The Inheritance Games - Jennifer Lynn Barnes - E-Book
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The Inheritance Games E-Book

Jennifer Lynn Barnes

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Beschreibung

50 Milliarden Dollar – Eine unbekannte Erbin – Vier mörderische Nachkommen. Für alle ab 14 Jahren!

Avery Grambs hat einen Plan: Highschool überleben, Stipendium abgreifen und dann – nichts wie raus hier. Doch all das ist Geschichte, als der Multimilliardär Tobias Hawthorne stirbt und Avery fast sein gesamtes Vermögen hinterlässt. Der Haken daran? Avery hat keine Ahnung, wer der Mann war.
Um ihr Erbe anzutreten, muss Avery in das gigantische Hawthorne House einziehen, wo jeder Raum von der Liebe des alten Mannes zu Rätseln und Geheimnissen zeugt. Ungünstigerweise beherbergt es aber auch dessen gerade frisch enterbte Familie. Allen voran die vier Hawthorne-Enkelsöhne: faszinierend, attraktiv und gefährlich.
Gefangen in dieser schillernden Welt aus Reichtum und Privilegien, muss Avery sich auf ein Spiel aus Intrige und Kalkül einlassen, wenn sie überleben will.
Ein süchtig machender Thriller voller dunkler Familiengeheimnisse und tödlicher Herausforderungen.

Die Inheritance-Reihe:

The Inheritance Games (Band 1)
The Inheritance Games - Das Spiel geht weiter (Band 2)
The Inheritance Games - Der letzte Schachzug (Band 3)

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Seitenzahl: 475

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Jennifer Lynn Barnes

THE

INHERITANCE

GAMES

FÜR SAMUEL

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

© 2020 Jennifer Lynn Barnes

Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel »The Inheritance Games« bei Little, Brown and Company, einem Verlag der Verlagsgruppe Hachette, New York

© 2022 für die deutschsprachige Ausgabe

cbj Kinder- und Jugendbuchverlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Übersetzung: Ivana Marinović

Covergestaltung: Carolin Liepins, München

unter Verwendung des Originalumschlags: © 2020 Hachette Book Group, Inc.,

Illustration © Katt Phatt, Gestaltung: © Karina Granda

MP · Herstellung: IH

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-27182-4V009

www.cbj-verlag.de

KAPITEL 1 

Als ich klein war, dachte meine Mom sich ständig Spiele aus. Das Stille-Spiel.Das Bei-wem-hält-der-Keks-am-längsten?-Spiel. Beim Dauerfavoriten, dem Marshmallow-Spiel, ging es darum, Marshmallows zu futtern, während man in aufgeplusterten Secondhand-Steppjacken in der Bude saß, um die Heizung nicht aufdrehen zu müssen. Das Taschenlampen-Spiel war angesagt, wenn der Strom ausfiel. Wir bewegten uns praktisch nie in normalem Tempo durch die Wohnung – wir flitzten. Der Fußboden war so gut wie immer heiße Lava. Die Hauptfunktion von Kissen war es, Festungen damit bauen zu können.

Unser am längsten andauerndes Spiel hieß »Ich habe ein Geheimnis«, denn Mom sagte, dass jeder Mensch immer mindestens eines haben sollte. An manchen Tagen erriet sie meine. An anderen nicht. Wir spielten es jede Woche, und das ziemlich genau, bis ich fünfzehn wurde und eines ihrer Geheimnisse sie ins Krankenhaus beförderte.

Bevor ich wusste, wie mir geschah, war sie fort.

»Du bist am Zug, Prinzessin.« Eine raue Stimme riss mich in die Gegenwart zurück. »Ich hab nicht den ganzen Tag Zeit.«

»Von wegen Prinzessin«, gab ich zurück, während ich einen meiner Springer verrückte. »Du bist dran, alter Mann.«

Harry blickte mich mürrisch an. Ich wusste nicht, wie alt er wirklich war, und ebenso wenig, was dazu geführt hatte, dass er obdachlos wurde und nun im Park wohnte, wo wir jeden Morgen Schach spielten. Ich wusste bloß, dass er ein respektabler Gegner war.

»Du«, brummte er, während er das Brett beäugte, »bist ein schlimmes Mädchen.«

Drei Züge später hatte ich ihn. »Schachmatt. Du weißt, was das bedeutet, Harry.«

Er bedachte mich mit einem vernichtenden Blick. »Ich muss mir von dir ein Frühstück spendieren lassen.« So lautete nun mal die Bedingung unserer Spiele: Wenn ich gewann, durfte er die Gratismahlzeit nicht ausschlagen.

