Der Tag, an dem mein Vater die Zeit anhielt - Erika Swyler - E-Book

Der Tag, an dem mein Vater die Zeit anhielt E-Book

Erika Swyler

0,0
3,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ein Mädchen, das für seinen Traum kämpft, ein Vater, der für seine Tochter alles aufs Spiel setzt, und eine Stadt, in der die Zeit stehengeblieben ist.

Die elfjährige Nedda Pappas träumt davon, Astronautin zu werden – ein Traum, der in Neddas Heimatort nahe einer Raketenbasis an der Küste Floridas fast realistisch erscheint. Sie muss nur möglichst schnell erwachsen werden – doch genau das möchte Neddas geliebter Vater, ein genialer, aber vom Leben überforderter Wissenschaftler, verhindern. Er hat schon einmal ein Kind verloren und möchte Neddas Kindheit am liebsten konservieren. Seit Jahren schraubt er im Keller an einer Maschine, die genau das ermöglichen soll – doch stattdessen löst er eine Katastrophe aus. Zum ersten Mal in ihrem Leben muss Nedda ihrer Mutter vertrauen und sich mit ihr zusammentun, um ihren Vater zu retten – und die ganze Stadt.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 522

Veröffentlichungsjahr: 2021

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Das Buch

Die elfjährige Nedda Pappas träumt davon, Astronautin zu werden – ein Traum, der in Neddas Heimatort nahe einer Raketenbasis an der Küste Floridas fast realistisch erscheint. Sie muss nur möglichst schnell erwachsen werden – doch genau das möchte Neddas geliebter Vater, ein genialer, aber vom Leben überforderter Wissenschaftler, verhindern. Er hat schon einmal ein Kind verloren und möchte Neddas Kindheit am liebsten konservieren. Seit Jahren schraubt er im Keller an einer Maschine, die genau das ermöglichen soll – doch stattdessen löst er eine Katastrophe aus. Zum ersten Mal in ihrem Leben muss Nedda ihrer Mutter vertrauen und sich mit ihr zusammentun, um ihren Vater zu retten – und die ganze Stadt.

Die Autorin

Neben ihrem Debütroman »Das Geheimnis der Schwimmerin« veröffentlichte Erika Swyler bereits Texte in Literaturmagazinen und Anthologien und schrieb unter anderem für »The New York Times«. Mit ihrem Mann und ihrem Kaninchen lebt sie auf Long Island, New York.

Ebenfalls von Erika Swyler erschienen:Das Geheimnis der SchwimmerinDas Wassermädchen (Shortstory)

ERIKA SWYLER

Roman

Aus dem Amerikanischen von Astrid Finke

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Light from other Stars« bei Bloomsbury, New York.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright der Originalausgabe © Erika Swyler 2019

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2020 by Limes Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Covergestaltung: www.buerosued.de

Covermotiv: MARK GARLICK/SCIENCE PHOTO LIBRARY/Getty Images; www.buerosued.de

Redaktion: Bernd Stratthaus

JB · Herstellung: sam

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-23999-2V003www.limes-verlag.de

Dieses Buch ist dem Hubble-Weltraumteleskop gewidmet, das mir das Universum eröffnet hat. Es ist ebenfalls den Lehrern gewidmet, die nicht glauben wollten, dass eine Fünftklässlerin sachkundig über das Hubble-Weltraumteleskop reden kann. Zu ihrer Schande haben sie nach wie vor unrecht.

Ich entschlüpfte den schweren Fesseln der Erde

Und tanzte im Himmel auf lächelnd versilberten Schwingen;

Der Sonne entgegen, traf ich auf die taumelnde Glückseligkeit

der von der Sonne geteilten Wolken und tat hundert Dinge,

von denen Du nie träumtest – ich stieg auf, schwang mich empor

Hoch in die sonnenbeschienene Stille.

Dort hielt ich inne,

jagte dem heulenden Wind hinterher und warf

mein williges Flugzeug durch die endlosen Lüfte.

Auf, hoch hinaus,

entlang des fiebrig leuchtenden Blaus,

ritt ich die stürmischen Höhen mit Leichtigkeit,

Dort, wo nicht die Lerche, nicht der Adler je flog.

Und während ich mit stillem, edlem Geist

Die Heiligkeit des unbefleckten Raums betrat,

hob ich die Hand und berührte das Angesicht Gottes.

JOHN GILLESPIE MAGEE JR., »HIGH FLIGHT«

An Bord der Chawla

Beim Aufwachen hörte Nedda Papas Vogelgesang, den durchdringenden, heiseren Ruf einer Schwarzen Strandammer bei Wellenrauschen – eine Erinnerung an ihre Heimat und an Dinge, die sie nie wiedersehen würde. Als man sie gefragt hatte, von welcher Musik sie am liebsten geweckt werden wolle, war ihr nichts eingefallen. Bei der Auswahl hatte sie ihre Besatzungskollegen mitberücksichtigen müssen, noch erschwert durch die jahrzehntelange Lücke in ihrem eigenen Musikwissen. Jewgeni hatte sich für eine russische Popgruppe entschieden, wodurch der Donnerstagmorgen zur Qual wurde. Vögel waren das Unaufdringlichste, was Nedda in den Sinn gekommen war. Vögel gab es überall. Nur sie wusste, dass ein NASA-Praktikant sich durch die uralten Audio-Archive des Naturkundemuseums von Florida gewühlt hatte, um den Ruf einer 1987 ausgestorbenen Spezies aufzutreiben. Als sie nun die Augen aufschlug, sah sie ein holografisches Meer auf einen Strand aus Pixeln plätschern, die zerriebene Muscheln und Quarzfragmente darstellen sollten.

Sie drehte sich zum Fenster und der Schwärze um. In den Akklimatisierungswochen auf der internationalen Raumstation hatte sie die Erde betrachtet und auf das Einsetzen von nostalgischen Gefühlen gewartet. Die Psychologen behaupteten steif und fest, das sei unausweichlich. Die Erde aus solcher Entfernung zu sehen, erzeuge ein als Selbstreflexion maskiertes Heimweh oder aber ein gefährliches Hochgefühl, das heftigen Stimmungstiefs vorausgehe. Bei Neddas Besatzungskollegen war es passiert. Bei ihr hatte die Melancholie gewartet, bis sie sich an Bord des Moduls befand.

Es gab zahlreiche Untersuchungen über Heimweh bei Astronauten, die Nedda zu lesen ablehnte; die eigene Reaktion mit einer Studie zu vergleichen, war befremdlich. Sie ertrug Heimweh nicht zum ersten Mal, und die Erde von oben zu sehen, bewegte sie nicht. Ihre Heimat war kein weit entfernter Ort, sondern eine Zeit und eine Ammer.

Der Weltraum war einladender als der Blick zurück. Das teilte sie der Besatzungspsychologin Dr. Stein während der obligatorischen Videositzungen mit. In Neddas Augen ähnelten sich Psychologie und Gynäkologie, da der Arzt mehr von den eigenen intimsten Prozessen sah als man selbst.

Jede Woche fragte Dr. Stein: »Was sehen Sie vor dem Fenster?« Ihr Eingabestift tauchte nie im Bild auf, aber Nedda hörte ihn über ein Tablet gleiten.

Was sie sah, war schwer zu erklären, noch schwerer zu analysieren. Der Raum zwischen den Sternen erzeugte leicht einmal Trübsal, da man ins Grübeln kam, wie klein man im Vergleich zum Universum war. Amit Singh sah, obwohl er Kommandant war, so selten wie möglich aus dem Fenster, er zog Sternkarten vor, Teleskopmaterial und die Daten der Sonden und Terraformer. Er legte nach wie vor Wert darauf, sich selbst als Menschen zu betrachten und nicht als einzelne Zelle in einem Organismus von der Größe des Universums. Nedda fühlte sich gern klein.

»Endloser Raum bedeutet endlose Möglichkeiten«, hatte sie zu Dr. Stein gesagt. Hoffnungsvoll zu klingen, war gut. Etwas heikler war, zu erklären, dass sie Ausschau nach Licht hielt, es zerpflückte, die unterschiedlichen Wellenlängen erspüren wollte, nach dem Vertrauten suchte. Denn in der Schwärze war Licht, auf dem Weg zu und von fernen Planeten, Licht von Sternen, das zusammenprallte, im leeren Raum aufeinandertraf. Licht trug Gedanken und Hoffnungen, die Essenz dessen, woraus jeder bestand. Solche Überlegungen musste Nedda eindämmen, sonst verpasste sie die morgendliche Videoschaltung, geriet mit ihrer Arbeit an den Pflanzen in Verzug und fand in dem Drucker in ihrer Kabine ein Antidepressivum. Wenn sie an Antidepressiva dachte, schwirrten ihr sofort verschiedenste Namen von Psychopharmaka durch den Kopf, alles, worauf die Bordärztin Louisa Marcanta problemlos Zugriff hatte, sowie das, was heutzutage nicht mehr verschrieben wurde. Sie sinnierte über die Struktur von Ketamin, einem wunderschönen Molekül, das in Neddas Augen aussah, als hielten die Symbole für die beiden Geschlechter miteinander Händchen.

»Papas? Nicht verschlafen.« Marcantas Stimme schreckte sie auf.

Das Hologramm erlosch mit einem Flackern, statt des Strandes erschien die kalte weiße Wand der Chawla.

Die morgendliche Konferenzschaltung mit dem Kontrollzentrum verlief ereignislos. Die vier Besatzungsmitglieder der Chawla quetschten sich in den zentralen Wohnbereich, um mit Houston zu sprechen, behindert wie üblich durch Signalverzögerungen und Bürokratie. An diesem Tag erhielt Marcanta einen Videogruß von ihrer Nichte, die Geburtstag hatte. Das Mädchen grinste zahnlückig und umklammerte einen Stofftintenfisch, den Tante Louisa ihr geschickt hatte.

