Das zweite Auge - Ulla Hesseling - E-Book

Das zweite Auge E-Book

Ulla Hesseling

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Beschreibung

Auf den ersten Blick wirkt das verschneite Bergdorf so harmlos. Doch kaum hat Mathis das alte Gemälde entdeckt, da geschehen plötzlich merkwürdige Dinge. Als dann auch noch Felix nach dem Skilaufen spurlos verschwindet, müssen Tobi und die Rote Bohne etwas unternehmen – aber wie, wo draußen ein unerbittlicher Schneesturm tobt? Unheimlicher noch als im ersten Band findet Fanny sich beim Lesen wieder selbst in die Geschichte verstrickt. Also macht sie sich auf, endlich die Autorin der alten Bücher zu besuchen. Und ahnt nicht, dass die Vergangenheit sie dabei endgültig einholen wird. „… zu spannend zu lesen, als dass ich hier die Geschichte vorwegnehme. Sie lässt einen, soviel kann ich verraten, nicht los.“ (Volker Ladenthin über den ersten Band, „Der Mondsichel-Ohrring“)

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Seitenzahl: 242

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Das zweite Auge

Ulla Hesseling

Copyright: © 2017 Ulla Hesseling

Umschlag: Meike Teichmann

Satz: Erik Kinting – www.buchlektorat.net

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

978-3-7439-0670-9 (Paperback)

978-3-7439-0671-6 (Hardcover)

978-3-7439-0672-3 (e-Book)

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für Max,den echten Jungen im Zug.

Schnee!

„Hatschi!“

Bestimmt zum hundertsten Mal tupfte ich meine Schnupfennase mit dem durchnässten Papiertaschentuch ab. Ganz wund war sie schon, und das Brennen wurde auch immer schlimmer. Schniefend lehnte ich die Stirn wieder gegen die kühle Fensterscheibe und blickte sehnsüchtig hinunter auf die Bornstraße.

Vor dem Haus gegenüber schaufelte Hannah immer noch die Einfahrt frei. Unermüdlich rackerte sie sich mit dem großen Schneeschieber ab, die rote Wollmütze war ihr tief in die Stirn gerutscht, der kurze, rote Haarschopf vollständig darunter verschwunden.

Genau die gleiche dicke Mütze hatte ich auch zu Weihnachten bekommen, nur dass bei mir der lange, braune Zopf herausschauen würde – wenn ich die Mütze bloß endlich mal anziehen und nach draußen gehen könnte.

Till, Hannahs kleiner Bruder, wühlte in dem Schneeberg am Gehwegrand, der dank Hannahs emsiger Schaufelei stetig wuchs. Portionsweise klaubte er Hände voller Schnee heraus und klatschte sie auf seinen fast fertigen Schneemann, um ihm noch die richtigen Rundungen zu geben.

Ellen, die ältere Schwester der beiden, stapfte gerade zur Bushaltestelle, den Reiterhelm in der einen und den Leinenbeutel, aus dem die Reitstiefel heraussahen, in der anderen Hand.

Alle konnten sie an diesem verschneiten Mittwochmorgen draußen sein; nur ich hockte mit Fieber und Triefnase trostlos in meinem Zimmer, am 27. Dezember, mitten in den Weihnachtsferien!

Ich wandte mich vom Fenster ab. Mein wässriger Blick wanderte durch den Raum – und blieb an der Kiste hängen.

Seit die Möbelpacker sie im Sommer auf dem Speicher gefunden hatten, stand sie hier in meinem Zimmer. Nur nicht mehr mitten auf dem Flickenteppich, sondern an die Wand neben dem Kleiderschrank gerückt.

Irgendetwas hatte mich bisher immer daran gehindert, die darin gestapelten alten Bücher einfach alle auszupacken und ins Regal zu stellen. Vielleicht der leicht muffige Geruch, den sie nach den vielen Jahre auf dem Dachboden verströmten …

Nur der Band mit dem Titel „Der Mondsichel-Ohrring“, der zuoberst gelegen und den ich schon in den Sommerferien verschlungen hatte, stand längst im Regal. Er roch gar nicht mehr nach staubigem Speicher, aber der verblichene Einbanddeckel mit der altmodischen Schrift ließ trotzdem erahnen, wie alt das Buch tatsächlich war, nämlich gut dreißig Jahre.

Das hatte ich von Frau Mayer erfahren, der Vorbesitzerin unseres Hauses. Sie hatte mir bei ihrem Auszug die Kiste dagelassen und auch den Zettel geschrieben, der immer noch auf dem Deckel klebte: „Für Fanny. Ich glaube, sie sind für dich bestimmt“.

Tja, mit diesem geheimnisvollen Hinweis war das große Rätseln im letzten Sommer losgegangen.

