Deadly Little Scandals - Jennifer Lynn Barnes - E-Book

Deadly Little Scandals E-Book

Jennifer Lynn Barnes

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Beschreibung

Ein Geheimbund, ein mysteriöser Fund im See und ein schockierendes Familiengeheimnis

Sawyer ist der High Society, in deren Kreisen sich ihre neu gefundene Familie bewegt, nur sehr widerwillig beigetreten. Dabei hat sie nur ein Ziel: herauszufinden, wer ihr Vater ist. Doch dann wird sie mit ihrer Cousine Lily in den mysteriösen Debütantinnen-Geheimbund der White Gloves eingeführt. Und als die Mädchen bei einem der Initiationsriten am See einen schockierenden Fund machen, wird schnell klar, dass es noch ganz andere Geheimnisse aufzudecken gilt – Geheimnisse, die seit Jahrzehnten streng gehütet wurden und alles zerstören könnten.
Band 2 der atemraubenden Thriller-Dilogie von Jennifer Lynn Barnes, der Erfolgsautorin der »The Inheritance Games«-Reihe.

Die Little-White-Lies-Reihe
Little White Lies (Band 1)
Deadly Little Scandals (Band 2)

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 430

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Jennifer Lynn Barnes

Aus dem Amerikanischen von Ivana Marinović

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

© 2019 by Jennifer Lynn Barnes

Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel »Deadly little scandals: a Debutante novel« bei Freeform Books, einem Imprint der Disney Book Group

© 2025 für die deutschsprachige Ausgabe

cbj Kinder- und Jugendbuchverlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

[email protected]

(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR.)

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Übersetzung: Ivana Marinović

Umschlaggestaltung: Carolin Liepins

Umschlagmotiv: © 2025 by Katt Phatt unter Verwendung eines Motivs von Adobe Stock (Mysterylab, ArtBackground)

Innengestaltung unter Verwendung der Bilder von: © Adobe Stock (iiierlok_xolms)

skn · Herstellung: DiMo

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-33191-7V001

www.cbj-verlag.de

Für Ti30.

Labor Day, 03:17 Uhr

»Sawyer, bist du da?«

»Ich bin hier.«

»Ich kann meine Füße nicht spüren. Meine Hände auch nicht. Und meine Ellbogen. Und mein Gesicht. Und …«

»Sadie-Grace, gib mir nur eine Sekunde.«

»Okay … War das die Sekunde?«

»Wenn ich uns hier rauskriegen soll, muss ich nachdenken.«

»Tut mir leid! Ich will ja aufhören zu reden! Aber wenn ich nervös bin, tanze ich, aber gerade kann ich nicht tanzen, weil ich meine Füße nicht spüren kann. Und meine Hände auch nicht. Und meine Ellbogen. Und …«

»Alles wird gut.«

»Wenn ich nervös bin und nicht tanzen kann, plappere ich los. Und weißt du, was, Sawyer? Lebendig begraben sein macht mich sehr nervös.«

Vierzehn Wochen (und drei Tage) zuvor

Kapitel 1 

»Hat irgendwer William Faulkners Rettungsweste gesehen?«

Es gab eine Zeit in meinem Leben, da wäre mir die Frage, die Tante Olivia gerade die Treppe runtergerufen hatte, schräg vorgekommen. Heute entlockte sie mir nicht mal ein winziges Hochziehen meiner Augenbrauen. Selbstverständlich hieß die riesige Berner Sennenhündin der Familie William Faulkner, und selbstverständlich besaß die Hundedame ihre eigene Rettungsweste. Scheiße, wahrscheinlich war sogar ihr Monogramm draufgestickt.

Die Mütter der Debütantinnentruppe waren generell ganz versessen drauf, alles mit Monogrammen zu versehen.

Eigentlich war das einzig Überraschende an Tante Olivias Frage, dass meine Tante – die eine extreme Typ-A-Persönlichkeit war – nicht selbst wusste, wo William Faulkners Rettungsweste steckte.

»Würdest du mich noch einmal daran erinnern, warum wir uns in der Speisekammer verstecken?«, bat ich Lily, die mich vor fünf Minuten hier reingeschleift und seither nur noch im Flüsterton gesprochen hatte.

»Das Memorial-Day-Wochenende steht an«, murmelte Lily zur Antwort. »Mama wird immer leicht überspannt, wenn wir das Seehaus für den Sommer öffnen.« Lily senkte ihre Stimme jetzt zu einem dramatischen Raunen. »Sogar ihre Listen haben Listen.«

Ich bedachte Lily mit einem Blick, der so viel sagen sollte wie: Wer im Glashaus sitzt, soll nicht mit Steinen werfen.

»Ich führe eine total vernünftige Anzahl von Listen«, protestierte Lily flüsternd. »Und ich hätte einige weniger, wenn du selbst irgendwelche Anstalten machen würdest, dich für dein Studium vorzubereiten.«

Lily Taft Easterling war eine mindestens genauso ausgeprägte Typ-A-Persönlichkeit wie ihre Mama, und beide hielten sie beharrlich an der Annahme fest, dass ich im Herbst mit Lily an die State University gehen würde. Die Immatrikulation an dieser ausgezeichneten Hochschule sei, so hatte man mir mitgeteilt, eine Familientradition.

Ich kam nicht umhin, daran zu denken, dass mein spezieller Zweig des Familienstammbaums seine ganz eigenen Traditionen pflegte: Lug und Trug und Kirschkäsekuchen fertig aus der Packung …

»Bilde ich mir das nur ein oder war da mal viel mehr Essen in dieser Speisekammer?«, fragte ich Lily, damit sie nichts in mein Schweigen reininterpretierte.

»Mama packt für den See wie ein Prepper für ein Endzeitszenario«, erklärte Lily mit gedämpfter Stimme. Sie verstummte beim Geräusch nahender Schritte, die direkt vor unserem Versteck innehielten.

Ich hielt die Luft an, doch keine Sekunde später wurde die Speisekammertür aufgestoßen.

»Hasta la vista … Lily!« Lilys kleiner Bruder, John David, quittierte seinen eigenen Spruch mit einem Kichern, bevor er einen Regen aus Nerf-Gun-Pfeilen auf uns niederprasseln ließ.

Mit eingezogenem Kopf bemerkte ich, dass unser Angreifer in Tarnfarben gekleidet war, schwarze Streifen unter die Augen gemalt hatte und eine riesige Rettungsweste trug, die wohl nur der Familienhündin gehören konnte.

»Ich gebe wirklich mein Äußerstes, keinen Fratrizid zu begehen«, sagte Lily in betont liebenswürdigem Tonfall. »Jedoch.« Dieses jedoch sollte eigentlich für sich als Drohung stehen, aber ich beschloss, ihr ein bisschen mehr Präzision zu verleihen.

»Jedoch …«, begann ich und ging auf John David zu, »… fallen Kopfnüsse mehr so in die Grauzone?« Ich bekam den Missetäter zu fassen und nahm ihn in den Schwitzkasten.

»Leg dich mit dem Bullen an …« John David gab sich alle Mühe, sich aus meinem Griff herauszuwinden. »… und du kriegst die Hörner zu spüren!«

»Und du kriegst eine Kopfnuss!«

Lily starrte uns an, als hätten wir inmitten des Sonntagsbrunchs eine Schlammschlacht angefangen.

»Wie bitte?«, fragte John David unschuldig, bevor er versuchte, mich in die Achsel zu beißen, was danebenging.

»Ihr beide habt wirklich einen schlechten Einfluss aufeinander«, erklärte Lily. »Ich sage dir, Sawyer, es gibt Tage, da könnte ich schwören, dass er dein Bruder ist, nicht meiner.«

Das war bloß Lilys Art, mich aufzuziehen, trotzdem erstarrte ich. Sie hatte ja keine Ahnung – gar keine –, was sie gerade gesagt hatte. Keine Ahnung, dass es die halbe Wahrheit war.

John David nutzte den Moment, um sich aus meinem Griff zu befreien. Er nahm uns gerade wieder mit seinem Plastikgewehr ins Visier, als Tante Olivia um die Ecke kam.

Da könnte ich schwören, dass er dein Bruder ist … Lilys Worte hallten in meinem Kopf nach, aber ich zwang mich, mich auf die Gegenwart zu konzentrieren – und den erbosten Ausdruck auf Tante Olivias Gesicht. Ich trat zwischen John David und meine Tante und bedachte sie mit einem, wie ich hoffte, beschwichtigenden Lächeln.

