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Die Vorgeschichte zu »Das Geheimnis der Schwimmerin« – eindringlich, meisterhaft erzählt und einfach magisch!
Wohin Paulina auch ging, begleiteten sie zwei Kisten: eine mit roten Pailletten für das Kleid, das sie als Assistentin des Zauberers trug. Und eine mit grünen Pailletten für ihren Meerjungfrauenschwanz. Paulina wuchs als Wassermädchen im Zirkus Lareille auf, in den Schlaf getragen von den wilden Geschichten der Zirkusleute. Bis zu dem Tag, als sie Daniel Watson traf. Das erste Mal, als Daniel sie sah, schwebte Paulina in einem großen Aquarium, getragen von Wasser, das glitzerte wie der Nachthimmel. Jetzt lebt mit ihm und ihren Kindern Simon und Enola in einem Haus auf den Klippen Long Islands. Doch wer dem Zirkus die Meerjungfrau stiehlt, darf nicht glauben, dass sie nicht eines Tages verschwindet …
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Seitenzahl: 46
Veröffentlichungsjahr: 2018
Das Buch
Wohin Paulina Watson auch ging, begleiteten sie zwei Kisten: eine mit roten Pailletten für das Kleid, das sie als Assistentin des Zauberers trug. Und eine mit grünen Pailletten für ihren Meerjungfrauenschwanz. Paulina wuchs als Wassermädchen im Zirkus Lareille auf, in den Schlaf getragen von den wilden Geschichten der Zirkusleute. Bis zu dem Tag, als sie Daniel Watson traf. Das erste Mal, als Daniel sie sah, schwebte Paulina in einem großen Aquarium, getragen von Wasser, das glitzerte wie der Nachthimmel. Jetzt lebt sie mit ihm und ihren Kindern Simon und Enola in einem Haus auf den Klippen Long Islands. Doch wer dem Zirkus die Meerjungfrau stiehlt, darf nicht glauben, dass sie nicht eines Tages verschwindet …
Die Autorin
Erika Swyler besuchte die New York University und hat bereits für die Bühne sowie diverse Literaturmagazine und Anthologien geschrieben. Geboren und aufgewachsen in Long Island, lernte sie schwimmen, noch bevor sie laufen konnte. Vor Kurzem zog sie von Brooklyn zurück in ihren Heimatort, der sie zu ihrem Debüt »Das Geheimnis der Schwimmerin« inspirierte.
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Erika Swyler
Das Wassermädchen
Shortstory
Aus dem Amerikanischen von Astrid Finke
Als der Abend herankroch, lag Paulina im Bett, beobachtete den träge durch ihr Sichtfeld ziehenden blinden Fleck einer Migräne und erinnerte sich an das jahrelange Paillettennähen. Sie lauschte den Wellen, die gegen die Steilküste schlugen, dem Knarzen ihres sehr alten Hauses, und stellte sich zwei Schachteln vor. Die erste war eine Zigarrenkiste, in der sie die roten Pailletten für das Zaubererassistentinnenkleid aufbewahrte, das sie früher bei der Arbeit mit Michel getragen hatte: ein Schlauch mit einem darin versteckten Drahtgestell, das ihr eine Figur verlieh, bevor sie eine besaß. Die zweite war eine Hutschachtel voller grüner Pailletten für ihren Meerjungfrauenschwanz. Der fehlende Hut hatte ihrer Mutter gehört. Die Zigarren ihrem Vater. Die Schachteln gehörten ihr, wenn sie sich auch die roten Pailletten mit Michel geteilt hatte. Seine Hände hatten nach den Vorstellungen zu stark gezittert, weshalb sie die Fliege und die Weste für ihn ausgebessert hatte. Obwohl es Michels Zirkus war, hatte sie ihn immer als ihren eigenen empfunden.
Jetzt legte sie die Fingerspitzen zusammen, dort, wo noch Jahre später die Haut von der Nähnadel verhärtet war, von den Hunderten und Tausenden Malen, die sie sich gestochen und den Blutfleck unter einer Paillette verborgen hatte.
Das Baby weinte. O Gott. Kleine Füße stolperten durch den Flur. Es war Simon, der hastig nach s einer Schwester sehen ging. Nichts machte solchen Lärm wie ein sechsjähriger Junge. Die Erleichterung, nicht aufstehen zu müssen, verband sich mit dem schlechten Gewissen, ihren Sohn jetzt schon auf ihre Kopfschmerzen trainiert zu haben. Aber so etwas tat man eben. In sämtlichen Büchern, die sie gelesen hatte, stand, man solle den älteren Kindern unbedingt begreiflich machen, dass ein Baby auch zu ihnen gehöre. Dass ein jüngeres Geschwisterchen ein Geschenk sei, wie ein Hundewelpe oder eine kleine Katze, nur noch besser, weil man es das ganze Leben lang habe. Ihre Kinder wären nie allein. Simon machte sich so gut als Bruder, es war schon beinahe unheimlich. Das Fürsorgliche hatte er von Daniel. Die Sehnsucht, jemanden für sich zu haben, von ihr.
Als sie elf war, hatte Michel, um die Blutung zu stoppen, ihre Fingerspitzen geküsst wie ein aufgeschürftes Knie und ihr damit ein wenig Angst gemacht, weil sie damals immer noch ein bisschen geglaubt hatte, dass Alter doch ansteckend sein könnte.
»Manchmal komme ich mir vor wie dein Opa«, sagte er. »Würde dir das gefallen?«
»Alt genug bist du ja«, sagte sie.
Er lachte. »Stimmt. Genug genäht.« Den restlichen Vormittag zeigte er ihr einen Kartentrick, den er Die Vier Reiche nannte. Er ließ die Könige hopsen und gleiten und verschwinden.
Das hatte sie sich gewünscht, einen Großvater. Jemanden, der blieb. Michel hatte einen zur Seite geneigten Eckzahn, und den hatte sie mehr als alles andere auf der Welt geliebt. Aber jemand gehörte einem nicht, weil man einen Zahn liebte.
Jetzt vermisste sie ihn, wenn sie Kopfschmerzen hatte, wenn sie in einen Traum glitt. Sie vermisste ihn, wenn sie Nelkenzigaretten roch, und jedes Mal, wenn sie in einem Auto saß. Er hatte sie immer in seinem Kastenwagen mitfahren lassen, wenn ihr Vater schlechte Laune hatte. Dann drehte er an den Radioknöpfen, bis er Jazz fand. Michel mochte Sänger aus den 1930ern, näselnde Frauen und Männer, die klangen, als gurgelten sie mit Murmeln. Damals fand sie heraus, dass es Abschnitte der Route A1A gab, die ihr Herz zum Surren brachten wie eine Trompete mit Harmon-Dämpfer. In der Stille rauchte er, um wach zu bleiben.