Das Zugticket - Monica Heinz - E-Book

Das Zugticket E-Book

Monica Heinz

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Beschreibung

Anna ist mit ihrem Leben alles andere als zufrieden. Von ihrem Ehemann und ihren erwachsenen Kindern kaum noch beachtet, sehnt sie sich danach, aus dem täglichen Trott auszubrechen. Als sie in einem Schaufenster eine rote Handtasche entdeckt, ahnt sie nicht, dass deren Kauf ihr Leben radikal verändern wird. Denn mithilfe der Tasche verlässt Anna ihr Dorf und ihren Mann und begibt sich auf eine turbulente Reise durch die schottischen Highlands, auf der sie nicht nur neue Freundschaften findet, sondern auch ein Verbrechen aufklärt und einer neuen Liebe begegnet. Erhält Anna die unverhoffte Chance, noch einmal ganz von vorne zu beginnen?

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Seitenzahl: 265

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MONICA HEINZ

 

 

 

DAS

ZUG-

TICKET

 

 

 

 

 

Roman

Ein Buch aus dem FRANZIUS VERLAG

 

Cover: Perry Payne

Korrektorat/Lektorat: Dr. Michael Kracht

Verantwortlich für den Inhalt des Textes

ist die Autorin Monica Heinz

Satz, Herstellung und Verlag: Franzius Verlag GmbH

 

E-Book ISBN 978-3-96050-189-3

 

Alle Rechte liegen bei der Franzius Verlag GmbH

Hollerallee 8, 28209 Bremen

 

Copyright © 2020 Franzius Verlag GmbH, Bremen

www.franzius-verlag.de

 

 

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

 

 

Das Werk ist einschließlich aller seiner Teile urheberrechtlich geschützt. Jede Ver-wertung und Vervielfältigung des Werkes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks und der Übersetzung, sind vorbehalten. Ohne ausdrückliche schriftliche Erlaubnis des Verlages darf das Werk, auch nicht Teile daraus, weder reproduziert, übertragen noch kopiert werden, wie zum Beispiel manuell oder mithilfe elektronischer und mechanischer Systeme inklusive Fotokopieren, Bandaufzeichnung und Datenspeicherung. Zuwiderhandlung verpflichtet zu Schadenersatz. Alle im Buch enthaltenen Angaben, Ergebnisse usw. wurden vom Autor nach bestem Wissen erstellt. Sie erfolgen ohne jegliche Verpflichtung oder Garantie des Verlages. Er übernimmt deshalb keinerlei Verantwortung und Haftung für etwa vorhandene Unrichtigkeiten.

 

 

INHALT

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Über die Autorin

Novitäten 2019 / 2020 im Franzius Verlag

 

 

 

 

 

 

 

Für meine Eltern und meine Schwester

1

Das Postauto stoppte auf dem Marktplatz. Anna stieg aus und stolperte im nächsten Augenblick. Es gelang ihr gerade noch sich aufzufangen, und als sie hochblickte, sah Anna sie. Sie, das war eine rote Handtasche. Anna stand vor dem Schaufenster und starrte die Tasche an. Es war Liebe auf den ersten Blick. Rotes, glattes Leder und ein goldener Verschluss. Dabei bemerkte sie nicht, wie sie den Leuten mitten auf dem Trottoire im Weg stand; zweimal wurde sie unsanft angerempelt. Das kleine Preisschild, das an einem Faden um den Henkel geschlungen war, konnte sie trotz aller Verrenkungen nicht lesen. Leider hatte der Laden zu; er war nur am Dienstag, Donnerstag und Freitag geöffnet. »Macht nichts, die ist sowieso viel zu teuer«, flüsterte sie.

»Wie bitte?« Der Mann, der eben an ihr vorüberging, sah sie fragend an.

Anna gab keine Antwort, drehte sich um und ging in Richtung der Bushaltestelle, von wo der Bus zum Einkaufszentrum fuhr. Eigentlich hatte sie ja vorgehabt, die Fenster zu putzen und die Vorhänge zu waschen, aber Ulrich liebte Grilladen, und im Supermarkt gab es das dazu benötigte Fleisch diese Woche zum halben Preis.

Das wäre ein tolles Geburtstagsgeschenk gewesen, dachte sie und war plötzlich traurig. Ihr fünfzigster Geburtstag, am 22. Februar, lag nun fast zwei Monate zurück. Sie hatten ihn wie alle Familienfeiern im »Löwen« gefeiert, und obwohl sie eigentlich im Mittelpunkt hätte stehen sollen, war sich Anna den ganzen Tag über fehl am Platz vorgekommen. Iris, die dort arbeitete und die mit Anna zur Schule gegangen war, hatte sie schon beim Reinkommen von oben bis unten gemustert. Annas Bluse war neu gewesen, aber das dunkelblaue Kostüm uralt und aus der Mode. Iris hingegen trug wie immer einen kurzen Rock und eine zu enge Bluse. Anna hatte einen Schritt gegen die Wand gemacht, als sie Iris’ Blicke spürte. Sie wusste auch, was die Blicke bedeuteten, denn mit Iris hatte Ulrich einmal eine Affäre gehabt.