»Tante Olivia«, erklärte ich ruhig, »wir haben William Faulkners Rettungsweste gefunden.«

*

John David und ich wurden kurzerhand schuldig gesprochen – die Anklage lautete: »Zeitlich äußerst unpassender Unfug«, und »Bei Gott, ihr raubt mir den letzten Nerv« – und zum Beladen des Autos verurteilt. Ich hatte nicht vor, mich über die so dringend benötigte Ablenkung zu beschweren.

Vor Monaten war ich in das Haus meiner Großmutter mütterlicherseits gezogen, nachdem sie mir einen teuflischen Deal unterbreitet hatte: Wenn ich bei ihr wohnte und an der Debütantinnensaison teilnahm, die meine offizielle Einführung in die feine Gesellschaft sein sollte, würde sie mir mein Studium bezahlen. Ich hatte mich darauf eingelassen, aber nicht wegen des Halbe-Million-Dollar-Treuhandfonds, der mittlerweile in meinem Namen eingerichtet worden war. Ich war freiwillig Teil dieser luxuriösen Glitzerwelt geworden, weil ich unbedingt herausfinden wollte, welcher Sprössling eben dieser feinen Gesellschaft meine Mutter in ihrem Debütantinnenjahr geschwängert hatte.

Und die Antwort auf diese Frage? Die, von der Lily keine Ahnung hatte? Ihr Vater. Tante Olivias Ehemann. Mein Onkel J. D.

»Geht es dir gut, Sawyer? Du siehst etwas kränklich aus, Schätzchen.« Tante Olivia hielt eine To-do-Liste in den Händen, die aufzusetzen anscheinend nicht weniger als acht Post-it-Zettel erfordert hatte. Ich hätte einiges darauf verwettet, dass kein Punkt auf dieser ausführlichen Liste lautete: Herausfinden, dass Ehemann vor neunzehneinhalb Jahren mit meiner kleinen Schwester geschlafen und sie geschwängert hat.

Und was wahrscheinlich auch nicht auf ihrer Liste stand? Feststellen, dass Schwester absichtlich schwanger wurde, als Teil eines total idiotischen, hirnverbrannten Teenie-Schwangerschaftspakts.

»Mir geht’s gut«, erwiderte ich und setzte das geistig auf meine Liste von Lügen, die ich in den letzten sechs Wochen – durch Worte und Auslassungen – erzählt hatte.

Unter normalen Umständen hätte Tante Olivia wohl versucht, mich mit Essen aufzupäppeln, aber offenbar hatte sie gerade Wichtigeres im Kopf. »Ich habe vergessen, die Avocadovorräte aufzustocken«, sagte sie plötzlich. »Ich könnte noch schnell zum Laden fahren und …«

»Mama.« Lily stellte sich vor Tante Olivia auf. Die beiden sahen sich nicht besonders ähnlich, aber was Verhalten und Angewohnheiten betraf, hätten sie als Zwillinge durchgehen können. »Du musst nicht zum Laden fahren. Wir haben genügend Avocados. Alles wird gut.«

Tante Olivia bedachte Lily mit einem Blick. »Gut ist nicht der Standard, den wir Taft-Frauen anstreben.«

Lily zog ihrer Mutter vorsichtig die To-do-Liste aus den Händen. »Alles wird perfekt.«

Eine dritte Taft-Frau schaltete sich in das Gespräch ein. »Ich bin mir sicher, das wird es.« Selbst in ihrer Version eines legeren Outfits – einer Leinen-Caprihose – wusste die großartige Lillian Taft, wie man einen Auftritt hinlegte. »Sawyer, Liebes.« Meine Großmutter ließ ihren Blick auf mir verweilen. »Ich habe gehofft, du könntest mich heute Vormittag bei einer kleinen Besorgung begleiten.«

Das war ein Befehl, keine Bitte. Im Geist ging ich schnell sämtliche Regeln und gesellschaftlichen Gepflogenheiten durch, gegen die ich in den letzten vierundzwanzig Stunden verstoßen hatte, war mir aber unschlüssig, was ich getan haben könnte, um mir ein Unter-vier-Augen-Gespräch mit Lillian einzuhandeln.

»Sollen wir auf dich warten, Mama?«, fragte Tante Olivia, wobei ihre Augen zur Wanduhr zuckten.

Lillian tat die Frage mit einem kleinen Wink ab. »Fahrt ihr schon zum See vor, Olivia. Umgeht den Wochenendverkehr. Sawyer und ich kommen nach.«

Kapitel 2 

Die Besorgung meiner Großmutter führte uns auf den Friedhof. Sie hatte ein kleines Blumenarrangement dabei – Wildblumen. Das fiel mir auf, weil Lillian ihren Floristen buchstäblich auf Kurzwahl hatte. Sie züchtete außerdem ihre eigenen Rosen, und doch sah das Sträußchen in ihren Händen aus, als sei es auf einer Wiese gepflückt worden.

Lillian Taft war, ganz allgemein gesprochen, nicht der Typ Günstig-und-Selbstgemacht.

Sie war ungewöhnlich still, als wir über einen gekiesten Pfad einen kleinen Hügel hinabspazierten. Etwas abseits von den anderen Grabsteinen, zwischen zwei uralten Eichen gelegen, befand sich ein schmiedeeiserner Zaun. Die kunstvoll gestalteten Schnörkel darin waren unglaublich, aber der Zaun selbst war niedrig und reichte mir kaum bis zur Taille. Die Rasenfläche innerhalb der Umgrenzung war etwa drei Meter lang und vier Meter breit.

»Dein Großvater hat diese Stelle selbst ausgesucht. Der Mann hielt sich immer für unsterblich, daher kann ich nur davon ausgehen, dass er vorhatte, mich hier zu beerdigen statt andersherum.« Meine Großmutter legte ihre Hand auf das geschmiedete Eisen, dann schob sie das Tor auf.

Ich zögerte kurz, bevor ich ihr folgte und ein kleines Stück von dem Grabstein entfernt stehen blieb – ein kleines Zementkreuz auf einem schlichten Sockel. Mein Blick blieb erst an den Daten hängen, dann am Namen.

EDWARD ALCOTT TAFT.

»Hätten wir einen Sohn gehabt«, sagte Lillian leise, »hätten wir ihn Edward getauft. Alcott wiederum war Anlass für ein paar Diskussionen zwischen deinem Großvater und mir. Edward wollte nie einen Sohn haben, der Junior genannt wurde, aber ich fand, der Klang seines vollständigen Namens hatte was für sich.«

Das hier hatte ich nicht erwartet, als sie mich zu einem Vier-Augen-Gespräch zitiert hatte.

»Dein Großvater und ich haben uns am Memorial-Day-Wochenende kennengelernt. Habe ich dir das je erzählt?« Sie wartete in typischer Lillian-Manier keine Antwort ab. »Ich hatte mich heimlich auf eine Feier geschlichen, auf der ein Mädchen meiner Herkunft ganz gewiss nichts zu suchen hatte.«

Unwillkürlich kehrten meine Gedanken zu einer anderen High-Society-Soiree zurück, wo einer der Anwesenden ebenfalls nicht hingehört hatte. Sein Name war Nick. Wir hatten einen Tanz zusammen gehabt – er in einem T-Shirt, ich in einem Ballkleid. Trotz all meiner gegenteiligen Bemühungen spukte die Erinnerung an diesen Tanz immer noch in meinem Kopf herum.

»Wäre ich von irgendwem sonst aufgedeckt worden, hätte es womöglich Ärger gegeben«, schwelgte Lillian in ihren eigenen Erinnerungen, »aber dein Großvater hatte so eine Art an sich …«

Die Nostalgie in ihrer Stimme ließ mich den Tanz mit Nick nach ganz hinten in meinem Kopf verbannen, um mich auf das Gespräch vor mir zu konzentrieren. Lillian sprach so gut wie nie über ihre Jugendjahre. Ich hatte zwar schon mitbekommen, dass sie bettelarm und von höllischem Ehrgeiz getrieben aufgewachsen war, aber das war auch schon alles, was ich wusste.