Man muss mir zugutehalten, dass ich mich nur ein kleines bisschen mit meinem Sieg brüstete. »Es ist schön, Königin zu sein.«

Ich schaffte es pünktlich zur Schule, wenn auch gerade so. Ich habe generell die Angewohnheit, knapp zu kalkulieren. Den gleichen Drahtseilakt leistete ich mir bei meinen Noten: Wie viel Minimalaufwand musste ich investieren, um trotzdem noch eine Eins abzustauben? Ich war nicht faul. Ich war pragmatisch. Eine Extraschicht im Diner einlegen zu können war es wert, 92 Notenpunkte zu akzeptieren, auch wenn ich 98 schaffen könnte.

Ich war gerade dabei, in der Spanischstunde einen Aufsatz für Englisch zusammenzuschreiben, als ich ins Rektorat gerufen wurde. Dabei sollten Mädchen wie ich unsichtbar sein. Wir wurden nicht zu Pläuschchen mit der Schulleitung zitiert. Wir machten genau so viel Ärger, wie wir uns leisten konnten, was in meinem Fall bedeutet: gar keinen.

»Avery.« Direktor Altmans Begrüßung war nicht gerade das, was man warmherzig nennen würde. »Nimm Platz.«

Ich nahm Platz.

Er verschränkte die Hände auf dem Schreibtisch zwischen uns. »Ich nehme an, du weißt, warum du hier bist.«

Falls es hier gerade nicht um die wöchentlichen Pokerpartien ging, die ich auf dem Schülerparkplatz veranstaltete, um Harrys Frühstücksmahlzeiten zu finanzieren – und manchmal auch meine –, hatte ich keine Ahnung, was ich wohl getan haben könnte, um die Aufmerksamkeit der Schulleitung auf mich zu ziehen. »Verzeihung«, sagte ich, wobei ich mir Mühe gab, hinreichend unterwürfig zu klingen, »aber nein, ich weiß es nicht.«

Direktor Altman ließ mich eine Weile so mit meiner Antwort sitzen, bevor er mir einen Stapel Blätter vorlegte. »Das ist der Physiktest, den du gestern geschrieben hast.«

»Okay«, sagte ich. Das war nicht die Antwort, auf die er aus war, aber mehr hatte ich nicht zu bieten. Zur Abwechslung hatte ich tatsächlich für den Test gelernt. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ich so mies abgeschnitten hatte, dass es ein Krisengespräch verdiente.

»Mr Yates hat die Klausuren benotet, Avery. Deine hat als einzige die volle Punktzahl erreicht.«

»Super«, sagte ich, wobei ich es bewusst vermied, ein weiteres Okay von mir zu geben.

»Eben nicht super, junge Dame. Mr Yates konzipiert absichtlich Prüfungsaufgaben, welche die Fähigkeiten seiner Schüler herausfordern. In zwanzig Jahren hat er nie die volle Punktzahl vergeben. Siehst du das Problem?«

Ich konnte mir meine instinktive Antwort nicht verkneifen. »Ein Lehrer, der Prüfungen so anlegt, dass die meisten seiner Schüler nicht bestehen können?«

Mr Altman verengte die Augen zu Schlitzen. »Du bist eine gute Schülerin, Avery. Ziemlich gut sogar, wenn man die Umstände bedenkt. Aber du bist nicht unbedingt dafür bekannt, Spitzenleistungen abzuliefern.«

Das war nur fair – warum also fühlte es sich an, als hätte er mir in den Magen geboxt?

»Es ist nicht so, dass ich kein Mitgefühl für deine Situation hätte«, fuhr Direktor Altman fort, »aber du musst diesbezüglich aufrichtig zu mir sein.« Er bohrte seinen Blick in meinen. »Hattest du Kenntnis davon, dass Mr Yates digitale Kopien seiner Prüfungen in der Cloud speichert?«

Er glaubt, ich hätte geschummelt. Da saß er, starrte mich in Grund und Boden, und doch hatte ich das Gefühl, nie weniger gesehen worden zu sein.