Marcanta hatte Geschenke auf Jahre im Voraus bestellt. Schlau. Singh war sauer, dass ihm das nicht eingefallen war. In solchen Momenten gab es wenig Unterschiede dazwischen, nicht im Land oder nicht auf dem Planeten zu sein. Mit gesenktem Blick sortierte Nedda ihre Notizen. So nah sie auch alle gezwungenermaßen zusammenlebten, eine für jemand anderen bestimmte persönliche Nachricht mitzuerleben blieb eine unbehagliche Erfahrung. Es war entblößender als Nacktheit; die Menschen zu sehen, die sie nie wieder berühren konnten, ging unter die Haut.

Jewgeni lieferte einen kurzen Bericht über die Modulsysteme ab, danach hörten sie sich Daten vom Zielplaneten an. Die Rover und Roboter kamen mit dem Bau der Raumstation und der Kuppel gut voran, lagen im Plan für die Ankunft. Un und Trio, zwei der Rover, planierten gerade den Boden für einen Landeplatz und gruben eine Rinne, um den Dampf abzuleiten, den die Chawla beim Aufsetzen erzeugen würde. Dués Daten zur Bodenzusammensetzung lagen innerhalb des erwarteten Bereichs.

Nedda referierte über Hydroponik: Sie unternahmen ihre ersten Schritte auf dem Weg zur Selbstversorgung. Verwendbares Saatgut für einen neuen Zyklus lag bereit, die Bausteine, die sie als Kolonisten benötigten.

Jewgenis Sehkraft hatte sich verschlechtert, aber das erwähnten weder er noch Marcanta. Nedda und Singh folgten ihrem Beispiel. Es handelte sich um fortschreitenden Astigmatismus aufgrund von mangelnder Gravitation, die zu abgeflachter Hornhaut und einem Druck von Zerebrospinalflüssigkeit auf den Sehnerv führte. Ihr Gehirn ertränkte ihre Augen. Früher oder später würde die Schwerkraft das wieder in Ordnung bringen, bis zu ihrer Ankunft dauerte es allerdings noch drei Jahre. Der Borddrucker spuckte Linsen zur Korrektur aus, aber es war schwer, mit der beständigen Veränderung Schritt zu halten. Irgendwann kam ein Punkt, an dem die Augen nicht mehr zu retten waren. Diesem Punkt näherte Jewgeni sich allmählich.

Auch Nedda zeigte bereits ähnliche Symptome. Mittlerweile schlief sie mit einer Druckbrille, obwohl das wahrscheinlich nichts brachte. Zweiunddreißig Prozent der Schwerkraft der Erde erwarteten sie. Noch weniger als auf dem Mars. Ein Teil des Sehvermögens kehrte voraussichtlich zurück, aber wohl nicht die 20/20, auf die sie alle getestet worden waren. Das Risiko war bekannt. Jewgeni hatte einfach Pech, was die Geschwindigkeit seiner Verschlechterung betraf. Für den Ingenieur eines Moduls war nachlassende Sehkraft ein Handicap.

»Uns sind einige Spannungsspitzen bei Amadeus aufgefallen«, sagte Jewgeni in den Monitor. Das Lebenserhaltungssystem hatte eine eigene Stromquelle, einen Radioisotopengenerator namens Amadeus, der getrennt von den Triebwerken arbeitete. Amadeus sollte auf dem Planeten weiterlaufen und das Modul versorgen, solange es als Unterkunft diente.

»Ist was kaputt?« Die Frage kam von einer der jüngeren Mitarbeiterinnen des Jet Propulsion Laboratory der NASA. Ein leuchtend rotes Tattoo zierte die rasierte Seite ihres Kopfes. Kato, Jennifer Kato. Durch die Tätowierung konnte man sie sich unter den vielen Gesichtern leichter merken.

»Flugbahn und Tempo stimmen noch«, sagte Nedda. »Alles funktioniert. Fürs Erste laden wir die Strahlung in unserem Landewasser ab.« Was nicht gerade ideal war. Das für die Dampfstrahler bestimmte Wasser, mit dem das Aufsetzen der Chawla abgefedert werden sollte, war damit radioaktiv. Ihr Landeplatz wäre verstrahlt. »Je schneller wir das reparieren können, desto besser. Wir müssen die atmosphärischen Auswirkungen minimieren.«

»Ich hätte gern die Konstruktionsdetails des Generators«, sagte Jewgeni. »Irgendwas stimmt da nicht.«

»Schicken Sie uns einfach Ihre Daten. Wir analysieren sie und kümmern uns darum«, sagte Kato.

»Tun Sie mir bitte den Gefallen. Es hilft mir, zu wissen, wo es herkommt«, sagte er.

»Na gut, Mr. Sokolow. Am Ende der Konferenz haben Sie die Pläne auf Ihrem Reader. Wenn das Wasserpolster die Überlast aufnehmen kann, belassen Sie es einfach dabei, bis wir eine genaue Ursache feststellen können.«

Nach der Besprechung drückte Jewgeni sich die Hände auf die Augen. Blinzelfalten gruben sich in sein Gesicht. Er war schon vorher stämmig und blass gewesen, doch der Weltraum hatte ihn noch runder gemacht, sodass er inzwischen beinahe spitzbübisch wirkte. Wenn er grinste, sah er aus wie ein Kind mit einem Geheimnis.

Alle setzten sich Druckbrillen auf. Vier Stunden pro Tag musste die Besatzung sie tragen, aber die Videoschaltungen fielen ihnen ohne leichter. Die Brillen fühlten sich wie eine weitere Schicht Entfernung zwischen ihnen und der Erde an. Marcanta sah mit ihrer ganz von allein geheimnisvoll aus, wie ein europäisches Model. Über ihre eigene Erscheinung machte Nedda sich keine Gedanken; nichts verschlimmerte oder verbesserte je ihre spezielle Art der Unscheinbarkeit.

»Wie geht’s deinen Augen? Besser, schlechter oder gleich? Ich kann dich mal auf Betablocker setzen, um auszuprobieren, ob das den Druck verändert«, schlug Marcanta vor.

»Gleich, aber auch besser«, erwiderte Jewgeni. »Die Linsen helfen ein bisschen. Das Bodenpersonal sieht gut aus, wie Monet. Oder Renoir vielleicht.«

»Und du nervst sie auch noch, dass du Lesematerial willst«, sagte Nedda.

»Wie du bin ich eben leicht masochistisch veranlagt.« Er pikte sie in die Rippen.

Auf die morgendliche Konferenz folgten zweieinhalb Stunden Sport, um der Verkümmerung der Muskulatur entgegenzuwirken. Wegen der Länge ihrer Reise hatte das Ärzteteam am Boden die übliche Dauer um eine halbe Stunde ausgedehnt. Marcanta meckerte darüber, Nedda störte es nicht, für sie war das Laufband ein Ventil. Ohne Uhr wäre sie vielleicht tagelang gelaufen. Es gab einen Videobildschirm, um zu simulieren, dass man am Strand oder durch einen Wald joggte. Eine darauf voreingestellte Strecke hatte durch den Enchanted Forest bei Titusville geführt, nicht weit von Neddas Heimatort entfernt. Dr. Stein war der Meinung gewesen, sie bräuchte eine Erinnerung an zu Hause. Der Waldweg war von Kaffeepflanzen gesäumt; dabei hatte Nedda an Denny denken müssen und ihn vermisst. Sie war die Strecke einmal gelaufen, dann hatte sie die Datei gelöscht. Jetzt wandte sie sich mit dem Gesicht zum Fenster und joggte in die Schwärze.

Amit Singh klopfte ihr auf die Schulter. Nedda mochte die Form seiner Fingernägel: perfekte rosa-braune Ovale. Als Grund, jemanden zu mögen, genauso gut wie jeder andere.

»Ich bin dran. Geht’s dir gut?« Singh blinzelte, immer noch groggy von seinem letzten Schlafzyklus, die Haare standen von seinem Kopf ab wie Löwenzahnflaum. Von der in seinem Gewebe eingelagerten Flüssigkeit hatte er ein Mondgesicht. Die Druckanzüge taten ihren Gesichtern überhaupt keinen Gefallen. Immerhin sah Singh dadurch freundlich aus. Nedda wusste, dass sie wie betrunken wirkte.

»Hervorragend. Jewgeni bekommt Infos über den Generator geschickt. Würdest du nachher mal bei ihm vorbeigehen? Er wird es nicht zugeben, aber wahrscheinlich braucht er deine Augen.«

Sie wischte sich den Schweiß ab und verbrachte die nächsten Stunden mit ihren Pflanzen im Labor. Über Objektträger gebeugt untersuchte sie Zellstrukturen, bombardierte sie mit Strahlung, protokollierte und sandte Daten zurück an die Marsstation. Sie hatte schon überlegt, ihren Schlafsack mit ins Labor zu nehmen, um Jewgenis Musik zu entfliehen. Als Kind hatte sie oft in einem Labor geschlafen. Es gab ein Bild von ihr als Baby, auf dem sie in ihrer Windel in einer Schublade im Schreibtisch ihres Vaters lag. Jetzt hier zu schlafen würde allerdings eine Runde Antidepressiva aus dem 3-D-Drucker nach sich ziehen sowie weitere Blutbilder und Sitzungen mit Dr. Stein. Also kein Laborschlaf.

Abends aßen sie die ersten Gurken aus der Hydro, deren Kerne Nedda vorher sorgsam entfernt hatte. Der Mangel an Schwerkraft hatte sich verheerend auf ihre Struktur ausgewirkt, sie sahen aus wie kleine Wassermelonen.

»Die sind wässrig«, sagte Nedda. »In der nächsten Generation kann ich versuchen, daran was zu drehen.«

»Wässrig ist gut«, sagte Singh. »Flüssigkeitszufuhr ist gut, wir bestehen alle aus Wasser.«

»Aber sie schmecken ziemlich fade.«

»Das ist der Geschmack der Verheißung«, sagte Jewgeni zwischen zwei großen knackenden Bissen.