»Du vermisst ihn«, sagte ich, den Blick auf den Grabstein gerichtet. Ich hatte einen Kloß im Hals, weil sie ihn geliebt hatte. Und weil ich diesen Mann, der hier begraben lag, nie gut genug kennen würde, um ihn ebenfalls zu lieben oder zu vermissen.

»Er hätte dich gemocht, Sawyer.« Lillian Taft bekam keine feuchten Augen. Sie war keine Frau, die ihrer Stimme erlaubt hätte, auch nur zu zittern. »Oh ja, er hätte einen gewaltigen Anfall bekommen, als Ellie schwanger aufkreuzte, aber für seine zwei Mädchen wäre der Mann durch die Hölle und zurück gegangen. Und ich habe keinerlei Zweifel, dass er, sobald er sich beruhigt hätte, für dich das Gleiche getan hätte.«

Edward Alcott Taft war gestorben, als meine Mutter zwölf war und Tante Olivia auf die achtzehn zusteuerte. Ich war mir ziemlich sicher, dass, wenn er während des Debütantinnenjahrs meiner Mom am Leben gewesen wäre, sie überhaupt gar nicht erst schwanger »aufgekreuzt« wäre. Die Tatsache, dass sie mit zwei ihrer Freundinnen einen Schwangerschaftspakt geschlossen hatte, schrie nicht gerade nach einer »ausgeglichenen« Jugendlichen. Aber die Tatsache, dass sie ihren eigenen Schwager ausgesucht hatte, um sich von ihm schwängern zu lassen?

Das schrie so was von nach Vaterkomplex.

»Hast du mit ihr gesprochen?«, fragte Lillian. »Mit deiner Mama?«

Das versetzte mich sofort in Habachtstellung. Falls Lillian mich hergebracht hatte, um mich zu etwas familiärer Versöhnlichkeit zu inspirieren, würde sie bitter enttäuscht werden.

»Falls du mit sprechen eigentlich eisern ignorieren meinst, dann ja«, erwiderte ich ungerührt. »Ansonsten, nein.«

Meine Mutter hatte mich angelogen. Sie hatte mich in dem Glauben gelassen, dass mein Vater der ehemalige Senator und heutige Sträfling Sterling Ames war. Ich hatte geglaubt, die Kinder des Senators wären meine Halbgeschwister. Die beiden – und ihre Mutter – glaubten das immer noch. Der Sohn des Senators, Walker, war Lilys Freund; er und Lily waren gerade erst wieder zusammengekommen. Ich konnte ihm nicht die Wahrheit sagen, ohne sie auch ihr zu sagen.

Und wenn ich Lily sagte, wer mein Vater war und was meine Mutter und ihr geliebter Daddy getan hatten … würde ich sie verlieren.

»Ich komme nicht umhin zu bemerken, dass du die vergangenen sechs Wochen furchtbar still warst, Liebes.« Lillian sprach mit sanfter Stimme, doch ich erkannte eine Südstaateninquisition, wenn ich sie hörte. »Du redest nicht mit deiner Mama. Du redest im Grunde mit niemandem über irgendwas, das von Belang wäre.«

Ich las zwischen den Zeilen. »Führen wir dieses Gespräch, weil du willst, dass ich Lily und Tante Olivia in Sachen Eizellenbefruchter reinen Wein einschenke, oder weil du mein Wort willst, dass ich es nicht tue?«

Lillian Taft, Grande Dame der feinen Gesellschaft, Philanthropin, Hüterin des Familienvermögens und guten Rufs, zeigte sich kein bisschen beeindruckt von meiner Wortwahl. »Es wäre mir sehr recht, wenn du davon absehen könntest, den Begriff Eizellenbefruchter zu benutzen.«

»Du hast meine Frage nicht beantwortet«, gab ich zurück.

»Es ist nicht an mir, sie zu beantworten.« Lillian blickte auf das Grab ihres Mannes hinab. »Meine Zeit, das Wort zu ergreifen, wäre vor Jahren gewesen. Sosehr ich meine Entscheidung womöglich bereue, habe ich nicht vor, sie dir heute zu nehmen. Das ist dein Leben, Sawyer. Wenn du mit dem Kopf im Sand leben möchtest, werde ich dich nicht davon abhalten.«

Wenn es darum ging, ihre Meinung kundzutun, ohne sie gleichzeitig explizit zu äußern, war meine Großmutter eine wahre Meisterin.

Und nach all den Jahren war sie die Geheimnisse leid.

Als ob ich es nicht wäre, dachte ich.

»Der einzige Streit, den Lily und ich je hatten, ging darum, dass der Namen ihres Vaters auf der Liste meiner potenziellen Erzeuger stand.« Ich hätte mir gewünscht, dass mir diese Erinnerung nicht so sehr zusetzte. »Wir haben uns nur wieder vertragen, weil ich ›entdeckt‹ habe, dass mein Vater jemand anders war.«

Lily vergötterte ihren Dad. Tante Olivia war eine Perfektionistin, und Onkel J. D. war derjenige, der Lily immer wieder versicherte, dass sie nicht perfekt sein musste, um geliebt zu werden.

»Ich denke, du unterschätzt deine Cousine«, erwiderte Lillian ruhig.

Ich sprach die Worte aus, die ich permanent versuchte, nicht zu denken. »Sie ist nicht bloß meine Cousine.«

Sie war meine Schwester.

»Dass du dir ja keine Schuldgefühle machst«, befahl Lillian. »Dieses Schlamassel hat allein deine Mama zu verantworten, Sawyer. Und ich. Bei Gott, ich hätte J. D. vor Jahren in die Wüste schicken sollen, im selben Moment, als mir auch nur die Vermutung kam, dass er es wagen könnte …« Meine Großmutter unterbrach sich selbst. Nach einer Weile beugte sie sich vor, um den Strauß Wildblumen auf dem Grabsteinsockel abzulegen. Als sie sich wieder erhob, richtete sie sich zu ihrer vollen Größe auf. »Die Sache ist folgende, Sawyer-Ann: Dieses Schlamassel ist in keinster Art und Weise deins.«

»Nein, dieses Schlamassel ist nicht meins«, gab ich zurück. »Ich bin das Schlamassel.«

Ich erwartete, dass Lillian dieser Aussage widersprechen würde, aber stattdessen hob sie nur eine Augenbraue. »Ich würde dich wohl eher einen Strubbelkopf nennen.« Wie aus dem Nichts zauberte sie eine Haarspange hervor und »schlug vor«, dass ich diese benutzte. »Du hast so ein hübsches Gesicht«, schob sie hinterher. »Weiß Gott, warum du so versessen darauf bist, es unter diesem Pony zu verstecken.«

Sie sagte Pony wie ein Schimpfwort. Bevor sie losjammern konnte, dass ich mir einen Großteil meiner Haarpracht von ihrem Friseur hatte abschneiden lassen, kam ich ihrer Klage zuvor. »Ich brauchte eine Veränderung.«

Ich hatte irgendwas gebraucht. Ich hatte nämlich Jahre damit zugebracht, mich zu fragen, wer mein Vater war. Jetzt lebte ich mit diesem Mann unter einem Dach, doch keiner von uns beiden hatte diese Tatsache angesprochen. Es wäre einfacher gewesen, hätte ich gedacht, dass er nichts davon ahnte, aber er wusste, dass ich seine Tochter war. So viel hatte meine Mutter mir verraten, und was das betraf, war ich mir sicher, dass sie die Wahrheit sagte.

Die ganze Situation war total verkorkst. Nie in meinem ganzen Leben hatte Mom mir das Gefühl vermittelt, ein Fehler gewesen zu sein, aber herausfinden zu müssen, dass sie mich absichtlich gezeugt hatte, gab mir genau dieses Gefühl.

Wenn meine Mutter damals nicht immer noch um ihren Vater getrauert hätte …

Wenn sie sich nicht wie eine Fremde in ihrer eigenen Familie gefühlt und sich nicht verzweifelt irgendwas gewünscht hätte, das sie ihr eigen nennen könnte …

Wenn ihre »Freundin« Greer diese Verletzlichkeit nicht gesehen und sie auf diese völlig bescheuerte Idee gebracht hätte, eine glückliche Teeniemutter zu werden …

Dann gäbe es mich nicht.

»Sawyer.« Lillian sagte meinen Namen ganz sanft. »Ponys sind was für Blondinen und Kleinkinder, und du, meine Liebe, bist keins von beidem.«

Wenn sie so tun wollte, als ob meine Frisur das eigentliche Problem zwischen uns – und in dieser Familie – war, ging das für mich klar. Für den Moment zumindest.