Ich stellte mich vor den aufgeklappten Karton und spähte unschlüssig hinein. Ob es wohl egal war, welches Buch ich als nächstes las? Wenn ich allerdings an die Verwirrung dachte, in die schon der erste Band mich gestürzt hatte … Vielleicht hielt ich mich ja doch lieber an die Reihenfolge, in der die Bücher gestapelt lagen. Bestimmt hatte Frau Mayer sich auch dabei etwas gedacht. Und ich hatte vielleicht eine Chance, mich halbwegs zurechtzufinden in diesen Erzählungen, die immer wieder wie mit magischen Händen nach mir zu greifen schienen.

Also her damit! Ich beugte mich über die Kiste und förderte das oberste Buch zutage: „Das zweite Auge“ – auf jeden Fall wieder ein ziemlich geheimnisvoller Titel.

Bevor ich das Buch zum Bett trug, warf ich noch einen Blick aus dem Fenster. Während Till nach wie vor an seinem Schneemann herumbastelte und Ellen, von einem Bein auf das andere tretend, weiter an der Bushaltestelle wartete, war Hannah inzwischen im Haus verschwunden.

Mitten auf der Fahrbahn der Bornstraße jedoch prangte, von Hannahs dicken Winterstiefeln in den Schnee getrampelt, in großen Buchstaben: GUTE BESSERUNG!

Die liebe Hannah – was für ein Glück, dass ich nach unserem Umzug im vergangenen Sommer hier gleich eine so gute Freundin gefunden hatte!

Ich riss mich von dem tröstlichen Anblick der Botschaft im Schnee los und betrachtete stattdessen erwartungsvoll das Buch in meinen Händen. Vielleicht würde ich ja diesmal besser verstehen, warum diese Bücher, obwohl vor langer Zeit geschrieben, auf so merkwürdige Weise mit meiner Welt zu tun hatten. Ohne wieder Frau Mayer um Rat fragen zu müssen. Und von ihr dann doch nur ausweichende, nicht wirklich hilfreiche Erklärungen zu erhalten.

Hustend schlich ich zu meinem Bett, rollte mich auf der bunten Tagesdecke zusammen, das Taschentuch in der einen, das aufgeschlagene Buch in der anderen Hand, und begann zu lesen.

Mathis sang. Lauthals und mit sich überschlagender Stimme: „Sneheeflöckßen, weiß Röckßen, jähätzt kommst du geßneiht …“ – sein Lieblingslied, mit dem der Dreijährige, egal zu welcher Jahreszeit, verkündete, dass er glücklich war.

„Heute passt das Lied wenigstens mal!“, stellte Tobi fest.

„Ausnahmsweise“, ergänzte Felix.

Die Brüder knieten nebeneinander auf dem weichen, rotkariert bezogenen Federbett in Tobis Schlafkoje unter der Dachschräge und blickten, die Ellbogen auf das schmale Fensterbrett gestützt, durch das kleine Hüttenfenster hinaus in die tanzenden Flocken.

Solches Schneetreiben gab es wirklich nur in den Bergen! Wie froh sie sein konnten, jetzt hier Ferien zu machen, statt die restlichen Tage bis Neujahr zu Hause im Regen festzusitzen oder bestenfalls im Schneematsch herumzuwaten.

Unten in der Stube erstarb soeben der Gesang, und stattdessen ertönte Tante Floras Stimme: „So, komm, nur noch die Mütze!“

Ein unverständliches Brabbeln von Mathis war zu vernehmen, dann das Quietschen der Hüttentür, die geöffnet und wieder ins Schloss gezogen wurde. Unmittelbar darauf erschienen beide draußen vor dem Eingang, umkreist von Mimmo, dem schwarzgelockten Mischlingshund, der die Jungen überallhin begleitete, seit sie ihn im vergangenen Sommer aus dem Stuttgarter Tierheim geholt hatten.

Tante Flora, den pinkfarbenen Schal mehrmals um den Hals geschlungen und die ebenfalls pinkfarbene Mütze tief in die Stirn gezogen, griff sofort nach dem Schneeschieber, der an der Hüttenwand lehnte, und begann, energisch eine schmale Gasse durch den knietiefen Schnee zu schaufeln.

Mimmo rannte hinter ihr auf und ab, die Nase am Boden, so dass seine weichen schwarzen Schlappohren durch den Schnee schleiften.

Währenddessen stand Mathis, fast bewegungsunfähig in seinem dicken blauen Schnee-Anzug, etwas ratlos inmitten der Schneemassen, die ihm bis zum Bauch reichten. Probeweise ließ er sich einmal nach hinten fallen, was aber nur zur Folge hatte, dass er in Schräglage steckenblieb und, von Mimmo mit schiefgelegtem Kopf gemustert, hilflos mit Armen und Beinen ruderte.

Lachend unterbrach Tante Flora ihre Arbeit, packte Mathis am Gürtel seines Schnee-Anzugs und zog ihn hoch.

„Schnatti, du Clown!“ Kichernd klopfte Tobi an die Scheibe und winkte.

Den Spitznamen hatten Felix und Tobi im vergangenen Sommer für ihren kleinen Bruder erfunden, weil er ständig drauflosschnatterte und sein Mundwerk kaum jemals für längere Zeit stillstand.

