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Ein spannendes altes Buch über eine gefährliche Entführerjagd: Die Abenteuer von Felix, Tobi und der Roten Bohne ziehen Fanny sofort in ihren Bann. Doch beim Lesen dämmert ihr nach und nach auch, dass dieses Buch auf ganz unheimliche Weise etwas mit ihr selbst zu tun hat … »Spannung pur… ein wahres Kleinod, ein Lesegenuss, nicht nur für Kinder.« (W. Bönisch, Kinderbibliothek.blogspot.com) +++ »Bildreich, witzig und intelligent … ein mitreißender Krimi.« (buchreport 02/2016)
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Seitenzahl: 212
Veröffentlichungsjahr: 2016
Ulla Hesseling
Copyright: © 2016 Ulla Hesseling
Umschlag: Meike Teichmann
Satz: Erik Kinting – www.buchlektorat.net
Verlag: tredition GmbH, Hamburg
ISBN:
978-3-7345-6159-7 (Paperback)
ISBN:
978-3-7345-6160-3 (Hardcover)
ISBN:
978-3-7345-6161-0 (E-Book)
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Das Unwahrscheinliche muss man sich nicht ausdenken – es geschieht jeden Tag, ganz von allein.
„So, das reicht jetzt aber!“
Während der Laptop surrend die Mathe-CD auswarf, schwang ich mich mit einem Seufzer auf meinem Schreibtischstuhl herum und ließ den Blick durch das neue Zimmer schweifen. Sofort hellte sich meine Miene auf: Da stand ja, mitten auf dem Flickenteppich, immer noch die Kiste! Vor lauter Lernen hatte ich sie ganz vergessen.
“Hier, die haben wir eben auf dem Dachboden gefunden. Scheint ja wohl für dich zu sein!“, mit diesen Worten hatte vorhin einer der Möbelpacker den offenbar ziemlich schweren Karton in meinem Zimmer abgestellt. Total verstaubt war er, nur der Zettel, der auf einer Ecke klebte, wirkte neu und sauber.
Diesen Zettel sah ich mir nun näher an.
‚Für Fanny‘, stand darauf und: ‚Ich glaube, sie
sind für dich bestimmt‘.
Die Handschrift erkannte ich sofort wieder, es war nämlich dieselbe wie auf der Liste unten in der Küche. Da hatte Frau Mayer uns ein paar Tipps aufgeschrieben: Wie die Heizanlage funktionierte, die Adresse des Gärtners, der jeden Winter den großen Ahorn auf der Wiese stutzen sollte – lauter Sachen, die mich wenig interessierten. Bis auf eins: ‚Ab Mitte August Pflaumen ernten‘, das klang ziemlich gut!
„Was da wohl drin ist?“, murmelte ich, während ich mich vor der Kiste hinkniete, die dicke Staubschicht mit dem Arm wegwischte und den Deckel aufklappte.
Bücher! Bücher waren da gestapelt, bestimmt zehn oder mehr.
Aber wieso für mich bestimmt?!
Neugierig nahm ich den obersten Band heraus. Die Farben des Einbanddeckels waren ganz verblichen, und ein bisschen muffig roch das Buch auch. ‚Na, kein Wunder nach so vielen Jahren auf dem Dachboden‘, dachte ich. ‚Sicher schrecklich altmodische Geschichten.‘
Der Titel allerdings erschien mir gar nicht mal schlecht, irgendwie geheimnisvoll: „Der Mondsichel-Ohrring“.
Ich setzte mich bequem zurecht und musterte gleichzeitig noch einmal zufrieden mein Zimmer. Gut, dass ich gestern sofort als erstes den Schrank und die Regale eingeräumt hatte; jetzt sah es hier schon richtig gemütlich aus.
Ich zwirbelte das Ende meines Zopfes um den rechten Zeigefinger, schlug das Buch auf und begann, den Rücken gegen die Kiste gelehnt, zu lesen.
Am Morgen des 18. Juli erwachte Felix mit dem unbestimmten Gefühl, dass irgendetwas anders war als sonst. Taghell leuchtete schon die Sonne durch die Vorhänge, und von unten klangen gedämpft die Stimmen seiner Eltern und das Klappern von Frühstücksgeschirr herauf, in unregelmäßigen Abständen übertönt vom krähenden Singsang des dreijährigen Mathis.