»Falls du mich hergebracht hast, um dich zu vergewissern, wie es mir geht …«, erwiderte ich, »… mir geht’s gut.« Ich wandte den Blick ab und er landete auf dem Grabstein meines Großvaters. »Ich bin eine Lügnerin, aber mir geht’s gut.«

Ich konnte Mom nicht vergeben, mich so getäuscht zu haben, trotzdem stand ich selbst jeden Tag auf und ließ Tante Olivia, Lily und John David durchs Leben gehen, als wäre alles ganz normal. Da fiel es schwer, nicht auf den Gedanken zu kommen, dass der Apfel nicht weit vom Stamm fiel.

»Sawyer, deine Mama war immer Papas kleines Mädchen.« Lillian sah wieder zum Grabstein. »Deine Tante ebenfalls. So wie sie aufgewachsen sind, mussten sie sich nie etwas erkämpfen. Aber du? Du hast eine gesunde Prise von mir in dir, und da, wo ich herkomme, muss ein Mensch kämpfen, um zu überleben.«

Das war nun das zweite Mal, dass sie ihre Herkunft erwähnt hatte. »Warum hast du mich hergebracht?« Ich wurde das Gefühl nicht los, dass nichts an diesem Gespräch – geschweige denn diesem Ort – ein Zufall war.

Lillian schwieg eine Weile, so lange, dass ich nicht sicher war, ob sie noch antworten würde. »Du hast mich vor ein paar Wochen gefragt, ob ich herausfinden könnte, was mit der Freundin deiner Mama geschehen ist. Ana.«

Mir stockte der Atem. Ana, Ellie und Greer, dachte ich und zwang mich weiterzuatmen. Drei Teenagerinnen, ein Pakt. Greer hatte ihr Baby verloren, was bedeutete, dass Anas Kind – falls sie es bekommen hatte – der einzige andere Mensch auf diesem Planeten war mit einer Abstammungsgeschichte, die genauso verkorkst war wie meine. Ihr Kind müsste fast in genau dem gleichen Alter sein wie ich.

»Was hast du herausgefunden?«, fragte ich mit trockenem Mund.

»Ana war ein stilles, zierliches Mädchen. Meine Erinnerung an sie ist recht verschwommen. Sie war neu in der Stadt. Ich hatte zwar von ihrer Familie gehört, kannte sie jedoch nicht persönlich. Wenn ich recht verstanden habe, haben sie und ihre Familie ihre Siebensachen gepackt und sind nach Hause zurückgezogen, etwa zu der Zeit, als ich von dem heiklen Umstand deiner Mutter erfuhr.«

Zu der Zeit, dachte ich, als Ana ebenfalls schwanger war.

»Woher kamen sie?«, wollte ich wissen. »Wohin sind sie zurückgezogen?«

Es folgte eine lange Pause, in der meine Großmutter mich eingehend musterte. »Warum möchtest du diese Frau finden?«

Lillian wusste, dass Onkel J. D. mein Vater war, aber soweit ich das sah, hatte sie keine Ahnung von dem Pakt. Es gab für mich zwar keinen richtigen Grund, es vor ihr zu verheimlichen, aber es war auch nicht unbedingt die einfachste Sache der Welt, um sie direkt hinauszuposaunen.

»Sawyer?«, hakte meine Großmutter nach.

»Ana war auch schwanger«, erklärte ich knapp. »Sie haben es so geplant. Ich weiß nicht, ob sie das Baby bekommen hat, aber falls ja …«

Lillian schluckte den Hieb, den ich ihr gerade verpasst hatte. »Falls sie das Baby bekommen hat, was dann?«

Ich versuchte, die richtigen Worte zu finden, aber alle kamen mir so platt und ungenügend vor. Wie bitte sollte ich vernünftig erklären, dass der Grund, warum ich hatte herausfinden wollen, wer mein Vater war, warum ich mich danach gesehnt hatte, die Familie kennenzulernen, die Mom so verachtete, warum ich hiergeblieben war, auch nachdem ich die Wahrheit herausgefunden hatte, genau derselbe Grund war, aus dem ich auch erfahren wollte, was mit Anas Baby geschehen war?

Menschen, die immer eine Familie hatten, auf die sie zählen konnten, und einen Ort, an den sie gehörten, konnten nicht wirklich die Verlockung dieses leisen Flüsterns verstehen, das wisperte: Es gibt da jemanden wie dich.

Jemanden, der mir meine Herkunft nicht vorhalten würde.

»Ich will es einfach nur wissen«, sagte ich leise.

Es folgte ein weiteres Schweigen, diesmal bedächtiger. Dann griff Lillian in ihre Handtasche und reichte mir eine Zeitung, die auf der Wirtschaftsseite aufgeklappt war.

Ich überflog die Überschriften, hatte aber keinen Schimmer, wonach ich suchen sollte.

»Der Artikel über die versuchte Geschäftsübernahme«, erklärte Lillian. »Dir wird auffallen, dass es sich bei einer der Firmen um einen internationalen Telekommunikationskonzern unter der Führung eines gewissen Victor Gutierrez handelt. Der Besitzer der anderen Firma ist Davis Ames.«

Davis war das Oberhaupt der Familie Ames, Großvater von Walker und Campbell Ames und Vater von dem Mann, von dem ich kurz geglaubt hatte, dass er mein Vater sei – von dem Mann, der in Wahrheit der Vater von Anas Baby war.

»Warum zeigst du mir das?«, fragte ich.

Lillian seufzte. »Ana, die Freundin deiner Mama? Ihr vollständiger Name lautete Ana Sofía Gutierrez.«

Kapitel 3 

Ein Mann, der Anas Nachnamen trug – ihr Vater? Bruder? Ein entfernterer Verwandter? – hatte zu einem Schlag gegen das Ames’sche Familienunternehmen angesetzt.

Zwei Stunden Fahrt über Highways und Landstraßen später grübelte ich immer noch darüber nach. Während Lillians Porsche Cayenne an einem bewachten Tor, einer Golfanlage, Volleyball- und Tennisfeldern und einem Pool vorbeiglitt, musste ich daran denken, dass Davis Ames mir einst gesagt hatte, er habe die Sache mit dem Mädchen, das sein Sohn geschwängert hatte, geregelt. Es ließ sich unmöglich sagen, was genau damit gemeint war, aber ich musste mich schon fragen, ob die geschäftliche Angelegenheit für diesen Victor Gutierrez nur geschäftlich war – oder doch persönlich.

Geht es bei dieser Sache irgendwie um Ana? Um Rache? Für was genau? Und warum gerade jetzt?

»Da wären wir«, verkündete Lillian und bog in eine kreisförmige Einfahrt. »Home, sweet home – am See.«

Ich musste das jetzt beiseiteschieben. Ich konnte in Gegenwart von Lily und Tante Olivia nicht über Ana, den Pakt oder sonst irgendwas von alldem nachdenken – nicht, wenn ich so tun wollte, als wäre bei mir alles okay, als wäre bei uns alles okay und als gäbe es rein gar nichts, was sie wissen oder worüber sie sich Sorgen machen müssten. Stattdessen konzentrierte ich mich also auf den Anblick vor mir. Als ich den Rest der Familie vom »Seehaus« hatte sprechen hören, hatte ich mir eine Art Hütte vorgestellt. Etwas Kleines, Rustikales.

Ich hätte es wirklich besser wissen müssen.

»Das ist also euer Seehaus«, stellte ich das Offensichtliche fest, während ich an dem riesigen steinernen Domizil hochschaute. Ich stieg aus dem Cayenne aus, als auch schon die Eingangstür aufgerissen wurde.

»Sawyer.« Lily lächelte. Nicht ihr höfliches Standardlächeln, nicht ihr gequältes »Ihr könnt mir nichts anhaben«-Lächeln, sondern ein waschechtes Von-einem-Ohr-zum-anderen-Grinsen. »Du wirst nicht glauben …«

Unsere Großmutter stieg aus und Lily brach mitten im Satz ab. »Ich hoffe, der Verkehr war nicht allzu schlimm, Mim.« Das klang mehr nach der Lily, die ich kannte, aber ihre dunkelbraunen Augen funkelten immer noch. Sie wartete einen kurzen Moment, bevor sie sich wieder an mich wandte. »Komm mit, ich zeige dir unser Zimmer.«

Irgendwie hatte ich Zweifel, dass die elektrisierte Aufregung in ihrer Stimme ein Ausdruck ihrer Begeisterung darüber war, dass wir beide uns ein Zimmer teilten.