Nun konnte sich Anna nicht einmal mehr erinnern, was sie gegessen hatte, außer dass sie lustlos im frischen Fruchtsalat aus der Dose herumgestochert und gedacht hatte: Eigentlich wäre es ja mein Tag. Sie war fast froh gewesen, als ihre Schwiegermutter aufbrechen wollte, weil sie sich hinlegen musste. Natürlich hatte Ulrich sie heimgefahren. Anna war alleine zu Fuß nach Hause gegangen.

Ulrich hatte ihr ein goldenes Kleeblatt geschenkt. Es war vom Schmuckstand im Warenhaus, Anna hatte die Schachtel erkannt und Ulrich geradezu vor sich gesehen, wie er kurz vor Ladenschluss ins Warenhaus gehetzt war und wahllos, nur auf den Preis achtend, auf ein Schmuckstück gedeutet hatte. Ihre Kinder hatten ihr einen Gutschein für einen Wellnesstag geschenkt, die Krankenkasse hatte gratuliert, und ihre Nachbarin hatte einen bereits gelesenen Roman weiterverschenkt. Auch das Geschenk ihrer Schwiegermutter war nicht für sie ausgesucht worden, denn sie hatte Anna den Schal mit den Worten: »Rot steht mir nicht« überreicht. Wenigstens war er rot, dachte Anna nun.

Von der anschließenden Heimfahrt bekam sie nichts mit, und erst als der Buschauffeur wiederholt »Endstation« ins Mikrophon schrie, merkte sie, dass sie zu Hause war. Sie hatte den ganzen Heimweg nur an die Tasche denken können. Seit sie ein kleines Mädchen gewesen war, hatte sie nie mehr etwas so sehr gewollt wie diese Tasche, damals war es eine Puppe mit echtem Haar gewesen. Zweimal hatte sie voller Hoffnung die Geschenke ausgepackt und enttäuscht etwas anderes in den Händen gehalten, zuerst an ihrem Geburtstag und dann noch einmal an Ostern. Erst an Weihnachten wurde ihr sehnlichster Wunsch erfüllt. Später erfuhr sie den Grund für das lange Warten, ihre Eltern hatten sich während fast einem Jahr eingeschränkt, um die Puppe kaufen zu können. Ihr Vater verzichtete auf ein zweites Bier nach dem Kegeln, und die Mutter hatte, wo immer sie nur konnte, bei den Lebensmitteln gespart. Alles nur, um Anna den sehnlichsten Wunsch zu erfüllen.

 

An der Haustüre steckte sie automatisch den Schlüssel ins Schloss, und als es klickte, machte es auch bei ihr »Klick«. Sie musste die Tasche haben, egal wie, und selbst wenn sie diese nur zuhinterst im Schrank aufbewahren würde.

Danach vergingen zwei Wochen, bis Anna erneut in die Stadt fuhr. Es war jedoch kein Tag vergangen, an dem sie nicht an die Tasche gedacht hatte.

Sie hatte den ganzen Vormittag im Garten mit Jäten und Gießen verbracht. Dann musste sie, um an eine Hacke zu kommen, den Grill verschieben, und ihr kam in den Sinn, dass Ulrichs Lieblingswürste ausgegangen waren. Kurzentschlossen zog sie sich um und lief zur Postautohaltestelle. Auf dem Weg fiel ihr plötzlich noch etwas anderes ein, es war Donnerstag. Diese Tatsache ließ sie fast zur Haltestelle rennen, donnerstags war der Secondhandladen geöffnet. Sie wollte die Tasche wenigstens einmal in der Hand halten, und vielleicht würde dann ihr Wunsch sie zu besitzen verschwinden. Schon von weitem sah sie das verzierte Schild »OPEN« und auf dem Trottoir standen diesmal Kleiderständer. Die Ladentüre bimmelte leise, als Anna sie aufschob.

»Guten Tag, die rote Tasche im Schaufenster, dürfte ich vielleicht …?« Ihre Stimme klang ganz rau, sie hatte den ganzen Morgen mit niemandem gesprochen.

»Natürlich, sehr gerne.« Die Frau im schwarzen Strickkleid und der Kette mit den großen Holzkugeln schob die anderen Sachen zur Seite und reichte Anna die Tasche. Anna nahm sie entgegen, als ob sie zerbrechlich wäre.

»Schauen Sie sich die Tasche in Ruhe an, ich bin hinten.« Die Frau verschwand wieder hinter das Regal, wo sie mit Einräumen beschäftigt gewesen war.

»Danke.« Anna stellte ihre eigene braune Kunstlederhandtasche auf den Boden, sie schämte sich dafür, aber bis jetzt hatte sie ihren Dienst getan.