Verschlafen angelte Felix auf dem Bücherbord über seinem Kopf nach der Armbanduhr; dann aber war er mit einem Schlag hellwach und starrte entgeistert das Zifferblatt an: Schon halb neun – und niemand hatte ihn geweckt! Dabei müsste er doch längst in der Schule sein!
Mit einem Ruck richtete er sich auf und wollte gerade die Decke von sich werfen, als sein Blick an dem rot umkringelten Datum auf seinem Saurier-Kalender hängen blieb: Mann,
heute war ja Freitag, der 18., – erster Ferientag!
Mit einem wohligen Seufzer ließ Felix sich wieder ins Kissen zurückfallen. Genüsslich räkelte er sich und kratzte ein bisschen an dem Mückenstich unter seinem linken Fuß.
Jetzt lagen sie also vor ihm, sechs lange, vielversprechende Sommerwochen, verlockend wie das neue Dinosaurier-Buch, das schon in der Buchhandlung für ihn bereit lag.
Bei diesem Gedanken verspürte Felix plötzlich überhaupt keine Lust mehr, auch nur eine Sekunde länger liegen zu bleiben. Also schwang er sich aus dem Bett, trat hinaus auf den Flur und warf einen Blick über das Geländer nach unten in die Essdiele.
Alle saßen sie schon da: Seine Mutter bemühte sich gerade, eine verklemmte Brotscheibe aus dem Toaster zu angeln, ohne sich dabei die Finger zu verbrennen. Sein jüngerer Bruder Tobi, den blonden Schopf hell beschienen von einem Streifen Sonnenlicht, kaute versonnen sein geliebtes Müsli. Hin und wieder hielt er inne, um mit der Zunge die Zahnlücke zu befühlen, die von seinem Fahrradsturz vorgestern herrührte.
Er war noch im Schlafanzug, genau wie Mathis, der wegen seiner durchdringenden Stimme und seines niemals stillstehenden Mundwerks in letzter Zeit von allen nur noch „Schnatti“ genannt wurde.
Herr Jansen erhob sich gerade von seinem Platz, um sich auf den Weg zur Arbeit zu machen.
„Moorgen!“ Ausgelassen sprang Felix die Wendeltreppe hinunter, so dass seine nackten Füße auf die Holzstufen niederklatschten und die ganze Treppe noch leise dröhnend vibrierte, als er sich schon an seinen Platz auf der Eckbank zwängte.
„Iih! Mensch, Schnatti!“ Ahnungslos, aber mit Schwung war Felix in einem dicken Klacks Quark gelandet, den Mathis kurz zuvor auf die Bank hatte fallen lassen. Augenblicklich drang es kalt und glitschig-nass durch den dünnen Stoff von Felix‘ Schlafanzughose.
Hastig fuhr er von der Bank hoch, wobei er unglücklicherweise Mathis’ Kakaobecher umstieß. Und schon ergoss sich die braune Soße über den Frühstückstisch und bahnte sich in Windeseile ihren Weg um die Butterdose herum, zwischen den Marmeladengläsern hindurch und unter den Brotkorb.
„Felix hat in die Hos‘ demacht“, jauchzte Mathis, und Tobi schrie vor Lachen und spuckte dabei ein paar matschige Müsliflocken quer über den Tisch.
Das brachte Frau Jansen endgültig aus der Fassung: „Kann man hier denn nicht einmal in Ruhe frühstücken?!“ Ihre Stimme wurde schrill vor Ärger: „Geh‘ sofort nach oben und zieh‘ dir eine andere Hose an!“
Felix wehrte sich empört: „Aber ich kann doch überhaupt nichts daf “-
„Schluss jetzt“, fuhr Herr Jansen dazwischen,
„ab nach oben!“
„Darum ist sein Po so zart: Täglich eine Quark-Kur“, säuselte Tobi mit verklärtem Blick.
„Haha, sehr witzig!“ Felix stapfte nach oben und nahm sich aus dem Flurschrank Wäsche, Shorts und ein T-Shirt. Krachend schlug er die Badezimmertür hinter sich zu, zog schnell die Schlafanzughose aus und ließ sie auf den Boden gleiten. Während er anschließend in die frischen Sachen schlüpfte, spähte er aus dem Dachfenster hinunter auf die Burgstraße.