Bei der abendlichen Videokonferenz schlug Singh vor, ein kurzes Video über Relativität für Schüler zu drehen. Un war in einem Sandsturm beschädigt worden. Jewgeni schickte eine Aufforderung an Fiver, ihn zu reparieren. Fiver war ein langsamer Roboter, und die Arbeiten würden sich nun verzögern, bis Un wieder einsatzbereit war. Dennoch lagen sie noch gut in der Zeit.

Es gab keinen Bericht über Sehkraft. Jewgeni nannte die über Amadeus geschickten Dateien interessant. »Ich hatte nicht damit gerechnet, dass ihr eine ganze Bibliothek schickt«, sagte er. »Es dauert mindestens einen Monat, das zu lesen.«

»Sie hatten um Konstruktionsdetails gebeten, Mr. Sokolow«, erwiderte Kato. »Die Dateien enthalten alles, was JPL vorliegt, von Amadeus’ Prototypen-Zeichnung bis zu 3-D-Modellen Ihres Generators an Bord. Wir sind gern gründlich.«

»Selbst schuld, wenn ich danach frage«, sagte er. »Zu viel Information ist wohl besser als zu wenig.«

Am Ende der Schaltung sagte Dr. Stein, jemand habe einen privaten Videoanruf für Nedda angemeldet.

Die übrige Besatzung verließ den Wohnbereich, während die Verbindung mit Übertragungsverzögerung hergestellt wurde.

Betheens Gesicht erschreckte Nedda. Die Krepppapier-Haut des Alters hatte sich schließlich durchgesetzt. Ihre Mutter trug die Haare offen und mittlerweile so blond, dass schwer zu erkennen war, wo die Farbe endete und das Weiß begann. Ganz anders als Neddas eigenes Straßenköterblond. In ihrer Jugend war Betheen so schön gewesen, dass es schmerzte, aber die Jahrzehnte hatten sie eher zu einer Perle als zu einem Diamanten abgemildert. Nedda wünschte, sie könnte sie in ihrem Arbeitszimmer sehen, an ihrem Schreibtisch. In der grauen Telefonkabine schien Betheen sich nicht wohlzufühlen.

Nedda hielt den Atem an.

»Hallo, mein Schatz.«

Die Stimme ihrer Mutter brachte sie immer noch zum Zittern. Ein Signal war nicht das Gleiche wie eine Berührung und war es doch. Es roch nach Zuhause, nach Orangen, was unmöglich war, weil Nedda noch nicht mit der Züchtung begonnen hatte; vorerst war das Labor nicht auf Bäume ausgerichtet. Sie bekam eine Gänsehaut und musste weinen – seichte Rinnsale statt richtiger Tropfen.

»Ach, Schätzchen, nicht weinen. Du hast mich noch nicht mal begrüßt.«

»Hallo Mama.«

»Hallo«, sagte Betheen. Und dann weinte auch sie, was beide zum Lachen brachte.

»Nicht, dass ich mich nicht freue, dich zu sehen, Mama, aber wie hast du die Privatleitung so schnell wieder genehmigt gekriegt?«

»Desmond Prater ist gestorben.«

Den Namen hatte Nedda seit Ewigkeiten nicht mehr gehört, aber sofort zog sich ihr Magen zusammen. »Wie nimmt Denny es denn auf?«

»Er verkauft die Plantage.«

»Deshalb rufst du an?«

»Ich fand, du solltest das erfahren.«

Nedda erinnerte sich: zwischen den Orangenbaumreihen herumrennen, nackte Füße auf rauem Boden, ockergelbe Erde, Unkrautbüschel an den für die Mäher unzugänglichen Stellen, Fliegen. »Man möchte meinen, dass Denny mir das selbst erzählen könnte.«

»Es ist nicht leicht, einen Telefontermin mit dir zu bekommen, und es gibt Dinge, über die zu sprechen ihm vielleicht immer noch schwerfällt. Das kannst du doch verstehen.«

Konnte sie nicht. In manche Erinnerungen von Denny war sie nie eingeweiht worden. Und dennoch. Sie waren miteinander durch die Plantage und die Geschehnisse dort verbunden, in gleichem Maße durch ein Trauma wie durch Freundschaft. Ein mittlerweile dünnes Band, von Zeit und Raum, zu straff gedehnt. Seit ihrer Abreise hatte er nicht mehr mit ihr gesprochen, nicht einmal, als sie noch auf der ISS war, vor dem Mars, wo es noch einfach gewesen wäre. Aber sie konnte genauso wenig erklären, warum sie weggehen musste, wie er erklären konnte, woran er sich erinnerte. »Wie geht’s dir, Mama?«

»Ich vermisse dich.«

Naheliegende Worte, aber dadurch nicht weniger schmerzlich. »Ich dich auch.«

Sie wollte nach Betheens Arbeit fragen, nach ihrer Beförderung im Labor, wie ihr die Durchführung ihrer Studie gefiel, nach dem Wetter, egal wonach, wollte nur, dass ihre Mutter weitersprach, sie einfach nur ihre Stimme hörte. Doch die Worte wollten ihr nicht über die Lippen kommen. Beide beobachteten sie die Lichtreflexe auf dem Gesicht der anderen.

»Du bist rund geworden«, sagte ihre Mutter. »Sieht aus, als würdest du endlich mehr essen.«

Nedda lachte. »Wenn ich von deiner Küche nicht dick werden konnte, werde ich es garantiert nicht von dem Zeug hier. Das liegt nur am Weltraum. Der macht das.«

»Damit meinte ich nur, dass du gut aussiehst. Wunderschön.«

»Nicht lügen, Mama.«

Betheen beugte sich dicht vor die Kamera. Die Linse verzerrte sie, ließ ihre Augen puppenhaft erscheinen. »Bist du glücklich?«

»Ich bin zufrieden.«

Die Jahre hatten das Seufzen ihrer Mutter oder die Scham, die es bei Nedda auslösen konnte, nicht verändert.

»Dein Vater hätte es verstanden, Nedda. Das weißt du doch. Wir haben getan, was wir tun mussten. Du tust, was du tun musst.«

»Ja, ich weiß.« Im All war Stille anders, sie dehnte sich über Entfernung und Zeit, hatte etwas Unberührtes, das Nedda nur zögerlich durchbrach. »Ich hab dich lieb«, sagte sie.

»Ich hab dich auch lieb.«

»Gehst du unter Leute, Mama? Kommst du vor die Tür?«

»Alle fragen nur ständig nach dir. Ich muss mich praktisch verstecken. Die ganze letzte Woche hatte ich die Labortür abgeschlossen. Es war himmlisch.« Ein Zucken ihrer Lippen. Das war ebenfalls wunderschön.

Nach dem Gespräch rieb Nedda sich über das Gesicht. Desmond Prater war tot. Es hatte sich seit Jahren angekündigt. Und sie hatte sich immer gefragt, ob sie Erleichterung spüren würde, wenn er schließlich starb. Aber Denny musste sich mit den Nachwehen herumschlagen – sich um die Plantage und seine Mutter kümmern. Er musste jetzt tun, was Desmond getan hatte, das Geschäft am Laufen halten. Das Leben hatte so eine unschöne Art, einen in die eigenen Eltern zu verwandeln.

Der Rest der Crew spielte in der Küche Poker, bevor Marcanta sich zu einem zweiwöchigen Schlafzyklus anhängte. Meistens gewann Jewgeni, und sein Gewinn war, dass alle für ihn sauber machen mussten. An den Sprossen hangelte Nedda sich quer durch das Modul zurück zu ihrer Kabine.

Marcanta fragte: »Alles klar bei dir, Papas?«

»Ja. Nur ein Anruf von zu Hause.«

»Komm her, probier doch mal, aus Singh rauszukriegen, wo er die Schokolade versteckt hat«, sagte Jewgeni.

»Schlaf ein bisschen«, meinte Singh. »Ein anständiges Nickerchen hilft immer. Oder du siehst dir mit mir zusammen die Amadeus-Dateien an, die Jewgeni nicht lesen kann.«

Marcanta gab ihm einen Klaps auf den Hinterkopf.

»Ich mache einfach das mit dem Schlafen«, antwortete Nedda. »Du weißt, wo du mich findest, falls du Hilfe brauchst.« Wenn er Hilfe brauchte.

Sie kroch in ihren Schlafsack, ließ das Hologramm laufen und suchte nach Muscheln – einem Engelsflügel, einer Trogmuschel –, fand aber keine. Sie lauschte dem Rauschen der Wellen, bis es sie langsam wahnsinnig machte; dann lauschte sie der Dunkelheit, dem Modul. Chawla hatte einen Herzschlag, ein Lebenserhaltungssystem, das von Amadeus betrieben wurde. Nedda horchte nach Stromschwankungen und versuchte, nicht mehr an zu Hause zu denken, an Denny, an ihre Eltern.

Ein ganzes Leben war es her, dass sie ihren Vater zuletzt gesehen hatte. Ihre Liebe zu ihm war durch die Entfernung reiner geworden.

Er war Gedanke. Licht, das durch das Universum flog.

Genau wie sie.

1986: Sieben

Am Abend des 27. Januar 1986 saß Nedda Papas mit ihrem Vater auf der Motorhaube seiner grauen Chevette, zwischen sich das lange Rohr eines Teleskops. Sie hatten bei der Merritt-Island-Causeway-Brücke am Straßenrand angehalten, um möglichst wenig vom Licht gestört zu werden. Es herrschte hoher Wellengang und ein Wind, der so kalt war, dass ihre Ohren von innen schmerzten.

»Wenn wir es noch dunkler haben wollten, müssten wir aufs Wasser«, sagte ihr Vater.