»Ich würde dir gern helfen, Avery. Du hast dich außerordentlich gut geschlagen angesichts des Blatts, das das Leben dir ausgeteilt hat. Ich möchte daher nur ungern etwaige Pläne, die du womöglich für die Zukunft hast, scheitern sehen.«

»Etwaige Pläne, die ich womöglich habe«, wiederholte ich. Wenn mein Nachname ein anderer gewesen wäre, wenn ich einen Zahnarzt als Vater und eine Hausfrau als Mutter gehabt hätte, dann hätte er sich nicht so benommen, als ob die Zukunft etwas wäre, worüber ich womöglich nachgedacht hatte. »Ich bin in der Elften«, stieß ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Ich mache nächstes Jahr meinen Abschluss, und zwar mit Leistungspunkten, die mir mindestens zwei Studiensemester ersparen. Mein Notenschnitt sollte mir eine Chance auf ein Stipendium an der University of Connecticut eröffnen, die landesweit eines der Spitzenprogramme im Bereich Versicherungsmathematik anbietet.«

Mr Altman runzelte die Stirn. »Versicherungsmathematik?«

»Statistische Risikobewertung.« Es war das Fach, mit dem ich einem Doppelstudium in Poker und Mathe am nächsten kam. Und abgesehen davon war es jobtechnisch einer der profitabelsten Studiengänge auf dem Planeten.

»Bist du denn ein Fan kalkulierter Risiken, Avery?«

So wie Schummeln? Ich konnte mir nicht erlauben, noch wütender zu werden. Also imaginierte ich mich stattdessen beim Schachspielen. Ich legte mir die Züge in meinem Kopf zurecht. Mädchen wie mir war es nicht gestattet, in die Luft zu gehen. »Ich habe nicht geschummelt«, sagte ich ruhig. »Ich habe gelernt.«

Ich hatte mir die Zeit dafür zusammengeklaubt – in anderen Unterrichtsstunden, zwischen meinen Jobschichten, spätabends, länger, als ich hätte aufbleiben sollen. Da ich wusste, dass Mr Yates dafür berüchtigt war, unmögliche Klausuren zu machen, hatte es in mir den Wunsch geweckt, möglich neu zu definieren. Zur Abwechslung hatte ich, statt auszuloten, wie knapp ich kalkulieren sollte, sehen wollen, wie weit ich gehen konnte.

Und das bekam ich nun für all die Anstrengung – denn Mädchen wie ich schnitten in unmöglichen Klausuren nicht spitzenmäßig ab.

»Ich werde den Test noch mal schreiben.« Ich gab mir große Mühe, nicht wütend oder, schlimmer noch, gekränkt zu klingen. »Ich werde wieder dieselbe Note bekommen.«

»Und was würdest du sagen, wenn ich dir verrate, dass Mr Yates eine neue Klausur vorbereitet hat? Sämtliche Aufgaben neu und jede einzelne so schwierig wie die ersten.«

Ich zögerte nicht mal. »Ich mach’s.«

»Das lässt sich einrichten, morgen in der dritten Stunde also. Aber ich muss dich warnen, dass diese Sache für dich bedeutend besser ausgehen würde, wenn …«

»Jetzt.«

Mr Altman starrte mich verdutzt an. »Entschuldigung, wie bitte?«

Pfeif auf unterwürfig klingen. Pfeif auf unsichtbar sein. »Ich möchte die Prüfung hier machen, in Ihrem Büro, genau jetzt.«

KAPITEL 2 

Na, schlimmer Tag?«, fragte Libby. Meine Schwester ist sieben Jahre älter als ich und viel empathischer, als gut für sie ist – oder für mich.

»Alles in Ordnung«, erwiderte ich. Ihr von meinem Ausflug in Altmans Büro zu erzählen, hätte sie nur beunruhigt, und bis Mr Yates meinen zweiten Test benotet hatte, gab es nichts, was irgendwer tun konnte. Ich wechselte das Thema. »Trinkgeld heute Abend war gut.«

»Wie gut?« Libbys Kleidungsstil rangiert zwar irgendwo zwischen Punk und Goth, doch was ihre Persönlichkeit angeht, ist sie einer dieser ewigen Optimisten, die glauben, dass ein Hundert-Dollar-Trinkgeld einem immer winken kann – und das in einem schmuddeligen, kleinen Diner, wo die meisten Vorspeisen 6,99 $ kosten.

Ich drückte ihr ein Bündel zerknitterter Ein-Dollar-Noten in die Hand. »Gut genug, um was zur Miete beizusteuern.«

Libby versuchte mir das Geld zurückzugeben, doch ich wich schnell außer Reichweite. »Ich werd diese Kröten gleich nach dir werfen«, warnte sie mich streng.