Die rote Tasche sah aus wie neu, sogar das Leder roch noch. Ein Geruch, den Anna liebte. Sie konnte nicht anders, als immer wieder an der Tasche zu riechen. Das Innenfutter war blau-rot gestreift, auch das gefiel ihr. Anna drehte und wendete sie, dann blickte sie verstohlen auf das Preisschild: Fr. 85.—. Das konnte doch nicht sein, da musste eine Null fehlen, sie war sich ganz sicher. Vorsichtig strich sie über das glatte Leder und spiegelte sich in der goldenen Schnalle. Was aber, wenn der Preis stimmte? Trotzdem, Fr. 85.‒ waren eine Menge Geld für eine Tasche, so viel gab sie ja nicht einmal für ein Paar Schuhe aus. Sie merkte nicht, wie Brigitte Hauser, die Inhaberin des Ladens, immer wieder zu ihr herübersah. Nach einer Weile fragte sie:

»Und, haben Sie sich entschieden?«

Anna zögerte nur einen Moment und sagte dann: »Ja, ich kaufe die Tasche. Seit ich sie vor zwei Wochen gesehen habe, konnte ich an nichts anderes mehr denken. Ich werde wohl kaum Gelegenheit haben, sie je zu benutzen, aber ich muss sie haben wie damals die Puppe.«

»Die Puppe?«

»Ja, eine mit echtem Haar, die wollte ich genauso wie jetzt die Tasche.«

»Haben Sie die Puppe gekriegt?«

»Ja, aber ich musste sehr lange darauf warten. Ich besitze sie heute noch.«

Anna zog einen Geldschein aus ihrer Tasche. »Sind Sie sicher, dass sie wirklich nur fünfundachtzig Franken kostet?«

»Ja, natürlich, sie ist ja auch nicht mehr neu.«

»Aber doch wohl kaum gebraucht, oder?«

»Ja, das stimmt wohl, aber die Kundin, die sie abgegeben hatte, meinte, sie wolle sie nicht mehr und sie solle einer anderen Frau mehr Glück bringen.«

»Entschuldigung, was haben Sie eben über Glück gesagt?« Anna hatte vor lauter Aufregung gar nicht richtig zugehört.

»Ach, nichts, nur dass ich die Kundin nicht gekannt habe und mich auch ein wenig gewundert hatte, wie man so eine Tasche weggeben kann.«

Brigitte Hauser verschwand mit der Tasche nach hinten, und als sie wieder nach vorn kam, war die Tasche in Seidenpapier gewickelt. Sie steckte das Paket in eine große goldene Tüte und stellte sie auf die Theke.

»So, nun hoffe ich, Sie finden ganz viele Gelegenheiten, zu denen Sie die Tasche mitnehmen können.«

Sie schob Anna die Tüte hin, diese machte jedoch einen Schritt zurück und drehte unschlüssig die Banknote in ihren Händen. Brigitte Hauser wartete geduldig.

»Oh, Entschuldigung.« Anna glättete den Geldschein und streckte ihn Brigitte hin, er rollte sich und war feucht. Erst nachdem sie das Wechselgeld umständlich verstaut hatte, nahm Anna endlich die Tüte.

 

2

Wieder zuhause versteckte Anna die Tasche in einem alten Kleidersack zuhinterst im Schrank. Sie hatte die Schranktüre gerade wieder geschlossen, als Ulrich nach Hause kam und nach ihr rief. Als er ins Schlafzimmer kam, hatte er sie nur komisch angesehen und sich dann schweigend umgezogen.

Ihr Herz hatte wie wild geklopft, ein paar Minuten früher – und Ulrich hätte den Sack gesehen. Schnell hatte sie sich an ihm vorbeigeschoben und war in die Küche gegangen, um mit der Zubereitung des Abendessens zu beginnen. Zu allem Übel ließ sie dann auch noch eine Glasschüssel fallen und schnitt sich an den Scherben. Als sie den Finger unters Wasser gehalten und gemurmelt hatte:

»Nimm dich zusammen, Anna!«, war Ulrich in die Küche gekommen und wollte wissen, mit wem sie sprach.

»Mit mir selbst, es hat gebrannt, als ich die Wunde unters Wasser hielt.«

Schnell drehte sie das Wasser zu, und gleichzeitig versuchte sie, das Radio leiser zu stellen, was ihr natürlich auch misslang, sie drehte in die falsche Richtung. Ulrich verdrehte genervt die Augen und verließ die Küche. Vom Wohnzimmer aus rief er: »Wann ist das Essen fertig? Du weißt, ich habe noch Gemeinderatssitzung.«

»Gleich, nur noch die Salatsauce, dann können wir essen.«

Ulrich erwartete jeden Abend ein Dreigangmenü, über Mittag aß er nur ein mitgebrachtes Sandwich. Die Kantine sei lausig und teuer. Jahrein, jahraus dasselbe Sandwich zu essen fand er aber okay.

Während des Essens hielt Ulrich einen Monolog über die bevorstehende Sitzung und was er alles vorbringen werde, er merkte nicht, dass Anna kaum etwas sagte und nur in ihrem Essen herumstocherte. Ängstlich beobachtete sie ihn, ob er nicht doch etwas bemerkt hatte. Nach dem letzten Schluck Kaffee warf er die Serviette mitten auf den Teller und verschwand im Bad. Fünf Minuten später rief er auf dem Weg nach draußen. »Es wird wohl spät, gute Nacht.« Anna blieb sitzen, bis die Türe ins Schloss gefallen war. Er behandelte sie wie eine Haushälterin. Sie nahm die mit Bratensauce getränkte Serviette vom Teller, warf sie in die Schmutzwäsche, stellte das Geschirr in die Maschine und ging ins Schlafzimmer. Dann ging sie nochmals zurück, schloss die Haustüre ab und ließ den Schlüssel stecken, sie durfte einfach nicht vergessen ihn herauszuziehen, bevor sie ins Bett ging.