»Warum machen wir das dann nicht?«

»Weil morgen Schule ist, wir kein Boot haben und ich niemanden kenne, der uns eins leihen würde.« Er tätschelte ihr den Kopf, seine Hand war warm und schwer. »Schon was entdeckt?«

»Nein.« Der Halley’sche Komet war ganz nah. Sie wechselten sich am Teleskop ab, in der Hoffnung, einen Lichtklecks wie einen gelblichen Wattebausch zu sehen. Nedda war vertraut mit dem Oriongürtel, dem Großen Bär, den Plejaden und konnte sie lesen wie eine Landkarte; schwerer war es, nach etwas Ausschau zu halten, was normalerweise nicht da war. »Warum nennt man den Weltraum ›Himmel‹?«

»Ach, vermutlich, weil Menschen gern das Gefühl haben, dass jemand das Kommando hat, und der Himmel gehört zu dieser Vorstellung. Die Leute glauben, dass dort Gott ist, dass sie Gott sehen und er sie.«

»Wir glauben das nicht.«

»Ja und nein. Wir wissen es nicht. Ist nicht die Frage interessanter, was Sterne sind? Woraus sie bestehen? Die könnten wir beantworten.«

Als er sich vor das Teleskop hockte, streifte seine Wange ihre Hand, Stoppeln schabten über ihre Finger. Der Bart ihres Vaters war borstig und gleichzeitig weich, schwarz ohne einen Anflug von göttlichem Weiß, aber wie Gott wusste er alles. Er erklärte Dinge, und die Welt öffnete sich. Letzte Weihnachten hatte Tante June eine Karte mit einem Bild von Gott geschickt, auf dem er einem Mann, der angeblich Adam war, die Hand reichte. Für Nedda bedeutete Gott zu berühren das sanfte Kratzen von Barthaaren auf ihrem Handrücken.

Ihr Vater drückte sich das Teleskop an die Brille und versuchte, es mit der Hand abzudunkeln. »Ich kann auch nicht viel sehen.« Er war nicht für Teleskope gemacht; seine Glasbaustein-Brille bedeutete verschmierte Linsen und einsickerndes Licht, doch ohne sie bekam er es gar nicht scharfgestellt. Ohne Brille war Nedda eine weichgezeichnete Version ihrer selbst, und Sterne entzogen sich seinem Blick.

»Ich stelle mir den Wecker auf vier«, sagte sie. »Ich will morgen einen guten Platz.«

»Hm?«

»Der Shuttlestart. Du hast gesagt, du gehst mit mir hin.«

»Ach ja?« Er zog den Kopf vom Teleskop zurück, hob die Brille an und blinzelte, bevor er sie wieder in die gut sichtbaren Dellen am Nasenrücken zurückschob.

Er hatte es vergessen, tatsächlich vergessen. Seit November strich sie die Tage in ihrem Kalender durch, und er hatte es vergessen. »Ja. Du und Mama habt gesagt, dass Denny und ich nicht in den neuen Freddy-Film dürfen, und ich hab gesagt, das ist ungerecht, weil wir den ersten schon gesehen haben. Dann hast du gesagt, dass du dafür mit mir zu dem Start gehst. Du hast es versprochen.«

»Stimmt, das habe ich gesagt. Entschuldige bitte, aber ich hab’s vergessen.« Er legte ihr den Arm um die Schultern und drückte sie sanft an sich. »Morgen kann ich nicht, Nedda. Ich muss früh am College sein. Aber nächstes Mal, versprochen.«

»Immer musst du früh am College sein. Und du hast es schon mal versprochen und vergessen. Woher weiß ich, dass du es nicht wieder vergisst?«

»Ich schreibe es mir auf.«

»Das hast du beim letzten Mal auch gesagt.«

»Dann erinnere mich dran. Du darfst mich jeden Tag erinnern.«

»Mach ich auch.«

»Ich mach dir einen Vorschlag: Wenn du es deiner Mutter nicht verrätst, darfst du dir den Film ansehen, wenn er auf Video rauskommt.«

»Na gut«, sagte sie, genau, wie es ihre Mutter immer tat, damit er wusste, dass absolut gar nichts gut war. Außerdem kannte sie den Film schon. Dennys Mutter hatte sie an einem Samstagnachmittag ins Kino gefahren und ihnen Geld für einen Film ihrer Wahl gegeben.

»Tut mir leid, Nedda.« So sah er auch aus: müde, die Mundwinkel nach unten gezogen wie bei einem traurigen Hund.

Der Komet kam alle sechsundsechzig Jahre vorbei. Es gab andere Abende, um ihn zu betrachten, aber er hatte diesen gewählt. Er hatte sich ein Teleskop von einem Kollegen ausgeliehen. Nedda hatte zwei Erdnussbutterbrote essen dürfen statt des Boeuf Stroganoff, das Betheen zu kochen vorgehabt hatte. Ihr Vater hatte die Rinde von den Scheiben abgeschnitten. Sie hatte die Musik im Auto aussuchen und Wham! hören dürfen, dann Madonna. Als sie an der Raststätte neben Jonny’s Jungle World getankt hatten, hatte er ihr einen Vorschuss auf ihr Taschengeld gegeben, damit sie sich einen Alligatorbabykopf kaufen konnte, der jetzt in der Tasche ihrer blauen Satinjacke steckte. Sie drückte die Finger auf die winzigen Zähne.

Er gab sich wirklich Mühe.

»Okay.« Sie verzieh ihm, fügte es aber der Liste von Dingen hinzu, die ihre Eltern bei ihr wiedergutzumachen hatten.

Stunden vergingen. Neddas Cordhose war schlecht gepolstert, und ihre Knochen taten allmählich weh. Einmal im Leben war schwer zu begreifen, wenn man sich unmöglich vorstellen konnte, alt zu sein.

Ihr Vater rieb sich den Rücken, als wäre er steif.

»Es wird spät.«

»Bitte, nur noch ein bisschen.« Sie schwenkte das Teleskop über Himmelsbereiche, die sie noch nicht abgesucht hatte.

»Tut mir leid, es klappt einfach nicht, oder? Wir können es an einem anderen Abend noch mal probieren.«

Sie schloss die Augen. Wahrscheinlich gäbe es keinen anderen Abend mehr. Keinen Raketenstart, keinen Kometen, nur Kälte und wunde Ellbogen vom Aufstützen auf der Motorhaube. »Fünf Minuten?«

Jupiter, Venus, die Plejaden, alles war, wo es hingehörte. Nichts war zusätzlich oder neu. Sie presste sich das Rohr fest an die Haut, ihre Wimpern stießen an die Linse. Der Satz kam ohne nachzudenken, wie ein Atemzug.

»Ich sehe ihn!«

Vielleicht sah sie wirklich etwas, Sterne oder Planeten, aber der Himmel bestand überwiegend aus Wolken und Kälte. Noch nie hatte sie sich so sehr gewünscht, etwas zu sehen. Weil ihr Vater es nicht sehen konnte, weil sie es niemals wieder sehen würde, weil er sich so bemüht und ein sichtlich schlechtes Gewissen hatte und weil ein Alligatorbabykopf in ihrer Tasche und rindenlose Erdnussbutterbrote in ihrem Magen lagen, weil sie zusammen Ausschau hielten.

Am nächsten Morgen im Klassenzimmer, fünfzehn Kilometer und einen halben Sumpf vom Kennedy Space Center entfernt, fror Nedda trotz ihres dicken Pullis. Frost überzog Easter, Florida, wie eine Spitzendecke und zerstörte ein Viertel der Orangen auf der Prater-Plantage. Es fühlte sich an, als würde ihr nie wieder warm werden. Später schrieb sie sich das auf, notierte kalt in ein marmoriertes Büchlein. Eine Liste nahm Gestalt an, eine Aufstellung all der Dinge, die sie sich zu merken versuchte. Sie füllte ein ganzes Heft mit ihrem Vater, Briefen und allem, woran sie sich erinnern konnte, weil sie wusste, dass Gedanken im Laufe der Zeit verblassten. In diesem Moment aber stellte Nedda nur fest, dass es ziemlich kalt für einen Shuttlestart war, und fragte sich, ob die Astronauten Pullis unter ihren Overalls trugen. Darüber hatte in ihren Büchern nichts gestanden.

Mrs. Wheeler hockte vor dem Medienwagen, einem großen braunen Metallkarren, auf den ein Fernsehgerät geschnallt war. Als sie an dem Kabel wackelte, wechselten sich auf dem Bildschirm Schnee und Wellen ab, die aussahen wie Regenbogen mit Bauchweh.

Nedda zappelte. Sie hätte dort sein müssen, beim Start. Den ganzen Vormittag flatterten in ihrem Inneren Buchstaben und Ziffern herum: Mission STS-51-L. Das war OV-99. Orbiter Vehicle. Judy Resnik flog das OV-99. Nedda würde es später einmal fliegen. OV-99, STS-51-L. STS. Space Transportation System. STS. STS.

»Oh mein Gott, zischst du etwa?«, flüsterte Tonya Meyers.

»Nein«, sagte Nedda.

Tonya mit dem dauergewellten Pony. Tonya, die Stofftierchen und Hunde-Radiergummis auf ihrem Pult aufreihte. Nedda versteckte ihr My Little Pony wenigstens in ihrer Schultasche, so gern sie Cotton Candy auch auf dem Pult stehen gehabt hätte. Sie wusste, dass sie schon zu alt für Plastikponys war, aber immerhin wusste sie es. Einmal war ihr Cotton Candy in der Pause aus der Tasche gefallen. Nur ein Mal, und alle hatten es mitbekommen. Ihr Gesicht hatte so gebrannt, dass sie hätte weinen wollen. Tonya hatte gelacht. Andere zu hauen war dumm. So was machten nur dumme Menschen, aber dieses Mal, nur dieses eine Mal hätte es sich richtig gut angefühlt, da war sie sicher.