Mathis legte den Kopf in den Nacken, entdeckte seine Brüder am Fenster und winkte strahlend zurück, wobei er vor lauter Schwung seinen Fausthandschuh verlor.

„Gut, dass es gestern Morgen noch nicht so geschneit hat, als die von der Werkstatt Tante Floras Wagen gebracht haben!“, meinte Felix, während er beobachtete, wie seine Tante sich mit dem Schneeschieber langsam um ihr völlig eingeschneites Auto herumarbeitete.

„Allerdings, denn dann hätten wir unser Gepäck immer noch nicht“, nickte Tobi und fügte grinsend hinzu: „Und gut, dass wir nicht vorher gewusst haben, wie chaotisch unsere Reise wird …“

„… und dass Schnatti nicht dabei war!“, vervollständigte Felix die Aufzählung. Er seufzte, und ein wohliger Schauer durchrieselte ihn bei der Erinnerung an den ersten Weihnachtsfeiertag.

Zwischenstopp in München

Bereits an Heiligabend hatten die Jungen, zusätzlich zu der ganz normalen weihnachtlichen Aufregung, ein unbehagliches Prickeln vor ihrer für den nächsten Tag geplanten Reise verspürt. Denn nicht nur sollten sie gleich am ersten Feiertag, kaum dass das festliche Mittagessen vorüber wäre, von dem gemütlichen, weihnachtlichen Haus und den gerade erst ausgepackten Geschenken Abschied nehmen. Vielmehr würden sie noch dazu allein mit dem Zug nach München fahren – etwas, das man schließlich nicht alle Tage machte!

Doch der Start in Stuttgart, wo Herr Jansen seine beiden Söhne in den Zug setzte, verlief so glatt, dass alle Nervosität schon nach kurzer Zeit verflogen war. Und wenn erst Tante Flora sie in München glücklich in Empfang genommen hätte, so dachten sie, würde auch die Weiterfahrt nach Österreich keine Aufregung mehr wert sein.

Und da hatte sie dann ja auch pünktlich am Bahnsteig gestanden, das Gesicht dick umrahmt von pinkfarbener Wolle.

Felix und Tobi wuchteten jeder ihren Koffer aus dem Zug und ließen sich anschließend vom Gedränge der Reisenden in Richtung ihrer Tante schieben.

„Willkommen, meine Lieblingsneffen!“ Der Ruf ging beinahe unter im ohrenbetäubenden Quietschen der Zugbremsen und dem Hallen der Lautsprecher-Durchsagen.

Gleich darauf wurden die Jungen von Tante Flora in die Arme geschlossen und herzhaft auf die Nasen geküsst. Anschließend ergriff sie beide Koffer und bahnte sich, ihre Neffen im Schlepptau, einen Weg durch das Getümmel zum Ausgang.

„So, schnell rein ins Auto! Ich steh‘ hier nämlich im absoluten Halteverbot“, drängte sie atemlos, knallte den Kofferraumdeckel zu, ließ die Jungen hinten einsteigen und sprang selbst auf den Fahrersitz ihres roten Kleinwagens.

„Wie gemütlich!“ Tobi knuffte mit der Faust das eine der beiden dicken, blau gestreiften Kopfkissen, die auf dem Rücksitz lagen.

„Ja, die hab‘ ich noch eingepackt, sonst hätten wir in der Hütte nicht genug Kissen für alle.“

Während sie sich durch den spritzenden Schneematsch in den Verkehr einreihte, verkündete Tante Flora mit einem Blick in den Rückspiegel: „Wir machen noch schnell einen Abstecher zum Museum. Ich muss da zwei Bilder fotografieren, dauert aber nicht lang.“

Tante Flora, das wussten die Jungen, schrieb Artikel für eine Münchener Zeitschrift, die irgendetwas mit Kunst zu tun hatte.

Stockdunkel war es bereits, als sie um kurz vor sechs am Museum parkten – diesmal auf einem rechtmäßigen Parkplatz.

Die Hand schon am Türgriff, drehte Tante Flora sich zu den Jungen um: „Wollt ihr im Auto warten oder lieber mit reinkommen?“

„Lieber mit rein ins Warme“, entschied Felix, und Tobi nickte heftig.

Auf dem Platz vor dem Museum lag eine beinahe unberührte Schneeschicht, und über dem Eingang hing ein großes Plakat: „Sonderausstellung – Leihgaben der National Gallery of Art, Washington“.

„Das Museum hat an den Feiertagen natürlich für Besucher geschlossen; sie bereiten jetzt diese Sonderausstellung vor“, erklärte Tante Flora und gab der Drehtür einen kräftigen Schubs.

