Ein unheimlicher Auftrag - Ulla Hesseling - E-Book

Ein unheimlicher Auftrag E-Book

Ulla Hesseling

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Beschreibung

Fanny liest den dritten Band aus der geheimnisvollen alten Kiste. Gespannt verfolgt sie, wie Felix, Tobi und die Rote Bohne einem Ring skrupelloser Autodiebe auf die Spur kommen. Gleichzeitig wird ihr mit jeder Seite, die sie liest, immer klarer: Mit den Büchern war von Anfang an ein Auftrag verknüpft, den nur sie erfüllen kann. Gemeinsam mit ihren Freunden Hannah und Anton tritt Fanny eine Reise an, die ihren ganzen Mut erfordert. * „… eins der besten Kinderbücher, die ich in den letzten Jahren gelesen habe. Und das waren extrem viele, da ich Buchhändlerin bin.“ (Daniela Scherkenbeck über den ersten Band, „Der Mondsichel-Ohrring“) * Ein Krimi für Leser ab 10 Jahren

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EPUB
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Seitenzahl: 307

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Ein unheimlicher Auftrag

Ulla Hesseling

Copyright: © 2019 Ulla Hesseling

Umschlag: Meike Teichmann

Satz: Erik Kinting – www.buchlektorat.net

Verlag und Druck:

tredition GmbH

Halenreie 40-44

22359 Hamburg

978-3-7482-6011-0 (Paperback)

978-3-7482-6012-7 (Hardcover)

978-3-7482-6013-4 (e-Book)

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Träume,viel Mut und ein bisschen Glück schaffen Wunder.

 

Reglos kauerte der Junge am Rand des Felsvorsprungs. Tief unten kräuselte ein sanfter Abendwind die schwarzblaue Wasserfläche. Und obwohl die Sonne gerade erst im Meer versunken war, sandte bereits die Mondsichel, wie mit einer scharfen Klinge in den dunklen Himmel hineingeschnitten, ihr kaltes Leuchten aus dem All herab.

Doch nichts davon nahm der Junge wahr; sein Blick war in die Ferne gerichtet, dorthin, wo Himmel und Meer zu einer Einheit verschmolzen.

Lange saß er so da, bevor er sich schließlich erhob, der Felsklippe den Rücken kehrte und den Weg in die Dunkelheit antrat.

Der dritte Band

„Kommt doch mal raus auf die Terrasse, ihr zwei!“, rief mein Vater von unten. „Diesen Sternenhimmel müsst ihr euch unbedingt ansehen!“

Ich machte auf meinem Weg ins Bad kehrt und sprang die Treppe wieder hinunter, während im Wohnzimmer meine Mutter mit einem gespielten Seufzer ihr Buch zur Seite legte und vom Sofa aufstand.

Gemeinsam traten wir hinaus auf die Terrasse.

Der Nachthimmel war wirklich sensationell: Sterne über Sterne, wie glitzernde Diamanten, ausgestreut auf dunkelblauem Samt. Dazwischen gab es milchig-weiße Flächen, unscharf und wolkig, wie schwach leuchtendes Pulver – man konnte nur ganz still und andächtig werden bei diesem Anblick.

Das Tollste von allem aber, so beschloss ich, während mein Vater leise die typischen März-Sternbilder aufzählte, das Tollste war der Mond: eine ganz schmale, strahlende Sichel mit messerscharf abgegrenzten Rändern, das silbrig-weiße Licht unendlich fern, aber auch irgendwie tröstlich.

Fröstelnd zog ich die Schultern hoch.

„Jetzt aber schnell wieder rein mit dir, Fanny, du hast ja nur Strümpfe an!“, entsetzte sich meine Mutter.

Kurzerhand packte mein Vater mich unter den Armen, hob mich in hohem Bogen über die Türschwelle und setzte mich im Wohnzimmer ab.

Rasch gab ich beiden einen Gute-Nacht-Kuss, und während mein Vater die Vorhänge zuzog und meine Mutter die beiden Gläser auf dem Sofatisch noch einmal mit Rotwein füllte, flitzte ich die Treppe hinauf ins Bad. Ich hatte heute Abend schließlich noch etwas vor!

„Lasst mich bloß morgen ausschlafen – Osterferien!“, rief ich, bevor ich die Badezimmertür hinter mir schloss.

Nach einer heißen Dusche wieder warm und wach, kniete ich wenig später im Schlafanzug auf dem Flickenteppich in meinem Zimmer und beugte mich über die Kiste.

Diese geheimnisvolle Kiste mit Büchern, die Frau Mayer auf dem Speicher für mich zurückgelassen hatte, als sie und ihr Mann letzten Sommer ausgezogen waren und meinen Eltern und mir das Haus übergeben hatten.

„Für Fanny. Ich glaube, sie sind für dich bestimmt“ – der Zettel klebte immer noch auf dem Kistendeckel.

Mit diesem merkwürdigen Hinweis hatte Frau Mayer Recht gehabt, davon war ich inzwischen restlos überzeugt. Denn die dreißig Jahre alten Geschichten schienen auf rätselhafte Weise mit mir zusammenzuhängen.

Was ich erlebt hatte, während ich „Der Mondsichel-Ohrring“ las, war ja schon ziemlich unheimlich gewesen, wenn auch noch nicht wirklich bedrohlich.

Dann jedoch, beim Lesen des nächsten Bandes mit dem Titel „Das zweite Auge“, war ich mit meinen Freunden Hannah und Anton in ein gefährliches Abenteuer hineingeraten.

Die Sache im Museumskeller war zwar glimpflich ausgegangen; trotzdem hatten die turbulenten Tage vor Silvester uns drei ganz schön umgehauen. Deshalb hatte ich danach auch erst mal für ein paar Monate die Finger von der Kiste gelassen.

Inzwischen jedoch war die Aufregung verflogen, meine Neugier dagegen von Tag zu Tag gewachsen – Zeit also, mir das nächste Buch vorzunehmen!

Entschlossen griff ich in die Kiste und holte es heraus: „Ein unheimlicher Auftrag“.

Ein bisschen ängstlich drehte ich den Band in meinen Händen hin und her: Welche neuen Geheimnisse und Gefahren mochten diesmal zwischen den verblichenen Buchdeckeln auf mich warten?