Sie hatte ihrem Vater verziehen, dass er nicht mit ihr zum Start gefahren war, aber deshalb durfte sie trotzdem wütend sein. In letzter Zeit war er für vieles zu beschäftigt: Abendessen, Fernsehen, Bücher. Er verwendete seine Zeit für seinen Unterricht, sein Labor und sein Projekt. Nichts machte einen so wütend, wie jemanden zu vermissen. Sie hatte ihre Mutter gebeten, mit ihr zum Shuttlestart zu fahren, aber Betheen arbeitete gerade an einem Kuchen, einem von denen, die drei Tage dauerten, und sie ging dann erst wieder vor die Tür, wenn jede Verzierung und jede Zuckerrose genau richtig saßen. Das Haus stank, sauer nach Lötzinn aus dem Labor im Keller, schwer nach Vanille und Fett aus der Küche. Vanille war an sich in Ordnung, wenn man nicht jeden Tag von früh bis spät damit lebte. Bei Neddas Mutter machten Kuchen keinen Spaß.

Tuck Broderick von News 14 waberte ins Bild, die Haut zu einem satten Dunkelrot verbrannt.

Ein Schemen segelte quer durch den Raum und traf mit einem nassen Brennen auf Neddas Wange. Papierkügelchen. Jimmy La Morte saß links von ihr, das leere Plastikrohr eines Kulis in der Hand. Na super! Jimmys Familie trank Sumpfwasser. Seine Spucke enthielt wahrscheinlich Bakterien, von denen ihre Haut verfaulte. Die Sümpfe waren vergiftet von Straßenabrieb und Pestiziden aus ehemaligen Orangenplantagen, was in diesem Wasser überlebte, musste also zwangsläufig zäh sein. Mit dem Ärmel wischte sie sich den Schleim von der Wange.

Tuck Broderick zog sich aus dem Bild zurück, und die Kamera schwenkte über die Zuschauermenge. Tausende von Gesichtern. Nedda schob die Hand in die Jeanstasche und zog einen kleinen, aus Papier ausgeschnittenen Kreis heraus. Ein Missions-Emblem, genau wie die auf den Raumanzügen der Astronauten. Hinterher kaufte ihr Vater ihr immer ein echtes besticktes Stoffabzeichen im Kennedy Space Center, aber sie liebte es, in der Nacht vor einem Start aufzubleiben und das Motiv von Fotos in den Zeitungen abzumalen. Neben ihr auf dem Schreibtisch hatte ihr Pony gestanden in seinem Astronautenanzug. Den hatte Betheen gekauft, was das Netteste war, was Betheen je getan hatte. Dieses Missions-Emblem war gut, aber nicht Neddas bestes. Da sie so spät nach Hause gekommen war, hatte sie nicht mehr viel Zeit gehabt. Der Apfel sah irgendwie nicht richtig aus. Vielleicht stimmten die Proportionen nicht.

Im Fernsehen wirkte die Raumfähre plump wie ein von gutem Essen und faulen Strandtagen zu dick gewordenes Flugzeug. Kein Vergleich mit der schlanken Rakete, von der sie träumte: silbern wie eine Agena, aber schnittiger, glänzender, mit Platz in der Spitze für Bücher und einen Labortisch aus Stahl mit Mikroskopen, Bechergläsern und Lasern. Sie träumte von einem Sitz, der sie sanft abfederte, wenn die Andruckkräfte die Eingeweide gegen ihre Wirbelsäule pressten. Sie träumte von einem Erkerfenster aus Pyrex, um Hitze und Kälte zu widerstehen, durch das sie die Luft ihre Farbe ändern sah, bis das Blau zu einem mit fernen Sternen gepunkteten Schwarz geworden war. Ihr Vater sagte, Sterne zu beobachten sei wie ein Blick in die Vergangenheit; das Licht, das sie sehe, sei vor Tausenden von Jahren dort losgeflogen. Sie stellte sich die Dinosaurier anderer Planeten vor und eine andere Nedda, die am Ursprung eines dieser fernen Lichter die Erde, vielleicht sogar Florida betrachtete und dabei die gummiartige Schnauze eines Elasmosaurus entdeckte, der den Kopf aus einem Sumpf hob.

Der Countdown begann. Sie tippte mit den Fingern mit. Zehn. Die Stimme aus dem Kontrollzentrum klang wie ein Telefonat von 1950, blechern und krächzig. Die Wanduhr im Klassenzimmer hatte einen kurzen Schluckauf und verlor eine Sekunde. Neun. Wolken wallten unter dem Shuttle auf.

»Das ist Dampf«, erklärte sie. »Mit dem Wasser wird der Schall gedämpft.« Niemand hörte zu. Acht. Alles in der Raumfähre wackelte jetzt. Nedda drückte ihre Turnschuhe flach auf den Boden, in der Hoffnung, die Erschütterung zu spüren.

Tuck Broderick hielt das T von T-minus volle zwei Zahlen lang hoch. Das Kontrollzentrum war bereits bei Sieben angelangt, als er wieder aufgeschlossen hatte. Sechs. Nedda strich mit den Fingern über das Emblem, ertastete die Rillen ihres Stifts. Fünf. Jenny Demarco schrie die Zahlen, nur um brüllen zu können. Die letzten Sekunden gingen im Dröhnen der Motoren von OV-99 unter. Verbrennung war die kühnste chemische Reaktion. Keine andere war so aufregend. Wenn ihr Vater sie Pyropapier anzünden ließ, spürte sie einen Adrenalinschub, der es mit der Flamme aufnehmen konnte. Nedda klappte für jede verbliebene Sekunde einen Finger um. Vier. Kleiner. Drei. Ring. Zwei. Der Stinkefinger. Eins. Zeige.

Der Boden bebte, als wachte er auf und wollte die Pulte und Schüler abschütteln, die sich auf ihm niedergelassen hatten, während er schlief. Linoleum wellte sich unter ihren Füßen, und sie lachte. Der Boden sollte erzittern, wenn jemand ihn verließ. Es war wie Schwimmen und Fliegen gleichzeitig, als könnte ihr Pult jeden Moment abgeworfen werden und sie auf der Shuttlespur aus Feuer und Dampf schweben. Als Bleistifte von Pulten rollten, fing Nedda wieder zu zählen an. Fünf. Sechs. Sieben. Mrs. Wheeler stützte sich am Fernseher ab. Das Klassenzimmer roch nach Kreide und Putzmittel, und Nedda wünschte, jemand hätte ein Fenster geöffnet. Nach einem Raketenstart roch Easter immer verraucht und gut.

Die schwarze Nase der Raumfähre war ein Tintenklecks vor den Wolken auf dem Fernsehbildschirm. Später erinnerte sie sich an diese Wolken und schrieb es auf. Keith Wilmer hinter ihr machte ein Furzgeräusch, und jemand kicherte.

»Halt die Klappe«, flüsterte Nedda. Fünfundvierzig. Sechsundvierzig. Die ersten zwei Minuten waren die wichtigsten. Nach zwei Minuten wäre alles, was schiefgehen konnte, bereits schiefgegangen. Alles andere passierte ansonsten im Weltall, wo niemand es sehen konnte, oder beim Wiedereintritt.

Noch ein feuchtes Klatschen, dieses Mal an ihrem Hals, knapp an ihrem Zopf vorbei. Nedda wirbelte zu Jimmy herum, in dessen zu weit auseinanderstehenden Augen Gehässigkeit und Dummheit zu erkennen waren. Mit einer Hand ließ er den Kuli kreiseln, mit der anderen zeigte er ihr den Mittelfinger.

Im vergangenen Winter hatte Betheen in einem Anfall von Erziehungseifer verlangt, dass Nedda ihre Ausdrucksweise mäßigte. Um das ordentlich durchführen zu können, wollte Nedda damals jedes einzelne verbotene Wort und dessen Herkunft wissen. Auf dem Regal neben ihrem Bett sammelten sich Listen von Kraftausdrücken an, die sie hörte oder las, und die Reaktion ihrer Mutter darauf. Nach und nach ging es weniger um die Dokumentation als vielmehr um die Evolution des Fluchens. Als sie die üblichen Schimpfwörter und ihre gängigen Abwandlungen erschöpft hatte, erfand sie neue; zusammengesetzte Schimpfwörter, Schimpfwörter, die nur bei bestimmten Gelegenheiten Schimpfwörter waren, und Schimpfwörter für Dinge, die für die meisten Menschen gar nicht schrecklich waren. Als Nedda also Jimmy La Morte einen Wichser nannte, beruhte das auf vielen Stunden ausgiebiger Recherche.

Alles erstarrte. Das Wort hing in der Luft, so greifbar, dass sie fast die Hand danach ausgestreckt hätte. Aber Schall konnte man nicht zurücknehmen, er breitete sich aus wie ein Erdbeben. Jimmys Sumpf-Welpen-Gesicht wurde schlaff, und sein Kuli-Blasrohr fiel ihm aus der Hand. Das Klappern vermischte sich mit dem Shuttlestart und dem Kss aus Wichser.

»Nedda Susanne Papas«, rief Mrs. Wheeler. Alle drei Teile ihres Namens, die eigentlich nur Betheen benutzen durfte.

Nedda wurde rot, aber ehe sie noch protestieren konnte, erklang ein lauter Knall im Fernseher.

Marilyn Ellison schrie auf.

Das Bild war falsch. Da hätten Nachbrenner sein müssen, Kondensation vom Durchbrechen der Schallmauer, die Silhouette der Raumfähre, die sich aus der Atmosphäre löste. Nichts stimmte.

Man sah acht Rauchfahnen. Rauch, nicht Kondensation.

Die Kamera schwenkte, verfolgte eine davon, und an deren Spitze brannte ein Stück – sie wusste nicht, was. Ein Teil des Shuttles. Nedda biss sich auf die Zunge, kaute mit den Backenzähnen darauf herum. Verbrennung veränderte den Zustand von Dingen, alles wurde zu Kohlenstoff oder Gas. Was übrig blieb, war keine Raumfähre. Es war Gas, Kohlenstoff, Metall und … was?

Im Fernsehen leierte Tuck Broderick: »Oh Gott. Oh Gott. Oh Gott. Meine Damen und Herren, da ist was schiefgegangen.« Das Bild hüpfte, als der Kameramann sich um einen guten Platz rangelte.