»Was ist denn los?«, fragte ich, als wir die Eingangshalle betraten.

Lily machte Schsch. Da ich nicht so dringend wissen wollte, was in sie gefahren war, um mir gleich ein zweites Mal über den Mund fahren zu lassen, beschloss ich, mich stattdessen auf das Haus zu konzentrieren. Die geschwungene Treppe, die sich nach oben wand, hatte ich erwartet. Die Treppe, die sich nach unten wand, nicht.

»Drei Etagen?«, staunte ich. »Oder ist der Keller nur ein Keller?«

»Es ist nur ein Keller.« Lily hielt inne. »Mit einem Schlafzimmer. Und einem Spielezimmer.« Dann hielt sie noch einmal inne, etwas peinlich berührt, denn wohlerzogene junge Damen waren immer etwas peinlich berührt von der schieren Größe ihrer Familiendomizile und ganz generell von den Privilegien, mit denen sie auf die Welt gekommen waren. »Und einem Medienraum. Einem Billardtisch. Einer Tischtennisplatte …«

Offenbar beschloss sie, dass sie genug gesagt hatte, und steuerte die Treppe an – die, die nach oben führte, nicht die nach unten. Ich folgte ihr und gemeinsam erreichten wir einen kleinen Flur. In Anbetracht der Größe des Hauses wirkte das Obergeschoss sehr kuschelig: ein Schlafzimmer mit zwei Einzelbetten, ein Bad, ein begehbarer Kleiderschrank. Abgesehen von dem vermutlich antiken Mobiliar sah das Zimmer eher aus, als würde es in die Hütte gehören, die ich mir vorgestellt hatte.

»Ich weiß, es ist ein bisschen klein«, sagte Lily leise, »aber ich hab es hier oben immer geliebt.«

Ich ging zum Fenster und blickte auf den See darunter. »Wer bitte würde ein Erkerzimmer nicht lieben?«

Von meinem Aussichtspunkt aus konnte ich erkennen, dass das Haus sich in eine Hügelflanke schmiegte. Da war ein steiler Abhang, bevor das Land sanft zum felsigen Strand hin abfiel. Der Blick aufs Wasser war atemberaubend.

»Nun?«, sagte Lily.

»Nun was?«, erwiderte ich, unfähig meine Augen von den weiß gekrönten Wellen loszureißen, die träge heranrollten, um sich an dem privaten Bootssteg zu brechen. Unsere Bucht war so groß, wie ich mir den gesamten See vorgestellt hatte, und von meinem Platz aus konnte ich über ihren Eingang hinaus zum Hauptgewässer des Regal Lake sehen. Der Name kam mir bei dem majestätischen Anblick nicht mehr so überzogen vor wie auf der Herfahrt.

»Nun …«, erwiderte sie pikiert. »Frag mich noch mal.«

»Dich was fragen?« Ich machte auf blöd. Sie war mir über den Mund gefahren. Das war der Preis dafür.

»Frag mich, was los ist.« Lily stellte sich zu mir ins Erkertürmchen und hielt mir eine lange, flache Schatulle hin – zu groß für Schmuck, aber zu schmal für fast alles andere. »Frag mich«, wies sie mich an, »was das ist.«

Ich nahm ihr die Schatulle aus der ausgestreckten Hand. Sie war mattschwarz und in der Mitte des Deckels war ein Kärtchen befestigt. Es war aus dickem cremefarbenen Papier – so ein Papier, das ich eher mit Hochzeitseinladungen verband –, und ein einzelnes Wort war in erhabenen schwarzen Schreibschriftbuchstaben hineingeprägt.

Lilys Name.

Ich wollte schon den Deckel abnehmen, aber Lily hielt mich zurück. »Nicht meine.« Sie nickte zu einem der zwei Betten. »Öffne deine.«

Eine zweite Schatulle – diese trug meinen Namen – lag unterhalb des Kopfkissens. Ich ging hinüber, hob sie auf und öffnete sie. Darin befand sich ein einzelner bis zum Ellbogen reichender weißer Handschuh. Am Handschuh befestigt befand sich eine weitere Notiz, diese hier auf dünnerem Papier und mit blutroter Tinte geschrieben.

The Big Bang, 23 Uhr, Hinterzimmer.

»Lily«, sagte ich ruhig, »krieg das jetzt bitte nicht in den falschen Hals, aber ist das eine Einladung zu einer Orgie?«

»Einer was?« Lily Taft Easterling quietschte aus Prinzip nicht, aber dieses Mal kam sie einem Quietschen sehr nahe.

»Big Bang und Hinterzimmer«, erwiderte ich. »Klingt für meine Ohren nicht gerade jugendfrei.«

Lily funkelte mich empört an. Ich grinste. Manchmal war es echt zu einfach, sie auf die Palme zu bringen. Das Grinsen gefror mir im Gesicht, als ich mit etwas Verzögerung einen schmerzhaften Stich verspürte.

Ich könnte das hier verlieren. Lily verlieren.

Nachdem ich diesem Gedanken einen Riegel vorgeschoben hatte, besah ich mir die Schatulle genauer. Die Nadel, mit der die Notiz am Handschuh befestigt war, war aus Silber. In das obere Ende war eine kleine Rose geschmiedet, um deren Stängel sich eine Schlange wand.

»Eine Orgie …«, wiederholte ich und zwang mich zu einem Grinsen, um an den Moment davor anzuknüpfen, »… mit Schlangen.«

Lily verdrehte die Augen. »Wenn du damit fertig bist, dieses Wort bis zum Erbrechen zu wiederholen, würde ich dich liebend gerne darüber informieren, dass es sich beim Big Bang um ein örtliches Etablissement handelt.«

»Ein Bordell?«

»Sie verkaufen dort Chickenwings«, erwiderte Lily abwehrend. »Und Bier. Und … andere Getränke.«

»Du willst also sagen, es ist eine Bar.« Ich selbst war – beinahe buchstäblich – in einer Bar aufgewachsen. Mom und ich hatten bis zu meinem dreizehnten Lebensjahr direkt über dem Holler gewohnt. »Jemand will sich um dreiundzwanzig Uhr mit uns beiden im Hinterzimmer einer Bar treffen?«

Ich war skeptisch. Die Welt, in der Lily aufgewachsen war – die Welt, in der ich im vergangenen Jahr widerwillig meinen Platz eingenommen hatte –, war eine Welt der Benefizgalas, der Twinsets und des Perlenschmucks. Eine Bar gehörte nicht unbedingt zum natürlichen Habitat einer geborenen Easterling oder Taft.

»Nicht einfach nur jemand«, erwiderte Lily, nahm den weißen Handschuh aus der Schachtel und hielt ihn ehrfürchtig hoch. »Die White Glover.«

Labor Day, 03:19 Uhr

»Bist du dir sicher, dass wir so in diesem Loch gelandet sind, Sawyer?«

»Vertrau mir. Du warst bewusstlos, aber ich war gerade noch so lange bei mir, um die verantwortliche Person zu sehen.«

»Vielleicht war es ja ein Unfall? Ein Versehen?«

»Sadie-Grace, wie setzt man jemanden versehentlich unter Drogen?«

»Aus Versehen … mit Absicht?«

Vierzehn Wochen (und drei Tage) zuvor

Kapitel 4 

Lily weigerte sich, mich darüber aufzuklären, wer oder was die White Glover waren, bis sie sich ganz sicher sein konnte, dass niemand uns belauschte. Hier am See hieß das offenbar, sich aufs Wasser zu begeben. Innerhalb von fünf Minuten steckten wir jetskibereit in Badeklamotten und steuerten den Bootssteg an.

Und damit Lilys Vater.

Nachdem dieses Spielchen schon über einen Monat ging, hätte der Anblick von J. D. Easterling mich nicht so sehr treffen dürfen. Es hätte mich nicht kümmern dürfen, dass er sich im totalen Dad-Modus befand, während er sich am Steg zu schaffen machte und es sichtlich genoss, alles in seiner nächsten Umgebung, aber allem voran die Boote, mit einem Hochdruckreiniger abzusprühen.