 

Im Schlafzimmer holte sie die Tasche aus dem Schrank und stellte sich damit vor den Spiegel. Die Tasche war wunderschön, aber an ihrem Arm wirkte sie deplatziert; trotzdem wollte sie sehen, wie es sich anfühlte, so eine Tasche zu besitzen.

Sie nahm ihre alte braune Tasche und leerte den Inhalt aufs Bett. Viel war es nicht, was sie mit sich herumtrug, das Portemonnaie, das Handy, Taschentücher, ein kleines Etui mit Pflaster, einen Kamm und einen Spiegel. Die paar Dinge verschwanden in der Tiefe der Tasche. Sie öffnete das Reißverschluss-Fach und wollte den Kamm und den Spiegel reinschieben, als sie auf etwas stieß, auf einen Umschlag. Er war aus rotem Glanzpapier und ziemlich dick. »Royal Scotsman«. Was war das, und was machte der Umschlag in ihrer Tasche?

Vorsichtig zog sie die Papiere, die darin waren, heraus. Eine bunte Broschüre, mit Bildern, einer Reiseroute und ganz zuhinterst Vouchers für Flug- und Zugtickets. Nirgends stand ein Name. Die Tickets mussten der Vorbesitzerin der Tasche gehört haben, sie musste sie zurückbringen.

 

Es war bereits weit nach Mitternacht, als Ulrich heimkam. Anna hatte noch nicht geschlafen, doch nun stellte sie sich schlafend. Nach solchen Sitzungen war Ulrich meist nicht mehr nüchtern, und es war schon oft passiert, dass ein falsches Wort von ihr, wenn er heimgekommen war, zu einem riesigen Streit geführt hatte. Eine Viertelstunde später lag er schnarchend neben ihr, nun würde sie erst recht nicht einschlafen können.

 

Am nächsten Morgen legte Anna ihm wortlos ein Aspirin neben den Frühstücksteller. Ulrich sprach morgens nie viel, aber heute war er noch schweigsamer als sonst. Er schluckte das Aspirin mit einem Schluck Kaffee und schob den Teller mit einem »Nicht hungrig« zur Seite. Eine halbe Stunde später verabschiedete er sich, und Anna atmete auf.

In den letzten Jahren hatte Ulrich begonnen, immer mehr zu trinken. Anna hatte ein paar Mal versucht herauszufinden, was der Grund war, er hatte es jedoch immer heruntergespielt. Nur einmal, als es ihm besonders schlecht gegangen war, hatte er Probleme in der Firma erwähnt, auf Annas Nachfragen später aber gemeint, sie hätte mal wieder nicht richtig zugehört. Trotzdem hatte Anna sich Sorgen gemacht und war noch mehr darauf bedacht gewesen, alles richtig zu machen und ihn nicht noch zusätzlich zu ärgern. Ulrich stammte aus einer Familie, in der keine Gefühle oder Schwächen gezeigt wurden. Ihre Schwiegermutter war genauso, sie hatte nicht einmal geweint, als ihr Mann gestorben war.

 

Als Brigitte Hauser kurz vor 9.30 Uhr um die Ecke bog, stand Anna bereits vor der Türe, sie ahnte nichts Gutes. »Guten Morgen, ist etwas mit der Tasche nicht in Ordnung?«

»Guten Morgen, doch, doch, mit der Tasche ist alles in Ordnung, aber gestern, als ich sie probehalber eingeräumt habe, da ...«

»Kommen Sie doch erst einmal herein.«

Anna trat hinter Brigitte in den Laden und blieb wie angewurzelt bei der Türe stehen. Brigitte zündete das Licht an und legte ihre Sachen ab, bevor sie den Umschlag, den Anna ihr entgegenstreckte, endlich nahm.

»Was ist das?«

»Den habe ich in der Tasche gefunden.«

»Aha.«

»Ja, es sieht aus wie ein Gutschein für eine Reise, der muss der früheren Besitzerin der Tasche gehört haben. Können Sie ihn ihr zurückgeben?«

»Mmmh, das wird schwierig, ich kannte die Frau ja nicht, sie kam zum ersten Mal in den Laden. Möchten Sie auch einen Kaffee?«

»Gerne, doch eigentlich habe ich gar keine Zeit, ich muss nach Hause.«

»Aber es ist doch gerade mal 9.30 Uhr, kommt Ihr Mann zum Mittagessen?«

»Nein, das nicht, aber er ruft immer an, um zu kontrollieren, wo ich bin.«

»Stündlich?«

»Nein, nein, nur am Mittag.«

»Ja, dann haben sie ja noch Zeit. Also kommen Sie.« Brigitte ging nach hinten, und Anna folgte ihr zögernd.

