war es kurz auch die Stunde der Soziologie. Dann schien es immer mehr die Stunde der Proteste zu sein. Und es gab die Forderung, dass es wieder die Stunde des Parlaments werden sollte. Die Stunde der Medienwissenschaft war es nie. Anders als im Fall der Soziologie erhoffte man sich von der Medienwissenschaft keine Ratschläge zur aktuellen Situation. Es war ja alles klar: Home-Office ist unvermeidbar, also auch Zoom oder eine vergleichbare Software; Corona-App musste kommen, für die Einzelheiten sorgten die Datenschützer; Online-Shopping wuchs ebenso wie Video-Streaming, aus naheliegenden Gründen; und wer wollte jetzt etwas gegen Facebook oder andere Orte der kollektiven Tröstung sagen. Allen war klar: Digital ist das neue Normal. Worauf es jetzt ankam, war Medienkompetenz, nicht Medienwissenschaft.

Medienwissenschaftler sehen das naturgemäß anders. Gerade weil die Pandemie ein gewaltiger Digitalisierungsbeschleuniger ist, braucht es zeitgleich eine aufmerksame Beobachtung. Medienwissenschaftler wissen: Medien vermitteln zwischen A und B und kaschieren dabei, wie sehr die Vermittlung nach ihren Regeln erfolgt. Darin liegt die permanente Gefahr der Medien für die Gesellschaft: ihre Unsichtbarkeit, ihre Durchsichtigkeit, ihr intuitives Design. Die Mediengestaltung verbucht es als Erfolg, wenn alles ganz schnell ganz normal ist. Die Medienwissenschaft sieht ihre Aufgabe darin, den Blick zu schärfen für das, was sich dem Blick entzieht: die wahrnehmungspsychologischen Aspekte des Interface, die kulturellen Folgen dieser Aspekte, ihre ökonomischen Gründe, ihre politischen Konsequenzen. Für Medienwissenschaftler liegt die Botschaft nicht nur als Schreiben in der Flasche, die ans Ufer treibt, sondern auch in der Flasche selbst, die den Empfänger anders mit der Absenderin verbindet als ein Brief von der Post oder eine E-Mail, die gleich zu beantworten ist. Medienwissenschaftler fragen weniger nach der Information, die das Medium von A nach B bringt, als danach, wie das Medium die Menschen in/formiert. Denn die Botschaft, so eine ihrer Grundthesen, liegt immer im Medium selbst: Es hat die Macht, seine eigenen Postulate dem Ahnungslosen aufzuzwingen.2 Aus dieser These resultiert die gesellschaftliche Aufgabe der Medienwissenschaft: die Frage nach der kulturstiftenden Funktion der Medien.

Das vorliegende Buch bietet Betrachtungen in diesem Sinne. Betrachtungen zu den medialen Aspekten der Pandemie und ihren kulturellen wie politischen Folgen: zum Selbstfindungspotenzial der Entschleunigung und den Gefahren der verstärkten Digitalisierung der Gesellschaft (Shutdown), zur Corona-App als Machtkampf zwischen den technischen Möglichkeiten und den politischen Prinzipien einer Gesellschaft (Trac(k)ing-App), zur Bildschirm-Konferenz als Enthüllung des Optisch-Unbewussten und anderer Geheimnisse (Screen-Mining), zu den IT-Unternehmen als gesellschaftlichem Machtfaktor (Deplatforming), zu den Anti-Corona-Protesten und Verschwörungstheorien als Nebenwirkungen des Internets (Infodemie). Es sind Betrachtungen, die in Echtzeit entstanden, vor Ort gewissermaßen, seit dem in Nashville, Tennessee, erlebten Lockdown Mitte März und der Rückkehr nach Berlin Ende April.3

Eine Pandemie ist mehr als ein Zeitraum, in dem man sich vorübergehend einrichtet. Sie ist ein Aktant, der Konstellationen schafft und Aktionen erzwingt. Sie beschleunigt den Digitalisierungsprozess der Gesellschaft und demonstriert ihre politischen Spannungen. Sie ist ein Gelegenheitsfenster für alternative Politik, aber auch für den Durchbruch dessen, was schon lange schleichend am Werk war. Was bleibt und was davon gut zu nennen ist, das wird erst in der Distanz sichtbar sein. Aber was auch immer diese Pandemie mit sich bringt, dies scheint sicher: In der historischen Betrachtung wird man 2020 als das Corona-Jahr bezeichnen, das Jahr der Gesundheitskrise, an dessen Anfang uns ein Virus überraschte, für das es zum Jahresende einen Impfstoff gab. 2019 wird als das Jahr der Klimakrise in die Geschichtsbücher eingehen. 2021 als das Jahr der Demokratiekrise. Keine dieser Krisen wird 2022 gelöst sein. Aber vielleicht wird man angefangen haben, ihren Zusammenhang besser zu verstehen.