»Wie geht es meinen zwei liebsten Mädchen?«, rief er. »Macht ihr euch schon aus dem Staub?«

Sag nichts, ermahnte ich mich. Denk nicht darüber nach. Denk an die White Glover. Denk an die Schlange und die Rose an der Silbernadel. Schau ihn gar nicht erst an. Schau die Boote an.

Es gab gleich zwei davon: ein Rennboot und dann noch eines, bei dem Lily bestimmt darauf bestanden hätte, dass es keine Jacht sei.

»Sawyer war noch nie Jetski fahren«, erklärte Lily neben mir. »Ich denke, wir könnten Thing One und Thing Two ausfahren, bevor die Wochenendmeute über den See herfällt.«

Ich machte einen Schritt auf die Boote zu, wobei ich mir gut zuredete, dass es ganz natürlich war, dass ich neugierig war und konzentriert den Namen am Heck des größeren Bootes las, statt mich an dem Gespräch mit Lily und ihrem Vater zu beteiligen.

Unserem Vater.

»Töchterchen, mir ist aufgefallen, immer wenn du eine Aussage mit ›Sawyer war noch nie …‹ einleitest, führst du was im Schilde.«

»Daddy, du sagst das ja, als wäre das was Schlimmes.«

Es ließ sich nicht überhören, wie mühelos, wie natürlich das Geplänkel zwischen den beiden ablief.

»Was sagst du dazu, Nichte?« J. D. drehte sich zu mir. »Bereit, in die Tiefen des Ozeans zu stechen?«

Das hier war nicht der Ozean, und ich war nicht seine Nichte.

»Ich denke, ich packe das«, sagte ich, und mein Blick fiel auf die Jetski auf der anderen Seite des Stegs. Ich ging auf sie zu in der Hoffnung, dieses Gespräch zu beenden, bevor Lily schnallen konnte, dass etwas nicht stimmte. Ich war ihrem Dad die letzten Wochen ganz gut aus dem Weg gegangen. Er hatte in der Zeit bis spät abends gearbeitet und war mehrfach hier hochgefahren, um nach den Booten zu sehen.

Denk daran. Denk nicht an …

»Leider muss ich dir mitteilen, Lilypad, dass Thing One außer Betrieb ist. Würdet du und Sawyer zusammen Thing Two nehmen?«

»Kein Problem«, erwiderte Lily.

Er drückte ihr einen Kuss auf die Schläfe. »Ganz mein Mädchen.«

Er wirkte nicht wie so ein Typ, der mit der kleinen Schwester seiner Ehefrau schlafen würde. So ein Typ, der mit dreiundzwanzig was mit einem Mädchen in unserem Alter anfangen würde. So ein Typ, der mich Nichte nennen würde, wo er doch sehr gut wusste, dass ich seine Tochter war.

Denk nicht dran. Denk an die White Glover. Sieh ihn nicht an.

»Erde an Sawyer.« Lily stand plötzlich an meiner Seite. Ich hatte gar nicht gemerkt, wie sie rübergekommen war. Sie hielt mir eine lila Rettungsweste hin.

Ich nahm sie ihr ab und schlüpfte hinein.

»Alles okay bei dir?«, fragte Lily.

Ich konnte spüren, wie J. D. uns beide ansah. Uns beobachtete.

»Alles supi«, sagte ich und wandte mich den zwei Jetski zu. »Welcher von denen ist Thing Two?«

Kapitel 5 

Ich wusste schon eine ganze Weile, dass Lily einen tief sitzenden Hang zum Perfektionismus hatte. Mir war nur nicht klar gewesen, dass sie auch einen Hang zum Rasen hatte.

»Boot kreuzt!«, brüllte ich ihr ins Ohr, doch meine Stimme ging beinahe im Wind und dem Röhren des Motors unter, als Lily den Jetski im Fünfundvierzig-Grad-Winkel in eine Riesenwelle lenkte.

»Ich seh’s!«, brüllte sie zurück, wobei ihr Pferdeschwanz im Wind – und über mein Gesicht – peitschte. »Halt dich fest!«

Ich hatte die Arme um ihre Taille geschlungen, meine Finger umklammerten die Riemen ihrer Schwimmweste. Sie schnitt mit Vollgas quer über die Mitte des Sees und bog dann links ab, an drei riesigen Buchten vorbei. Eine kleine Insel, auf der sich ein paar vereinzelte Bäume und die Überreste eines Hauses erhoben, kam in Sicht. Wir schossen daran vorbei und mitten in eine lange, schmale Bucht hinein. Lily ging vom Gas und ließ die Hände von den Griffen des Lenkers fallen, während wir langsam am hinteren Ende der Bucht zum Halten kamen. Verglichen mit dem See draußen war das Wasser hier kristallklar. Die Welt war still – bemerkenswert still in Anbetracht dessen, wie laut ich noch vor einer Minute hatte brüllen müssen, um überhaupt gehört zu werden.

»Nettes Plätzchen«, sagte ich zu Lily, ließ ihre Rettungsweste los und schüttelte meine Hände aus. »Vor allem gefällt mir, dass ich mein Leben nicht länger vor meinem inneren Auge vorbeirasen sehe.«

Lily blieb, getreu ihrer Art, vollkommen unbeeindruckt. »Ich habe keine Ahnung, worauf du anspielen könntest.«

Zum womöglich ersten Mal, seit ich sie kennengelernt hatte, sah ihr Haar unordentlich aus – wild und windzerzaust.

Lily musste gespürt haben, wie ich sie anschaute, denn sie sah sich genötigt, eine Erklärung abzugeben: »Der See ist mein persönlicher Glücksort. War er schon immer. Mama ist kein großer Fan von der Hitze. Oder dem Wasser. Oder den Insekten. Aber Daddy, John David und ich, wir haben es hier oben schon immer geliebt.«

Das tat weh, aber ich konnte es mir nicht leisten, die Kränkung zu spüren. »Ich kann auch sehen, warum«, sagte ich stattdessen, legte den Kopf in den Nacken und ließ den endlosen Himmel über uns auf mich wirken.

»Das da drüben ist King’s Island.« Lily zeigte zu der kleinen Insel, an der wir vorbeigekommen waren. »Da wohnt seit Jahren niemand mehr.«

»King’s Island«, wiederholte ich. »Auf dem Regal Lake. Sehr königlich.« Man hätte meinen können, wir befänden uns in den Hamptons, nicht auf einem künstlich angelegten See in einem Teil der Südstaaten, der sonst für seine rote Erde und einen Überfluss an Hirschen bekannt war. »Scheint mir jedenfalls wie ein Ort, an dem man uns nicht belauschen wird.«

»Ich erzähle dir gleich alles, was ich weiß«, versicherte mir Lily. »Lass mich nur umdrehen, damit ich dich dabei ansehen kann. Wenn ich mich nach links drehe, drehst du dich nach rechts. Wir müssten das Gleichgewicht halten können, solange …«

Grinsend hakte ich meinen Arm um ihre Taille, lehnte mich abrupt nach links und riss uns beide ins kühle Nass. Lily bekam womöglich etwas Wasser zu schlucken. Zumindest schnaubte und prustete sie äußerst undamenhaft.

»Sawyer!« Sie kraulte auf den Jetski zu, der sich, als wir über Bord gegangen waren, mehrere Meter entfernt hatte.

»Was denn?«, sagte ich und fühlte mich nach Stunden endlich wieder mehr wie ich selbst. »Die Sonne steht hoch, das Wasser ist toll. Jetzt erzähl schon.«

»So viel gibt es nicht zu erzählen«, dämpfte Lily meine Erwartungen. »Bis ich die Schatullen auf unseren Betten gesehen habe, war ich mir nicht einmal hundertprozentig sicher, ob die White Glover überhaupt existieren.«

»Eine richtige Vorstadtlegende also?«, zog ich sie auf. Bevor Lily was entgegnen konnte, sickerte der Rest ihrer Worte zu mir durch. »Unsere Einladungen waren schon da, als du im Haus ankamst?«

»Dabei waren alle Türen verschlossen.«

Jetzt hatte sie mein Interesse geweckt. »Was genau erzählt sich die Gerüchteküche über die White Glover?«

»Dass es eine Art Geheimgesellschaft ist. Dass sie Studienanfängerinnen an den großen Unis und privaten Hochschulen hier im Süden rekrutieren. Ausschließlich Frauen und sehr exklusiv.«

In der Welt, in der Lily aufgewachsen war, bedeutete exklusiv so viel wie vermögend. Es bedeutete Macht, Status und altes Geld, und vor allem den Luxus, nie über dieses Geld reden, geschweige denn darüber nachdenken zu müssen.