Nedda rieb über das gemalte Emblem, drückte sich Tinte in die Rillen der Fingerspitzen. Die Raumfähre war jetzt Gas, Kohlenstoff und verbogenes Metall. Judith Resniks Raumfähre und alle darin. Judy Resnik. Pullis waren egal, dachte sie, und sofort wurde ihr schlecht.

Die Reglosigkeit dehnte den Moment zum zweidimensionalen Bild eines Klassenzimmers voller Schüler. Niemand atmete. Niemand bewegte sich. Dann fiel Kim Wallaces Ringordner von ihrem Pult, und das leise Scheppern erweckte alle wieder zum Leben.

Nedda konnte nicht ausrechnen, wie lange es dauerte, bis die Schallwellen der Explosion die Schule erreichten, nicht bei dieser Luftfeuchtigkeit, nicht so dicht am Meeresspiegel. Sie rubbelte über das Papier-Emblem. Ihr Vater wüsste es.

Mrs. Wheeler schaltete den Fernseher aus, und der Knopf machte dasselbe Plastikklicken wie immer. Sie blieb mit dem Rücken zur Klasse stehen. Nedda starrte ihre zartrosa Bluse an. Die Farbe kannte sie; ihre Mutter besaß genau die gleiche von Dillard’s und hatte sie an diesem Morgen getragen. Mrs. Wheeler gab keinen Ton von sich, weinte aber trotzdem. Marilyn Ellison auch, und sie klang exakt wie ein Grillenfrosch. Lisa Nuñes hatte Schluckauf. Nedda konnte die Schallwellen beinahe sehen, wie sie benommen gegen Schultern und Rücken prallten.

Sie hatten sieben Menschen sterben sehen.

Aus dem Lautsprecher ertönte ein Knistern und Zischen. Rektor Lauder verkündete, dass alle Klassen in die Aula zu kommen hätten. Bei dem Wort Aula brach seine Stimme. Vielleicht bebte sein Rücken ebenfalls.

Nedda drängelte sich in der Schlange nach vorn, neben Mrs. Wheeler. Der Vorfall mit dem Schimpfwort war vergessen, Mrs. Wheeler drückte jede Schulter, während sie die Zweierreihe bis zum Ende abschritt, dann wieder zurück. Ihre Augen waren verquollen, und ihre Nasenspitze glänzte schwach. In ihren Blusenärmeln fing sich das Licht, und Nedda stellte sich ihre Mutter vor, wie sie vor den Schülern entlangging, Schultern berührte. Wenn sie das Schimpfwort noch einmal sagte, würde Mrs. Wheeler sie rügen. Sie würde ins Rektorat geschickt. Mr. Lauder riefe ihren Vater an, und sie müsste nach Hause. Vielleicht käme ihr dann alles wieder normal vor.

Sie blieb stumm.

Hinter Mr. Stanzas Klasse her schlurften sie durch den Flur. Nedda wickelte sich das Abzeichen um den Daumen, dann umschloss sie ihn mit der Faust. Wenn sie jemanden so schlüge, bräche sie sich den Daumen. Wie sehr täte das wohl weh? Nicht genug. Als sie beim Kunstsaal um die Ecke bogen, unterdrückte Mrs. Wheeler hörbar ein Schluchzen. Die Zierschleife an ihrer Bluse bebte.

»Wir haben es nicht gesehen«, sagte Nedda.

Mrs. Wheeler erwiderte nichts.

»Mein Papa hat mir erklärt, dass das Licht erst eine Weile unterwegs ist, bevor es auf das Auge trifft. Die genaue Geschwindigkeit habe ich vergessen, aber das kann ich später für Sie nachschlagen. Jedenfalls ist es wie ein Boot auf dem Wasser, weil es sich in Wellen fortbewegt. Wenn man also was sieht, ist es schon vorbei. Es ist schon passiert, weil das Licht erst zu einem vordringen muss, damit man es sehen kann.«

»Nedda.«

»Deshalb haben wir es eigentlich nicht gesehen. Vielleicht nur so was wie ein Echo davon.« Echo stimmte nicht. Echo war Schall, nicht Licht, aber der bewegte sich auch in Wellen fort. Das war es nicht, aber es zu definieren, war unmöglich. »Das Licht war an vielen unterschiedlichen Orten, bevor es hier angekommen ist.«

»Nedda, sei still. Bitte.«

Obwohl sie vorhin so gefroren hatte, war Nedda jetzt heiß und stickig, und ihr Magen rumorte. Das Abzeichen klebte an ihr. Wenn sie es abzöge, bliebe ein kleiner roter Tintenfleck zurück, ein Spiegelbild des Apfels. Niemand würde ihren Eltern das mit dem Schimpfwort sagen.

Als sie ankamen, war die Aula halb voll. Die Viertklässler kamen zuletzt herein, manche weinten, manche tuschelten miteinander, die meisten schwiegen. Es blieben Plätze frei, weil einige Kinder krank oder mit ihren Eltern zum Raketenstart gefahren waren. Neddas Klasse, die sechste, strömte in den mittleren Bereich. Sie setzte sich neben Tricia Villaverde, die sofort zwei Stühle weiterrutschte. Nedda sah sich nach Denny Prater um, aber seine Klasse saß ganz hinten. Da niemand den leeren Stuhl wollte, setzte Mrs. Wheeler sich neben sie.

Mrs. Leigh, die Vertrauenslehrerin, stellte sich auf die Bühne und bat um Ruhe.

Dann folgte ein Gebet.

Während die anderen beteten, dachte Nedda über das Licht nach, über Verbrennung. Darüber, wie sie mit ihrem Vater auf dem Dach saß und die Sterne beobachtete. Nicht nur Sterne, denn manche Lichtpunkte waren Kometen, Asteroiden, Nebelflecke und Planeten. Manche der Planeten, die ihr Vater und sie betrachteten, gab es schon nicht mehr. Das war nicht traurig; es war einfach wahr. Das war etwas anderes.

Rektor Lauder sagte, sie dürften früher nach Hause, dann forderte er alle noch einmal zu einer Schweigeminute auf. In der Reihe vor ihr schniefte Liza und zupfte am Stoff der Stuhllehne. Sie ertappte Nedda beim Starren und flüsterte Keith etwas ins Ohr. Hastig sah Nedda zu Boden, dann auf die Tinte an ihrem Daumen, in die Luft zwischen ihrem Platz und dem von Liza.

Sie musste schon Millionen von toten Sachen gesehen haben, Sachen, die Lichtjahre entfernt waren, Äonen. Sie kaute auf einer kleinen offenen Stelle an ihrer Lippe herum. Ihre Füße tippten auf den Teppich. Das Klopfen kam ihr irgendwie falsch vor. Alles kam ihr falsch vor. Sie musste nach Hause, in das kleine Labor ihres Vaters im Keller, um sich wie früher auf einen der Tische zu legen. Es war lange her, dass sie zuletzt eine Decke mit nach unten genommen und es sich zwischen den Büchern, Röhrchen und Drähten gemütlich gemacht hatte – eine Million Jahre oder wie lange das Licht eben brauchte. Sie wollte die Wange auf den Tisch schmiegen und ihrem Vater lauschen, der über das Weltall sprach. Sie war noch klein gewesen, als er ihr vom Beginn des Universums und der Geburt des Sonnensystems erzählt hatte. Dass die Sonne wie eine Insel und die Planeten wie Schiffe waren, die um sie herumglitten. Er hatte »Pluto ist unser ferner Sternsegler« gesagt wie andere Leute »Es war einmal«.

Sie wünschte, sie hätte ihr NASA-Buch dabei, mit sechs ganzen Seiten über die »Fünfunddreißig Neuen«, den Astronauten-Jahrgang von 1978, die erste neue Gruppe bei der NASA seit 1969. Über Sally Ride auf der Challenger (die es, begriff Nedda, jetzt nicht mehr gab) und über Judy Resnik, Missionsspezialistin, die zweite Amerikanerin im Weltall. Die Neddas großes Vorbild war. Die es jetzt ebenfalls nicht mehr gab. Sie waren jetzt Gas und Kohlenstoff und was noch? Irgendetwas anderes mussten sie doch sein.

Sie wollte ihr albernes Kleinkinder-Pony haben, aber das war noch im Klassenzimmer. Sie wollte mit Denny angeln gehen, auch wenn es zu kalt war. Sie wollte das Parfüm ihrer Mutter riechen, bis ihr schlecht wurde. Sie wollte alle Zuckerrosen von diesem blöden Kuchen essen, bis Betheen schimpfte. Sie sollte ausgeschimpft werden. Dafür, dass sie Wichser gesagt hatte. Dafür, dass sie sich neben Tricia gesetzt hatte, obwohl Tricia sie hasste. Dafür, dass sie vor Ablauf der zwei Minuten das Zählen unterbrochen hatte. Sie hätte nicht aufhören dürfen zu zählen.

Es war ihre Schuld.

Sie wollte nicht darüber nachdenken, dass sie, obwohl Licht aus Wellen bestand und trotz der Zeit und der Entfernung, die es zurücklegen musste, um von Startrampe 39B zur Thomas A. Covey Highschool zu gelangen, sieben Menschen hatte sterben sehen.

Judy Resnik war tot.

1986: Fertigung und Verlust

Fast fertige Prototypen hatten eine Persönlichkeit, und Crucible war ein echter Mistkerl. Bei der geringsten Temperaturveränderung verzog er sich, was an diesem Tag bedeutete, dass jede einzelne Mutter sich gelockert und drei Dichtungen einen Riss hatten, weshalb Theo Papas fluchte. Metall lebte, was den Fertigungsprozess zu einem Krieg zwischen Zufriedenheit und Frustration machte.