Berlin, 10. Januar 2021

Prolog

Alle wollten sie Sex. Oder zumindest Fun. Jedenfalls waren sie sehr jung und laut und high. Und sie trugen, passend zur Hitze und Nähe des Atlantiks, nur Bikinis und Badehosen. Studienanfängerinnen, die ihre Frühjahrsferien in Miami, einem der wärmsten Orte der USA zu dieser Zeit, verbrachten und, gerade mal ein halbes Jahr befreit von den Eltern und der Kleinstadt in Ohio oder Kentucky, nur das eine wollten: das Leben genießen. In ein paar Tagen würden sie das Corona-Virus in die verschiedensten Teile der USA bringen – manche würden dabei nicht mehr als ein Kratzen im Hals verspüren, manche würden schuld sein am Tod der Großeltern.

Es war der 5. März 2020; wir befanden uns im SLS Hotel in Miami South Beach, an das der Bereich mit der Spring Break Party grenzte. Covid-19 war noch ein Problem anderswo, weit weg in Wuhan oder China. Das änderte sich schnell, wie vieles damals. Als wir fünf Tage später wieder in Nashville, Tennessee, ankamen, war der Beschluss schon gefallen, die Fortführung des Lehrbetriebs um eine Woche zu verschieben. Drei Tage später rief der Präsident der Vereinigten Staaten den nationalen Notstand aus, am 13. März, zwei Tage nachdem die WHO das erste Mal von einer Pandemie gesprochen hatte. Für uns hieß das: Fortan nur noch Unterricht am Bildschirm, Restaurants nur noch als Take-out und sechs Wochen Hausarrest. Plötzlich waren wir eingesperrt, in einer Wohnung, die nicht unsere war, in einer Stadt, die wir nicht sonderlich mochten, in einem Land, zu dem wir nicht gehörten. Dabei hatte das Jahr so gut angefangen.

Am 1. Januar 2020 um sieben Uhr morgens saß ich in einem Berliner Taxi zum Flugzeug nach Nashville, im Kofferraum zwei große und zwei kleinere Gepäckstücke, neben mir ein zweijähriger West Highland White Terrier, der noch etwas durcheinander war von all dem Krach der letzten Nacht, aber auch schon gespannt aufs neue Abenteuer. Es war seine zweite große Reise. Die erste, ein Jahr zuvor, hatte ihn nach Rio de Janeiro geführt, zur Familie meiner Frau. Meine Frau war auch jetzt in Rio, noch beim Feiern am Strand von Ipanema, wie ich gerade am Telefon sah. In einer Woche würde auch sie nach Nashville kommen.

Wir waren sehr gespannt auf dieses halbe Jahr USA, wo meine Frau einmal studiert und ich einmal zehn Jahre gelebt hatte, erst als Nachwuchswissenschaftler, dann als Professor an einer Universität in New England. Nun kam ich zurück als Gastprofessor in die Südstaaten, im Gepäck ein Seminar zur Perspektive der deutschen Medienwissenschaft auf den Prozess der Digitalisierung. Es gab viele Anmeldungen vor allem von Doktorand/innen, was spannende Sitzungen versprach. Auch der Workshop zu Kosmopolitismus und sozialen Netzwerken, den ich mit meiner Frau anbot (Kosmopolitismus war ihr Forschungsfeld), traf auf großes Interesse. Alles versprach „a good time“ zu werden, wie man hier sagt.

Nach der Erklärung des nationalen Notstands schickten die Universitäten die Spring-Break-Fun&Sex-Superspreader und alle anderen Studenten nach Hause. Unterricht fand nur noch am Bildschirm statt. Ich sah keine meiner Kolleginnen am Department je anders wieder als in einem Zoom-Meeting. Vorbei die Pläne, mal zum Dinner zu Hause vorbeizukommen oder sich zumindest zu einem Kaffee zu treffen. Vorbei auch die Pläne, übers Wochenende und nach dem Semester Freunde in Bloomington, Boston, Seattle und New York zu besuchen.