Ich zuckte die Achseln. »Ich duck mich.«

»Du bist unmöglich.« Widerwillig packte Libby das Geld weg, zauberte aus dem Nichts eine Muffindose hervor und bedachte mich mit einem strengen Blick. »Zur Strafe nimmst du jetzt einen Muffin.«

»Yes, Ma’am.« Ich wollte ihn gerade aus ihrer Hand nehmen, die sie mir entgegenstreckte, doch da fiel mein Blick auf den Küchentresen hinter ihr. Sie hatte mehr gebacken als nur Muffins. Da standen haufenweise Cupcakes. Ich spürte, wie mein Magen in sich zusammensackte. »Oh nein, Lib.«

»Es ist nicht, was du denkst«, versprach Libby. Sie war eine Entschuldigungs-Cupcake-Bäckerin. Eine schuldbewusste Cupcake-Bäckerin. Eine Bitte-sei-nicht-sauer-auf-mich-Cupcake-Bäckerin.

»Nicht, was ich denke?«, wiederholte ich sanft. »Also zieht er nicht wieder ein?«

»Diesmal wird es anders«, beteuerte Libby. »Und die Cupcakes sind mit Schokolade!«

Meine liebsten.

»Es wird nie anders«, sagte ich. Aber wenn ich je in der Lage gewesen wäre, sie davon zu überzeugen, dann würden wir dieses Gespräch gar nicht führen.

Wie aufs Stichwort kam Libbys On-off-Macker hereinspaziert, der einen Hang dazu hatte, auf Wände einzuschlagen und sich dann noch was auf seine moralische Überlegenheit einzubilden, weil er nicht auf Libby einschlug. Er schnappte sich ein Cupcake vom Tresen und ließ seinen Blick über mich wandern. »Hey, süßes Früchtchen.«

»Drake«, sagte Libby mahnend.

»War nur Spaß.« Drake lächelte. »Du weißt doch, dass ich Spaß mache, Libbylein. Du und deine Schwester müsst einfach mal lernen, einen Scherz zu verstehen.«

Keine Minute da und schon machte er uns zum Problem. »Das ist nicht gesund«, sagte ich an Libby gewandt. Drake hatte nicht gewollt, dass sie mich bei sich aufnahm – und er würde nie damit aufhören, sie dafür zu bestrafen.

»Das ist nicht deine Wohnung«, schoss Drake zurück.

»Avery ist meine Schwester«, beharrte Libby.

»Halbschwester«, korrigierte Drake sie und lächelte wieder. »Späßchen.«

War es nicht, aber er hatte auch nicht unrecht. Libby und ich teilen uns einen abwesenden Vater, haben aber verschiedene Mütter. In unserer Kindheit und Jugend hatten wir uns höchstens ein-, zweimal im Jahr gesehen. Niemand hatte vor zwei Jahren von ihr erwartet, das Sorgerecht für mich zu übernehmen. Sie war jung. Sie kam selbst kaum über die Runden. Aber sie war Libby. Menschen zu lieben, das war es, was sie ausmachte.

»Wenn Drake hierbleibt«, sagte ich ruhig an sie gewandt, »gehe ich.«

Libby griff nach einem Cupcake und hielt ihn zwischen ihren Händen. »Ich tue mein Bestes, Avery.«

Sie war ein Mensch, der es allen Leuten recht machen wollte. Drake liebte es, sie zwischen die Fronten zu stellen. Er benutzte mich, um sie zu verletzen.

Ich konnte nicht einfach bleiben und auf den Tag warten, an dem er aufhörte auf Wände einzuschlagen.

»Wenn du mich brauchst«, sagte ich zu Libby, »ich wohne in meinem Auto.«

KAPITEL 3 

Mein uralter Pontiac war ein Schrotthaufen, aber immerhin funktionierte die Heizung. Meistens. Ich parkte auf der Rückseite des Diners, wo niemand mich sehen würde. Libby simste mir, aber ich konnte mich nicht dazu überwinden, zurückzuschreiben, und so starrte ich stattdessen bloß mein Handy an. Das Display war gesplittert und mein Datenvolumen praktisch bei null, also konnte ich nicht online gehen, aber ich hatte unbegrenzte SMS.

Bis auf Libby gab es genau eine Person, der es sich lohnte zu schreiben. Ich hielt meine Nachrichten an Max kurz und knackig.

Du-weißt-schon-wer ist zurück.