Er schleuderte einen Schraubenschlüssel gegen die Wand und bereute es sofort. Als ein Student durch das Fenster der Labortür spähte, zwang er sich zu einem Winken. Erschöpft rieb er sich die Augen, sehnte sich nach der Zeit seiner Promotion und der amphetaminbefeuerten Energie zurück. Er sehnte sich nach Zugang zu den Materialien, die er bei der NASA gehabt hatte. Der Partnerschaft. Er sehnte sich danach, Avi Liebowitz’ Meinung zu seinen Ideen einzuholen. Es hatte Kürzungen gegeben, Theo war entlassen worden und hatte schließlich eine Stelle an diesem College gefunden. Jetzt verbrachte er seine Tage damit, Einführungskurse und Überblicksveranstaltungen zu geben, um Forschungssemester zu schachern und Dekan Babcock davon zu überzeugen, dass seine Arbeit zweckmäßig, durchführbar und förderungswürdig war. Der Dekan duldete sein Projekt, erkannte aber, im Gegensatz zu Liebowitz, seine praktische Anwendbarkeit nicht. Babcock glaubte, er hätte es auf kalte Fusion abgesehen. Halbwertzeitverkürzung sagte ihm nichts. Die Hauptsorge des Instituts war, dass das Cäsium-137 vorschriftsgemäß gelagert und in eventuellen Patenten das Haverstone College namentlich genannt wurde.

Liebowitz wusste, was Halbwertzeitverkürzung bedeutete: das meiste aus einer kleineren Masse herauszuholen. Größere Gegenstände für praktische Anwendungen mit Energie zu versorgen. Halbwertzeitverkürzung konnte die Raumfahrt verändern. Halbwertzeitverlängerung? Er konnte etwas bauen, was bis zum sprichwörtlichen Ende des Universums lief. Doch er steckte in einem Raum aus gestrichenem Beton fest, mit weißen Regalen voller Kartons und Kisten, die vor Drähten, Glasröhrchen und Schaltern überquollen. Das College hielt ihn hin und würde die ihm verbleibenden Arbeitsjahre für so wenig Geld wie nur irgend möglich aus ihm herausquetschen.

Aber Nedda war glücklich hier. Hier gab es Dinge, die sie liebte. Kometen beobachten war gut. So konnte sie sich später an etwas Wunderbares erinnern, und er hatte es durch ihre Augen sehen dürfen. Was genauso gut war, wie es selbst zu sehen, vielleicht sogar noch besser.

Wäre er gerade zu Hause, läge Nedda quer über einem Tisch in seinem Kellerlabor und stellte Fragen. Halb hatte er gehofft, auch Betheen würde sich dafür interessieren, vielleicht sogar helfen wollen. Aber sie hatte Grenzen des im Haus Erlaubten festgelegt, und Crucible überschritt diese deutlich. Radioaktive Isotope im Keller waren verboten.

Um den Schaden an Crucible zu begutachten, hockte er sich unter eins der Beine. Entropie und Zeit waren nicht die akkuratesten Konzepte, und die Gestalt seiner Maschine griff dieses Chaos bereitwillig auf. Crucible sah aus wie ein Weberknecht: aus einer in der Mitte befindlichen Kugel aus Glas, Gold und Blei ragten lange Metallbeine hervor, was ihm eine spinnenartige Anmutung gab. Die Beine dienten einem doppelten Zweck, nämlich das Zentrum zu tragen und es zu kühlen, indem sie es auf einer Magnetschiene umkreisten. In der Kugel befand sich eine Tür, die durch einen Spurkranz aus Gummi und Blei abgedichtet war. Sie schirmte die Cäsiumproben ab, sodass nicht nur keine Strahlung, sondern auch kein Licht entweichen und für hochgezogene Augenbrauen sorgen konnte.

Die Maschine sah aus wie ein gigantischer Bockmist. Wobei gigantisch das Hauptproblem war.

Sie brauchte zu viel Strom. Er hatte sich an seine Notizen aus der Zeit bei der NASA gehalten, als seine Hände noch nicht von der Psoriasisarthritis unbrauchbar gemacht worden waren. Damals hatte er noch Fördergelder gehabt und Liebowitz als Kollegen. Liebowitz, der Crucible in der richtigen Größe hätte bauen können. Aber infolge des damaligen Personalabbaus hatte Theo jetzt nur noch ein Dozentengehalt und sieben verworfene Versuche statt einer fertigen Maschine mit dem Potenzial, die Raumfahrt, die Medizin und das Zeitkonzept zu revolutionieren. Die Arthritis war sein Verderben. Seine Hände weigerten sich, mit seinem Verstand Schritt zu halten. Selbst mit Liebowitz, der im Oak Ridge National Laboratory weich gelandet war, zu korrespondieren, fiel ihm oft schwer. Wenn die Hautrötungen auftraten, wurden seine Knöchel heiß und schwollen an, wodurch filigrane Arbeiten unmöglich wurden. Häufig war überhaupt kein Arbeiten mehr möglich. Wenn doch, musste er in großem Maßstab bauen, daher dieser Riesenapparat, der das Stromnetz lahmlegen konnte. Sein ursprünglicher Plan hatte eine Tür vorgesehen, die gerade groß genug für kleine Testmaterialien war, eine winzige Cäsiummenge, nichtisotopische Proben, höchstens eine Laborratte. In seiner derzeitigen Fassung hätte ein kleiner Mensch hineinsteigen und die Tür hinter sich schließen können. Aber Theo liebte Crucible, auch wenn er hässlich war.

Fünf vergilbende Zettel vom Hausmeister lagen auf seinem Schreibtisch. Heute hatte er früher kommen müssen, um nachzuweisen, dass seine Arbeit kein Brandrisiko darstellte, dass die Belüftung ausreichte und dass irgendwelche Stromausfälle im Gebäude mit ihr nichts zu tun hatten. Selbst wenn doch. Was war schon ein weiterer Hausmeisterzettel? Er hätte mit Nedda zu dem Raketenstart fahren sollen.

Nedda großzuziehen, war auf eine Art schmerzhaft, die er nicht erwartet hatte, als wären sie durch eine Schnur verbunden, die stärker als jedes chemische Band war. Eines Tages würde sie zerreißen und Nedda gehen. Elf war ein fantastisches Alter. Ihr Gehirn blühte auf, ihr Verstand war so aufnahmefähig. Sie bildete neue Zellen aus, um alles, was sie lernte, aufzubewahren, entwickelte neue Nervenbahnen, und jeden Tag war sie anders, ein bisschen weiter, ein bisschen klüger. Gleichzeitig verschliss sein eigenes Gehirn; das galt für jedes Gehirn über fünfundzwanzig. Nedda stand am Punkt unendlichen Potenzials, dem Moment, in dem Genialität geboren wurde.

Wie unglaublich es wäre, genau diesen Moment festzuhalten.

Er staunte darüber, wie sie ihr Auge an ein Teleskop presste, wie sie sich sämtliche Mondkrater eingeprägt hatte. Welches Kind verdiente nicht ein Leben endloser Entdeckungen? Und welches Kind verdiente es mehr als Nedda?

Was wäre wenn?

Er zog ein Beingelenk fest und brachte Crucible so wieder ins Lot. Die Dichtung im Spurkranz wurde spröde, vielleicht fand er in Pete McIntyres Werkstatt etwas, um das zu beheben. Er schüttelte die Hände aus. Das Kribbeln wanderte durch seine Knöchel, bald gefolgt von einem Brennen, wenn sein Körper sich selbst attackierte. Nach dem Abklingen des Anfalls, in einigen Tagen oder auch Wochen, hätte er neue Knoten auf den Gelenken und eine Hand, die wieder etwas schlechter funktionierte. Beim letzten Mal hatte sich sein Ringfinger deformiert, der oberste Knöchel war jetzt gekrümmt wie in einem Todesgriff um einen unsichtbaren Gegenstand. Er nahm zwei Aspirin aus seiner Hemdtasche und zermahlte sie mit den Zähnen.

Um zwanzig nach elf zwangen seine Hände ihn dazu, das College zu verlassen und zurück in sein Labor mit den Notizheften zu fahren, in ein Haus, das nach Zucker roch, der nicht für ihn bestimmt war. Der Schmerz setzte schnell ein. Er hatte Übung darin, mit Knien und Ellbogen zu steuern, aber das Schalten verursachte ihm ein heftiges Stechen. Seine Träume für Nedda, für die viele Zeit, die sie hatte, und die viele Zeit, die er ihr schenken wollte, wurden überlagert von einem drängenden Bedürfnis: sich selbst zurechtzuflicken, einen Körper instand zu setzen, der der Zerstörung ausgeliefert war.

Sobald er sich in seinem Arbeitsraum im Keller niedergelassen hatte – Keller, ewig wurde er in Keller verbannt –, blätterte Theo durch seine ersten Notizen über Crucible, als er noch nicht Crucible gewesen war. Er und Liebowitz hatten ihn die »Entropiemaschine« genannt, und seine praktischen Anwendungsmöglichkeiten schienen ihnen damals schier unendlich: Raumfahrt, Brennstoffeinsparung, Konservierung von Präparaten, wiederverwendbare Orbiter. Die Möglichkeiten für den Menschen hatten ihn ganz egoistisch angezogen. Wenige Innovationen entsprangen reinem Altruismus.

Oben konnte er Betheen auf und ab gehen hören. In ihren Schritten lag Distanz. Sie hatten einen Punkt erreicht, an dem alles etwas anderes bedeutete, jedes Gespräch mehrere Schichten hatte, die alle anstrengend waren. Wenn Nedda groß genug wäre, würde Betheen ihn wahrscheinlich verlassen.

Aber sie hätten es zumindest versucht. So war das eben, wenn man Geheimnisse voreinander hatte, auch wenn beide wussten, dass es besser so war.

Als der Boden erbebte und damit den Raketenstart anzeigte, horchte er kurz und verfluchte den Blödmann von einem Hausmeister und seine idiotischen Zettel.