„Tut mir Leid, aber wir haben geschl… – ach Frau Martini, Sie sind’s!“

„Guten Abend, Frau Schwab!“ Tante Flora zeigte der Frau, die, schon im Mantel, hinter dem Informationsschalter gerade alles Mögliche zusammenräumte, ihren Presse-Ausweis: „Ich bin auch gleich wieder weg, nur schnell zwei Fotos. Ich nehme meine Neffen kurz mit, in Ordnung? Wir gehen über die Seitentreppe.“

Frau Schwab nickte nur und fuhr fort, aufzuräumen.

Tante Flora entfernte sich eilig durch einen Säulengang seitlich von der Eingangshalle, und die Jungen folgten ihr mit einigem Abstand.

Plötzlich hielt Tobi seinen Bruder am Arm fest: „Guck mal, hier kann man gut Beschatten üben!“ Er wies auf die nahe beieinander stehenden, dicken Säulen.

Felix verdrehte die Augen: „Du mit deinem Detektiv-Fimmel!“

Seit ihrem Abenteuer im vergangenen Sommer war Tobi nämlich Feuer und Flamme für alles, was seiner Meinung nach bei künftigen Verbrecherjagden nützlich sein konnte.

Also tat Felix ihm den Gefallen, und leise schlichen sie, Säule für Säule als Deckung nutzend, zurück, bis sie wieder im Eingangsbereich angekommen waren. Hier konnten sie, jeder eng an eine Säule gepresst, beobachten, wie Frau Schwab unter leisem Murmeln in ihrer Tasche kramte und schließlich einen Spiegel und einen Lippenstift hervorzog. Sie war gerade dabei, den Lippenstift zu öffnen, als das Schleifen der Drehtür einen weiteren Besucher ankündigte.

Unwillig blickte Frau Schwab dem eintretenden Mann entgegen, der so dick eingepackt war, dass zwischen Mütze und Schal nur knapp seine Augen und die Nasenspitze herausschauten.

„Könnte mir mal gerade jemand helfen?“, krächzte er, unüberhörbar erkältet. „Ich hab‘ draußen im Wagen den neuen Spiegel.“

„Tut mir Leid, aber ich kann hier jetzt …“

„Lassen Sie nur, Frau Schwab“, wurde sie von einem jungen Mann in Museumswärter-Uniform unterbrochen, der in diesem Augenblick die breite Haupttreppe heruntergeeilt kam. „Ich weiß Bescheid. Der ist für die obere Garderobe.“

Und zu dem Mann gewandt: „Eigentlich waren Sie doch erst für morgen angekündigt, oder?“

„Ja, schon. Aber ich komme gerade auf dem Heimweg hier vorbei, und der Spiegel war schon verladen; da dachte ich, ich liefere ihn jetzt schnell noch ab.“

„Schon gut“, meinte der Wärter beschwichtigend, „ist ja gar kein Problem! Ich komm‘ direkt mit raus, muss mir nur gerade Stiefel und Jacke anziehen.“

„Vielen Dank, Herr Gruber!“, rief Frau Schwab ihm nach, als beide Männer gleich darauf durch die Drehtür nach draußen eilten.

Wenige Minuten später kehrten sie bereits zurück, zwischen sich nun ein offenbar sehr schweres Holzgestell, das mit einer Decke verhängt war.

„Wir bringen ihn direkt nach oben und tauschen ihn gegen den beschädigten aus. Den nimmt er dann gleich mit“, erläuterte Gruber im Vorbeigehen seiner Kollegin.

„In Ordnung“, rief Frau Schwab, „aber bitte schnell! Sie wissen ja, dass ich heute Abend diese Verabredung habe. Ich müsste eigentlich schon weg sein.“

Gruber drehte sich um und zwinkerte ihr zu: „Aber klar doch! Wir nehmen den Aufzug und fliegen!“

Ohne auf seinen scherzhaften Ton einzugehen, antwortete sie hektisch: „Ich räum‘ hier schon mal zusammen. Dann brauche ich gleich nur noch hinter Ihnen zuzusperren.“

Sie stopfte Spiegel und Lippenstift zurück in ihre Handtasche und nahm stattdessen einen einzelnen Schlüssel heraus.

„Ach, da seid ihr ja, Kinder! Auf geht’s! Ich bin fertig.“ Die Männer waren gerade im Aufzug verschwunden, als Tante Flora wieder im Säulengang auftauchte.

Felix und Tobi traten, als wären auch sie eben erst hierher zurückgeschlendert, mit unschuldigen Mienen hinter ihren Beobachtungsposten hervor.

Sie verabschiedeten sich von Frau Schwab, die sie aber vor lauter Nervosität kaum wahrzunehmen schien.