Den Umschlag legte sie erst einmal zur Seite. Nachdem sie den Kaffee gekocht und noch ein paar Kekse dazugelegt hatte, griff sie wieder nach dem Umschlag. »Also, dann schauen wir mal, was das ist.«

»Es sind Reisegutscheine.« Anna rutschte ungeduldig auf ihrem Stuhl herum und leerte ihre Kaffeetasse in einem Zug.

»Eine Reise im Royal Scotsman, wissen Sie, wie toll das ist?«

Anna stand auf und wandte sich zum Gehen. »Ich muss nun wirklich wieder nach Hause, ich wollte Ihnen nur den Umschlag zurückbringen. Vielen Dank für den Kaffee.« Sie hatte die Türklinke bereits in der Hand, als Brigitte sagte:

»Da steht nirgends ein Name, wieso gehen nicht Sie hin?«

»Ich? Was soll ich denn in England?«

»Schottland. Wieso nicht? Waren Sie schon mal dort?«

»Nein, aber mein Mann wäre niemals einverstanden. Auf Wiedersehen, ich muss los, sonst fährt das Postauto ohne mich.«

Anna sah nicht, dass Brigitte schon den Telefonhörer in der Hand hielt.

 

Wieder zu Hause googelte Anna den Royal Scotsman, und einen kurzen Moment lang bereute sie, dass sie die Tickets zurückgegeben hatte. Der Zug erinnerte sie an den Orient- Express in der Agatha Christie-Verfilmung. Die Kabinen waren mit glänzendem Holz ausgestattet und anstatt in normalen Sitzen genoss man die Fahrt in einem Salonwagen mit bequemen Sesseln und kleinen Sofas. Ich würde doch nicht dorthin passen, dachte sie. Dann klickte sie die Seite weg und löschte den Verlauf.

 

3

Immer wieder sah Anna in den nächsten Tagen die Bilder des Royal Scotsman vor sich, und sie bereute es immer mehr, die Tickets zurückgebracht zu haben. Sie versuchte, die Bilder zu verdrängen.

Trotzdem ging sie ein paar Tage später nochmals zu Brigitte in den Laden. Sie wollte wissen, wie die Geschichte weitergegangen war, ob Brigitte die Besitzerin hatte ausfindig machen können und ob diese fuhr.

»Hallo, schön Sie zu sehen, wie geht es?« Brigitte kam um den Ladentisch herum und schüttelte Anna die Hand.

»Danke, mir geht es gut, ich wollte einfach ...« Sie brach ab.

»Ja?«

»Ich wollte ... also nachdem ich Ihnen die Tickets zurückgebracht habe, habe ich gegoogelt, der Royal Scotsman ist wirklich toll ... Hat sich die Frau schon gemeldet?«

Brigitte schmunzelte: »Nein, das nicht, aber ... Warten Sie einen Moment.« Sie verschwand nach hinten. Kurz darauf kam sie wieder nach vorne und hielt eine Flasche Prosecco in den Händen. Anna sah sie fragend an.

»Schließlich müssen wir doch endlich auf unser Wiedersehen anstoßen.«

»Wiedersehen, aber wieso?«

»Anna, du erinnerst dich offensichtlich nicht, aber wir sind in dasselbe Schulhaus gegangen, und ich habe dich damals so bewundert, wie du eines Tages mit knallorangen Haaren aufgetaucht bist. Ich wollte auch solche Haare, und als ich mich endlich durchgerungen hatte, waren deine wieder schwarz oder blond? Das weiß ich nicht mehr, auf jeden Fall wieder anders.«

»Oh je, ja das war meine kurze Rebellenphase, meine Haare haben ganz schön gelitten, und mein ganzes Taschengeld ging für die Farben drauf. Nach ungefähr einem halben Jahr hatte ich kein Geld mehr und Strohhaare. Seither habe ich nie mehr die Haarfarbe geändert, nur verbessert.« Anna hob ihre Haare und deutete auf den grauen Ansatz. »Ich kann mich wirklich nicht mehr an dich erinnern. Wieso hast du mich eigentlich erkannt? An den Haaren konnte es ja nicht liegen.«

»Nein, ›Anna, die Nase‹.« Brigitte lachte. »Du hast an der Tasche gerochen, immer wieder und gedacht, ich sehe es nicht.«

»Das wird ja immer peinlicher. ›Die Nase‹ – hat man mich wirklich so genannt?«

»Ja, aber jeder hat so seine Macken, da musst du dich nicht schämen, und ein guter Geruchssinn ist doch hilfreich. Hier, riech.« Sie hielt Anna das Glas hin und stellte ihr eigenes auf die Theke.

»Und es gibt nämlich noch etwas, worauf wir anstoßen müssen.« Brigitte griff unter die Theke und zog den roten Umschlag hervor. Anna sah sie erneut fragend an.

