Das Wissen des schwarzen Obsidians - Barbara A. Ropertz - E-Book

Das Wissen des schwarzen Obsidians E-Book

Barbara A. Ropertz

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Beschreibung

Asgard, das Heim der Götter, ist dem Untergang geweiht, seine Zerstörung steht unmittelbar bevor. Um den gewaltigen Wissensschatz seiner Zeit vor der Vernichtung zu bewahren, sieht Göttervater Odin nur einen Ausweg: Er muss sein Wissen dem schwarzen Obsidian anvertrauen. Denn nur dieser Stein, die Seele eines sterbenden Vulkans, hat die Macht, es zu speichern. Doch der Obsidian zerbricht unter der enormen Wissenslast und die einzelnen Bruchstücke gehen verloren. Viele Jahre nach dem Untergang Asgards ist Odin noch immer auf der Suche nach den Splittern des Obsidians. Hinweise auf ihren Verbleib könnten ihm die Karten geben, die er vor der Zerstörung Asgards anfertigte, um die Bewegungen der Bruchstücke verfolgen zu können. Doch auch Odins Gegenspieler Loki weiß von der Kraft des Obsidians und setzt alles daran, die Karten in seinen Besitz zu bringen. Einige davon scheinen ihren Weg ins Kölner Stadtarchiv gefunden zu haben. Dort arbeitet Marie, eine junge Praktikantin, die gemeinsam mit ihrem Freund Jonas plötzlich zwischen die Fronten der Götter gerät …

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Seitenzahl: 333

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Barbara A. Ropertz

Das Wissen des SchwarzenObsidians

DrachenStern Verlag

Impressum

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der mechanischen, elektronischen oder fotografischen Vervielfältigung, der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, des Nachdrucks in Zeitschriften oder Zeitungen, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung oder Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen oder Video, auch einzelner Text- und Bildteile.

Alle Akteure des Romans sind fiktiv, Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig und sind von der Autorin nicht beabsichtigt.

Copyright © 2017 by Drachenstern-Verlag, ein Imprint von Bookspot Verlag GmbH

1. Auflage

Lektorat: Dorotheé Engel. Hamburger Buchkontor

Satz/Layout: Martina Stolzmann

E-Book: Mirjam Hecht

Covergestaltung: Nele Schütz Design, München

ISBN 978-3-95669-072-3

www.bookspot.de

Gesang der Norne – am Beginn der Zeit

Ich bin URD. Ich bin das Schicksal. Ich bin ewig!

Einst nannte man mich Norne, Schicksalsweberin, Runengelehrte, doch das ist lange her. Viele haben meinen Tod vorhergesagt, doch sie alle irrten. Viele haben meinen Tod bestätigt, doch ich lebe, denn ich bin das Geschick der Erde und werde leben, solange die Erde lebt.

Ich bin URD. Ich werde die Schicksalsfäden weben für Götter und Menschen, solange es sie gibt. Und bald werden sich die Dinge auf dem Erdball wieder ändern.

Sehr bald, denn so ist es seit Langem vorhergesagt und so zeigen es die ineinander verwobenen Schicksalsfäden in meiner Hand.

Prolog Gesang der Norne – zur Zeit der Asen

Vor langer Zeit, als die Asen die Erde gestalteten und die neun Welten erschufen, als Odin, der Rabengott, regierte, der von seinem Thron über alle Welten sah, erblickte ich in meiner Quelle, dass das Ende seiner Herrschaft nahe war.

Doch Odin war ein Weiser und ich fürchtete um die Weisheit, die er erworben und teuer erkauft hatte, denn er gab sein Auge dafür.

Ich sah, dass allein ein Feuerstein, die Seele eines sterbenden Vulkans, das Wissen und die Weisheit Odins in sich aufnehmen und für alle Zeiten bewahren konnte.

So riet ich Odin, sich die lebende Seele eines Vulkans zu beschaffen und sie auszubilden; einen schwarzen Obsidian.

Ich kenne und lenke die Schicksale der Götter und Menschen, doch ich habe nicht die Macht und das Wissen, das Schicksal eines schwarzen Obsidians zu lenken. Er untersteht nicht meinem Einfluss. Er hat seinen eigenen, ständig stärker werdenden Willen, dem er unbeirrbar folgt.

Das bedachte ich nicht, als ich Odin den Rat gab, sein Wissen an einen schwarzen Obsidian weiterzugeben und ihm dadurch Macht, Wissen und den unbedingten Willen, zu herrschen, zu übertragen.

So ist alles, was danach geschah, was der Obsidian in all den Jahren ausgelöst hat, meine Schuld. Ebenso das, was noch geschehen wird.

Doch noch immer bin ich URD und noch immer bin ich ein Teil meiner Quelle wie einst in Asgard, als alles begann. Und noch immer, selbst jetzt im 21. Jahrhundert, kann und werde ich lenkend in das Schicksal aller eingreifen.

Köln, 3. März 2009

Es war ein wunderschöner sonniger Tag Anfang März, als Marie, eine junge Studentin, mit widerspenstigen, blonden Locken und schalkhaft blitzenden blaugrünen Augen, zu ihrer Praktikumsstelle im Kölner Stadtarchiv in der Innenstadt schlenderte. Sie liebte diese Vorfrühlingstage, an denen man am liebsten in einem Straßencafe sitzen, Cappuccino genießen und das Gesicht in die Sonne halten würde. Marie war sehr froh, durch Vermittlung ihres Professors Dr. Woden, die Praktikumsstelle im Stadtarchiv der Stadt Köln erhalten zu haben. Die Arbeit fiel ihr leicht und machte Spaß. Sie sichtete und katalogisierte alte Karten. Die alten Flurnamen, die verschnörkelte altertümliche Schrift und die historischen Begriffe faszinierten sie.

Sie arbeiteten zu zweit: Jonas, ein schüchterner Geologiestudent mit wuscheligen braunen Haaren, der zu seinem Ärger leicht errötete und sich viel zu oft selbst im Weg stand, und Marie. Der Professor interessierte sich zu Maries Erstaunen so sehr für ihre Arbeit, dass sie es schon fast ein bisschen merkwürdig fand. Besonders die alten Karten des Rheinlands hatten es ihm angetan, sodass er sie eines Tages bat, nach einer bestimmten Karte zu suchen.