Draußen blieb Tante Flora bei der Drehtür kurz stehen, um den Autoschlüssel aus ihrer Tasche herauszusuchen. Felix und Tobi nutzten die Gelegenheit, um ein paar schwungvolle Extrarunden in der Tür zu drehen. Undeutlich konnten sie dabei von drinnen Grubers Stimme hören: „Frau Schwab, gehen Sie doch ruhig schon. Dann sperr‘ heute ausnahmsweise mal ich zu!“

Frau Schwab schien kurz zu überlegen – wahrscheinlich, weil das gegen die Vorschrift war, vermutete Felix. Dann rief sie zurück: „Der Schlüssel liegt auf dem Tresen“, und Gruber antwortete: „Ich bring‘ Ihnen den heute Abend noch an der Wohnung vorbei. Nicht dass Sie Ärger kriegen. Kann aber spät werden.“

„Tausend Dank!“, rief Frau Schwab und schlüpfte zu Felix und Tobi in die rotierende Drehtür. Draußen klemmte sie ihre Tasche unter den Arm und entfernte sich im Laufschritt zu einer am Rande des Museumsplatzes gelegenen Bushaltestelle.

Nicht weit vom Eingang parkte mit eingeschalteter Warnblinkanlage ein weißer Kastenwagen. Felix und Tobi erkannten ein Münchener Kennzeichen und an der Seite des Wagens die blaue Aufschrift „Glaserei Aumüller“, unterstrichen von einem dicken blauen Balken.

„Macht ein Glaser auch Spiegel?“, vergewisserte sich Tobi bei seiner Tante.

„Ja klar! Spiegelglas ist schließlich auch nur eine Glassorte. Aber kommt jetzt, mir ist kalt!“

Tante Flora und Tobi liefen über den knirschenden Schnee in Richtung Parkplatz; Felix allerdings rührte sich nicht vom Fleck, sondern betrachtete interessiert den blauen Schriftzug der Glaserei: Über dem i und dem ü befanden sich anstelle von Pünktchen kleine, auf der Spitze stehende Quadrate. Das würde er mal für seine Unterschrift ausprobieren, beschloss Felix.

Als nächstes musterte er, obwohl die beiden anderen bereits ungeduldig vom Parkplatz zu ihm herüberwinkten, neugierig die Stiefel-Abdrücke im Schnee, die zwischen Wagen und Museumseingang hin und her führten: Wie Bärentatzen sahen die aus!

‚Toll, richtig echt‘, dachte er. ‚Solche Spuren morgens vor der Hütte, und man würde glatt Angst bekommen.‘

Fröstelnd riss er sich endlich vom Anblick der täuschend echten Spuren los, rannte zum Parkplatz und schlüpfte zu den beiden anderen ins Auto.

Am Museum waren inzwischen auch der Glaser und Herr Gruber auf den Vorplatz getreten. Das Gestell mit dem alten Spiegel und der darüber gebreiteten Decke zwischen sich, steuerten sie langsam den Lieferwagen an.

Als Felix sich, schon auf dem Rücksitz, noch einmal umdrehte, sah er, wie die beiden gerade ihr Gestell vorsichtig in den fensterlosen Laderaum verfrachteten.

Während der Glaser die Wagentüren zuschlug, eilte Gruber noch einmal zum Museumseingang, schloss dort ab und kehrte anschließend wieder zum Auto zurück.

Beide Männer stiegen ein, und der Wagen fuhr los. Auch Tante Flora startete den Motor und ließ ihr Auto langsam über den verschneiten Parkplatz rollen.

Als vor ihnen der Glaserei-Wagen jetzt noch einmal bremste, um eine Lücke im Straßenverkehr abzupassen, bemerkte Felix, dass dessen rechtes Bremslicht nicht aufleuchtete.

Kurz darauf, der weiße Kastenwagen war bereits in der Lichterkolonne verschwunden, reihte sich auch Tante Flora in den dichten Verkehr ein, musste jedoch gleich darauf wieder vor einer roten Ampel anhalten.

Während sie ungeduldig mit den Fingern aufs Lenkrad trommelte, blickte Felix noch einmal zum Museum zurück.

Und da geschah etwas Merkwürdiges: Er sah, wie sich am Seitentrakt des großen Gebäudes eine Tür öffnete und eine Gestalt herausstolperte.

Es war ein Mädchen mit einer roten Strickmütze. Das Mädchen machte ein paar Schritte vom Museum weg, und Felix erkannte, dass sie stark humpelte. Und sie wirkte irgendwie gehetzt. Jetzt blickte sie suchend um sich, dabei flog der braune Zopf, der unter ihrer Mütze herabhing, hin und her. Dann entfernte sie sich, immer noch humpelnd, aber offensichtlich in großer Eile, in Richtung der Bushaltestelle.

Noch einmal sah Felix das Rot der Mütze in der Menschentraube an der Haltestelle aufleuchten, dann war das Mädchen endgültig in der Menge der Wartenden untergetaucht.

‚Geht das schon wieder los!‘ Ich ließ das Buch sinken und betupfte gedankenverloren meine tropfende Nase mit dem zerknüllten Taschentuch.

Ehrlich gesagt hatte ich ja schon damit gerechnet, dass dieses geheimnisvolle Mädchen aus dem „Mondsichel-Ohrring“ auch in diesem Band wieder auftauchen könnte. Dieses Mädchen, das mir so verblüffend ähnlich sah. Aber trotzdem fühlte ich mich überrumpelt.