Es kam keine sofortige Antwort. Max’ Eltern waren große Verfechter »handyfreier« Zeiten und beschlagnahmten ihres öfter mal. Sie waren auch berüchtigt dafür, in unregelmäßigen Abständen Max’ Nachrichten zu kontrollieren, weswegen ich Drake nicht namentlich genannt hatte und auch bestimmt kein getipptes Wort darüber verlieren würde, wo ich die Nacht verbrachte. Weder die Familie Liu noch mein Sozialarbeiter mussten wissen, dass ich nicht war, wo ich sein sollte.

Ich legte mein Handy weg und warf einen Blick zu meinem Rucksack auf dem Beifahrersitz, beschloss aber, dass der Rest meiner Hausaufgaben bis morgen warten konnte. Ich verstellte meine Lehne nach hinten und schloss die Augen, konnte jedoch nicht einschlafen, daher griff ich ins Handschuhfach und holte das einzig Wertvolle hervor, was meine Mutter mir hinterlassen hatte: einen Stapel Postkarten. Dutzende von Karten. Dutzende Orte, die wir geplant hatten, zusammen zu bereisen.

Hawaii. Neuseeland. Machu Picchu. Während ich jedes Bild nacheinander betrachtete, stellte ich mir vor, überall zu sein, nur nicht hier. Tokio. Bali. Griechenland. Ich war nicht sicher, wie lang ich mich so in Gedanken verlor, als mein Handy piepte. Ich hob es hoch und wurde von Max’ Antwort auf meine Nachricht über Drake begrüßt.

Dieser Flachfaxer. Und dann, einen Moment später: Bist du okay?

Max war nach der achten Klasse weggezogen. Der Großteil unserer Kommunikation lief seitdem schriftlich ab, und sie vermied es tunlichst, Schimpfwörter zu verwenden für den Fall, dass ihre Eltern sie lasen.

Mir geht’s gut, schrieb ich zurück, und das war der einzige Anstoß, den sie brauchte, um an meiner Stelle ihren gerechten Zorn zu entfesseln.

DIESER VERFUCHSTE VOLLPFOSTEN SOLL ZUR HENNE GEHEN UND DA BLEIBEN, BIS DIE EIER ABFAULEN!!!

Eine Sekunde später klingelte mein Handy. »Geht es dir wirklich gut?«, fragte Max, kaum dass ich ranging.

Ich blickte auf die Postkarten in meinem Schoß und die Muskeln in meinem Hals zogen sich zusammen. Ich würde es durch die Highschool schaffen. Ich würde mich auf jedes Stipendium bewerben, für das ich qualifiziert war. Ich würde meinen Abschluss in einem Fach schaffen, das einen gut bezahlten Job garantierte und es mir erlaubte, aus der Ferne zu arbeiten.

Ich würde die Welt bereisen.

Ich stieß einen langen, abgehackten Atemzug aus, bevor ich auf Max’ Frage antwortete. »Du kennst mich, Maxine. Ich lande immer auf den Füßen.«

KAPITEL 4 

Am nächsten Tag zahlte ich den Preis dafür, im Auto geschlafenzu haben. Mein gesamter Körper schmerzte; außerdem musste ich nach dem Sportunterricht in der Schule duschen, da ich nicht auf die Papierhandtücher auf der Toilette des Diners setzen wollte. Ich hatte keine Zeit zum Föhnen, also kam ich mit pitschnassem Haar in die nächste Stunde. Es war nicht mein bester Look, aber ich war mein ganzes Leben mit denselben Leuten zur Schule gegangen. Ich lief quasi unter Bildschirmschoner.

Niemand schaute auch nur hin.

»In Romeo und Julia wimmelt es nur so von Sprichwörtern – kleine, knackige Happen Lebensweisheit, die Aussagen über die Welt und die menschliche Natur treffen.« Meine Englischlehrerin war jung und ernst, außerdem hatte ich den starken Verdacht, dass sie zu viel Kaffee intus hatte. »Aber jetzt mal abgesehen von Shakespeare. Wer kann mir ein Beispiel für ein geläufiges Sprichwort nennen?«

Wer bettelt, ist nicht wählerisch, dachte ich mit wummerndem Schädel, während mir Wassertropfen den Rücken runterrannen. Not macht erfinderisch. Wenn das Wörtchen wenn nicht wär, wär mein Vater Millionär.