Marie fand die Karte nach einigem Suchen eher durch Zufall. Sie war sehr alt und stammte, laut einer handschriftlichen Notiz, aus Privatbesitz. Die genaue Herkunft war nicht verzeichnet. Es handelte sich auch nicht um eine einzelne Karte, sondern um mehrere, vielfach gefaltete, geknickte und an den Rändern eingerissene Teile. An einigen Stellen war sie angesengt. Marie war überrascht, noch immer den schwachen Brandgeruch wahrnehmen zu können und sie fühlte sich seltsam zu der alten Karte hingezogen. Immer wieder betrachtete sie den Verlauf des Rheins, wie er vor Hunderten von Jahren gewesen war.

Der Professor hatte sie wiederholt gebeten, Fotos und Kopien der Karten anzufertigen. Marie verstand den Sinn nicht so ganz und hatte auch kein wirklich gutes Gefühl dabei, doch sie kam seinem Wunsch nach und mailte ihm Fotos der Karten.

Eines Tages, Marie fotografierte die Landkarten gerade mit dem Handy, stand plötzlich Jonas neben ihr und sah sie erstaunt an. »Was machst du denn?«, fragte er laut. Marie fauchte ihn wütend an: »Sei still.« Jonas wurde rot und zog den Kopf ein. Marie tat es sofort leid, dass sie ihn so böse angefahren hatte.

Zögernd erzählte sie ihm am Nachmittag, nachdem sie das Archiv verlassen hatten, dass Professor Woden die Fotos haben wolle und sie sie ihm immer direkt auf sein Handy maile. Jonas nickte unsicher, errötete wieder leicht und fragte nicht weiter.

Als aber Dr. Woden Marie Ende Februar sichtlich verlegen bat, die Originalkarten gegen eine Kopie zu tauschen und ihm die Urschrift zu bringen, weigerte sie sich entschieden. Auch als er ihr wortreich erklärte, dass die Karten aus dem Nachlass seiner Familie stammten und praktisch sein Eigentum seien, war sie nicht bereit, die Karten auszutauschen. Geduldig erklärte ihr der Professor, dass vermutlich nie jemand den Austausch bemerken würde, da die Karten in Röhren und riesigen Schubladen aufbewahrt und nur höchst selten herausgenommen würden. Dennoch weigerte sich Marie entschieden, seinen Wunsch zu erfüllen. Der Professor mit dem weißen, kurz geschnittenen Haar und den etwas verwirrenden, ungleichen Augen schüttelte leicht genervt den Kopf, beließ es aber dabei.

An diesem Vorfrühlingstag jedoch stand Professor Woden unerkannt gegenüber vom Stadtarchiv und beobachtete aufmerksam das Haus, in dem Marie gerade ihrer Arbeit nachging. Er hatte eine starke Ahnung, dass er noch heute in den Besitz einer der Karten kommen würde, die er so dringend benötigte. Während der Professor ruhig da stand und wartete, wanderten seine Gedanken weit zurück in eine andere Zeit.

Er hörte, als wäre es gestern gewesen, den ernsten Sprechgesang, der vor vielen Jahren so dramatisch in sein Leben eingegriffen hatte. Es schien ihm, als höre er die leicht heisere Stimme der Norne URD, die ihre Schicksalsgesänge deklamiert – damals, am Beginn der Zeit.

»Ich bin URD. Ich bin das Schicksal. Ich war am Anfang und werde am Ende sein. Denn ich bin unsterblich. Und ewig bin ich untrennbar mit der Quelle verbunden, die meinen Namen trägt.Alle Geschicke der Götter und Menschen sind mir bekannt, denn ich webe die Schicksale aller.«

Odin lächelte. Er hatte den Worten der Norne damals zuerst nicht glauben wollen. Er hatte nichts davon hören wollen, dass seine schöne Welt, die er so liebte, bald untergehen würde.

Doch eines Tages, als Odin wieder bei der Schicksalsquelle und der Norne war, stieg eine unaufhaltsame Flut von Bildern in der kostbaren Achatschale auf, die wie die Quelle ein Teil von URD war. Diese Bilder zeigten Ereignisse, die bereits geschehen waren und solche, die noch geschehen würden. Damals ließ die Norne Odin, den weisen Rabengott und Göttervater, an dem, was sie sah, teilhaben, um ihn zu überzeugen. Odin sah mit den Augen der Norne.

Er sah die Asen größer und mächtiger werden, sah sich selbst zum weisen Allvater aufsteigen und sein Auge für die Weisheit opfern. Er sah sich altern, sah Walhall entstehen. Odin sah die Helden, die nach dem Tod auf dem Schlachtfeld durch die Walküren nach Walhall gebracht wurden. Odin sah Loki, den Schönen, den Listigen zu den Asen kommen. Er sah der Asen Schuld und Vergehen und sah die Asen unaufhaltsam ihrem Untergang entgegengehen. Er sah alle neun Welten mit dem Weltenbaum entstehen.

Einen Moment verschwanden die Bilder, die die Achatschale entstehen ließ. Odin verharrte wie benommen und auch URD schloss einen Moment erschöpft die Augen. Doch als sich URD müde geworden von der Quelle abwenden wollte, stiegen neue, beunruhigende Bilder auf. Ein Winter zog über die Welten herauf, wie noch keiner zuvor gewesen war. Eis überzog die Erde. Schneestürme peitschten über das Land. Klirrende Kälte ließ Land und Meer erstarren. Alles Leben kam zum Erliegen. Dunkelheit und nie endender Frost machten das Dasein zur Qual. Unaufhörlich heulten die Stürme und das Land versank unter Massen von Schnee. Entsetzt sahen Odin und URD, wie die eisigen Schneemassen die ganze Erde unter sich begruben.

Dann kam ein kurzer Frühling, der keiner war. Ohne dass es einen Sommer gegeben hätte, folgten die Herbststürme, die bereits Schnee und Eis brachten und erneut einen endlosen Winter mit klirrender Kälte und vernichtenden Stürmen. Auch nach diesem zweiten Winter kam nur ein kurzer, eiskalter Frühling, der wieder in einen stürmischen und kalten Herbst überging, auf den die ersten Winterstürme folgten. Dieser dritte Winter in Folge vernichtete beinahe alles Leben.