»Der ist für dich, es ist alles geregelt, die Tickets lauten nun auf deinen Namen. Schottland wird dir gefallen.«

»Brigitte, du kannst doch nicht einfach die Tickets auf mich ausstellen? Und du wusstest ja gar nicht, ob ich wiederkomme und wie ich jetzt heiße.«

»Ich habe geahnt, dass du nochmals kommst, und dein Name war nicht schwer herauszufinden, ist ja immer noch ein Dorf unsere Stadt. Außerdem gehören die Tickets mir.«»Dir? Aber ich dachte, die Frau, die Tasche …?« Anna musste sich setzen, es drehte sich alles um sie, und das lag nicht an dem Schluck Prosecco.

Brigitte setzte sich ihr gegenüber, und dann erzählte sie ihr die wahre Geschichte der Tickets: »Meine Schwägerin hat die Reise bei einem Wettbewerb gewonnen, aber obwohl es einer der Hauptpreise gewesen war, war sie nicht zufrieden damit. Sie hat mir den Umschlag mit den Worten ›Die kannst du haben, ich wollte die Kreuzfahrt‹ hingeknallt.«

»Ja, aber wieso wolltest du sie dann nicht?«

»Ach, das ist eine andere Geschichte, früher hätte ich keine Sekunde gezögert, aber jetzt konnte ich einfach noch nicht nach Großbritannien zurückkehren, wo ich so lange mit meinem Mann glücklich gewesen war.«

»Du hast in Großbritannien gelebt? Wie lange?«

»Über zwanzig Jahre. Ich bin erst nach dem Tod von Andreas zurückgekommen, und weil ich mich beschäftigen musste, habe ich diesen Laden eröffnet. Meine Schwägerin, die Frau von meinem Bruder, war die Einzige, die uns nie besucht hatte, sie konnte nie verstehen, was uns dort hielt, deshalb hat sie wohl auch mir die Tickets geschenkt.«

»Aber das war doch nett, sie wollte dir eine Freude machen.«

»Ja, vermutlich, doch ich hätte auch lieber die Kreuzfahrt gehabt.« Brigitte lachte. »Na ja, ich konnte sie aber auch nicht wegwerfen. Und deshalb habe ich sie aufbewahrt.«

»Das verstehe ich, aber wieso hast du sie mir in die Tasche gesteckt, oder hast du sie dort aufbewahrt und mir aus Versehen mitgegeben?«

»Nein, die habe ich dir ganz bewusst da reingetan. Ich wollte sie jemandem schenken, den ich kenne, und ich glaube, du hast eine Luftveränderung nötig. Außerdem drängte die Zeit, das Reisebüro wollte endlich wissen, wer fährt.«

»Aber du hast mich ja über zwanzig Jahre nicht gesehen und auch nie richtig gekannt, wie willst du wissen, ob ich eine Luftveränderung brauche? Oder ist das etwa so offensichtlich?«

»Ich lag also doch richtig, oder?«

Anna gab einen Moment lang keine Antwort, und dann nickte sie.

»Ja, es stimmt. Ich bin schon lange nicht mehr zufrieden mit meinem Leben.«

»Siehst du, das ahnte ich. Hier nimm, Schottland wird dir gefallen.«

»Ich kann doch nicht einfach ...«

»Wieso nicht?« In dem Moment klingelte die Ladentür, und eine andere Kundin kam herein. »Nimm sie mit und schreib mir eine Postkarte.« Brigitte umarmte Anna kurz und wandte sich der Kundin zu.

Anna steckte die Tickets in ihre Tasche und verließ den Laden.

Wieder zu Hause legte sie den Umschlag zu der roten Handtasche, und dort würde er auch bleiben. Sie konnte nicht verreisen, die Reise war nur für eine Person, und Ulrich würde sie niemals allein gehen lassen. Sie sah förmlich sein Grinsen und hörte seinen Kommentar. »Du allein im Ausland, dazu bist du doch nicht fähig. Vergiss es.« Und genau das würde sie nun versuchen.

 

4

Anna hatte sich anders als Ulrich immer eine große Familie gewünscht, er hingegen fand, ein Kind genüge vollkommen. Doch dann wurde Anna kurz nach Natalie unverhofft nochmals schwanger. Als sie es Ulrich gesagt hatte, hatte er tagelang kein Wort mit ihr gesprochen. Schließlich hatte er sogar von ihr verlangt, dass sie es wegmachen ließ, sie habe ihn reingelegt. Doch Anna weigerte sich, sie wollte dieses Kind, und Oliver war von Anfang an ihr Kind gewesen. Ulrich duldete ihn nur, während Natalie all seine Aufmerksamkeit bekam. Manchmal, wenn er wütend war, nannte er Oliver sogar den Unfall.

Ulrich war Annas erster richtiger Freund gewesen. Zuvor hatte sie nur für die beliebtesten Jungen auf dem Schulhof geschwärmt und sich sogar in die Jungs verliebt, die ihr ihre Schulsachen in den Bach geworfen hatten. Doch bis auf Werner hatte sich nie jemand auch in sie verliebt. Daran hatte sogar ihre kurze Rebellenphase nichts geändert, sie hatte sich nur äußerlich verändert, innerlich war sie die unsichere Anna geblieben, die keiner wollte. Außer Werner, mit ihm hatte sie schüchterne Küsse ausgetauscht und Händchen gehalten, aber mehr war nicht gewesen. Anna hatte immer von der großen Liebe geträumt, und die war Werner definitiv nicht. Sie mochte nicht einmal, wie er roch, und musste jedes Mal die Luft anhalten, wenn er sie küsste. Er hatte immer gedacht, sie würde vor lauter Leidenschaft keine Luft mehr kriegen, außerdem hatte er Schweißhände, alles, was er angefasst hatte, war immer leicht feucht gewesen.