Ach was, versuchte ich mich zu beruhigen. Ich würde einfach nur lesen, ohne links und rechts zu gucken, und komische Zufälle gar nicht erst beachten!

Ich erhob ich mich vom Flickenteppich, löschte das große Licht, knipste stattdessen das Leselämpchen auf dem Nachttisch an und kroch ins Bett. Während ich die Decke um mich herum feststopfte, spürte ich, wie die leise Sorge sich mehr und mehr in wohlige Spannung verwandelte: Vielleicht würde mir dieses Buch ja endlich die Fragen beantworten, zu denen Frau Mayer mir bisher keine Auskunft geben konnte – oder wollte, wie es mir manchmal schien. Obwohl sie sich ja immer auffallend dafür interessierte, welches Buch ich gerade las und wie es mir damit erging.

Egal, jetzt freute ich mich erst mal darauf, endlich wieder eines von Felix’ und Tobis Abenteuern mitzuerleben! Besonders ihr kleiner Bruder Mathis, genannt Schnatti, hatte mir richtig gefehlt, mit seinem vielen Geplapper und Geschnatter, dem er seinen Spitznamen verdankte. Und natürlich die Rote Bohne, die Freundin der Jungen, die eigentlich Johanna hieß, nur dass sie eben diesen roten Haarschopf hatte und lang und dünn wie eine Bohnenstange war.

Ich schlug das Buch auf und musste gleichzeitig gähnen: Im warmen Bett kam nun doch die Müdigkeit angekrochen.

‚Wenigstens noch sehen, wie es anfängt’, beschloss ich.

Ein Schreck am Morgen

Der Hund stand mit gesträubtem Fell an der Zimmertür und knurrte leise, aber anhaltend. Im Halbschlaf tastete Felix neben seinem Bett nach der Stelle auf dem Bettvorleger, wo Mimmo nachts normalerweise lag. Diesen Schlafplatz hatte der schwarzgelockte Mischlingshund sich gleich am ersten Tag ausgesucht, nachdem sie ihn in den vergangenen Sommerferien aus dem Tierheim geholt hatten.

Felix’ Hand griff ins Leere.

„Mimmo, was ist denn?“, murmelte er schlaftrunken und schielte mit einem Auge auf die Leuchtziffern seines Weckers. Erst zehn nach zwei!

„Komm, gib Ruhe“, flüsterte er, drehte sich um und war nach wenigen Sekunden schon wieder eingeschlafen.

Mimmo blieb noch eine Weile mit schiefgelegtem Kopf vor der Tür stehen, bis er sich schließlich umdrehte, zum Bettvorleger zurücktrottete, sich dort dreimal um sich selbst drehte und sich mit einem Seufzer niederplumpsen ließ.

„Und vergiss die Eier nicht – weiße!“

Während die Haustür hinter ihrem Mann ins Schloss fiel, drehte Frau Jansen sich wieder zu ihren drei Söhnen am Frühstückstisch um.

„Braune Eier sind doch auch ssöön!“, wandte der dreijährige Mathis ein, den Kakaobecher bedenklich schräg in einer Hand haltend.

„Die weißen lassen sich aber besser färben, Schnatti“, belehrte Felix sein Brüderchen und nahm einen großen Bissen von seinem Leberwurstbrot.

„Genau!“, ließ Tobi sich vernehmen, bevor er den nächsten Löffel seines geliebten Müslis in den Mund schob.

Der Kleine dachte kurz nach, trank den letzten Schluck aus seinem Becher, hob den Kopf mit dem kakaoverschmierten Mund und verkündete: „Iß kann auch Ostereier anmalen, ganz alleine!“

Er wollte noch etwas hinzufügen, als in der Diele plötzlich krachend die Haustür aufflog.

Dann stand Herr Jansen im Esszimmer, völlig außer sich, die Augen weit aufgerissen. „Er ist weg!“, stieß er hervor und blickte fassungslos in die Runde.

„Wer ist weg?“ Frau Jansen musterte besorgt ihren aufgelösten Mann und fügte hinzu: „Jetzt setz dich erst mal, du bist ja kreidebleich!“

Eigentlich ging die Gesichtsfarbe seines Vaters eher ins Grünliche, fand Felix. Was aber nicht weniger erschreckend aussah.

„Der Wagen …“ Hilflos hob Herr Jansen die Hand mit dem daran baumelnden Autoschlüssel, während er sich mit der anderen Hand schwer auf dem Tisch abstützte.

Felix ließ das Leberwurstbrot auf den Teller sinken; Tobi würgte mühsam sein halb zerkautes Müsli hinunter und krächzte: „Wie, weg?!“, und Mathis sah, ausnahmsweise stumm, unsicher von einem zum anderen.

Wortlos erhob sich Frau Jansen und eilte hinaus. Sie hörten ihre hölzernen Clogs die Eingangstreppe hinunter- und wenige Sekunden später wieder heraufklappern, dann schallte ihre Stimme schrill aus der Diele: „Ich ruf’ die Polizei an!“

Nun hielt es auch Felix und Tobi nicht mehr am Frühstückstisch. Auf Strümpfen rannten sie hinaus, gefolgt von Mimmo, während drinnen Mathis die Gelegenheit nutzte, um von Felix’ Leberwurstbrot abzubeißen und sich anschließend einen großzügigen Schluck aus Tobis Kakaobecher zu genehmigen.

Unterdessen standen seine Brüder auf der von frisch erblühten Osterglocken gesäumten Auffahrt und starrten ungläubig durch das offenstehende, meerblaue Tor in die gähnend leere Garage.

„Mann!“ war alles, was Felix herausbrachte.

Mimmo schnüffelte schwanzwedelnd auf dem Boden vor der Garage herum.

„Kommt ihr beiden wohl auf der Stelle wieder rein?!“, riss die Stimme ihrer Mutter sie aus ihrer Erstarrung. „Auf Strümpfen nach draußen – es ist März! Das fehlt jetzt gerade noch, dass ihr mir Ostern mit Lungenentzündung im Bett liegt!“

Also marschierten Felix und Tobi zurück ins Esszimmer, wo ihr Vater zusammengesunken am Tisch saß und zusah, wie Mathis die letzten Krümel von seinem Teller aufleckte.