Als URD diese Schreckensbilder der Zukunft sah, fror sie wie nie zuvor und auch Odin zog fröstelnd seinen Mantel um sich. Zum dritten Mal kam ein zaghafter Frühling, der dann plötzlich und unvermittelt von glühender, unvorstellbarer Hitze abgelöst wurde. Schnee und Eis schmolzen in Rekordzeit. Brütende Hitze lag flirrend über der Erde und trocknete in kürzester Zeit die Böden aus. Überall flammten Brände auf und dichte Rauchwolken lagen über dem geschundenen Land. Wälder und Felder brannten und das Wasser der Seen und Flüsse verdampfte zischend. Kochend heiße Nebelwolken stiegen hoch in die Luft. Immer mehr Brände loderten auf. Riesige Stichflammen schossen in den Himmel.

Die Welt, die Odin und URD kannten, brannte lichterloh. Odin war bedrückt und entsetzt über das, was URD kommen sah. Doch er war unfähig, sich zu bewegen und musste das Unglück hilflos mit ansehen, denn es war so beschlossen.

Unvorstellbares Chaos brach aus. Die bebende Erde brachte riesige Felsen und ganze Gebirge zum Einsturz und entwurzelte auch die ältesten und weisesten Bäume. Dann verdunkelte sich nach und nach die Sonne. Sie wurde schwächer und kälter. Zuletzt glomm nur noch ein schwaches, nebelhaftes Flämmchen am Himmel.

Dann erlosch die Sonne endgültig und tiefe Dunkelheit legte sich über die Welt, die unterging, wie es vorhergesagt worden war. Odin war erschüttert und auch URD war vom Ausmaß des Untergangs, den sie zwar erahnt, aber jetzt auch gesehen hatte, tief betroffen.

Doch es war nicht das Ende von allem. Hoffnung keimte auf. Es gab einen zaghaften Neuanfang. Eine neue Welt entstand und URD und Odin sahen Menschen, die die Welt bevölkerten und sich vermehrten. Es war eine Welt der Menschen geworden.

Das blieb so für lange Zeit. Mehr und mehr Länder wurden von den menschlichen Geschöpfen in Besitz genommen. Odins Welt und die der Asen war Vergangenheit. Doch dann begannen die Menschen, diese neue Welt ihrem Willen zu unterwerfen, sie zu vergiften und zu vernichten. Kriege flammten auf und die Nahrung wurde knapp.

Fassungslos sahen Odin und URD, wie die Menschen die Welt veränderten und auf dem besten Weg waren, sie zu zerstören. Sie sahen Odin als Büßer, als Wanderer einsam durch die Wälder streifen und sahen das Leid der Menschen und ihren Niedergang. Und am Ende ihrer Unvernunft und Arroganz stand der Tod.

Alles Wissen, alles Können, alle Weisheit der Asen sahen sie für immer und unwiederbringlich aus der Welt verschwinden. Es herrschte eine tiefe, undurchdringliche Finsternis, aus der sich nie wieder Leben entwickeln konnte, wenn das alte Wissen nicht bewahrt wurde.

Wieder änderten sich die Bilder und sie sahen ein Feuer, tief in einem Vulkan. Heilsames Feuer, das unendliches Wissen in sich aufnehmen konnte. Feuer, das alle Erfahrungen, alle Künste, alle Weisheit tief in seinem Inneren bewahren und wieder zugänglich machen konnte. Es war das Feuer der Vulkanberge, das die Rettung bringen und Odin in einer fernen Zeit zu neuer Macht verhelfen konnte.

Odin seufzte. So hatten sie damals die Zukunft in der Achatschale der Quelle gesehen und endlich, nach all den Schreckensbildern, war er bereit gewesen, daran zu glauben und dem Rat der Norne, einen schwarzen Obsidian zu suchen, ihn auszubilden, ihm all sein Wissen, seine Weisheit und seine Macht für eine spätere Zeit zu übertragen, zu folgen.

Darum stand er heute, am 3. März 2009, hier in Köln vor dem Stadtarchiv. Er hoffte, dass er endlich die vor langer Zeit durch ihn erschaffenen Karten erhalten würde, die es ihm ermöglichten, mit Hilfe des Obsidians, den er vor dem Untergang Asgards ausgebildet hatte, eine neue Ordnung zu schaffen. Und zwar bevor die Welt ein weiteres Mal unterging und die dunklen Geschöpfe, die noch immer existierten, die endgültige Herrschaft übernahmen.

Zur gleichen Zeit, kurz vor Mittag, als Odin vor dem Stadtarchiv wartete und Marie wieder einmal ihre Lieblingskarte entrollte, als URD an einer Quelle saß und gespannt in ihre Achatschale sah, wurde mit Hochdruck an der Baustelle der U-Bahn-Station »Am Waidmarkt« gearbeitet.

Die Menschen hasteten durch die Innenstadt und gingen ihren Geschäften nach. Während Marie im Stadtarchiv in der Severinstraße eine Schublade öffnete, um einen Schwung Karten herauszunehmen, befand sich tief unter der Stadt eine Gruppe von Arbeitern, von denen bis dahin kaum jemand etwas ahnte.

Schon seit Monaten näherten sie sich mit großer Zähigkeit und unter größter Geheimhaltung unterirdisch ihrem Ziel. An diesem 3. März hatten sie es nach kolossalen Mühen und vielen Rückschlägen fast erreicht. Heute würden sie endlich das Haus, unbemerkt von den Bewohnern, betreten können.

Nur selten auf ihrem langen, mühevollen Weg durch den Untergrund von Köln waren sie für kurze Momente von Menschen gesehen worden. Einmal hörte eine Wirtin, die aus dem Keller ihres historischen Gasthauses eine Flasche Wein holte, ein Rumoren und Rumpeln. Als sie erschrocken aufsah, stand plötzlich ein kleinwüchsiger alter Mann mit langem Bart vor ihr, der sie einen Moment wütend anstarrte. Er verschwand wie von Geisterhand, als die alte Frau entsetzt aufschrie. Die Wirtin ließ die Weinflasche fallen, die auf dem harten Boden zerbrach. Auch einige Bauarbeiter der Stadtwerke hatten gelegentlich »Kleine« gesehen, die sich für die Baugrube der U-Bahn interessierten und dann blitzschnell wieder verschwanden. Doch heute, am 3. März 2009, um exakt 13:30 Uhr, waren »die Kleinen« endlich am Ziel. Sie gruben eifrig und leise die letzten Meter zum Keller des Kölner Stadtarchivs.