Bei Ulrich hatte Anna geglaubt, sie würde ihn lieben. Sie hatte ihn an einem Dorffest im Nachbardorf kennengelernt, zu dem eine Arbeitskollegin sie mitgenommen hatte, weil sie wusste, wie gerne Anna tanzte.

Sie wollte gerade eine Pause machen, als Ulrich sie aufgefordert hatte. Er war zwar kein besonders guter Tänzer und ruinierte ihr die Schuhe, da er ihr ständig auf die Zehen trat. Doch er entschuldigte sich so charmant, dass Anna ihm verzieh, zumal die Schuhe sowieso schon gelitten hatten, weil sie mehrmals mit den Absätzen im Gras stecken geblieben war. Ulrich war groß und schlank gewesen, und seine blauen Augen, die heute wie Eisblöcke wirkten, funkelten verschmitzt. Anna fühlte sich wohl mit ihm, und als er bereits nach ein paar Monaten um ihre Hand anhielt, war sie überglücklich. Ihre Freundinnen hatten sie alle gewarnt, sie solle es sich gut überlegen, der würde nur eine Haushälterin suchen, doch sie hatte nur gelacht. Heute war ihr das Lachen vergangen, denn sie wusste nun, sie hatten recht gehabt.

 

Kurz nach ihrer Verlobung fuhren Anna und Ulrich gemeinsam in die Berge, Anna hatte den Koffer mindestens dreimal neu gepackt, um ja nichts zu vergessen. Doch am ersten Abend, als sie sich für das Abendessen bereitmachte, bemerkte sie, dass sie außer den Hausschuhen keine anderen eingepackt hatte. Einen Moment lang wäre sie am liebsten abgereist, dann beschloss sie, einfach die Hausschuhe anzuziehen, sie waren zumindest schwarz. Erleichtert darüber, nicht barfuß in den Speisesaal gehen zu müssen, hatte sie sich umgezogen.

Nach dem Essen waren sie Hand in Hand zum Lift gegangen. Anna war glücklich, die Schuhe hatte sie längst vergessen, bis Ulrich vor dem Lift den Zimmerschlüssel fallen ließ und sich bückte, da war die romantische Stimmung dahin.

»Anna, wieso trägst du deine Hausschuhe? Bist du nicht einmal fähig, dich anzuziehen, wir sind schließlich nicht zu Hause.«

»Ich habe die anderen Schuhe vergessen, aber es hat ja niemand etwas bemerkt.«

»Du hättest es mir sagen müssen, dann hätte ich das Essen aufs Zimmer bestellt, aber nein, du blamierst mich lieber.«

»Das hat doch niemand bemerkt.« Anna war den Tränen nahe, so wütend hatte Ulrich noch nie mit ihr gesprochen.

»Das glaubst auch nur du! Wahrscheinlich spricht bereits der ganze Speisesaal über uns. Wir reisen morgen früh sofort ab.«

»Aber ich könnte doch morgen neue Schuhe …«

»Nein, ich habe gesagt, wir reisen ab.«

Anna hatte sich in den Schlaf geweint und gehofft, Ulrich würde die Sache vergessen, doch am nächsten Morgen war er bereits um 6 Uhr aufgestanden und hatte den Koffer gepackt. Auf der Heimfahrt sprach er kein Wort mit Anna, er lud sie bei ihren Eltern ab und meldete sich eine ganze Woche nicht mehr. Dann stand er plötzlich wieder vor der Tür, als sei nichts gewesen. Sie war so froh darüber, dass sie alle Zweifel, ob er wirklich der Richtige war, beiseitegeschoben hatte. Später war ihr klar geworden, dass sie Ulrich schon damals nicht geliebt hatte. Was sie für Ulrich empfunden hatte, war Sympathie und Zuneigung gewesen, aber mehr nicht.

 

5

Anna stand vor dem Spiegel und musterte sich. Brigitte, an die sie sich immer noch nicht erinnern konnte, hatte ihr angesehen, dass sie unglücklich war. War es wirklich so schlimm? Sie müsste doch glücklich sein, sie hatte einen Mann, ein Haus, zwei gesunde Kinder - und doch war sie es nicht. Das wusste sie, seit der Druck auf ihrer Brust das erste Mal aufgetreten war.