„Wachtmeister Pelzer ist in einer Viertelstunde hier“, verkündete Frau Jansen.

„Der?!“ ertönte es in einstimmigem Entsetzen aus Felix’ und Tobis Mund.

„Nun kommt!“ Herr Jansen richtete sich auf und schüttelte mahnend den Kopf: „Sicher, er hat sich letzten Sommer nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Aber daraus hat er bestimmt gelernt.“

„Und die Wache in Grohnheim ist nun mal für unseren Ort mit zuständig“, ergänzte Frau Jansen schulterzuckend.

„Wegen dem wären wir im Sommer um ein Haar den Entführern in die Hände gefallen!“, entgegnete Felix vorwurfsvoll, und Tobi unkte: „Dann sehen wir unser Auto nie wieder.“

Mit empörten Mienen machten sie sich daran, die Reste ihres Frühstücks zu vertilgen. Herr Jansen stützte wieder den Kopf in die Hände und sah trübsinnig vor sich hin.

„Was ist denn überhaupt mit dem Garagentor? Haben die das allen Ernstes aufgebrochen?“, wollte Frau Jansen wissen.

„Das ist es ja“, erwiderte ihr Mann, und seine Stimme klang verzweifelt. „Der Griff hat schon am Samstagabend geklemmt, als ich mit dem Rad vom Sportverein zurückkam. Und es war zu dunkel, um mir das noch näher anzusehen. Also habe ich das Tor nur angelehnt. Das bedeutet, dass die Versicherung jetzt möglicherweise keinen Pfennig zahlen wird.“

„Nun mal’ mal nicht gleich den Teufel an die Wand!“, versuchte seine Frau ihn zu trösten.

„Malmal, malmal, malmal“, krähte Mathis vergnügt. Als er merkte, dass gerade niemandem der Sinn nach seinen lustigen Darbietungen stand, ging er dazu über, unsichtbare Reste vom Rand seines Kakaobechers abzulecken.

„Es hilft alles nichts“, unterbrach Frau Jansen nach einer Weile seufzend die Stille: „Eier brauchen wir trotzdem!“

„Nämliß weiße!“, klang es dumpf aus Mathis Kakaobecher, den er nun wie ein Sprachrohr gegen den Mund gepresst hielt.

„Wir können ja nachher bei Herrn Wagner gucken, ob er welche hat“, schlug Tobi vor, während er aufstand, um seinen Becher und seine Müslischale in die Küche zu tragen.

„Auaaa! Hiiilfe! Der geht niß mehr ab!“, tönte es angstvoll aus dem Becher – er hatte sich um Mathis’ Mund herum festgesaugt.

„Hihi, Schnatti, jetzt musst du für immer mit diesem Becherrüssel rumlaufen!“, feixte Felix, und selbst Herr Jansen konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.

Frau Jansen beugte sich über den Tisch, griff nach dem Becher und drehte ihn mit einem schnellen Ruck. Ein leises „Plopp“, und Mathis war befreit; nur ein roter, ringförmiger, mit Kakaoresten gesprenkelter Abdruck prangte noch rund um seinen Mund.

„Er kommt!“, meldete Tobi aus der Küche. „Auf einem Motorrad!“

Durch das Fenster beobachtete er, wie Wachtmeister Pelzer in der Einfahrt von der schweren, weiß-grünen Maschine abstieg, den Motorradhelm abnahm und ihn unter seinen Arm klemmte.

„Ich mach’ schon auf“, rief Herr Jansen und eilte zur Haustür.

„Haben Sie nachgesehen, ob alle Autoschlüssel noch da sind?“, war Pelzers erste Frage, kaum dass er in der Diele einen Notizblock und einen Stift aus der Tasche seiner Motorradjacke gezogen hatte.

„Nein!“, rief Herr Jansen, „Dass ich das nicht gleich als erstes …“

Sein Blick wanderte zu der Truhe neben der Haustür: „Also, der eine lag ja da, auf der Truhe, dort habe ich ihn heute Morgen wie immer weggenommen, oder besser: rausgeklaubt.“

Er wies auf das Durcheinander von Schals, Mützen und Handschuhen, die sich auf der Truhe türmten. „Und der Ersatzschlüssel … – Moment!“ Er verschwand im Arbeitszimmer. „Hier in der Schreibtischschublade ist er!“, hörten sie ihn rufen.

„Das heißt, der Wagen wurde aufgebrochen, wie in den anderen Fällen auch“, folgerte Pelzer, notierte etwas auf seinem Block und musterte mit ernster Miene die Gesichter der ihn umringenden Familie, während Mimmo interessiert seine Stiefel beschnupperte.

„Kann man das denn so einfach?“, erkundigte sich Felix.

„Klar, was ein geübter Autoknacker ist, der öffnet eine Autotür in wenigen Minuten.“

„Jetzt kommen Sie doch erst mal rein“, bat Frau Jansen und ging voraus ins Wohnzimmer. „Kann ich Ihnen vielleicht einen Kaffee anbieten?“

„Danke, ich muss gleich weiter“, winkte der Wachtmeister ab. „Aber noch mal zu dem Diebstahl: Ihnen ist in den letzten Tagen nichts Besonderes aufgefallen? Irgendwelche Fremden in der Straße?“

Einmütig schüttelten alle den Kopf.

„Und er hier“, er wies mit dem Zeigefinger auf Mimmo, der ihn aufmerksam beobachtet hatte und nun freundlich mit dem Schwanz wedelte, „hat er denn nichts gehört letzte Nacht?“

„Nö, anscheinend nicht“, antwortete Tobi und blickte fragend zu Felix hinüber.

Den durchfuhr in diesem Moment siedend heiß die Erinnerung an Mimmos nächtliches Knurren.

„Ähm, doch“, verlegen sah er zu Boden. „Er hat heute Nacht mal geknurrt, davon bin ich aufgewacht. Aber ich hab’ mir nichts weiter dabei gedacht.“

„Weißt du, um welche Uhrzeit das war?“ Pelzer musterte Felix so streng, als hätte dieser soeben selbst den Diebstahl gestanden.