Eine Gruppe von neun langbärtigen Zwergen betrat durch den niedrigen Tunnel, den sie seit vielen Wochen angelegt hatten, lautlos und dennoch aufgeregt das Gebäude und alle streiften rasch ihre Nebelkappen über. Seit Monaten waren sie im Untergrund Kölns unterwegs gewesen. Dazu nutzten sie die alten Heinzelwege, die seit dem Fortgang der Heinzelmännchen nicht mehr betreten worden waren. Teilweise waren sie eingestürzt und die Zwerge mussten neue Tunnel graben oder den Schutt, der in den kleinen Gängen lag, mühsam in die Baugruben der Menschen schaffen, um den Weg frei zu machen. Doch jetzt waren die Zwerge fast am Ziel. Mit einer letzten großen Anstrengung gelang endlich der Durchbruch in die gesicherten Keller des Stadtarchivs.

Die Zwerge atmeten erleichtert auf und begannen zielstrebig mit der Suche nach dem, was sie für ihren Herrn holen sollten und wofür sie die ganzen Anstrengungen unternommen hatten. Es war 13:56 Uhr als sie endlich auf einer zusammengerollten alten Landkarte die Schrift entdeckten, die sie sich vor Wochen eingeprägt hatten und die sie nun erleichtert erkannten.

Vorsichtig wühlten sie, getarnt durch ihre Nebelkappen, weiter in den Kartenrollen. Sie waren so in ihre Suche vertieft, dass sie das Rumoren und Knirschen in dem alten Haus nicht bemerkten. Äußerst ungewöhnlich für Zwerge, die einen siebten Sinn für alle Vorgänge in der Erde haben.

Um 13:58 Uhr begann die gesamte Vorderseite des historischen Gebäudes zu bröckeln. Riesige Steinbrocken lösten sich aus der Fassade und stürzten auf die Straße. Ein Beben und Grollen durchzog das Gebäude. Dann stürzte mit einem gewaltigen Krachen, Poltern und Splittern das ganze Bauwerk in sich zusammen und verschwand mit Donnergetöse im Krater einer Baugrube.

Köln stand unter Schock. Wieselflink ergriffen die entsetzten und überrumpelten Zwerge alles, was sie auf die Schnelle erhaschen konnten. Darunter Schriftstücke, die für ihren Auftraggeber, aber auch für Odin von höchstem Wert waren. Unter ihren Nebelkappen verborgen, flüchteten sie hastig zurück in die unterirdischen Gänge. In gewaltigen Eilmärschen bewegte sich ein Teil der Gruppe zurück zu ihrem Herrn. Nur die berüchtigten schwarzen Eisenzwerge blieben zurück, um den hastigen Abzug zu sichern und sich mit etwas Glück vielleicht doch noch die restlichen Karten zu holen.

Marie hatte, als das Beben und Krachen einsetzte, gerade mit ihrer Arbeit begonnen und stand konzentriert über eine alte, brüchige Karte gebeugt, als sie von der Straße her die erschütterten Schreie hörte.

»Raus hier! Alle sofort raus!«

Sie sah verwirrt hoch, spürte das Beben, griff automatisch nach ihrer Tasche und den Karten, die dem Professor so wichtig waren.

»Raus!«, rief sie Jonas zu, der sich verwirrt umsah.

Dann rannte sie keuchend um ihr Leben. Jonas stutzte einen Moment, dann hastete er stolpernd hinterher. Marie hetzte wie von Sinnen die alten Treppen hinab, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, während große Risse kreuz und quer über die Wände liefen und das Haus bereits bedenklich schwankte. Als von oben ein lautes Krachen ertönte, rannte Marie gerade hustend auf die Straße hinaus und so schnell wie möglich weg von dem einstürzenden Haus. Jonas war dicht hinter ihr. Niemand achtete auf die beiden. Marie hielt noch immer die Karten fest in den Händen. Rasch verbarg sie die Karten unter ihrer Jacke und schlang beide Arme um sich.

So stand sie da und musste fassungslos zusehen, wie das Haus, in dem sie gerade noch gearbeitet hatten, laut krachend in sich zusammenstürzte. Jonas presste entsetzt beide Hände vor den Mund und starrte ungläubig auf ihren ehemaligen Arbeitsplatz, an dem sie noch vor wenigen Minuten unersetzbare alte Dokumente sortiert hatten. Tonnen von Schutt und Mauerresten begruben nun all diese Schätze, die über Jahrhunderte so sorgfältig aufbewahrt worden waren, das einzigartige Gedächtnis der 2000 Jahre alten Stadt Köln.

»Komm!«, schrie Marie hustend.

Eine ungeheure Staubwolke stieg von den Trümmern auf und hüllte alles ein. Ein entsetzliches Chaos brach aus. Autos hupten, Menschen schrien, Sirenen heulten.

»Los, weg hier!«, kommandierte Marie energisch. Sie packte Jonas an der Hand und zerrte ihn in die nächste Seitenstraße, da an der Unglücksstelle auf der Severinstraße ein unvorstellbares Durcheinander herrschte. Sie hasteten die Straße entlang und Marie stopfte im Rennen die kostbaren Karten hektisch in ihre Tasche.

Plötzlich prallte sie, da sie sich im Laufen nach Jonas umgesehen hatte, gegen einen hochgewachsenen Mann. Sie wollte sich schon entschuldigen und weiterrennen, als sie erschrocken erkannte, dass es der Professor war, den sie angerempelt hatte.

»Was, was machen Sie denn hier?«, stammelte Marie fassungslos.

Prof. Woden hatte sie hier nicht erwartet. Der Professor starrte sie durchdringend an, dann zischte er: »Los, hier lang«, und schob die beiden überraschten Studenten energisch in die nächste Straße Richtung Waidmarkt.

Marie war zu verblüfft, um Fragen zu stellen. Beide liefen hinter dem Professor her, der erstaunlich schnell und mit riesigen Schritten die Straße entlanghastete.

Marie rannte Dr. Woden, der plötzlich wie angenagelt stehen blieb, fast um und Jonas rempelte Marie an. Vor ihnen, an einem Fußgängerüberweg, stand ein kleiner schwarzer Mann und auf der anderen Straßenseite, direkt neben einem Fastfood-Restaurant, noch einer. Weiter rechts, an einem großen Blumenladen, sah Marie noch einen kleinen bärtigen Zwerg. Er starrte sie böse an und bewegte murmelnd die Lippen. Marie fiel auf, dass der lange, graue Bart des dunklen Wesens beim Sprechen auf und ab wogte.