„Allerdings, mein lieber Felix …“, murmelte ich vor mich hin, „… passt es diesmal leider nicht so ganz: Rote Mütze – okay. Zopf sowieso. Aber erstens humpele ich nicht, und zweitens bin ich noch nie in München gewesen!“

„Fanny, Post für dich!“ hörte ich in diesem Augenblick meine Mutter von der Treppe her rufen. Gleich darauf stand sie schon in der Tür, einen Teller mit Orangenspalten in der einen, einen Brief in der anderen Hand.

„Wer schreibt mir denn?“ Neugierig griff ich nach dem grünen Umschlag und schob mir gleichzeitig ein Stück Apfelsine in den Mund. Bergmann-Verlag? Das sagte mir gar nichts.

Ich riss den Umschlag auf, entfaltete den Briefbogen und las: „Herzlichen Glückwunsch, sehr geehrte Frau Fanny Mertens!“

„Danke, danke“, kicherte ich und fuhr fort zu lesen: „Sie haben ein Wochenende für zwei Personen im Hotel ‚Vier Löwen‘ in München gewonnen!“

„Hä?!“ Ratlos sah ich zu meiner Mutter auf. Doch die zuckte nur mit den Schultern und wartete selbst auf eine Erklärung.

Und dann dämmerte es mir: Vor ein paar Wochen, als ich beim Friseur endlos auf meine Mutter warten musste, hatte ich dort in einer Zeitschrift ein Rätsel gelöst. „Original und Fälschung“, so eins, wo man zwei Bilder miteinander vergleichen und zehn Unterschiede finden muss.

Ein kleines Mädchen war auf den Bildern zu sehen, das mit einer Gießkanne in der Hand auf einem Gartenweg zwischen Blumenbeeten stand. Und da konnte man dieses Wochenende in München gewinnen!

In einem unbeobachteten Augenblick hatte ich die Seite herausgerissen und eingesteckt. Hauptsächlich, weil ich ja unbedingt mal nach München fahren wollte, wegen Frau Mayers Freundin Flora, die dort in einem Seniorenhaus wohnte.

Die hatte nämlich, wie ich letzten Sommer von Frau Mayer erfahren hatte, vor langer Zeit den „Mondsichel-Ohrring“ und die anderen Bücher geschrieben. Und darin nicht nur sich selbst als „Tante Flora“ eingebaut, sondern auch den Ort, in dem ich seit letztem Sommer wohnte, „meine“ Straße und all ihre Bewohner. Und deshalb war mir das, obwohl sich natürlich inzwischen vieles verändert hatte, beim Lesen alles so merkwürdig bekannt vorgekommen.

Nur eins hatte Frau Mayer nicht erklären können, nämlich die Sache mit diesem rätselhaften Mädchen, das haargenau so aussah wie ich und das merkwürdigerweise im Buch immer nur von Felix wahrgenommen wurde. Ein solches Mädchen hatte aber in Wirklichkeit nie hier gewohnt – bis ich hergezogen war, dreißig Jahre später!

Darüber hatten Frau Mayer und ich im Sommer vergeblich gerätselt, weshalb ich dringend die richtige Tante Flora dazu befragen wollte.

Weil ihre Freundin aber, wie Frau Mayer mir voller Bedauern eröffnet hatte, nicht mehr telefonieren konnte und überhaupt wohl ziemlich schlecht dran war, musste man schon zu ihr hinfahren, wenn man überhaupt etwas herausbekommen wollte.

Jedenfalls klebte ich dann zu Hause die Bilder mit den umkringelten Fehlern auf eine Postkarte, schrieb die angegebene Adresse drauf, drückte den Stempel mit meiner Adresse als Absender auf und warf die Karte in den Briefkasten. Und dann hatte ich das ganze vergessen – bis eben.

„Für zwei Personen, toll, dann nehme ich Hannah mit!“ Ich begann bereits zu planen, doch meine Mutter bremste mich: „Langsam, langsam! Erstens bist du krank, und zweitens besprechen wir das erst mal in Ruhe zusammen mit deinem Vater.“

Wenn sie „dein Vater“ sagte, würde es schwierig werden, das wusste ich.

Die Panne

Endlich sprang die Ampel auf Grün, und die Autoschlange setzte sich in Bewegung.

Besorgt beobachteten Tante Flora, Felix und Tobi den Wagen vor ihnen, der nicht richtig in Fahrt kam, sondern im Schneematsch beängstigend hin und her schlingerte.

Deshalb bemerkte keiner von ihnen den überaus vornehm wirkenden, älteren Herrn, der in einem edlen, weich fließenden blauen Wollmantel über den Museumsplatz spazierte, um wenig später einige Häuser weiter im Haupteingang eines großen Hotels zu verschwinden.