„Ja, zehn nach zwei; deshalb wollte ich ja auch einfach nur weiterschlafen. Und außerdem“, versuchte Felix sich zu verteidigen, „wenn da gerade jemand mit unserem Auto weggefahren wäre, hätte ich das doch hören müssen. Aber da war nichts. Und das Garagentor hat auch nicht gequietscht.“

Kleinlaut wich er den auf ihn gerichteten Blicken aus.

„Tja, rund um die Uhr könnt ihr Herren Detektive wohl auch nicht auf Draht sein, was?“ Der zufriedene Unterton in der Stimme des Wachtmeisters war nicht zu überhören.

„Wissen Sie“, wandte er sich jetzt an Herrn und Frau Jansen, „warum das alles doppelt ärgerlich ist?“ Um seinen Mund erschien ein verkniffener Zug, als er fortfuhr: „Ausgerechnet gestern Nacht waren vorne am Ortsausgang bei der Bushaltestelle meine Kollegen postiert! Wir bewachen nämlich wegen der Diebstahlserie derzeit verstärkt die Ausfallstraßen.“ Er wedelte nervös mit seinem Notizblock herum. „Die beiden hatten strenge Anweisung, jeden Wagen zu kontrollieren, der den Ort verließ. Als ob ich geahnt hätte, dass die Diebe in der Nacht hier zuschlagen würden … Und trotzdem ist es denen gelungen, sich Ihr Auto zu schnappen!“

„Merkwürdig“, wunderte sich Frau Jansen, „wo doch unsere Burgstraße nur in dieser einen Richtung aus dem Ort hinausführt.“

„Oder“, überlegte Tobi, „die sind doch in die andere Richtung, an der Obstwiese vorbei, bis zur Sackgasse gefahren und dann durch die Schranke in den Wald – wie die Entführer damals.“

„Hm“, die Miene des Wachtmeisters hatte sich bei diesem Stichwort verfinstert, „an den Schlüssel für die Schranke ist aber nicht so leicht ranzukommen. Ich vermute eher, dass meine Kollegen im Auto ein Nickerchen gehalten haben. Was ich natürlich klären werde.“

„Ich frage mich nur eins“, meldete sich Frau Jansen noch einmal zu Wort, als Pelzer schon seinen Helm aufsetzte. „Unser Wagen ist doch ein ganz schlichtes Familienauto, keine teure Luxuskarosse. Ist das denn für Diebe überhaupt interessant?“

„Aber ja“, wurde sie von Pelzer aus dem hochgeklappten Helmvisier heraus belehrt, „gerade solche Mittelklassewagen werden gern gestohlen und nach Osteuropa oder Nordafrika verschoben. Dort sind sie sehr begehrt. Seit kurzem spricht allerdings einiges dafür, dass neuerdings Griechenland der Haupt-Anlaufpunkt ist.“

„Geben Sie jetzt sofort eine Fahndung nach dem Auto heraus?“, erkundigte sich Felix.

„Aussichtslos. Die bringen als erstes gefälschte Kennzeichen an, und für gefälschte Papiere sorgen sie auch. Und ein Auto zu finden, ohne das Nummernschild zu kennen, das ist praktisch unmöglich – es sei denn, es handelt sich um ein ganz seltenes Modell.“

„Was man von unserem stinknormalen Familienauto nun wirklich nicht sagen kann“, bestätigte Tobi.

„Eh’ ich’s vergesse, ich hab’ extra eins eingesteckt …“ Der Wachtmeister angelte ein Formular aus seiner Jacke, faltete es auseinander und hielt es Herrn Jansen hin: „Die offizielle Diebstahlsanzeige für unsere Akten. Die müssten Sie noch ausfüllen, unterschreiben und mir so bald wie möglich auf die Wache bringen.“

Herr Jansen nahm das Formular entgegen, wobei dem Wachtmeister der Notizblock entglitt und zu Boden fiel.

Tobi bückte sich und hob ihn auf. ‚Noch Werbung von der letzten Bürgermeisterwahl’, dachte er, bevor er Wachtmeister Pelzer den Block wieder aushändigte. Am unteren Rand trug jedes Blatt des DIN-A5-Blocks den Schriftzug: „Für unser schönes Grohnheim – Bürgermeister Wittlinger“.

Wenig später heulte draußen das Motorrad auf, entfernte sich und war bald nicht mehr zu hören.

„‚Ihr Herren Detektive’“, ahmte Felix den Wachtmeister spöttisch nach, während er die Haustür schloss.

„Hat ihn eben doch schwer getroffen, dass wir letzten Sommer bei der Entführerjagd schneller waren als er“, stellte Tobi fest.

Dann griff er nach seinen Stiefeln und rief ins Wohnzimmer hinüber: „Wie viele Eier brauchen wir denn überhaupt?“

„Na, so vierzig schon.“ Frau Jansen trat zu ihnen in die Diele und wühlte zwischen den Wollsachen auf der Truhe nach dem Geldbeutel, der gewöhnlich griffbereit dort lag.

„Schließlich kommen am Ostersonntag Tante Flora und Onkel Pitt; die vertilgen so einiges. So, da ist das Geld. Ach, und lasst Mimmo bitte hier; den will ich gleich mal gründlich bürsten! Und nehmt am besten den Einkaufskorb mit!“

„Ja! Ja! Ja!“ Tobi verdrehte die Augen.

„Nee, keinen Korb!“, widersprach Mathis eifrig. „Iß fahr’ mit meinem Dreirad mit, und in den Anhänger tun wir dann die Eier rein!“

„Das ist aber eine gute Idee, Schnatti!“, antwortete Frau Jansen.

Jetzt war es an Felix, die Augen zu verdrehen: „Eier, Mami, rohe Eier …!“

„Reg’ dich nicht auf! Der kippt doch nicht komplett mit Dreirad und Anhänger um!“, murmelte Tobi.

Die verwandelten Mitokas

„Waartääät!“ Mühsam hatte Mathis draußen an der Treppe sein Dreirad bestiegen und kam nun, den kleinen roten Anhänger holpernd im Schlepptau, hinter seinen Brüdern die Einfahrt entlanggestrampelt.