Draußen war überhaupt nichts los – doch, jetzt quietschte rechts nebenan das Gartentörchen von Beckers, und Fabian trat auf die Straße, sein Skateboard unter dem Arm.
‚Bestimmt flüchtet er gerade, damit er seiner Mutter nicht im Garten helfen muss‘, vermutete Felix.
Fabian stieß sich ab, rollte am Haus von Jansens vorbei und verschwand nach links in Richtung Obstwiese. Am Klackern der Räder hörte Felix, wie er Fahrt aufnahm und sich entfernte.
Wieder war es still. Selbst die Flagge gegenüber, vor dem Haus von Westermanns, baumelte schlaff und regungslos an der Spitze der hohen Fahnenstange. Und auf dem großen verwilderten Grundstück rechts daneben mit dem allmählich verfallenden alten Häuschen tat sich natürlich auch nichts.
„Das kauft irgendwann jemand, reißt es ab und baut was schickes Neues hin“, meinte Herr Jansen jedes Mal, wenn seine Frau sich über den hässlichen Anblick beklagte.
Plötzlich erklang von rechts ein Motorengeräusch. Felix stellte sich auf die Zehenspitzen und erspähte ganz hinten, auf der Höhe der Bushaltestelle, einen Wagen, der rasch näher kam, eigentlich sogar viel zu schnell. Schon war er unten am Haus vorbeigeprescht, nahm bereits mit quietschenden Reifen die Kurve hinter der Obstwiese, blitzte dort noch einmal metallisch grün auf und war wie ein Spuk auch schon wieder verschwunden.
„Was für ein Irrer war das denn?“, murmelte Felix.
‚Aber der wird sowieso gleich wieder zurückkommen‘, dachte er, während er das Bad verließ. Denn hinter der Kurve war ja Schluss, da kam nur noch die gelbe Schranke, und dahinter begann schon der Wald. Und einen Schlüssel für die Schranke besaßen nur der Förster und seine Mitarbeiter.
Und überhaupt: Wozu stand denn am Anfang der Burgstraße das Sackgassen-Schild?! Deswegen konnten sie auf der Straße ja so ungestört spielen, weil außer den Anwohnern kaum jemand mit dem Auto hier entlangfuhr. Und das Haus von Jansens mit seinem tiefblau gestrichenen Garagentor war sowieso das letzte in der Straße, da kam erst recht nie jemand vorbeigefahren – höchstens mal der Bauer mit dem Traktor zur Apfelernte.
Felix eilte hinunter, um den anderen von seiner Beobachtung zu berichten. Doch außer Mathis, der ihm treuherzig entgegengrinste, saß niemand mehr am Frühstückstisch.
Also machte sich Felix über die Scheibe Rosinenbrot mit Leberwurst her, die, sicher ein Friedensangebot seiner Mutter, schon fertig gestrichen auf seinem Teller lag.
„Ssade, daß du so’n Hunger hast!“, bemerkte Mathis, der in letzter Zeit nicht nur sehr gesprächig, sondern auch unglaublich verfressen war.
Überzeugt, dass von Felix’ Brot nichts mehr für ihn abfallen würde, rutschte er umständlich von der Bank herunter und verschwand in Richtung Küche, wo Frau Jansen mit dem Geschirr hantierte und dabei eine Melodie pfiff.
Das Pfeifen brach ab, und Frau Jansen kam, die Hände in den Gummihandschuhen seitlich von sich gestreckt, zu Felix an den Tisch.
„Was hast du eigentlich heute so vor?“, erkundigte sie sich.
„Weiß noch nicht genau“, erwiderte Felix, wich dabei aber ihrem Blick aus. Denn tatsächlich war ihm gerade eingefallen, dass er ja statt in die Buchhandlung heute Vormittag schon mit Tobi zur Höhle gehen könnte.
Von der wussten ihre Eltern aber bisher nichts.
‚Und das ist auch besser so‘, dachte Felix bei sich. Denn sie würden ihnen doch nur verbieten, dort zu spielen. Manche Dinge musste man einfach vor ihnen geheim halten, wenigstens so lange, bis sie irgendwann durch Zufall selbst dahinter kamen.