»Wir sollten hingehen heute Nacht«, sagte Lily. »Oder?« Sie verschränkte die Unterarme auf dem Rand des Jetski und legte das Kinn auf ihrem Handgelenk ab. »Ich weiß, wo das Big Bang ist. Wir könnten Mama erzählen, dass wir bei Sadie-Grace übernachten. Und Sadie-Grace’ Vater wird, weiß Gott, sowieso nichts mitkriegen.«

»Wer bist du?«, fragte ich trocken. »Und was hast du mit Lily Taft Easterling gemacht?«

»Sawyer, ich habe immer getan, was von mir erwartet wurde. Mein ganzes Leben lang habe ich mich an die Etikette gehalten. Ich habe die Regeln befolgt. Ich war alles, was ich sein sollte – bis ich mit Secrets anfing.«

Jeder Mensch hatte seine eigene Art und Weise, mit Traumata umzugehen. Meine Strategie beinhaltete viel Verdrängung und eine gesunde Portion Verleugnung. Als Walker sie letzten Sommer sitzen ließ, hatte Lily die Trennung bewältigt, indem sie einen ziemlich pikanten Fotoblog kreierte, bei dem sie sich anderer Leute Geheimnisse auf ihre nackte Haut schrieb.

»Es fehlt dir«, bemerkte ich. »Secrets on My Skin.«

Ich wartete darauf, dass sie mir sagte, dass ich mich irrte, doch stattdessen richtete sie sich im Wasser auf. »Walker.«

Was ist mit ihm? Ich drehte meinen Oberkörper, wobei ich mit den Fingerspitzen über die Wasseroberfläche strich, und sah in die Richtung, in die sie schaute. Etwa achtzig Meter entfernt fuhr ein Jetski an King’s Island vorbei und verlangsamte dabei. Keine Ahnung, wie Lily den Fahrer auf diese Entfernung erkannt hatte, aber ich zweifelte nicht an ihrer Behauptung.

Lily Easterling hatte bei exakt zwei Dingen einen untrüglichen Instinkt: bei der richtigen Etikette und bei Walker Ames.

»Hast du ihm gesagt, dass wir hier sind?«, fragte ich.

»Ich habe den ganzen Tag nicht mit ihm gesprochen.« Lily wich meinem Blick aus. »Aber Walker und Campbell sind der Grund, warum ich diesen Ort kenne. Ihr Haus liegt auf der Landspitze direkt gegenüber von King’s Island, nur zwei Buchten weiter.«

Ich kam nicht dazu, Lily zu fragen, ob es einen Grund gab, warum sie und Walker nicht gesprochen hatten, als er auch schon in Hörweite kam und den Motor abstellte. Er bremste den Schwung ab, indem er seitlich die Beine ausstreckte und die Füße durchs Wasser ziehen ließ.

»Seid gegrüßt, meine Damen.« Walker nahm seine Rettungsweste ab, hängte sie über die Griffe seines Jetskis und sprang kopfüber in den See. Sekunden später tauchte er zwischen Lily und mir wieder auf. Die Nässe perlte an seiner Brust ab, als er sich das Wasser aus dem Haar schüttelte und uns beide vollspritzte.

Ich hätte Walker niemals angegraben, und er hatte sowieso nur Augen für Lily, aber nun, da ich wusste, dass er nicht mein Bruder war, musste ich es mir nicht ganz so sehr verkneifen, den Anblick zu genießen. Dann, langsam, aber sicher wanderten meine Gedanken zu einer anderen Brust.

Zu anderen Armen.

Nick hatte sehr schöne Arme.

»So wahr ich hier stehe«, witzelte Walker und riss mich damit in die Gegenwart zurück, »wenn das nicht Sawyer Taft und Lily Easterling sind. Wie groß ist bitte die Wahrscheinlichkeit, euch beide hier draußen zu treffen?«

Größer als die Wahrscheinlichkeit, dass mein Weg jemals wieder den von Nick kreuzt. Ich hatte seit meinem Debütantinnenball nichts mehr von ihm gehört. Nicht, dass ich es erwartet hätte. Nicht, dass ich es überhaupt wirklich wollte.

»Ist das deine Art, zu sagen, dass du gehofft hast, die Bucht für dich allein zu haben?«, fragte Lily in stichelndem Tonfall.

»Niemals.« Walker hatte den Charme seines Vaters geerbt, aber im Gegensatz zum ehemaligen Senator war er kein sonderlich begabter Lügner. Mein Bauchgefühl sagte mir, dass er nicht damit gerechnet hatte, dass wir hier waren. Er war definitiv nicht auf der Suche nach uns hergekommen.

»Wie geht es deiner Mama?«, erkundigte sich Lily.

Es folgte ein Moment der Stille. »Ganz gut.«

Walker wollte nicht über seine Mutter reden. Damit waren wir schon zu zweit. Charlotte Ames war nicht gerade ein Mitglied des Sawyer-Fanklubs. In Anbetracht dessen, dass sie mich für das Produkt der außerehelichen Aktivitäten ihres Ehemannes hielt, war ich mir ziemlich sicher, dass sie mir mehr als einmal die Pest an den Hals gewünscht hatte.

»Ist es sehr schlimm?«, fragte Lily mit gedämpfter Stimme.

Er antwortete nicht, also stieß sie sich am Jetski ab und glitt durch das Wasser auf ihn zu. Ich wandte die Augen ab, als sie die Arme um seinen Hals schlang.

Lily Taft Easterling war eine wohlerzogene junge Dame, ein Südstaatenfräulein von Kopf bis Fuß. Aber gerade war ihr Haar wild und windzerzaust, und Walkers Brust war nass, und ich hätte nicht mehr das fünfte Rad am Wagen sein können, wenn ich es versucht hätte.

»Achtet nicht auf mich«, sagte ich laut. »Und haltet euch wegen mir bloß nicht von öffentlichen Liebesbekundungen ab. Ich bin einfach nur hier drüben und kümmere mich um meinen eigenen Kram.«

»Sehr rücksichtsvoll von dir, Schwesterlein.«

Walkers neuer Spitzname für mich traf mich heftig. Bei unserer ersten Begegnung hatte er sich am unteren Ende einer fiesen Abwärtsspirale befunden und es geschätzt, dass ich immun gegen seinen Charme war. Ich beleidigte ihn und er genoss es. So war die Dynamik zwischen uns.

Das war das erste Mal, dass er mich als seine Schwester bezeichnet hatte.

Ich muss es ihm sagen. Ich gab mir größte Mühe, nicht von Walker zu Lily zu schauen. Ich muss beiden die Wahrheit sagen, selbst wenn Lily mich dafür hasst.

Aber ich konnte mich nicht überwinden.

»Nenn mich nicht so«, sagte ich, bevor mir einfiel, dass meine Reaktion wahrscheinlich dazu führen würde, dass er mich noch viel öfter so nannte. Abrupt wechselte ich das Thema. »Ich hab gehört, euer Familienunternehmen steht unter Beschuss.«

»Wovon redest du?«, fragte Lily, bevor sie sich wieder zu Walker drehte, die Arme immer noch um seinen Hals geschlungen. »Wovon redet sie, Walker?«

»Es ist nichts«, erwiderte Walker. »Alles wird gut.«

»Du meinst so gut, wie es deiner Mama geht?«, gab Lily zurück.

Ich bereute schon, es angesprochen zu haben, aber auch ich konnte nur bis zu einem gewissen Grad verdrängen.

»Ich möchte gerade nicht über die Familiengeschäfte reden.« Walker beugte den Kopf vor, sodass seine Wange die von Lily streifte, bevor er mir einen weiteren Blick von der Seite zuwarf. »Das ist mittlerweile mehr so Cams Sache als meine.«

Er hatte mir gerade einen Grund – und eine Ausrede – gegeben, mich von hier zu verziehen, bevor ich noch etwas sagte, das ich bereuen würde.