Tobi trat zur Seite: „Pass’ auf, Schnatti, am besten fährst du vor uns her. Dann sehen wir genau, wie gut du fahren kannst.“

„Schleimer!“ Felix schnitt seinem Bruder eine Grimasse.

Mathis, ein stolzes Lächeln auf dem kleinen runden Gesicht, überholte sie und fuhr schnaufend auf dem Gehweg vor ihnen her.

Nebenan, im Garten von Beckers, hatte mit hunderten von Osterglocken schon der Frühling Einzug gehalten. Und wie nicht anders zu erwarten, stand dort Frau Becker bereits wieder über ein Beet gebückt und wühlte mit einer Handschaufel in der Erde.

Ein Haus weiter, im Garten von Morells, war hingegen gar nichts los. Felix musterte den kahlen Pflaumenbaum, in dem er – und nur er, wie es schien, – letzten Sommer das Mädchen mit dem Zopf und dem Feuermal am Arm gesehen hatte, versunken in ein Buch. Und das, obwohl dort überhaupt kein Mädchen wohnte.

Er riss sich los und folgte seinen Brüdern weiter in Richtung Ortsausgang, wo, schräg gegenüber der Bushaltestelle, Herr Wagner seinen kleinen Laden betrieb.

Zum Glück hatte der genügend weiße Eier vorrätig, allerdings in Sechserkartons, was eine große Rechen-Aktion auslöste.

„Also“, überlegte Felix, „vierzig geht nicht; dann können wir nur entweder sechsunddreißig oder zweiundvierzig Stück nehmen – was meinst du?“

„Auf jeden Fall zweiundvierzig!“, entschied Tobi. „Bedenke doch: Tante Flora!“ Er grinste zufrieden in Vorfreude auf die mit beachtlichem Frühstückshunger gesegnete Tante.

„Schokoladencreme ist noch genug da?“ Bedeutungsvoll wies Felix auf die Gläser mit dem bei der Tante überaus beliebten Brotaufstrich.

„Hast Recht“, stimmte Tobi zu, „nehmen wir davon auch gleich noch eins mit.“

„Wie, bei euch auch?“, rief Herr Wagner entsetzt, als sie ihm an der Kasse von den morgendlichen Ereignissen berichteten. „Das ist ja im Moment eine richtige Serie hier in der Gegend!“

Er reichte Mathis eine kleine Hasenfigur aus Plastik über das Warenband: „Na dann mal viel Glück! Vielleicht taucht er ja doch wieder auf.“

Das war natürlich nur als Trost gemeint; konnte Herr Wagner doch unmöglich ahnen, dass der Wagen tatsächlich ganz in der Nähe nur darauf wartete, gefunden zu werden.

Die Jungen verstauten die Eierkartons, den Plastikhasen und den Geldbeutel im Dreirad-Anhänger und machten sich auf den Rückweg.

„So eine swere Ladung hab’ iß“, schnaufte Mathis.

„Na ja“, setzte Felix zu einer spöttischen Bemerkung an, da stöhnte Tobi neben ihm plötzlich auf: „Oh nein, die Mitokas!“

Und wirklich, da kam sie ihnen von der Obstwiese her entgegen, die gefürchtete Bande!

Michael, Tom und Karl waren um einiges älter als Felix und Tobi, aber immer bereit, Jüngere zu ärgern, in die Enge zu treiben und ihnen Sachen abzunehmen. Erst letzten Sommer waren Tobi und Felix ihnen nach dem Einkaufen einmal nur knapp entkommen; Felix meinte wieder zu fühlen, wie ihm damals die Beutel mit den schweren Dosen und Gläsern beim Rennen schmerzhaft gegen die Beine geprallt waren.

Heute zogen die Mitokas einen Leiterwagen hinter sich her, hoch beladen mit irgendwelchen Bündeln und Tüten. Tom schwenkte außerdem übermütig eine Blechdose in der Hand.

„Die haben anscheinend schon fette Beute gemacht“, wisperte Tobi. Rasch murmelte er seinem kleinen Bruder zu: „Los, Schnatti, wenden und, so schnell du kannst, zurück zu Herrn Wagner! Wir halten sie so lange auf.“

Auch Felix war klar, dass zwar er und Tobi es vielleicht noch vor den Mitokas bis zu ihrem Haus schaffen konnten, wenn sie nur aus Leibeskräften rannten. Doch Mathis mit seinem schwerfälligen Gespann wäre niemals schnell genug, um rechtzeitig die Einfahrt mit dem meerblauen Garagentor zu erreichen.

Eilig bückte Felix sich, um Mathis beim Wenden zu helfen. Doch der hatte bereits in Panik seinen Lenker herumgerissen, trat verzweifelt in die blockierenden Pedale, verlor dabei das Gleichgewicht und kippte mitsamt Dreirad und Anhänger um.

Mit einem Hechtsprung warf Tobi sich zur Rettung der Eier über den Anhänger und konnte gerade noch verhindern, dass die Kartons auf die Straße rutschten. Der Geldbeutel allerdings war einige Meter weit auf die Fahrbahn geschlittert.

Zu Felix’ Entsetzen kam Karl bereits auf sie zugerannt, die beiden anderen folgten langsam mit dem Leiterwagen.

Mathis hatte sich unter lautem Weinen aufgerappelt, den kleinen, in zwei Teile zerbrochenen Plastikhasen vom Gehweg aufgehoben und stand nun, jämmerlich schluchzend, neben dem verunglückten Gespann und dem am Boden knienden Tobi.

Karl stürzte zu ihrem Geldbeutel hin, hob ihn auf und – brachte ihn zu Mathis herüber! Der, vollkommen überrumpelt, streckte sein Händchen aus, ergriff den Geldbeutel und drückte ihn, von Schluchzern geschüttelt, an seine Brust.

Inzwischen waren auch Tom und Michael an der Unglücksstelle angekommen. Michael parkte den hochbeladenen Leiterwagen am Gehwegrand, Tom stellte seine Blechbüchse daneben. Unter den ungläubigen Blicken der Jansen-Brüder bückten sich nun beide, um gemeinsam erst das Dreirad und dann den Anhänger aufzurichten.