Um nicht noch mehr lästige Fragen heraufzubeschwören, kippte er rasch den restlichen Kakao hinunter und stand auf.
Im gleichen Augenblick kam Tobi von draußen hereingestürmt.
„Fabian fährt heute Mittag für drei Wochen zu seiner Oma“, verkündete er atemlos, „ich soll in der Zeit nach seinen Meerschweinchen sehen. Und er leiht mir solang seine Stelzen, die extra hohen!“
„Na“, meinte Frau Jansen, „dann pass nur auf, dass nichts drankommt.“
„Jaja“, stöhnte Tobi, verdrehte die Augen und folgte dann Felix die Treppe hinauf.
Nach kurzem Beratschlagen in Felix’ Zimmer beschlossen beide, Stelzenlaufen und Buchhandlung auf den Nachmittag zu verschieben und gleich als erstes zur Höhle zu gehen.
Als sie das Haus verließen, klappte Frau Jansen auf der Wiese gerade die Wäschespinne auseinander; ein Korb mit nasser Wäsche stand schon daneben im Gras.
„Wohin geht ihr denn?“, wollte sie wissen, und Felix antwortete rasch: "Och, wir gucken mal am Spielplatz vorbei.“
Ein richtig gutes Gewissen hatte er dabei nicht, obwohl es ja nicht einmal direkt gelogen war. Lag doch der Spielplatz immerhin am Weg zu ihrer Höhle.
„Um halb eins gibt’s Essen!“, rief Frau Jansen noch hinter ihnen her.
Sie hatten schon die Obstwiese erreicht, als Tobi stehen blieb.
„Das ist die Idee!“, murmelte er, machte kehrt und lief zum Haus zurück.
Felix, der nicht wusste, was er davon halten sollte, wartete ein paar Minuten; dann schlenderte er ebenfalls langsam wieder zurück.
Neben dem blauen Garagentor stellte er sich in den Schatten der Hecke. Die Sonne brannte schon richtig, und leichter Teergeruch stieg von der Fahrbahn auf.
‚Mann, wo bleibt der denn‘, dachte er ungeduldig, ‚nicht dass wir jetzt gleich auch noch Schnatti am Hals haben!‘
Unruhig ging er noch ein paar Schritte weiter bis zum Haus von Beckers. Von Fabian war nichts mehr zu sehen, bestimmt musste der jetzt packen.
Auch im Garten von Morells, gleich neben Beckers, war es still – doch halt, Felix stutzte: Da saß ja ein Mädchen im Pflaumenbaum und las! So vertieft war sie in ihr Buch, dass sie nichts um sich herum wahrzunehmen schien.
Gerade wollte Felix sie ansprechen, da erschien Tobi wieder auf der Straße – allein zum Glück! -, unter jeden Arm eine Stelze geklemmt und sein Fernglas vor der Brust baumelnd.
„Ich konnte das Fernglas nicht finden“, erklärte er, „deshalb hat’s so lang gedauert.“
„Und was willst du jetzt mit dem ganzen Zeug?“
„Wart’s ab!“, bekam Felix zur Antwort.
Achselzuckend setzte er sich in Bewegung, und Tobi marschierte, die Stelzen wie zwei Gewehre geschultert, mit vielsagendem Grinsen neben ihm her in Richtung Sackgasse.
Dort angekommen, bemerkte Felix überrascht, dass der grüne Wagen keineswegs, wie er angenommen hatte, hier parkte. ‚Komisch‘, dachte er, ‚ich könnte schwören, dass der Raser nicht wieder zurückgefahren ist; das hätte ich beim Frühstück doch mitbekommen‘. Ob der vielleicht doch einen Schlüssel für die Schranke gehabt hatte und durchgefahren war?
Die Jungen duckten sich unter dem gelb lackierten Schlagbaum hindurch und betraten den Waldweg. Auf dem knirschenden Schotter gingen sie weiter, ließen den Spielplatz, von dem schon fröhliches Rufen und Schreien herüberklang, rechts liegen und strebten geradeaus in Richtung des Rippenbaums.