Nur der Hund freute sich, der nun auf dem verwaisten Campus leinenlos Eichhörnchen jagen durfte. Auch das änderte sich aber bald, als ihm klar wurde, dass wir ihn von anderen Menschen und Hunden fernhielten. Dabei liebte er die Leute hier, die sich immer mit solch süßer Stimme zum Streicheln zu ihm bückten. Die Manager in unserem Apartmenthaus wollten ihn im April sogar zum „Pet of the month“ machen: Dann würde er sich bei jedem Gassigehen auf dem Bildschirm in der Eingangshalle sehen! Warum war jetzt alles anders? Und wie passte das zu den vielen Leckerlis, die es plötzlich gab! Erst Wochen später durfte er wieder an anderen Hunden schnüffeln, nach der langen Reise, am Ort von vorher, als seine Besitzer aufgehört hatten, jede Banane und jede Flasche Bier, die ein Mann in großen Papiertüten ins Haus brachte, abzuwaschen.

Bald hieß es: Nein, das Virus ist keineswegs unparteiisch. Es trifft nicht unterschiedslos alle. Es trifft die Armen und die Afro-Amerikaner mehr als die weiße Mittelschicht. Der Grund war offensichtlich: Schlechte medizinische Betreuung, ungesunde Ernährung und enge Wohnverhältnisse sind keine guten Voraussetzungen, um einem Angriff auf das Immunsystem zu trotzen. Zu Ende gedacht hieß das auch: Das Virus trifft nicht jedes Land gleichermaßen. Es trifft vor allem die Länder mit schlechtem Sozialsystem und durchschnittlich niedrigem Bildungsgrad. Der Erfolg des Virus wird die sozialen Vorbedingungen spiegeln, dachte ich, als wir zum Hundearzt fuhren, um die Papiere für die Ausreise in Ordnung zu bringen. Die Uber-Fahrerin hatte uns beim Einsteigen gefragt, ob irgendwer von uns niese oder sonstige Anzeichen von Erkältung habe. Sie dürfe sich das Virus auf keinen Fall einfangen, sie müsse eine alte Mutter versorgen. Sie, selbst längst jenseits der 50, fragte es in der leichtherzigen Art der Südstaatler. Die Angst dahinter war klar erkennbar, und sie war völlig berechtigt.

Wie soll ein Land ein Virus bekämpfen, dessen Bürger nicht zuhause bleiben, wenn sie eigentlich zuhause bleiben sollten, weil man sich den Verdienstausfall nicht leisten kann, wenn man von der Hand in den Mund lebt! Was waren die 1 200 Dollar Corona-Wirtschaftshilfe, die jeder Steuerzahler in den USA einmalig erhielt, gegen die 80 Prozent Lohnfortzahlung, die es in Deutschland für Corona-Kurzarbeit gab. Ohne Zweifel: Dieses Land war strukturell nicht auf den Solidarakt vorbereitet, der jetzt von allen im Interesse aller verlangt war. Auch mental war es weit davon entfernt, denn am unbedingten Individualismus zerbricht hier regelmäßig jeder Versuch staatlicher Regulierungen. Wer sich seine Waffe nicht nehmen lässt, wird sich auch keinen Maulkorb, wie die Masken bald genannt wurden, umbinden lassen. Da war es nur eine Frage der Zeit, bis paramilitärische Gruppen Politiker kidnappen, deren Anti-Corona-Maßnahmen ihre Freiheit einschränken – ganz abgesehen davon, dass dieses Land von einem Narzissten regiert wurde, der Maskenträger verspottete und öffentlich über die Injektion von Desinfektionsmitteln zur Virenbekämpfung sinnierte. Trump war die tägliche Widerlegung seiner These, dass kein Land besser darauf vorbereitet sei als die USA, dieser Krise entgegenzutreten. Nein, in den USA war kein Bleiben für uns. Es war eine tickende Zeitbombe.

Und Brasilien, wo wir nach dieser Gastprofessur einige Monate hatten verbringen wollen? Weder das Sozialsystem noch der Präsident waren dort besser. Alle Freunde und Verwandten meiner Frau warnten uns davor, ins Land zu kommen. Seid froh, sagten sie, dass ihr einen deutschen Pass besitzt. Sie hatten Recht. Deutschland erschien in dieser Situation wie ein sicherer Hafen, den wir nur noch erreichen mussten – mit einem Flugzeug voller potenzieller Virenträger, wenn wir denn überhaupt in der Lage waren, ein Ticket zu bekommen.