„Guck, alles halb so schlimm“, tröstete Tom den versteinerten Mathis, während Tobi sich langsam erhob und die Eierkartons im Anhänger zurechtschob, nicht ohne den Mitokas immer wieder misstrauische Blicke zuzuwerfen.

Ein zufälliger Blick auf den ramponierten Plastikhasen in seinem Händchen ließ Mathis erneut in lautes Weinen ausbrechen.

„Pass’ mal auf, ich hab’ hier zufällig …“ Tom kramte in seiner Jackentasche und förderte ein Tübchen Sekundenkleber zu Tage. Vorsichtig bestrich er die Bruchkanten des Plastikhasen mit Klebstoff, presste beide Teile zusammen und legte das Häschen anschließend in Mathis’ Anhänger: „So, schon repariert!“

Michael versenkte nun ebenfalls eine Hand in der Tasche seines Anoraks und förderte ein paar schöne, gleichmäßige Kieselsteine zu Tage. Auffordernd hielt er sie Mathis hin: „Du sammelst doch bestimmt auch Steine, oder? Hier, such’ dir einen aus!“

Mathis nickte schniefend. Rasch legte er den Geldbeutel zu dem Plastikhasen in den Anhänger, wischte sich mit den Fäustchen über die Augen, zog noch einmal die Nase hoch und begann dann, umständlich die dargebotene Auswahl zu begutachten.

Vorsichtig griff er schließlich nach einem glatten, grünlich gesprenkelten Exemplar.

Nachdem er den Stein sorgsam zu den anderen Sachen in den Anhänger gelegt hatte, stellte er mit hochrotem Kopf fest: „Ihr seid ja gar niß gefährliß!“

„Nein, wir sammeln!“, verkündete Michael stolz.

„Für die Aussiedler!“, ergänzte Tom, griff sich die Blechbüchse und rappelte bekräftigend damit.

Nur Karl blieb währenddessen schweigsam. Ihm schien die ganze Situation nicht zu behagen, denn er trat von einem Bein auf das andere und wich Tobis und Felix’ Blicken verlegen aus.

„Wollt ihr vielleicht was einwerfen?“, fragte Tom und hielt Felix auffordernd die Büchse unter die Nase.

„Klar“, antwortete Tobi, stieß seinen Bruder mit dem Ellbogen an und ärgerte sich gleichzeitig darüber, dass seine Stimme so piepsig klang.

Hastig nahm Felix den Geldbeutel aus dem Anhänger, nestelte ihn mit zittrigen Fingern auf, klaubte ein Markstück heraus und ließ es durch den Schlitz in die Büchse fallen.

„Man dankt!“, säuselte Tom mit einer gespielten Verbeugung. Dann gaben die Mitokas den Weg frei und zogen davon in Richtung Laden.

Fassungslos blickten Felix und Tobi ihnen nach.

„Die Mitokas sammeln für einen guten Zweck – wer hätte das gedacht!“ Tobi schüttelte den Kopf, während sie langsam hinter Mathis her nach Hause trotteten. Der trat jetzt aus Leibeskräften in die Pedale, so dass sein Anhänger holpernd hinter ihm hin- und herschlingerte.

„Aber dass Michael in seinem Alter noch Steine sammelt!“, wunderte sich Felix.

„Na ja“, erwiderte Tobi schulterzuckend, „wir haben in der Spezialkiste in unserer Höhle doch auch Steine, außer den anderen Sachen.“

Zu Hause hüpfte und sprang Mimmo, das schwarzgelockte Fell vom Bürsten seidig glänzend, so freudig um sie herum, als wären sie wochenlang weg gewesen. Interessiert schnüffelte er an den Eierkartons, bis Frau Jansen diese im Keller in Sicherheit brachte.

Das Boot

Das Boot trieb auf der Seite, umspült von sanften Wellen. Auf dem gebrochenen Mast, der in einigem Abstand im Wasser dümpelte, saß ein kleiner Plastikhase. Plötzlich ploppten rund um das Boot herum dicke gelbe Eidotter aus der Tiefe an die Wasseroberfläche, schwammen direkt auf mich zu und türmten sich vor meiner Nase auf …

„Hilfe! Ich ersticke!“

Von meinem eigenen Schrei erwachte ich. Reflexartig riss ich die Decke von meiner Nase weg und holte tief Luft: Was für ein grässlicher Traum! Das kam davon, wenn man kurz vor dem Einschlafen noch so viel las!

Ich rieb mir die Augen. Nicht zu fassen, da wurde ein umgekippter Dreirad-Anhänger vom Gehirn kurzerhand in ein auf dem Meer gekentertes Boot verwandelt!

Ich räkelte mich und schüttelte die letzten Reste des aufregenden Traumes ab.

Schon halb zehn, zeigte mir ein Blick auf mein Handy. Ich lauschte, aber unten im Haus tat sich nichts. Meine Eltern waren bestimmt schon weg, Ostereinkäufe erledigen. Ich kicherte in mich hinein: Jedes Jahr sorgte sich meine Mutter, dass die weißen Eier ausverkauft sein könnten, wenn sie sich nicht rechtzeitig damit eindeckte – genau wie Frau Jansen!

Unten auf dem Frühstückstisch lag neben meinem Teller ein Zettel: „Guten Morgen, Langschläferin! Hast du Lust, nachher zur Obstwiese zu gehen und uns ein paar Zweige für den Osterstrauß zu holen? Dort liegen jede Menge Weidenkätzchen, die der Bauer gestern geschnitten hat. Man darf sich bedienen.“

Also zog ich nach dem Frühstück los, warf im Vorbeigehen einen Blick auf unseren noch kahlen Pflaumenbaum, sehnte mich ein bisschen zurück in den Sommer und wanderte dann weiter die Bornstraße entlang in Richtung Obstwiese.

An Benders Haus war der herrliche Garten bereits aus dem Winterschlaf erwacht: Büschel von Osterglocken, wohin man blickte!