»Jetzt, wo du es erwähnst, Campbell und ich sollten ganz dringend mal plaudern.« Ich kraulte zu Walkers Jetski rüber. Das Band mit dem Schlüssel war immer noch an seiner Rettungsweste befestigt, die er über die Griffe gehängt hatte. Ich knipste das Band ab, befestigte es an meiner Weste und warf seine zu ihm rüber.

»Bilde ich mir das nur ein«, fragte Walker an Lily gewandt, »oder ist deine reizende Cousine gerade dabei, mein Gefährt zu stehlen?«

»Ich stehle es nicht«, korrigierte ich ihn. »Ich bringe es heim. Nicht zu unserem Seehaus, sondern zu eurem. Zwei Buchten weiter, an der Landspitze gegenüber von der Insel, richtig?«

Walker schüttelte den Kopf. »Du bist ein merkwürdiges Mädchen, Sawyer Taft.«

»Ich betrachte mich ja lieber als selbstlos«, konterte ich. »So habt du und Lily ein bisschen Privatsphäre für die neueste Folge von Schöne Menschen in semifunktionalen Beziehungen, und ich kann ein Pläuschchen mit deiner Schwester halten.«

Kapitel 6 

Als ich die Familienbucht der Ames erreichte, lag Campbell ganz vorne auf dem Bootssteg. Ihre Haut glänzte unter einer Mischung aus Sonnencreme und Schweiß. Während ich mit dem Jetski anlegte, hob sie nicht einmal den Kopf.

»Nicht übel«, rief Campbell träge rüber, ohne sich zu rühren. »Für eine Anfängerin.«

Ich glitt vom Jetski runter und drückte einen Knopf am Steg, der vermutlich das Wasserfahrzeug aus dem Wasser heben oder aber einen Selbstzerstörungsmechanismus aktivieren würde.

»Wenn du da schon tropfnass herumstehst, könntest du wenigstens versuchen, etwas leiser zu tropfen?« Campbell öffnete eines ihrer grünen Augen. »Du störst das Ambiente.«

Das war Campbell Ames’ Version eines Hallo.

Meine Version war: »Na, in letzter Zeit irgendwelche Straftaten begangen?«

Campbell drehte sich vom Bauch auf den Rücken und stellte ein Knie auf, während ihre rechte Hand es sich hinter ihrem Kopf bequem machte. »Weißt du, was ich an dir mag, Sawyer? Du bist die einzige Person in diesem Bundesstaat – vielleicht sogar im ganzen Land –, die das Wort Straftat zu mir sagt und dabei an das denkt, wozu ich in der Lage bin, und nicht an diese unglückselige Sache mit meinem lieben alten Herrn Papa.«

Diese »unglückselige Sache« war ein Komplott, das sie sich ausgedacht und bei dessen Durchführung ich ihr geholfen hatte. Ihr Vater saß im Gefängnis und hatte sich mehrerer Verbrechen schuldig bekannt, die er begangen hatte, weil wir ihn wegen mehrerer Verbrechen überführt hatten, die er nicht begangen hatte. Campbells Fähigkeiten waren mit einem Wort: beeindruckend.

Ich hockte mich neben sie auf den Steg und ließ meine Füße über den Rand baumeln. »Und, wie hältst du dich so?«

Campbell hatte den Untergang ihres Vaters von Anfang an geplant, aber sie hatte dabei die Kollateralschäden nicht ganz durchdacht – die Berichterstattung der Presse, die Ausmaße des Skandals.

»Wie ich mich halte?« Campbell schnaubte. »Seit die Story die Runde gemacht hat, befindet sich meine Familie im Exil am See. Mama hat beschlossen, dass sternhagelvoll das neue beschwipst ist. Walker gibt mir die Schuld, weil er sie Lily nicht geben will, und ich lechze nach Zivilisation. Und du so?«

Campbell hatte einen Hang zum Drama und ein Händchen dafür, die Menschen auf Abstand zu halten, aber ich hörte die Verletzlichkeit hinter ihrem Könnte-mich-nicht-weniger-jucken-Tonfall.

Ich revanchierte mich mit der Wahrheit. »Ich bin es leid, Geheimnisse zu wahren, ich habe seit einem Monat nicht mehr mit meiner Mutter gesprochen, und ich habe echt die Schnauze voll von Leuten, die mich fragen, ob ich im Herbst studieren gehe.«

»Gehst du im Herbst studieren?«, fragte Campbell unschuldig.

»Ich weiß nicht«, gab ich zurück. »Bereust du allmählich, was wir mit deinem Vater abgezogen haben?«

Es folgte ein winziger Moment des Schweigens. »Ich halte nichts von Reue.« Campbell streckte sich gemächlich wie eine Katze, dann erhob sie sich. »Wenn du jemanden über die Konsequenzen von Daddys Verhaftung und die darauffolgende Jagd der Journalistenmeute jammern hören willst, dann machst du wohl lieber einen Termin mit Walker aus.«

Ich musterte sie einen Moment. »Dass jemand die Firma deines Großvaters schlucken wollte, gehört das auch zu diesen Konsequenzen?«

»Sehe ich aus wie jemand, der Einblick in die Familiengeschäfte hat?«, gab Campbell zurück. Hatte sie nicht – und das war genau der Punkt.

»Gesprochen wie ein Mädchen, das nicht weiß, ob sie es liebt oder hasst, dass man sie unterschätzt«, sagte ich.

Das bescherte mir ein kleines, langsames, aufrichtiges Lächeln – und eine Antwort. »Da ist eine Blutspur im Wasser. Die Haie ziehen schon ihre Kreise – gesellschaftlich, finanziell, egal wie. Sie halten uns für geschwächt. Aber zerbrich dir nicht dein hübsches kleines Köpfchen, Sawyer. Unser Großvater ist ein harter Knochen. Er kommt mit den Haien zurecht.«

Sie hatte unser gesagt.

Ich schluckte. »Campbell?« Ich würde das hier bereuen, aber kaum dass ich den Ball angestoßen hatte, konnte ich ihn nicht mehr davon abhalten, den Hügel hinabzurollen. »Es gibt da etwas, das ich dir sagen muss.«

Welche Reaktion auch immer ich erwartet hatte, ich bekam sie nicht. Campbell schwang bloß ihr feuchtes kastanienrotes Haar über eine Schulter. »Also hat Daddy eine andere Teenagerin geschwängert, und ich muss mich nicht länger fragen, wie du und ich allen Ernstes ein Viertel unserer DNA teilen könnten.«

»Du darfst es Walker nicht sagen. Er wird es Lily erzählen.«

»Und wieso«, fragte Campbell betont geziert, »willst du nicht, dass die liebe Lily das erfährt?«

Ich hatte ihr erzählt, wer mein Vater nicht war – aber nicht, wer er war, und auch nichts von dem Pakt.

»Bitte.«

Campbell ließ die Sekunden verstreichen. »Ich muss zugeben«, sagte sie schließlich, »ich bin geschmeichelt, dass du dich gerade mir anvertraut hast.«

Das kam einem Versprechen, mein Geheimnis zu bewahren, wohl am nächsten. »Ach ja, ganz nebenbei«, begann ich nun, da ich es konnte, »die Firma, die gerade versucht hat, die von deinem Großvater zu schlucken? Der Mann, der sie leitet, hat zufällig den gleichen Nachnamen wie das Mädchen, das dein Vater geschwängert hat.«

»Eine Abrechnung also?« Campbell zog eine Augenbraue hoch.

»Ich weiß es nicht.« Es tat so gut, offen sprechen zu können, nichts zu verbergen. »Aber ich möchte es gern herausfinden. Sie finden.«

Ich erwartete, dass Campbell fragen würde, wieso ich Ana finden wollte, doch stattdessen pflichtete sie mir nur bei. »Ja, ich schätze, es bleibt momentan nichts anderes zu tun, als mein echtes Halbgeschwisterchen aufzuspüren … und irgendwas mit diesen Haaren anzustellen.«

»Welche Haare?«, fragte ich. »Autsch.«

Ich klatschte Campbells Hand weg, bevor sie ein zweites Mal versuchen konnte, meine Strähnen zu entwirren. »Mit meinen Haaren ist alles bestens.«

»Ja, red dir das ruhig weiter ein.« Campbell wandte sich vom Wasser ab und schritt entschlossen auf die Rampe zu, die den Steg mit dem Ufer verband. »Und jetzt komm.«