Der Professor stand immer noch reglos da und sah zu dem Kleinen hinüber, der wie gebannt auf eine digitale Werbeanzeige am Eingang eines Hotels starrte, auf der Bilder der Zimmer und des Restaurants zu sehen waren.

Plötzlich waren der Professor, Marie und Jonas riesengroß auf dem Bildschirm zu sehen. Jonas keuchte, Marie stieß einen leisen Schrei aus. Der Professor hob die linke Hand, streckte sie aus und senkte sie. Ein Lichtstrahl zuckte und die Werbetafel sowie die Fensterscheibe des Hoteleingangs platzten mit einem lauten Knall. Erneut hob der Professor die Hand und zeigte nacheinander auf die Glasfronten mehrerer umliegender Restaurants und Imbissbuden. Sobald die Lichtblitze aus der Hand des Professors aufstiegen, zerplatzten die Scheiben. Verblüfft starrten die schwarzen Zwerge auf die zersplitternden Glasflächen.

Dann hoben auch sie plötzlich die winzigen Hände und sandten schwarze Lichtpfeile aus. Der Professor brüllte: »Runter!« und warf Marie mit einer raschen Bewegung zu Boden. Jonas wurde von einem der schwarzen Lichtpfeile zischend am Ohr getroffen. Er heulte laut auf und ein Blutstrahl schoss aus seinem Ohr.

Prof. Woden hob wieder die Hand und unter seinen blauen Lichtblitzen platzten in rascher Folge die Lampen sämtlicher Ampeln. Die Menschen schrien und blieben stehen, andere rannten los, rempelten sich gegenseitig an oder stießen sich in Panik zu Boden, im Bemühen, zu entkommen.

Autos hupten, manche bremsten, andere fuhren los, da es kein Signal mehr gab. Auffahrunfälle häuften sich und eine alte Dame mit Rollator wurde von einem PKW erfasst. Ein derartiges Chaos, eine solche Verzweiflung und Hysterie hatte Marie noch nie erlebt. Der Professor packte sie an der Hand, zog sie grob hoch und lotste sie geschickt durch das Durcheinander. Anscheinend gelang es ihm trotz des Wirrwarrs, sich mühelos zu orientieren. Jonas folgte den beiden stolpernd und versuchte die Blutung aus seinem Ohr zu stoppen. Beim Waidmarkt änderten sie die Richtung und rannten an den Schaufenstern der Geschäftsstraße vorbei in Richtung Heumarkt. Plötzlich sahen sie wieder einen Zwerg, der in ein Schaufenster starrte. Als Marie genauer hinsah, waren Jonas und sie, wie in einem Film, in der Scheibe zu sehen. Sie hasteten hinter dem Professor her und Jonas bemühte sich verbissen, nicht den Anschluss zu verlieren. Wenige Sekunden später streckte der Professor wieder seine Hand aus und die Scheibe zerplatzte in tausend Scherben. Ein Regen von feinen, glitzernden Glassplittern ergoss sich auf die Straße und über den Zwerg, der sie angestarrt hatte.

Im selben Moment, sie wollten gerade weiterrennen, griff eine eiserne, winzige, schwarze Hand aus einem Gully nach Maries Bein und zog sie brutal zu Boden. Weitere winzige, schwarze Hände griffen nach ihr; der Gullydeckel wurde hochgehoben und Marie mitten auf der Straße von einer Vielzahl kleiner eisenharter Hände in den Gully gezogen. Marie schrie in heller Panik. Der Professor, der weitergerannt war, blieb plötzlich stehen. Entsetzt musste er mit ansehen, wie Marie langsam im Gully verschwand. Odin rannte fluchend zurück und streckte die Hände aus. Ein zuckender Blitz traf einen der Zwerge, der noch am Rand des Gullys stand, in dem Marie jetzt fast verschwunden war. Mit aller Kraft packte Odin ihre Hände und zog. Marie zappelte und versuchte, sich von den stahlharten kleinen Händen, die ihre Beine umklammerten, zu befreien. Eine Art Lichtdusche ging von Odins Händen über die Zwerge hinweg; sie knurrten unwillig, ließen aber, durch das Licht gezwungen, Maries Beine los.

Odin gelang es, Marie wieder auf die Straße zu ziehen und sie hasteten stolpernd weiter, während sämtliche Gullydeckel aus dem Boden flogen und laut scheppernd über die Straße rollten.

Die meisten Autofahrer blieben hupend stehen, wodurch das Chaos noch dramatischer wurde. Menschen kreischten und flohen schreiend die Straße entlang. Die Ampelanlage über einer Kreuzung zerplatzte, die Glassplitter regneten klirrend auf die wartenden Autos.

Marie konnte es nicht fassen, sie tauchten in rascher Folge in Schaufenstern und Restaurantfenstern auf: Sie wurden beobachtet. Wenn der Professor die Hand ausstreckte, klirrte es und ein Splitterregen ergoss sich über die Zwerge und die in Panik fliehenden Passanten. »Wir müssen weg von der Straße und den Scheiben«, keuchte der Professor und zog Marie nach rechts in die Bolzengasse, in der es keine großen Fenster und offensichtlich auch keine Zwerge gab. Jonas kam hinterher gestolpert und hielt sich das blutende Ohr und die Seite. Völlig außer Atem blieben alle drei einen Moment stehen und lauschten angestrengt. Alles war still.

»Professor«, begann Marie.

»Pst, still, nicht jetzt«, flüsterte der Professor und drückte Maries Arm.

»Wir müssen schleunigst weg hier«, sagte er und sah sich hektisch nach allen Seiten um. Sie rannten in Richtung »Unter Käster« weiter. »Schneller«, keuchte Dr. Woden und zog Marie, die gestolpert war, grob mit sich. Er hastete die Gasse entlang, wobei er sich immer wieder umsah.

Unmittelbar vor ihnen kamen von rechts aus der Salzgasse sechs langbärtige und drohend blickende, schwarze Zwerge marschiert, die sich suchend umsahen. Der Professor zerrte Marie rasch in das Seidmacherinnengässchen, dann über den Alten Markt in die Hühnergasse. In einem Hauseingang blieben sie keuchend stehen, lauschten und liefen in das schmale Kastellsgässchen, in dem man die Häuserwände fast mit ausgestreckten Händen berühren konnte.