So hatten sie den ersten der drei Wegweiser getauft, die ihnen halfen, den verborgenen Weg zur Höhle immer wiederzufinden.
Da stand sie schon, die Tanne: Unten üppig grün, der obere Teil dagegen kahl und schwarz verkohlt wie ein düsteres Gerippe. Irgendwann war wohl einmal ein Blitz in die Spitze hineingefahren.
Von hier ab musste man Ausschau nach dem zweiten Wegweiser halten, einem dicken Farnbüschel, das in einer Mulde neben einem alten, bemoosten Baumstumpf auf der linken Seite des Weges wuchs.
Denn dort zweigte ein unscheinbarer, schmaler Pfad ab, auf dem die Jungen nun hintereinander gingen, ständig im Kampf mit dornigen Brombeerranken, die ihnen von beiden Seiten die nackten Arme und Beine zerkratzten.
Schweigend arbeiteten sie sich voran. Je tiefer sie in den Wald vordrangen, umso schattiger – und auch kühler – wurde es. Nur gelegentlich fiel noch ein verirrter Sonnenstrahl durch das dichte Blätterdach und malte hier und dort unregelmäßige Lichtflecken auf die Baumstämme.
Tobi, der voranging, hielt angestrengt Ausschau nach dem dritten Wegweiser. Einmal hatten sie ihn glatt verfehlt und dadurch den mühsamen Kampf auf dem Brombeerpfad unnötig verlängert.
Heute jedoch entdeckten sie ihn beide gleichzeitig: Den kleinen Ameisenhaufen. Hier konnte man endlich den Brombeerpfad verlassen, um sich einen Weg durchs Unterholz zu bahnen, geradewegs auf die Haselsträucher zu, deren satte rotbraune Farbe durch das allmählich lichter werdende Blattwerk herüberschimmerte. Bevor sie allerdings abbogen, blickten Felix und Tobi jeder noch einmal über die Schulter zurück, um sich zu vergewissern, dass ihnen niemand gefolgt war.
Doch alles war ruhig. Sie wechselten einen Blick und schlüpften wie auf Kommando in die Büsche, deren Zweige sich sogleich hinter ihnen schlossen.
Weiter ging es durchs Unterholz. Waren die dichteren Sträucher erst einmal überwunden, dann kam man hier ziemlich gut voran. Nur hin und wieder musste man einen umgestürzten Baumstamm überklettern, sich unter einem tiefhängenden Ast hinwegducken oder ein paar Zweige zur Seite biegen und festhalten, damit sie dem Hintermann nicht ins Gesicht schnellten.
Wenige Minuten später hatten sie die Haselsträucher und damit ihr Ziel erreicht. Hier traten Büsche und Bäume auf einmal zurück und gaben die große Lichtung frei, an deren Rand die beiden Jungen jetzt geblendet stehenblieben: In gleißendem Sonnenlicht lag vor ihnen die Wiese mit ihrem kniehohen Gras, übersät von Kräutern, Margeriten und Butterblumen. Haselsträucher mit großen, samtigen Blättern sowie üppige Holunderbüsche, deren weiße Blüten ihren betäubenden, stickig-süßen Duft verströmten, grenzten ringsum die Lichtung zum Wald hin ab.
Mit wenigen Schritten gelangten Felix und Tobi zu einem einzeln stehenden Holunderbusch in der Mitte der Lichtung. Darunter versteckt lag der Eingang zur Höhle.
Felix zog die Zweige zur Seite, die sie als Tarnung immer kreuz und quer über den Einstieg legten.
Entdeckt hatten sie die Höhle vor einigen Wochen beim Räuber-und-Gendarm-Spielen auf der Suche nach einem guten Versteck. Das heißt, zunächst lag da nur eine dicke Betonplatte, die sie neugierig machte. Sicher eine Viertelstunde dauerte es, bis sie das schwere Teil Zentimeter für Zentimeter beiseitegeschoben hatten und darunter der Zugang zur Höhle sichtbar wurde.
Den anderen hatten sie nichts davon erzählt, sondern sofort beschlossen, ihre Entdeckung für sich zu behalten und die Höhle als Geheimversteck zu nutzen.