Ein paar Schritte weiter, bei Jordans Garagentor mit dem abgeblätterten meerblauen Anstrich, blieb ich stehen. Dieser Anblick erinnerte mich jedes Mal daran, wie verwirrt ich gewesen war, als ich im ersten Band aus Frau Mayers Kiste nach und nach all diese Orte und Menschen aus meiner Umgebung entdeckt hatte!

Ein Rätsel, das Frau Mayer mir letzten Sommer zwar nur zögernd, aber doch verständlich erklärt hatte: Die Autorin der Bücher, eine Freundin von ihr und eine Tante der Jordan-Kinder, hatte nämlich vor dreißig Jahren unsere Straße und ihre Bewohner als Vorbild für ihre Geschichten verwendet und nur die Namen geändert: Jordans taufte sie in Jansens um, Benders in Beckers, Mayers hießen in den Büchern Morell, die Bornstraße Burgstraße und so weiter. Auch die drei Söhne der Jordans hießen in Wirklichkeit nicht Felix, Tobi und Mathis. Nur ihren eigenen Namen hatte die emsig schreibende Tante Flora auch in den Bücher beibehalten.

Inzwischen waren die drei Brüder natürlich längst erwachsen und weggezogen; im Haus von Mayers wohnten seit acht Monaten meine Eltern und ich, und Tante Flora selbst lebte in einem Seniorenhaus in München – wie eben überhaupt alles hier jetzt dreißig Jahre älter war.

Was man, ich grinste in mich hinein, an diesem abgeblätterten Garagentor mit der verblassten meerblauen Farbe sehr gut erkennen konnte!

Plötzlich stutzte ich, kniff die Augen zusammen und beugte mich vor: Was lag denn da in der Einfahrt zu Jordans Haus?

Vorsichtig klinkte ich das Gartentörchen auf, machte ein paar Schritte über den Plattenweg, ging in die Hocke und musterte verblüfft das Modellboot, das da auf der Seite im Gras lag – als wäre es soeben gekentert. Der dünne, hölzerne Mast war durchgebrochen und wurde nur noch von zwei zerschlissenen Segelschnüren gehalten.

In diesem Moment öffnete sich die Haustür, und Frau Jordan, einen Müllsack in der Hand, erschien auf der Eingangstreppe.

„Hallo Fanny“, begrüßte sie mich, trug erst den Sack zu den Mülltonnen und kam dann zu mir herüber.

„Sehen Sie mal, was ich gerade hier gefunden habe!“ Vorsichtig hob ich das Boot mit beiden Händen auf und hielt es ihr entgegen.

„Ach je, das muss heute Morgen meinem Mann heruntergefallen sein, als er die Sammlung ins Auto geladen hat. Ein Freund von uns“, fügte sie zur Erklärung an, „geht nämlich auf Flohmärkte und will sie dort für uns verkaufen.“

Sie berührte den rot und blau bemalten Bootsrumpf: „Ausgerechnet dieses …“

Wehmütig ruhte ihr Blick auf dem Boot, dann seufzte sie: „Aber man kann einfach nicht alles aufbewahren.“

„Soll ich den Mast wieder ankleben?“, erbot ich mich. „Mit Sekundenkleber kriege ich das bestimmt hin.“

„Ja, und weißt du was? Dann behalt’ es doch, wenn du möchtest! Ich schenk’ es dir.“

Erfreut nickte ich, strich mit dem Finger den Bootsrumpf mit den winzigen Bullaugen entlang und betrachtete die streichholzdünnen, in Reih’ und Glied angeordneten Minipfosten der Reling: „Das war bestimmt viel Arbeit.“

Denn obwohl es auf den ersten Blick wie fertig gekauft wirkte, erkannte man bei genauerem Hinsehen, dass jemand das Boot aus vorgefertigten Teilen selbst zusammengebaut hatte.

„Oh ja, allerdings!“ Frau Jansen nickte. „Felix hat eine Zeitlang in jeder freien Minute … – Moment mal!“

Drinnen hatte das Telefon zu läuten begonnen, und sie eilte hinein, um gleich darauf zurückzukehren, den Hörer am Ohr.

„Einen Augenblick mal, bitte!“ Sie deckte die Sprechmuschel mit der Hand ab und meinte leise zu mir: „Also wie gesagt, wenn du es behalten möchtest …“

Ich nickte.

Sie lächelte mir zu; ein Lächeln, das wie immer nicht wirklich froh aussah, und nahm die Hand wieder von der Sprechmuschel. Während sie zurück ins Haus ging, hörte ich sie noch sagen: „So, da bin ich wieder.“ Dann schloss sich die Haustür hinter ihr.

Langsam, das unverhoffte Geschenk vorsichtig mit beiden Händen vor mir hertragend, ging ich die Einfahrt hinunter und schlug den Weg nach Hause ein.

Am liebsten hätte ich den Gedanken sofort wieder abgeschüttelt. Doch es half nichts, ich konnte einfach nicht so tun, als ob nichts wäre: Kaum hatte ich mit dem nächsten Buch angefangen, da passierte auch schon der erste seltsame Zufall – oder wie man das sonst nennen wollte, was ich da nach dem nächtlichen Traum gerade erlebt hatte.

In der Einfahrt stand mit sperrangelweit offenen Türen unser Auto. Meine Eltern luden gerade die Einkäufe aus.

„Da bist du ja!“ Meine Mutter hob vorsichtig einen Leinenbeutel aus dem Kofferraum und trug ihn ins Haus; bestimmt ihre kostbaren weißen Eier!

„Zeig mal her! Das ist ja eine Bavaria Cruiser!“ Entzückt musterte mein Vater das Modellboot, während ich ihm erklärte, wie ich dazu gekommen war.

„Ich wusste gar nicht“, schloss ich meinen Bericht, „dass du was von Booten verstehst!“

„Doch, ich habe früher auch mal solche Modelle zusammengebaut; nur selbst gesegelt bin ich nie. Jaja“, fuhr er fort, „da bastelt man als Kind alles Mögliche, verliert später das Interesse daran, und die Sachen stehen zu Hause bei den Eltern rum. Bis die sie schließlich entsorgen.“

„Jaja, und ihr steht hier rum, während ich mich abschleppe!“ Meine Mutter war wieder erschienen, um die restlichen Einkäufe zu holen.