Dort sah sich der Professor vorsichtig um und blieb dann unvermittelt vor einem ziemlich alten Haus stehen. Nachdem er sich noch einmal hastig umgesehen hatte, berührte er neben der schiefen Haustür des schmalen Hauses das alte Mauerwerk. Er strich mehrmals fast zärtlich darüber und plötzlich versanken seine Finger komplett in der alten Wand; die Steine schoben sich lautlos einen schmalen Spalt breit zur Seite. Genau in diesem Moment hörten sie die Zwerge, die um die Ecke in das Gässchen einbogen. »Rasch«, flüsterte der Professor und schob Marie und Jonas energisch durch den schmalen Spalt in der Mauer. Er folgte ihnen und die Mauerspalte schloss sich geräuschlos wieder. Sie standen in völliger Dunkelheit. Nur ihre tiefen Atemzüge waren zu hören.

Im Haus roch es nach einer verwirrenden Vielfalt von Kräutern, altem Holz und Staub, dazu nach Vanille und Räucherwerk. Und da war noch etwas, das Marie nicht zuordnen konnte. »Alant«, murmelte Dr. Woden und lächelte. »Odinskraut«, bemerkte er dann grinsend. Bis hierher, bis in dieses Haus hinein, war Marie nur gerannt, ohne nachzudenken. Zuerst, um dem einstürzenden Haus zu entkommen und dann getrieben vom Professor und den sie jagenden schwarzen Zwergen. Doch hier, in dem stillen dunklen Haus, wurde ihr die absurde Situation, in der sie sich befand, bewusst.

»Sch …«, machte der Professor und lauschte.

Sie standen an die kühle Wand des Hauseingangs gedrückt, direkt neben einer etwas schiefen Holztreppe, die steil nach oben ins Dunkel führte. Nach einer Zeit der Stille hörten sie oben an der Treppe ein leises tok, tok, tok. Es waren vorsichtige, unsichere Schritte, die nun langsam die Treppe herunterkamen.

Marie bekam Gänsehaut. Die feinen Härchen auf ihren Armen stellten sich auf und sie fröstelte. Tok, tok, tok. Es zischte kurz. Direkt neben Marie, die ängstlich noch einen winzigen Schritt zurückwich, denn mit dem Zischen hatte der Professor eine Flamme in seiner Hand entzündet; keine Kerze, sondern eine Flamme, die rötlich flackernd aufloderte und die Treppe notdürftig beleuchtete.

Marie hätte beinahe geschrien vor Schreck. Eine kleine, etwas gebückte alte Frau kam langsam die Treppe hinunter. Sie ging am Stock, unsicher und langsam. Marie schluckte schwer und ihr war unbehaglich zumute. Jonas stand stumm und bleich an die Wand gedrückt und starrte die kleine Frau ängstlich an. Doch über das Gesicht der alten Frau breitete sich ein so strahlendes Lächeln aus, dass es sie jung und schön erscheinen ließ.

»Endlich bist du wieder hier«, raunte sie heiser und verneigte sich tief vor dem Professor, bevor er es verhindern konnte. »Mein Retter«, flüsterte sie mit brüchiger Stimme. »Du kommst selten.«

»Unsinn«, brummte der Professor.

Dann erblickte die Frau Marie und Jonas im Schatten der Treppe und sagte leise: »Das ist kein normaler Besuch.«

»Nein«, flüsterte der Professor. »Wir müssen Köln verlassen, sofort. Kannst du etwas tun?«

»Sind sie hinter dir her, die Kleinen?«, fragte die Frau.

»Katharina«, begann der Professor eilig, »das ist doch …«

»Ich habe sie gehört, seit vielen Nächten«, murmelte die Frau bestimmt. »Sie haben sich unter Köln bewegt, auf den alten Heinzelwegen.«

»Oh, das war es also«, bemerkte Odin.

»Du warst nicht oft hier, seit du mir vor fast 400 Jahren das Leben gerettet hast«, stellte die alte Frau kühl fest und sah den Professor etwas vorwurfsvoll an.

Marie zuckte zusammen und holte tief Luft, sagte aber nichts. Sie lächelte nervös und schüttelte leicht den Kopf, als Jonas den Mund öffnete und etwas sagen wollte. Die alte Frau ist verwirrt. Das ist die einzige Erklärung, dachte Marie nervös. Aber was machen wir hier? Sie fühlte sich unbehaglich und wollte einfach nur nach Hause.

»Ich werde, glaube ich, mal gehen«, sagte sie leise und entschlossen, »und Jonas kommt bestimmt mit.«

Jonas nickte bestätigend. Er hatte kein Wort mehr gesagt, seit das Stadtarchiv eingestürzt war. Er war einfach immer Marie und dem Professor gefolgt.

Doch jetzt, da sie zur Ruhe kamen, wurde auch ihm das Verrückte der Situation bewusst. Die Flucht durch die Gassen und Straßen von Köln; die Schaufenster, die immer Marie, den Professor und ihn gezeigt hatten, wie sie durch die Straßen hasteten; die wie in einem Film ihre Flucht gezeigt hatten und dann klirrend zersprungen waren. All die Ampeln und Fensterscheiben, die zerplatzt waren, wenn der Professor darauf gezeigt hatte. Diese kleinen Leute, die Zwerge, die sie immer wieder gesehen hatten und die sie offensichtlich verfolgt hatten. Und nun diese alte Frau, Katharina, die behauptete, dass der Professor ihr vor fast 400 Jahren das Leben gerettet habe. Jonas stöhnte leise und rieb sich den Kopf. Es war einfach alles zu viel.

»Nichts dergleichen wirst du tun«, befahl Dr. Woden Marie mit dunkler Stimme.

Er schien bei seinen Worten zu wachsen und den kleinen Flur auszufüllen. Marie wollte erschrocken zurückweichen, stand aber bereits mit dem Rücken an der Wand. Ihr war nie aufgefallen, wie groß, kräftig und breitschultrig der Professor war. Er hielt immer noch die Flamme in seinen Händen, mit der er den dunklen Flur beleuchtete.

»Wenn ihr beide diesen Tag überleben wollt, dann habt ihr keine andere Wahl, als mir zu folgen«, erklärte er fest.

Seine Stimme war kräftiger und gebieterisch geworden.