Nachdem Tobi nun zunächst die Stelzen hinuntergelassen hatte, kletterten die Jungen nacheinander durch den engen Schacht hinab. Ohne die Steigeisen, die in regelmäßigen Abständen in die Wand eingelassen waren, hätte man sich zur Not zwar in die Höhle hinabhangeln, nicht aber wieder herausgelangen können.
Unten angekommen griff Felix als erstes nach der Taschenlampe, die sie am Boden unter der letzten Sprosse aufbewahrten, und ließ den Lichtkegel durch den kleinen, halbrunden Raum mit den unregelmäßigen Felswänden wandern. Alles schien unverändert, wie sie es bei ihrem letzten Besuch hinterlassen hatten. Nur die Haselnussblätter, mit denen sie den rauen Steinboden ausgelegt hatten, waren inzwischen vertrocknet und zerbröselten raschelnd unter ihren Füßen.
„Wir müssen mal frische Blätter sammeln“, meinte Tobi.
„Später, jetzt hab‘ ich keine Lust“, gab Felix zurück, kroch in die Ecke mit dem alten Kopfkissen, das zu Hause niemand vermisste, und nahm sich die Spezialkiste vor.
In der alten Weinkiste mit einem schweren Deckel aus Holz sammelten sie alles, was sie im Laufe der Zeit so fanden: Seltsam geformte Steine, einen kleinen weißen Vogelschädel mit Schnabel, ein leeres Schneckenhaus, eine Seife in Form eines winzigen Schneemanns, ein Vampirgebiss aus Plastik…
Tobi machte sich inzwischen mit den Stelzen zu schaffen; wenig später hatte er sie glücklich beide erklommen und stand nun, den Rücken bequem gegen die Wand des Höhlenschachts gelehnt, so hoch oben, dass er knapp über den Rand des Einstiegs spähen konnte. Das war wesentlich bequemer als der alte Beobachtungsposten, bei dem man, die dünnen Eisensprossen umklammernd, im Schacht mehr hing als stand, was er nie lange ausgehalten hatte.
„Sieh mal, was für ein toller Beobachtungsposten!“, rief er mit einem triumphierenden Blick nach unten.
„Gute Idee“, musste Felix zugeben und widmete sich wieder der Spezialsammlung, während Tobi die neu gewonnene Aussicht genoss. Von seinem Ausguck konnte er die ganze Lichtung überblicken, ohne selbst gesehen zu werden, das war auf jeden Fall sehr praktisch, sollten sich einmal irgendwelche Feinde nähern.
Zufrieden blinzelte er in die Runde: Auf der Lichtung war es ganz friedlich, nur manchmal summte eine Biene an seinem Kopf vorbei, und im Gras zirpte ohne Unterlass eine Grille. Die riesige Trauerweide am gegenüber liegenden Waldrand schwenkte sanft ihre Äste, und irgendwo dahinter rief jetzt ein Kuckuck. Tobi zählte leise mit: neun… zehn… elf…- Das Rufen brach ab, erklang aber wenig später von neuem, nur diesmal weiter entfernt.
Tobi tastete mit der Zunge nach seiner Zahnlücke. Hoffentlich hatte seine Mutter vergessen, dass sie ihn wegen des ausgeschlagenen Zahns eigentlich noch zum Zahnarzt schicken wollte.
Er musterte den schwankenden Blättervorhang der Trauerweide, als dieser sich plötzlich teilte und eine Gestalt dahinter hervortrat.
Es war eine Frau in einem hellen Sommerkleid. Suchend glitt ihr Blick über die Lichtung, und unwillkürlich duckte sich Tobi in seinem Ausguck.
Nun machte die Frau zögernd einige Schritte in seine Richtung. Vorsichtig hob Tobi sein Fernglas an die Augen: Kurzes blondes Haar hatte sie, und an ihrem linken Ohr erkannte er einen einzelnen, großen Ohrring. Wie eine Mondsichel sah der aus.
Die Frau kam näher.
Tobi glaubte schon, sie hätte ihn entdeckt, da wandte sie sich auf einmal nach rechts, beschleunigte ihre Schritte und eilte zielstrebig auf einen der Büsche am Rand der Lichtung zu.