„Wo hast du übrigens die Zweige gelassen?!“ Ihr Kopf verschwand in den Tiefen des Kofferraums.

Also nahm mein Vater mir das Boot ab, um es ins Haus zu bringen, und ich lief noch einmal los.

Während ich kurz darauf an der Obstwiese aus einem ganzen Haufen von Kätzchen-Zweigen möglichst viele gerade und gleich lang gewachsene heraussuchte, ließ ein Gedanke mir keine Ruhe: Irgendetwas an dem, was Frau Jordan gesagt hatte, war merkwürdig gewesen.

Ich versuchte mich zu erinnern: ‚Ausgerechnet dieses’, hatte sie gemurmelt. Aber das hieß bestimmt einfach nur, dass es sich bei der Bavaria Cruiser um ein besonders schönes Lieblingsmodell handelte.

Nein, da war noch etwas anderes gewesen …

Ein zweistimmiges Meckern holte mich aus meiner Grübelei. Die beiden Ziegen, die der Bauer neuerdings weiter hinten in einem abgetrennten Bereich der Obstwiese hielt, standen dort am Zaun und bohrten die Nasen durch den Maschendraht. Ich legte meine Zweige auf den Boden, lief hinüber, rupfte mit jeder Hand ein Büschel Gras aus, hielt es den beiden hin und sah zu, wie die saftigen Halme in den weichen Mäulern verschwanden.

Nachdem ich später zu Hause die Zweige in die Vase gestellt hatte – „an Ostern hängen wir dann die ausgeblasenen Eier dran“, sagte meine Mutter – beschloss ich, bis zum Mittagessen noch etwas zu lesen. Auch wenn mir das Buch schon jetzt nicht mehr ganz geheuer war.

Die Spürnasen erwachen

Nach dem Mittagessen, Herr und Frau Jansen saßen am Tisch und füllten gemeinsam das Formular für die Polizei-Akten aus, schoss Mimmo plötzlich unter dem Tisch hervor und in die Diele.

„Da kommt bestimmt die Rote Bohne!“

Felix und Tobi rannten zur Haustür, wo Mimmo bereits unter freudigem Bellen hin- und hersprang.

Als sie die Tür öffneten, lehnte Johanna draußen gerade ihr Fahrrad an die Hauswand.

„Stellt euch vor“, rief sie außer Atem, „die Mitokas …“ Sie riss sich die Mütze vom kurzen roten Haarschopf.

„… sammeln für die Aussiedler!“, vollendete Felix den Satz.

„Wie, das habt ihr schon mitbekommen?!“

Johanna trat ein, warf Mütze, Schal und Anorak auf die Truhe und folgte Felix und Tobi ins Wohnzimmer, wo sie zunächst, ziemlich überrascht, wie es schien, Herrn und Frau Jansen am Esstisch begrüßte.

„Mein Böhnßen!“ Mathis kam angelaufen, umarmte Johannas lange, dünne Beine und rannte dann wieder zurück zu seinem Zootiere-Puzzle, das er auf dem Teppich vor der Terrassentür ausgebreitet hatte.

„Dürfen die das denn wirklich?! Einfach so sammeln, meine ich“, fragte Tobi misstrauisch, während er und Felix Johanna die Treppe in den ersten Stock hinaufgeleiteten, um sich dort, zusammen mit Mimmo, in Tobis Zimmer auf dem Boden niederzulassen.

„Ja, die haben einen Ausweis, unterschrieben und abgestempelt vom Bürgermeister, sagt meine Mutter. Sie dürfen Geld sammeln und Sachspenden, also Handtücher, Anziehsachen und so.“

Für einen Moment herrschte halb ungläubiges, halb erfreutes Schweigen im Raum. Konnte diese Bande, die seit Jahren immer nur Ärger und Schrecken verbreitete, sich wirklich so gewandelt haben?

„Und diese Sammeldose – meint ihr nicht, dass die sich da mal eben ein bisschen draus bedienen?“ Felix hatte immer noch seine Zweifel.

„Nein!“, Johanna schüttelte heftig den Kopf. „Die ist verplombt, das heißt man kann sie nicht einfach öffnen, ohne dass es bemerkt wird.“

„Aber sagt mal“, wechselte sie plötzlich das Thema, „wieso sind denn eure Eltern beide da, obwohl das Auto gar nicht in der Garage steht?“

„Messerscharf geschlossen, Böhnchen!“, stellte Felix fest. Im gleichen Atemzug merkte er aber, dass ihm nicht wirklich nach Frotzeln zumute war, denn schon senkte sich der Gedanke an den Autodiebstahl wie ein Schatten über den Raum. Selbst Mimmo schien das zu spüren; er ließ etwas vernehmen, das als Winseln begann und in einem langen, brummenden Seufzer endete.

„Was für eine Sauerei!“, empörte sich Johanna, nachdem die Jungen ihr ausführlich von den morgendlichen Ereignissen berichtet hatten.

„Aber komisch“, sie runzelte die Stirn, „wo ihr doch dieses stabile Garagentor habt.“ Sie fuhr sich mit einer Hand durch den roten Haarschopf, während Felix und Tobi trübsinnig vor sich hinstarrten.

„Jedenfalls seid ihr nicht die Einzigen“, versuchte Johanna sie aufzumuntern. „Gestern stand sogar in der Zeitung ein Artikel über diese Diebstahlserie hier in letzter Zeit.“

Nachdenklich kraulte sie Mimmo, der sich wohlig neben ihren Beinen auf dem Rücken räkelte, und bohrte nach: „Noch mal zu eurer Garage: Schließen eure Eltern die denn nicht immer zu?“

Tobi erwachte aus seiner Trübsal: „Ja klar, Böhnchen, da kannst du sicher sein.“

Felix nickte bekräftigend zu seinen Worten. Plötzlich aber sah er wieder die unglückliche Miene seines Vaters am Frühstückstisch vor sich. Er schlug mit der flachen Hand neben sich auf den Teppichboden und platzte heraus: „Nee, stimmt ja gar nicht!“

So erfuhr Johanna, dass der Griff des Garagentors am Abend zuvor wohl geklemmt hatte und dass das Tor deswegen über Nacht nur angelehnt gewesen war.