»Odin«, mahnte die alte Frau leise, mit einem winzigen Lächeln in der Stimme, »mach den beiden keine Angst«

»Odin?«, flüsterte Marie. »Was hat das alles zu bedeuten? Wer seid ihr?«, fragte sie und sah von der kleinen Katharina zu dem hochgewachsenen, weißhaarigen Professor.

Odin schwieg und starrte wütend vor sich hin. Die Flamme in seiner Hand schoss hoch auf und erlosch dann mit einem schrecklichen Fauchen, das an ein wütendes Tier erinnerte.

Jetzt war es war vollkommen dunkel und plötzlich eiskalt im Flur. Katharina seufzte müde.

»Kommt«, murmelte sie und öffnete eine schmale Tür, die in ein winziges Zimmer mit krummen und schiefen Wänden führte. Aus dem Zimmer sickerte zögernd Licht in den Flur und die Temperatur normalisierte sich wieder.

Dr. Woden, Odin, trat gebückt in das kleine Zimmer und erklärte ungeduldig: »Katharina, wir haben keine Zeit. Die beiden hier haben die Karten und die Zwerge waren dabei, als sie die Karten mitgenommen haben. Sie sind im Visier der Zwerge. Was das bedeutet, brauche ich dir nicht zu erklären. Die beiden sind in Lebensgefahr und ich werde nicht zulassen, dass die Zwerge sich auch noch diese Karten holen.«

Katharina nickte zustimmend. Dann warnte sie Marie sehr ernst: »Es stimmt, ihr habt die Karten, ihr habt sie gelesen und mehrfach Fotos gemacht. Ihr könnt nicht einfach nach Hause gehen. Es wird ohnehin schwer sein, euch ungesehen aus Köln herauszubringen. Die Zwerge haben Nebelkappen, sie können praktisch überall sein.«

Marie stöhnte. »Zwerge? Was für Zwerge sind das?«, fragte sie aufmüpfig.

»Die Zwerge, die uns auf unserem Weg hierher verfolgt haben, die unsere Flucht auf Fenstern und Schaufenstern gescannt haben, um sie weithin sichtbar zu machen. Die Zwerge, die über unterirdische Gänge in das Stadtarchiv eingedrungen sind und möglicherweise seinen Einsturz mit verursacht haben. Diese Zwerge sind das«, fauchte der Professor aufgebracht.

Marie schüttelte wieder unwillig den Kopf.

»Wer sind Sie?«, fragte sie und sah den Mann an, den sie bisher als Prof. Dr. Woden gekannt hatte. »Wer sind Sie wirklich und was haben Sie mit den Zwergen zu tun? Und was hat das alles mit uns zu tun, mit Jonas und mir?«, fuhr sie den Professor mit immer lauter werdender Stimme an.

Einen Moment war es still. Dr. Woden sah mit wütend zusammengezogenen Brauen auf Marie hinunter und holte tief Atem.

Da griff Katharina seufzend ein. Sie legte dem Professor beschwichtigend die winzige, runzlige Hand auf den Arm und sah Marie an. »Er ist Odin«, erklärte sie und hob abwehrend die Hand, als Marie etwas sagen wollte. »Hört mir zu«, befahl sie energisch und Marie und Jonas gehorchten. Die kleine alte Frau hatte etwas Bezwingendes.

»Es stimmt«, stellte Katharina fest, »das ist Odin, er hat mir vor fast 400 Jahren das Leben gerettet, als die Kölner mich als Hexe verbrennen wollten. Er hat mich in dieses Haus gebracht und dafür gesorgt, dass ich hier unbehelligt leben kann. Er lebt zurückgezogen als Prof. Dr. Woden im Odenwald, doch nun haben sich die Dinge geändert und er muss rasch handeln.«

Odin hatte sich etwas beruhigt.

»Ich wollte euch da nicht mit hineinziehen«, versicherte er ernst, »aber nun ist es so und wir müssen so schnell wie möglich sehen, wie wir aus Köln herauskommen. Ich werde dir das alles erklären, aber nicht jetzt«, beteuerte er, an Marie gewandt.

Marie nickte etwas hilflos.

»Ihr müsst so schnell wie möglich zum Rhein hinunter. Die alten Flusswege führen aus der Stadt hinaus und Zwerge hassen Wasser«, sagte Katharina.

Odin nickte, dann raunte er Katharina leise etwas zu; in einer Sprache, die Marie und Jonas noch nie gehört hatten. Katharina antwortete in derselben, scheinbar alten Sprache.

Marie hatte immer stärker das Gefühl, die Kontrolle zu verlieren, in einen Albtraum geraten zu sein oder zu träumen und gleich aufzuwachen. Doch als Katharina mühsam eine knarrende Tür öffnete, die Marie und Jonas vorher nicht bemerkt hatten, und langsam und vorsichtig Stufe für Stufe hinunterstieg, sahen sich die beiden an und folgten der Alten zögernd.

Sie konnten nicht sehen, wohin die Treppe führte, es war stockdunkel. Die alte Frau schien aber ganz genau zu wissen, wohin die schmale Steintreppe mit den ungleichen Stufen sie bringen würde. Direkt hinter ihr ging Jonas, der oben einen Moment gezögert und sich erst nach einem energischen Schubs von Marie auf den Weg gemacht hatte. Dann kam Marie und als letzter Odin, der wieder eine Flamme in der Hand hielt. Marie schauderte.

Die Stufen waren feucht und glitschig. Es gab kein Geländer und Marie wunderte sich, wie Katharina es schaffte, mit ihrem Stock in der Dunkelheit hinunterzusteigen. Jonas versuchte, die Stufen zu zählen, doch er fühlte sich so unbehaglich, dass er sich immer wieder verzählte und bei 53 endgültig aufgab. Fast hätte er Katharina, die unvermittelt stehen geblieben war, umgeworfen. Sie hatten das Ende der Treppe erreicht.

Mittlerweile mussten sie tief unter dem alten Haus sein. Odin bedeutete Marie und Jonas, zu schweigen und löschte die Flamme in seiner Hand. Marie begann nervös zu zittern. Endlich flüsterte Katharina:

»Alles ruhig; ihr könnt raus.«

Odin zündete wieder ein winziges Flämmchen in seiner Hand an und öffnete die Wand, wie er es schon oben an der Straße getan hatte. Er schob die Mauer ein Stück zur Seite, so dass ein schmaler Spalt entstand. Dann umarmte er Katharina und schlüpfte als erster durch die Öffnung. Marie und Jonas nickten der alten Frau zu und schoben sich ebenfalls durch den Mauerspalt, den Odin sofort wieder schloss.