Tobi sah, wie sie sich bückte und etwas vom Boden aufhob. Sofort machte sie wieder kehrt und ging eilig in derselben Richtung zurück, aus der sie gekommen war; dabei blickte sie sich mehrmals nach allen Seiten um.
An ihrem Arm baumelte jetzt etwas leuchtend Rotes. Tobi spähte angestrengt durch sein Fernglas: Ein kleiner Rucksack war das.
In diesem Augenblick erscholl unter ihm ein lautes „Auaah!“.
Tobi zuckte zusammen und beobachtete ängstlich die Frau. Doch die ging ungerührt weiter und war kurz darauf wieder hinter der Trauerweide verschwunden.
Mit einem tiefen Seufzer – er hatte, ohne es zu merken, die ganze Zeit die Luft angehalten – ließ Tobi sich von den Stelzen in die Höhle hinabgleiten.
„Du, da war gerade…“
Doch Felix hörte ihm gar nicht zu, sondern lutschte mit schmerzverzerrtem Gesicht an seinem Zeigefinger, den er sich beim Zuklappen der Spezialkiste eingeklemmt hatte.
Bis auch er dann den neuen Aussichtsposten erprobt und Tobi frische Blätter gesammelt hatte, mit denen sie gemeinsam den Höhlenboden neu auslegten, war es fast Mittag geworden. Sie verließen die Höhle, deckten die bereitliegenden Zweige wieder über den Eingang und machten sich auf den Heimweg, jeder eine Stelze unter dem Arm.
Denn eine Frage wie: „Und wo habt ihr die Stelzen gelassen?“ wollten sie lieber nicht riskieren.
Weil sie inzwischen beide sehr hungrig waren und sich dementsprechend beeilten, trafen sie gerade noch pünktlich um halb eins zu Hause ein.
„Aahh!“ Stöhnend ließ ich das Buch auf den Boden sinken und massierte vorsichtig mein eingeschlafenes Bein.
‚Aber wieso das jetzt für mich bestimmt sein soll, weiß ich immer noch nicht‘. Verwundert musterte ich noch einmal die merkwürdige Botschaft auf dem Zettel an der Kiste – vielleicht war Frau Mayer ja wirklich ein bisschen seltsam?
Schon bei der ersten Begegnung war sie mir so merkwürdig vorgekommen…
Meine Eltern hatten das Haus im Frühjahr von Mayers gekauft, einem älteren, kinderlosen Ehepaar. Die fanden ihr Haus inzwischen zu groß und wollten in eine Seniorenwohnung in der Stadt ziehen. Zur ersten Besichtigung waren meine Eltern allein hingefahren, aber beim zweiten Besuch nahmen sie mich dann mit.
Die weißhaarige Frau Mayer öffnete die Tür, und kaum dass sie mich erblickt hatte, musterte sie mich mit einem ebenso überraschten wie ungläubigen Ausdruck. Natürlich wanderte ihr Blick gleich als erstes zu dem Feuermal auf meinem Arm, aber das kannte ich ja schon: Jeder sah unwillkürlich dorthin, wenn ich kurze Ärmel trug.
Sichtlich um Fassung bemüht, brachte Frau Mayer endlich „Du bist also die Fanny!“ hervor und reichte mir zur Begrüßung die Hand. „Na, dann komm mal herein und sieh dich um!“
Und als sie gleich darauf vor uns her ins Wohnzimmer ging, schüttelte sie mehrmals den Kopf und murmelte etwas wie „…gibt’s doch gar nicht“.
Herr Mayer, der in einem Ohrensessel im Wohnzimmer saß, blickte mich über den Rand seiner Zeitung hinweg freundlich an und meinte einladend: „Hereinspaziert, junge Dame, sieh dir dein neues Zuhause nur gründlich an!“ Dann verschwand sein Gesicht wieder hinter der Zeitung, und seine Frau übernahm die Führung.
Auch beim Rundgang durch das Haus kam es mir so vor, als ob Frau Mayer mich immer wieder verstohlen aus den Augenwinkeln musterte.
Ich fand das damals ziemlich schrullig, machte mir aber keine weiteren Gedanken darüber, weil ich viel zu aufgeregt über mein künftiges großes Zimmer und den riesigen Garten war. Ich malte mir schon aus, wie es sein würde, bald hier zu wohnen.