 

Alles hatte ungefähr ein Jahr zuvor begonnen, Ulrich war an einem seiner unzähligen Grillkurse gewesen, und sie hatte den Abend für sich gehabt. Kein Bedienen vor dem Fernseher, kein stummes Auf-dem-Sofa-Sitzen und kein Politrunden-Schauen, obwohl sie viel lieber ins Bett gegangen wäre. Doch Ulrich fand immer, Politik betreffe alle, auch sie. Sie hatte aufgehört, dagegen zu protestieren. Auch dagegen, dass er ihr regelmäßig vorschrieb, wen sie bei Abstimmungen zu wählen hatte, sie machte die Kreuze dort, wo er wollte.

An diesem Abend hatte sie plötzlich Lust auf ein Glas Wein gehabt, der Wein war vom Besuch der Schwiegermutter am Wochenende übriggeblieben, wie immer hatte es Braten gegeben. Gegenüber seiner Mutter gab sogar Ulrich nach und verzichtete auf sein geliebtes Grillen. Die Wäsche konnte warten, sie legte sich Brot und Käse auf einen Teller und kuschelte sich in die Fleece-Decke. Ulrich stellte die Heizung immer aufs Minimum ein. Nachdem sie das Fernsehprogramm studiert hatte, entschied sie sich für den Rosamunde-Pilcher-Film. »Schund«, hörte sie Ulrich sagen, der sofort umgestellt hätte.

Im Film ging es um eine Frau, die plötzlich Witwe geworden war und nun mit ihren beiden kleinen Kindern bei einer Tante in Cornwall ein neues Leben beginnen wollte. Annas Gedanken schweiften ab, sie drehte den Ton leiser und stellte den Fernseher schließlich ganz aus. Sie fand den Enthusiasmus der Frau, die es trotz ihrer Trauer schaffte, ihr Leben vollkommen umzukrempeln, unerträglich. Da spürte sie den Druck auf ihrer Brust zum ersten Mal. Ein Gefühl, als ob ein besonders großer Kettenanhänger ihre Brust eindrücken würde, zusammen mit einem Schwindelgefühl. Dies hatte Anna veranlasst, den Hausarzt aufzusuchen, doch es gelang ihm nicht, die Ursache der unerklärlichen Symptome zu finden. Organisch war sie gesund, daher tippte er auf den Wetterwechsel oder eine Hormonumstellung und verschrieb ihr Baldrian.

Als sie nun vor dem Spiegel stand, wusste Anna es plötzlich, der Druck auf der Brust war das körperliche Symptom ihrer Sehnsucht nach einer Veränderung. Und diese Veränderung würde sie nun herbeiführen, sie würde die Reise antreten, egal was die Konsequenzen waren, einmal wollte sie nur an sich denken. Was danach kam, darum würde sie sich kümmern, wenn es so weit war.

Die nächsten Tage verbrachte sie damit, im geheimen, die restlichen Reisevorbereitungen zu treffen. Bis sie im Flugzeug saß, konnte noch alles schief gehen. Erst dann konnte sie aufatmen und sich wirklich auf die Reise freuen.

 

6

Anna rutschte ungeduldig auf ihrem Sitz hin und her. Links von ihr rauschten die Häuser der einseitig mit Läden und Restaurants bebauten Straße vorbei, und rechts ragte ein Hügel mit einem riesigen Schloss auf. Sie wollte den Fahrer gerade fragen, wo denn da ein Bahnhof sei, als das Taxi auch schon rechts abbog und kurz darauf mitten auf einer Brücke anhielt. Da sah sie das Schild »Railway Station«, das auf eine Treppe, die nach unten führte, zeigte.

Der Bahnhof lag im Tal zwischen Einkaufsstraße und Schlosshügel, als ob er sich verstecken wollte. Für Anna gehörte zu einem Bahnhof ein Bahnhofplatz. Als sie ausstieg, drang ihr ein unbekannter Geruch in die Nase, sie konnte ihn nicht definieren, es roch leicht süßlich. Nun musste sie nur noch den Zug finden. Laut den Unterlagen stand er den ganzen Vormittag auf einem Sondergleis bereit, sodass die insgesamt sechsunddreißig Passagiere ihre Kabinen in Ruhe beziehen konnten. Sie schleppte ihren Koffer zur Treppe, den Lift gleich daneben ignorierte sie, sie hatte Angst, stecken zu bleiben und den Zug zu verpassen.

In der unterirdischen Bahnhofshalle wimmelte es von Leuten, ganze Schulklassen mit Kindern in identischen Uniformen durchquerten die Halle in Zweierreihen, ältere Damen trippelten zu ihren Zügen, und sie sah die ersten Männer im Kilt. Erst jetzt merkte sie, wie hungrig sie war, sie hatte seit dem Frühstück nichts mehr gegessen und das Sandwich im Flieger kaum angerührt. An einem der Imbissstände kaufte sie sich etwas, das wie eine Mischung aus Brot und Kuchen aussah, und setzte sich damit auf eine Bank. Sie biss gerade ein zweites Mal in das staubtrockene Gebäck und studierte erneut ihre Unterlagen, als sich eine Frau neben sie setzte und sofort zu reden begann. Anna verstand nicht alles, was sie sagte. Die Frau deutete auf das Bild vom Royal Scotsman und Anna. Anna nickte.

»Darf ich?«, sie zeigte auf den Prospekt.

Anna nickte erneut.