Zum Elterndasein gehörte, seinem Kind am Gesicht abzulesen, wenn man ihm das Herz brach, und es wissentlich immer wieder zu tun. Neddas Enttäuschung manifestierte sich als mendelsche Kreuzung von Betheen und Theo. Sie bekam fleckige Haut wie ihre Mutter und kaute auf der Lippe wie er. Noch hatte sie keine Schuppenflechte, und dafür dankte er Betheen. Die guten Dinge. Das Kind sollte doch das Beste von einem erben.

Durch das Beben begann sein Schreibtisch zu wackeln, und eine Kiste Notizhefte fiel hinunter, wirbelte eine Staubwolke auf und kippte die Jakobsleiter um, die er gekauft hatte, um Nedda an Halloween zu unterhalten. In seinem Labor sah es später sicherlich schlimm aus, gesprungenes Glas und Leitungen mussten ersetzt werden, neue Hausmeisterzettel waren zu erwarten. Crucibles Ausstoß, gasförmiges N-Methyl-2-pyrrolidon, giftiges Zeug, brachte gern mal Gummischläuche zum Schmelzen. Daher war nur Glas infrage gekommen, zerbrechlich und jedem seismischen Schluckauf ausgeliefert.

»Theo!« Betheens Stimme hallte durch den Wäscheschacht.

Er hörte das Weinen, bevor er sie sah. Sie umklammerte die Lehne eines Küchenstuhls. Betheen war Kunst, empirisch schön, sie rief Ehrfurcht in ihrer reinsten Form hervor – Staunen und Angst. Er hielt sich an ihren gemeinsamen Rhythmus von Abarten, Annäherung und Rückzug.

»Beth?«

»Sie sind tot.« Ihr Körper war starr wie eine steife Verlängerung der Holzlehne. Die Knöchel blutleer. Früher einmal hatte sie seine Hand so gehalten, die Knöchel gequetscht, bis die Gelenke knackten. Jetzt hätte dieser zu feste Griff ihn zerbrechen können. Sie beide taten, als vermissten sie solche Dinge nicht.

»Was ist denn passiert?«

»Sie ist weg, die komplette Raumfähre. Explodiert.« Ein Flackern im Wohnzimmer verriet, dass der Fernseher lief. Qualm vor blauem Himmel. »Angeblich sind die doch heutzutage sicher«, sagte sie. »Wie Schulbusse.«

»Hundertprozentige Sicherheit gibt es nicht«, entgegnete er. Auf dem Bildschirm herrschte Chaos, Aufnahmen der Zuschauer, des Himmels, wabernder Rauch.

»Das ist doch unverantwortlich«, sagte Betheen.

»Alle kennen die Risiken. Jeder von ihnen hat diese Entscheidung getroffen.«

Sie drehte ihm das Gesicht zu. »Immer hast du eine Antwort parat. Immer.«

»Und immer die falsche, oder? Das tut mir leid.«

Es konnte am Küchenlicht liegen, dass es wärmer war als Laborneonröhren, aber er sah die sanften Konturen ihres Kinns, die zarten Strähnen, die sich aus ihrer Spange befreit hatten, und dass egal, wie gerade sie stand, sie innerlich gebeugt war – wie er selbst.

»Meistens. Hin und wieder hast du recht.«

»Komm her.«

Er breitete die Arme aus, doch sie streifte nur flüchtig seine Wange mit den Lippen und ging weg. Sie begann, die Arbeitsfläche zu schrubben, als wollte sie sie abschleifen. »Du weißt, dass sie sich das in der Schule ansehen.«

Die Lehrerin, genau. Wegen der Lehrerinnen-Astronautin wurde es in der Schule gezeigt. Nedda hatte bestimmt alles mit angesehen. »Mist. Eigentlich hätte ich mit ihr hinfahren sollen.«

Das Telefon klingelte.

»Einer von uns wird mit ihr reden müssen. Wahrscheinlich besser du.«

»Natürlich.«

»Wenn du es kalt und steril hältst, wird ihr das gefallen. Das kannst du gut«, sagte Betheen. Sie hob ab, straffte das Telefonkabel und ließ es dann wieder gegen die geblümte Tapete schnalzen. »Ja, ich bin dran. Hallo, Mrs. Ocasio.«

Steril. Nach der ersten Fehlgeburt hatte er sich ein Entbindungslehrbuch gekauft. Die Kapitel über Spontanabort hatte er Betheen laut vorgelesen, während sie auf der Couch gelegen hatte, die Hände zwischen die Knie geklemmt. Er hatte sich mit Worten und Begriffen befasst, die ihnen die Umstände aufgedrängt hatten. Kisspeptin. Das klang unschuldig, romantisch. Sie hatte zugehört, bis sie eingeschlafen war. Immer wenn sie aufwachte und weinte, las er weiter. Er hätte etwas anderes probieren können, aber Wissenschaft war ihre gemeinsame Sprache, das Vokabular, das sie beide geliebt hatten, und der einzige Weg für ihn, etwas zu verstehen. Sie war eben nicht kalt. In der Litanei von Latein und Griechisch – Hormonschwankungen, niedrige Plasmaspiegel, Prozentsätze – steckte Wissenschaft, die klare Aussage, dass es nicht ihre Schuld war. Als sie einander kennenlernten, hatte Betheen für die Chemie gelebt. Sie konnten die Beschaffenheit von Kisspeptin zerpflücken, die Schönheit in der Struktur entdecken.

Anfangs hatte Sterilität gereicht, ihnen über die Fehlgeburten hinweggeholfen, bis sie Nedda bekamen. Dann war Michael gekommen und nach ihm die Mauer des Schweigens. Erst war es leichter gewesen, überhaupt nicht über ihn zu sprechen, später zu schwierig, das Thema anzuschneiden.

»Das verstehe ich«, sagte Betheen jetzt. »Ja. Unter diesen Umständen ist das sicher sinnvoll. Genau. Ich leiere die Telefonkette an. Nedda läuft meistens mit Denny Prater nach Hause. Wahrscheinlich ist es das Beste, wenn sie dabeibleiben, um eine Normalität aufrechtzuerhalten.«

Sie legte auf. Er griff nach ihr, seine Hand und ihre, und die Berührung brannte in seinen Knochen. Sie ließ sich von ihm anfassen. Mit dem Daumen strich sie über die raue Stelle an seinem Handgelenk.

»Sie schicken sie früher nach Hause?«

»Ja«, sagte sie. »Die Kinder haben alles gesehen. Momentan haben sie eine Schulversammlung. Wozu das gut sein soll, weiß ich nicht. Was sind schon ein paar Stunden mehr? Passiert ist passiert.«

»Ich lasse meinen Nachmittagskurs ausfallen.«

»Das ist wahrscheinlich eine gute Idee.«

Früher hatte er sich oft vorgestellt, dass die Linien ihrer Handflächen zusammen eine Schraffur ergaben, sich genau ineinanderfügten. Jetzt hielten sie einander zu sanft. Der große Zeiger seiner Uhr stotterte wie üblich, zuckte bei der Fünfundfünfzig rückwärts. Das Geräusch dehnte sich zwischen ihnen aus.

»Wann kommt sie?«

»Sie lassen sie in einer Stunde gehen.«

Eine Stunde war eine Ewigkeit.

»Hättest du Lust, mir beim Lehrplan für den Physik-Grundkurs zu helfen? Es wäre eine Ablenkung. Und ein frischer Blick täte ihm gut.«

Betheen strich sich den Rock glatt. »Ich muss mit der Telefonkette anfangen. Und danach den Kuchen an den Rotary Club liefern. Es mögen ja Raumfähren vom Himmel fallen, aber wehe, ein Rotarier muss ohne Zitronenkuchen auskommen. Gott bewahre!«

Wieder hatte er etwas Falsches gesagt. Er hätte ihr seine Hilfe anbieten sollen, aber er hatte schon genug Aspirin gekaut, um ein Pferd umzuhauen. Und die Rotarier sahen ihn immer an, als hätte er Lepra.

»Betheen?«

Doch sie telefonierte bereits wieder und sah dabei aus dem Fenster auf die Straße. An den Tagen, an denen sein Stundenplan es erlaubte, stand er an derselben Stelle und hielt Ausschau nach Nedda, die Vorhänge fast zugezogen, damit sie nichts bemerkte. Dann erschien sie als Punkt in der Ferne neben den Palmettopalmen, Denny im Schlepptau. Herabhängendes Moos erzeugte im Licht optische Täuschungen, und er gestattete sich die Vorstellung, dass sie nur erschienen war, weil er es sich gewünscht hatte. In gewisser Hinsicht waren Kinder genau das, Gedanken, die man durch den eigenen Willen ins Dasein gerufen hatte.

Er zog seine Uhr auf und malte sich aus, dass seine kluge Tochter, die nur er schön fand, auf das Haus zuging, aber nie ankam. Sich in Bruchteilen vorwärtsbewegte. Wie in Zenons Paradox von Achilles und der Schildkröte, immer näher rückend, aber nie ganz das Ziel erreichend.

Der Fernseher blinkte, und plötzlich erlosch das Bild. Betheen zuckte zusammen.

»Der Sender muss die Übertragung abgeschaltet haben«, sagte er. Ein vernehmliches Knacken drang durch den Wäscheschacht aus dem Keller, gefolgt von einem leicht verschmorten Geruch. Überspannung. Nicht unüblich bei Raketenstarts. »Wahrscheinlich ist eine Sicherung rausgeflogen. Ich seh mal nach.«

Er war schon auf halbem Weg zur Treppe, als sie sagte: »Bleibst du kurz hier? Nur so lange, bis ich den Kuchen eingepackt habe. Ich möchte nicht allein sein.« Sie wich seinem Blick aus, sprach die Hängeschränke an, während sie nach einer Schachtel griff. Das Sonnenlicht und die Vorhänge ließen sie gelb erscheinen, die gleiche Butterfarbe wie die Küche.

Er blieb.

»Entschuldige, dass ich das gesagt habe. Das mit der Sterilität. Das war unfair«, murmelte sie.

»Es stimmt ja. Du hast es nicht böse gemeint.«

»Manchmal weiß ich nicht, was ich meine.«