Besonders ein großer Baum mitten auf der Wiese hatte es mir angetan. In seinem Schatten luden ein Tisch, eine Bank und Stühle mit gelben Kissen dazu ein, mit Freundinnen Eis zu essen und den Sommer zu genießen.
Tja, von wegen Freundinnen: In der zweiten Woche der Sommerferien waren wir hierher umgezogen, in die leider völlig verlassene Bornstraße. Denn natürlich waren alle Familien mit Schulkindern gleich zu Ferienbeginn verreist. Frau Mayer versicherte mir beim Abschied zwar, dass es in der Nachbarschaft mehrere Familien mit Kindern in meinem Alter gebe. Vor allem direkt gegenüber würde ich sicher eine Freundin finden, meinte sie. Doch jetzt waren eben erst mal alle weg. Und mir blieb vorläufig nichts anderes übrig, als Mathe aufzuholen – und alte Bücher zu lesen.
„Vorsicht, Mensch!“ Im Flur polterte krachend etwas zu Boden. Die Umzugsleute waren jetzt anscheinend dabei, Möbel, die in den ersten Stock gehörten, die Treppe hochzuhieven. Ein Grund mehr, in meinem Zimmer zu bleiben und mich ruhig zu verhalten; sonst würde ich nur für irgendwelche Hilfsarbeiten eingeteilt.
Also noch ein Kapitel…
Am Nachmittag schüttete Felix das Geld, das er für das Saurier-Buch gespart hatte, aus der alten Teedose auf seinem Schreibtisch in einen kleinen Leinenbeutel, lief damit hinunter und rief im Hinausgehen: „Ich fahr‘ jetzt nach Grohnheim in die Buchhandlung.“
Er wollte schon sein Fahrrad besteigen, da streckte Frau Jansen ihren Kopf aus dem Küchenfenster: „Felix, wir haben kein Pflaster mehr“, rief sie und wedelte mit einem Geldschein, „fahr‘ doch gleich bei Herrn Öhrlein vorbei und bring‘ welches mit.“
„Mach‘ ich.“ Felix reckte sich zum Fenster hoch, nahm den Schein entgegen und stopfte ihn in die Tasche seiner Shorts.
„Kann ich mir denn vom Wechselgeld ein Eis kaufen?“
„Ja, in Ordnung.“
Felix schob das Rad die Auffahrt hinunter, schwang sich auf den Sattel und radelte los.
Im Vorbeifahren sah er nebenan Frau Becker, die, ihren Strohhut ein wenig schief auf dem Kopf, trotz der Nachmittagshitze im Garten arbeitete. Sie schien überhaupt vom Frühjahr bis zum Herbst kaum etwas anderes zu tun. Und während der Wintermonate wälzte sie, wie Fabian versicherte, ständig Pflanzenkataloge für den nächsten Frühling.
Bei Morells hingegen war von dem Mädchen im Pflaumenbaum nichts mehr zu sehen. Nur der Tisch auf der Wiese unter dem großen Baum war für den Nachmittagskaffee gedeckt; auf den Stühlen und auf der Bank lagen bunt karierte Kissen, passend zur Tischdecke. Frau Morell, die blonden Haare mit einem blauen Band zurückgebunden, ging gerade wieder mit dem leeren Tablett zurück ins Haus.
Nach einer Viertelstunde kam Felix schwitzend im Nachbarort an und machte zunächst bei der Buchhandlung Station.
Frau Eberhard griff, kaum dass er den Laden betreten hatte, nach dem schon bereit liegenden Saurier-Buch und platzierte es vor ihm auf der Theke: „So, das ist ja jetzt genau die richtige Ferienlektüre, oder?“, meinte sie und schenkte ihm ein strahlendes Lippenstift-Lächeln.
„Hmmm“, antwortete Felix kurz angebunden, wusste er doch, dass Frau Eberhardt jede Gelegenheit wahrnahm, um einen in endlose Gespräche zu verwickeln.
Ohne weitere Umstände kippte er den Berg von Münzen aus seinem Beutel vor sie auf die Theke und betrachtete dabei voller Vorfreude den dicken Band, auf dem nun Frau Eberhardts Hand mit den knallrot lackierten Nägeln ruhte.