Auf der Autobahn schliefen Felix und Tobi, eingelullt vom monotonen Brummen des Heizgebläses, irgendwann ein. Von dem Stau am Irschenberg, der von liegengebliebenen Lastwagen ohne Schneeketten verursacht wurde und sie eineinhalb Stunden – und Tante Flora einige Nerven – kostete, bemerkten sie nichts. Sie erwachten erst wieder von Tante Floras Ausruf: „Gleich sind wir in Österreich!“

Der Wagen hielt und ein eisiger Luftschwall traf ihre schlafwarmen Gesichter.

Tante Flora hatte das Fenster heruntergekurbelt, aber der Zollbeamte in seinem Häuschen neben der Schranke linste zunächst nur durch die beschlagene Scheibe, unschlüssig, ob er sein warmes Plätzchen verlassen oder einfach mit einem Knopfdruck die Schranke hochfahren sollte.

Schließlich bequemte er sich aber doch, herauszukommen, trat ans Auto und nahm die Pässe entgegen, die Tante Flora ihm durchs Fenster hinausreichte.

„Wo wollt’s denn noch hin?“, erkundigte er sich, während er jeden Pass gründlich unter die Lupe nahm.

„Nach Hinterwiehl.“

„Na dann passt’s aber auf, dass’s die Steigung mit Schwung nehmt’s. Sonst kimmt’s da nimmer aufi heut‘ abend. Des hat vorhin no amol g’schneit wie verruckt.“

Felix und Tobi hatten Mühe, den Dialekt des Mannes zu verstehen, aber Tante Flora schien damit keine Schwierigkeiten zu haben. Sie bedankte sich für den Rat, kurbelte das Fenster hoch und fuhr los.

„So, jetzt hoffe ich nur, dass wir es ohne Schneeketten schaffen. Winterreifen hab‘ ich ja drauf, und bisher hat es auch immer geklappt …“

Sie ließen den kleinen Grenzort hinter sich und folgten unter einem sternklaren Himmel der schmalen, gewundenen Straße, die, wie es schien, mitten durch ein Waldgebiet führte. Rechts und links türmten sich am Straßenrand hohe Schneewehen, die der Schneepflug dort hinterlassen hatte. Trotzdem war die Fahrbahn von einer geschlossenen Schneeschicht bedeckt, auf welcher der Wagen beinahe lautlos dahinglitt.

Am Fuß der angekündigten, in einer langgezogenen Kurve verlaufenden Steigung atmete Tante Flora einmal tief durch und bat mit gepresster Stimme: „Jetzt haltet mal die Daumen!“

Voller Anspannung verfolgten die Jungen, wie sie vorsichtig beschleunigte, Schwung für die Steigung sammelte und dann in flottem Tempo die erste Kurve in Angriff nahm.

Es funktionierte! Zügig fuhren sie weiter; nur zweimal brach der Wagen hinten aus und schleuderte beängstigend, doch er fing sich jedes Mal wieder und bewältigte brav Kurve für Kurve.

Oben angekommen atmeten alle drei hörbar aus, und Tante Flora meinte erleichtert: „Klappt doch! Und der Rest ist jetzt ein Kinderspiel.“

Nach dieser Entwarnung lehnten Felix und Tobi sich zurück in ihre Kissen, und über dem leisen Brummen des Motors wurden ihnen die Augenlider wieder schwer.

„Achtung!!!“

Erschreckt fuhren die Jungen hoch. Die Vollbremsung schleuderte sie nach vorn, dann wurden sie mit einem schmerzhaften Ruck von den strammen Sicherheitsgurten abgefangen.

Mit weit aufgerissenen Augen verfolgten Felix und Tobi, wie der Wagen schlingerte, ausbrach und sich dann wie in Zeitlupe mit dem Kühler voran tief in die hohe Schneewehe am rechten Straßenrand bohrte.

Das Reh, das eben noch mitten auf der Fahrbahn gestanden hatte, setzte bereits mit einem eleganten Sprung über die Schneewehe auf der linken Straßenseite und verschwand in der Dunkelheit des Waldes.

„Das war’s dann wohl“, murmelte Tante Flora. Mit einem Seufzer schaltete sie die Warnblinkanlage ein, stellte den Motor ab, zog den Schlüssel aus dem Zündschloss und drehte sich zu ihren versteinerten Neffen um.

„Ich fürchte, jetzt müssen wir zu Fuß weiter. Nehmt jeder euer Kissen unter den Arm. Und wir holen eure Schlafanzüge aus dem Koffer. Alles andere hat Zeit bis morgen.“

Noch halb betäubt vom Schreck kletterten Felix und Tobi mühsam von ihren warmen Sitzen hinaus auf die Straße, wo die eisige Kälte sie schlagartig aus ihrer Benommenheit riss.

Nachdem sie die Schlafanzüge herausgekramt und in einer leeren Tüte verstaut hatten, suchte Tante Flora das Warndreieck unter den Koffern hervor, klappte es auseinander, lief einige Schritte zurück und stellte es an den Fahrbahnrand.

„So, auf geht’s!“, meinte sie betont munter.