Inzwischen war es fast dunkel und es hatte sich bewölkt. Feiner Nebel hing in der Luft. Sie standen in einer schmalen Gasse, die mit unebenen Klinkersteinen gepflastert war. »Und nun?«, flüsterte Marie zähneklappernd.

»Das wirst du gleich sehen«, erklärte Odin knapp und ging die abschüssige Gasse hinunter, wobei er sich immer wieder vorsichtig umsah.

Plötzlich hörte Marie ein leises Gluckern. Sie mussten irgendwo am Wasser sein. »Sagen Sie mir jetzt bitte, wo wir hingehen, Professor«, sagte Marie und versuchte, energisch zu klingen.

»Nenn mich nicht Professor, das passt nicht mehr«, fauchte Dr. Woden.

»Wie dann?«, blaffte Marie bissig zurück.

»Odin und sag du zu mir wie alle«, antwortete er knapp.

»Pst«, warnte Odin und blieb stehen, dann rief er leise etwas, das wie »Hol über!« klang.

Marie bekam Gänsehaut. Sie unterdrückte ein nervöses Kichern. Es war 2009, das 21. Jahrhundert; sie waren in Köln, einer modernen Großstadt. Hier gab es keine Fährmänner mehr.

Doch gleich darauf hörten sie klatschende und gluckernde Geräusche und ein großer, dunkler Kahn legte an den glitschigen Stufen an, die ins Wasser führten.

»Ich kann da nicht drauf«, sagte Jonas, der bisher geschwiegen hatte, leise, aber sehr energisch. »Mir wird auf Booten schlecht.«

»Unsinn«, widersprach Odin nervös und wesentlich harscher als er beabsichtigt hatte. »Du kannst nicht zurückbleiben. Du hast keine Ahnung, was du da verlangst.«

Er holte tief Luft und schob Marie ruhig und bestimmt die rutschigen Stufen hinunter. Sie ließ es widerwillig zu und stieg mit einem mulmigen Gefühl ins Boot.

Odin legte Jonas seine schwere Hand auf die Schulter. Der zuckte erschrocken zusammen, doch zu seinem Erstaunen ging eine wohlige Wärme von der Hand aus. Ohne zu widersprechen, stieg er in den Kahn. Jonas sah Odin fragend an, doch der verzog keine Miene.

Marie sah sich unbehaglich um. Am Heck des Bootes stand eine gebückte, dunkle Gestalt in einem weiten Umhang mit Kapuze und hielt einen langen, schweren Riemen in der Hand.

»Nein«, flüsterte sie ängstlich. Doch es war zu spät. Das Boot hatte bereits mit einem saugenden Gluckern abgelegt. Um sie herum plätscherte und rauschte es. Der Nebel über dem Fluss wurde dichter, das Wasser war kaum noch zu sehen. Sie fuhren wie durch ein Nebelmeer und Marie hatte das Gefühl, in einen Gruselfilm geraten zu sein, den sie weder stoppen noch abschalten konnte.

Zögernd setzte sie sich auf eine der Holzbänke, zog fröstelnd ihre Jacke eng um sich und starrte missmutig auf die Nebelschwaden. Schweigend fuhren sie über das dunkle Wasser und Jonas krallte sich unauffällig, wie er hoffte, mit beiden Händen an der Sitzbank fest. Er hatte nur den einen Wunsch: dass die Fahrt bald enden möge.

Als sie die Mitte des Flusses erreicht hatten, änderte der Fährmann die Richtung und sie fuhren flussaufwärts. Odin, der inzwischen einen dunklen Umhang trug, den ihm die alte Katharina in die Hand gedrückt hatte, und in dem er noch größer und kräftiger aussah, schwieg und sah sich nach allen Seiten um.

Plötzlich hörten sie neben dem Gluckern des Wassers rasch näher kommende, schwere Flügelschläge. Ein riesiger Vogel mit großen Flügeln schwebte einige Zeit drohend über ihnen.

Marie duckte sich ängstlich. »Was ist das?«, flüsterte sie.

»Höchstwahrscheinlich ein Bote oder ein Nachtspion«, brummte Odin fast lautlos und legte warnend den Finger an die Lippen.

Das Wesen stieß unvermittelt einen schrillen, lang gezogenen Schrei aus, der in einem jammernden Klageton endete. Dann verschwand es so unvermittelt und lautlos wie es gekommen war.

»Schneller«, drängte Odin beunruhigt und der Fährmann brummte etwas Unverständliches in seinen Bart.

Marie sah sich besorgt um. Der Rhein schien hier viel schmaler zu sein. Das war selbst in der Dunkelheit zu erkennen.

Er ähnelte dem Rhein, der auf den alten Karten dargestellt war, die sie studiert hatte. Das Boot nahm rasch Fahrt auf und glitt blitzschnell und lautlos durchs Wasser. Der Fährmann hatte den Riemen zur Seite gelegt und murmelte Worte in einer unverständlichen Sprache, die wie eine Melodie unter seiner schwarzen Kapuze hervor drangen.

Sonst waren nur die Wellen, die laut gegen den Schiffsboden schlugen, zu hören.

Als Marie gerade fragen wollte, wohin sie fuhren, donnerte ein schwerer Schlag, wie von einer riesigen Faust, von unten gegen das Boot, das gefährlich zu schaukeln begann. Marie schrie auf und klammerte sich erschrocken an den Rand des Kahns, der von einem weiteren wuchtigen Schlag erschüttert wurde.

Jonas keuchte und wurde blass. Dann glitt er von der Holzbank und kauerte sich Schutz und Halt suchend davor.

»Was ist das?«, rief Marie.

Odin gab keine Antwort, denn in diesem Moment folgten die Schläge in immer schnellerer Folge. Auch Marie rutschte nun ängstlich von ihrem Sitz und kauerte sich in dem heftig schwankenden Boot vor die Bank.

Der Nebel verdichtete sich und doch meinte Marie, am Ufer dunkle Gestalten erkennen zu können, die sich eilig am Strom entlangbewegten. Es waren Reiter, die an Land das Boot verfolgten.

»Ich will hier weg«, klagte Jonas mit leicht schwankender Stimme. »Warum verfolgen die uns?«

Kaum hatte er ausgesprochen, wurde wieder von unten gegen das Boot geschlagen.