Zwei Wochen nach dem Flug, während der wir wie vorgeschrieben nicht die Wohnung verlassen hatten, saß ich in Berlin mit einem alten Freund auf der Bank im Park vor unserem Haus, mit einem Bier, wie alle hier, jeder am Ende der Sitzfläche, bemüht, uns beim Sprechen nicht anzusehen. Nach der Nervenanspannung der Ticketbesorgung (die Fluggesellschaft kündigte zweimal kurz vor dem Termin einen Teil der Verbindung) erwies sich der Flug dann als äußerst stressfrei, wenn man die permanente Angst abzog, von diesem oder jener gerade angesteckt worden zu sein. Die Flughäfen waren so spärlich besucht wie wohl seit fünfzig Jahren nicht mehr. Es war, als hätten wir uns in die Vergangenheit gebeamt, wobei nicht auszuschließen war, dass wir eher die Zukunft des Reisens erlebten. Wir mussten auch keineswegs vom Flughafen nach Hause laufen. Es gab Taxis, und die Fahrer bedienten, wie wir von unserem erfuhren, den Flughafen sogar mit Vorliebe, weil ja niemand, der krank ist, sich auf eine so beschwerliche Reise begeben würde. Die Menschen hatten ihre Art gefunden, mit der Angst zu leben. So begrüßte uns die Heimat, die wir bisher nie so genannt hatten, an einem sonnigen Tag Ende April, dessen erstaunlich warmen Nachmittag wir auf unserem Balkon verbrachten, nachdem wir bei unserem Lebensmitteleinzelhändler einen Liefertermin noch für den selben Abend erhalten hatten. Wir fühlten uns gerettet. Dabei hatten wir keine Ahnung, was noch kommen würde.

Shutdown

Wie war das damals, als Covid-19 uns überfiel? Wir waren im Krieg. So sahen es viele, die noch nie einen Krieg erlebt hatten, darunter Politiker, die nun mit militärischem Vokabular hantierten. Auf jeden Fall war es das Ende des normalen Lebens. Keine Verdunklung zwar am Abend, aber Zuhausebleiben. Keine Einsamkeit bei so vielen Medien zur Hand, aber doch eine Unterbrechung des Alltags, die bedrückend war.

So seltsam entrückt war die Welt noch nie. So leer die Straßen am hellerlichten Tage. Manche dachten da an Katastrophenfilme oder zumindest Edward Hooper, heitere Naturen eher an den Verhüllungskünstler Christo, während die Melancholiker Lyrik dachten, nicht Goethes Osterspaziergang, sondern T. S. Eliots Wasteland: „April is the cruellest month“. Und jeden Tag sang man für jemand anderen „Happy Birthday to you“, zweimal hintereinander beim Händewaschen. Denn so lange, hieß es, braucht die Seife, um den unsichtbaren Feind zu erledigen. Es war ein Krieg, der ohne viel Lärm an vielen Fronten geführt wurde.

Das Virus hatte die Qualität von Flugzugabstürzen und Naturkatastrophen, die der französische Soziologe Pierre Bourdieu einmal „Omnibus“-News genannt hatte: weil sie jeden Menschen gleichermaßen berühren, jenseits politischer Lager und weltanschaulicher Positionen. Omnibus-News schaffen ein geeintes Publikum. Sie sind die Wunschmeldung der Nachrichtenmedien, die so ihre Reichweite und Auflage immens erhöhen können – wenn sie früher als die Konkurrenz berichten oder dramatischere Bilder bieten. Eine Pandemie ist ein Omnibus-Ereignis, das dauert und alle betrifft. Es gibt, abgesehen vom Nord- und Südpolareis, faktisch kein Außen mehr. Covid-19 ist ein „enemy of humanity“, erklärte der Chef der WHO. Eine Erfahrung, die der Menschheit – trotz der nationalen Alleingänge, die es dann gab – lang nicht mehr vergönnt war.

Dass die Menschheit diese Erfahrung dennoch schnell wieder vergessen wird, legt der Blick in die Geschichtsbücher nahe: Die Spanische Grippe steht ganz und gar im Schatten des Ersten Weltkriegs, obgleich sie mindestens dreimal so viele Todesopfer forderte. Ein Ereignis, dem ein geheimer Plan und böse Menschen fehlen, lässt sich eben schlecht erzählen, es sei denn, es geschieht verschwörungstheoretisch. Und selbst dann fehlen die Helden, die wagemutig ihr Leben fürs Vaterland opfern.4 Untergang ohne Glorie. Gerade deswegen aber sollte der Mensch sich diesmal erinnern. Denn auch im Kampf der Zukunft, im Kampf gegen den Klimawandel müssen die Menschen Opfer bringen, die nicht zum Heldenepos taugen. Es braucht eine Erinnerungskultur, die den Herausforderungen unseres Jahrhunderts entspricht. Diese Pandemie war eine Art Generalprobe. Aber das greift vor. Die Klimakrise war seit Anfang des Jahres kein Thema mehr. Zunächst galt es, Covid-19 zu überleben.

Natürlich fragten sich jetzt alle, wie lange dies noch dauert. Zugleich begann die Spekulation, was anders sein wird, wenn es vorbei ist. Die großen Gewinner dieser