Stumm gingen sie los; Felix und Tobi trugen jeder ihr Kissen, Tante Flora die Plastiktüte mit den Schlafanzügen. So marschierten sie müde hintereinander am Rand der stockdunklen Straße dahin. Nur der Schnee unter ihren Stiefeln knarzte leise bei jedem Schritt, und in weißen Wölkchen stieg der Atem in der klirrenden Kälte vor ihren Gesichtern auf.

‚Die Armen – kein Handy!‘ Ich konnte mir das gar nicht vorstellen. Heute würde man bei einer solchen Panne, egal wo oder wann, einfach ein Taxi oder einen Abschleppdienst anrufen.

Andererseits …, eigentlich beneidete ich die Jungen: Wie aufregend das Leben sein konnte, ohne die Technik von heute!

Wenn ich mir ausmalte, ich wäre auf so einer Reise unterwegs! Meine Eltern hätten schon ‘zigmal angerufen, um „nur mal kurz“ zu fragen, wo ich gerade sei und ob ich auch etwas Warmes gegessen hätte. Ich konnte meine Mutter förmlich hören: „Gib mir doch mal eben deine Tante …“

Da hatte man ja überhaupt keine Chance mehr, ein echtes Abenteuer zu erleben! Dachte ich.

Von unten duftete es auf einmal herrlich nach Sauerkraut und Mettwürsten, das konnte sogar ich durch meinen Schnupfen hindurch riechen.

Vielleicht sollte ich ja vor dem Mittagessen schon mal Hannah anrufen und ihr von meinen Reiseplänen berichten?

Gesagt, getan – und natürlich war sie sofort restlos begeistert. Zuversichtlich meinte sie zum Schluss: „Meine Eltern werde ich schon überreden. Sieh‘ du nur, dass du schnell gesund wirst!“

Das Gasthof-Auto

„Und wie weit ist das jetzt noch?“, fragte Felix nach einer Weile.

„Ach, ein Stück schon noch“, antwortete Tante Flora verdächtig ungenau. „Aber ihr könnt ja morgen ausschlafen …“

Den Jungen schwante nichts Gutes.

„Ein Glück, dass Schnatti nicht dabei ist!“, murmelte Tobi. „Das würde der jetzt nicht schaffen.“

„Nee“, ergänzte Felix düster, „und ihn den ganzen Weg zu tragen, das würde Tante Flora nicht schaffen.“

„Jetzt hört aber auf mit solchen Schreckens-Phantasien!“, stöhnte Tante Flora. „Mir reicht es auch so schon!“

Schweigend setzten sie ihren Weg fort. Mit jedem Schritt schienen ihre Beine schwerer und die Kurven steiler zu werden. Ganz zu schweigen von der beißenden Kälte, die allmählich sogar durch ihre dicken Anoraks drang.

Irgendwo in der Ferne schlug langsam und bedächtig eine Kirchturmuhr.

„Neun Uhr!“ Tante Flora stöhnte. „Dann sind wir seit der Abfahrt am Museum schon drei Stunden unterwegs – normalerweise wäre das eine Fahrt von einer Stunde!“

‚Na wunderbar“, dachte Felix, ‚und das am ersten Weihnachtsfeiertag …‘

Plötzlich erklang hinter ihnen in der Stille, zunächst kaum wahrnehmbar, dann immer lauter, ein Motorengeräusch.

Voller Hoffnung drehten sich Felix und Tobi um, und tatsächlich: Zwei Scheinwerfer steuerten direkt auf sie zu!

Ein Auto! Die Jungen wollten schon in Jubel ausbrechen. Doch statt zu verlangsamen fuhr der Wagen in unvermindertem Tempo an ihnen vorbei und verschwand hinter der nächsten Kurve. Weg war er, wie eine Fata Morgana!

„Fanny, kommst du zum Essen?!“

„Ausgerechnet jetzt …“ Widerstrebend legte ich das Buch auf mein Bett und lief nach unten.

Am Tisch sagte meine Mutter, zu meinem Vater gewandt: „Hat Fanny dir eigentlich schon erzählt, dass sie ein Wochenende in München für zwei Personen gewonnen hat?“

Ich hielt die Luft an, aber zu meiner Überraschung antwortete mein Vater: „Dann fahrt ihr beide mal, und ich genieße hier in Ruhe die letzten Tage vom alten Jahr.“

„Aber ich wollte eigentlich mit Hannah …“, wandte ich ein.

Mein Vater ließ seine Gabel sinken: „Ihr zwei allein? Kommt ja gar nicht in Frage! Und außerdem bist du krank!“

Meine Mutter nickte mit Nachdruck .

„Ach Mami, Papi, bitte! Ich bin doch …“ Tränen traten mir in die Augen, so heftig kämpfte ich gegen den Hustenreiz an, der ausgerechnet in diesem Moment wie wild in meiner Brust auf und ab hüpfte. „… praktisch schon wieder ganz ges…“