Die Tür zum Klassenzimmer wurde geöffnet. Eine Mitarbeiterin aus dem Sekretariat wartete, bis die Lehrerin sie registrierte, und verkündete dann so laut, dass die ganze Klasse es hören konnte: »Avery Grambs soll sich im Rektorat melden.«

Ich nahm an, es bedeutete, dass ein gewisser Jemand meinen Test benotet hatte.

Mir war schon klar, dass ich keine Entschuldigung zu erwarten hatte, was ich jedoch ebenso wenig erwartete, war Mr Altmann im Vorzimmer seiner Sekretärin, der mich dort so strahlend empfing, als hätte er gerade Besuch vom Papst gehabt. »Avery!«

Sofort schrillte ein Alarm in meinem Kopf los, denn niemand freute sich je derart, mich zu sehen.

»Hier entlang, bitte.« Er öffnete schwungvoll die Tür zu seinem Büro und ich erhaschte einen Blick auf einen vertrauten neonblauen Pferdeschwanz.

»Libby?«, fragte ich. Sie trug ihren Pflegerinnenkittel mit den aufgedruckten Totenköpfchen und kein Make-up, was darauf schließen ließ, dass sie direkt von der Arbeit kam. Mitten in der Frühschicht. Dabei spazierten Pflegekräfte in Einrichtungen für betreutes Wohnen nicht einfach mal so aus ihrer Schicht.

Außer etwas Schlimmes war passiert.

»Ist Dad …?« Ich konnte mich nicht überwinden, die Frage zu beenden.

»Ihrem Vater geht es gut.« Die Stimme, welche die Worte äußerte, gehörte weder Libby noch Direktor Altman. Mein Kopf ruckte hoch und ich blickte an meiner Schwester vorbei. Der Sessel hinter dem Schreibtisch des Direktors war besetzt – von einem Typen, der nicht viel älter war als ich. Was ist denn hier los?

Er trug einen schnieken Anzug. Und sah aus wie ein Mensch, der eine Entourage haben sollte.

»Jedenfalls gestern noch«, fuhr er fort, seine tiefe, volle Stimme gemessen und präzise, »war Ricky Grambs quicklebendig, wohlauf und schlief seinen Rausch sicher in einem Motelzimmer in Michigan, eine Stunde außerhalb von Detroit, aus.«

Ich gab mir Mühe, ihn nicht anzuglotzen … und versagte. Hellblondes Haar. Blasse Augen. Gesichtszüge so scharf wie mit dem Diamantschneider geformt.

»Woher wollen Sie das denn wissen?«, fragte ich herausfordernd. Nicht mal ich wusste je, wo mein Versagervater, der sich geflissentlich um die Unterhaltszahlungen gedrückt hatte, steckte.

Der Junge in dem Anzug beantwortete meine Frage nicht. Stattdessen hob er eine Augenbraue. »Direktor Altman?«, sagte er. »Wenn Sie uns wohl einen Moment geben würden?«

Der Direktor öffnete den Mund, vermutlich um einen Einwand zu erheben, weil er aus seinem eigenen Büro entfernt wurde, aber die Augenbraue des Jungen hob sich nur noch ein bisschen höher.

»Ich meine, wir hätten eine Vereinbarung.«

Altman räusperte sich. »Selbstverständlich.« Und einfach so drehte er sich um und spazierte aus der Tür. Sie schloss sich hinter ihm, woraufhin ich wieder dazu überging, unverhohlen den Jungen anzuglotzen, der ihn aus seinem Reich verbannt hatte.

»Sie fragten, woher ich wisse, wo Ihr Vater ist.« Seine Augen hatten die gleiche Farbe wie sein Anzug – grau, beinahe silbern. »Für den Moment wäre es wohl das Beste für Sie, einfach davon auszugehen, dass ich alles weiß.«

Es hätte angenehm sein können, seiner Stimme zu lauschen, wenn da nicht die Worte gewesen wären. »Ein Kerl, der glaubt, dass er alles weiß«, murmelte ich. »Ganz was Neues.«

»Ein Mädchen mit rasiermesserscharfer Zunge«, gab er zurück, die silbernen Augen auf mich gerichtet, wobei seine Mundwinkel nach oben zuckten.

»Wer sind Sie?«, fragte ich. »Und was wollen Sie?« Von mir, fügte etwas in mir hinzu. Was wollen Sie von mir?

»Alles, was ich will«, erwiderte er, »ist, eine Nachricht zu überbringen.« Aus Gründen, die ich nicht so ganz fassen konnte, begann mein Herz schneller zu schlagen. »Eine, die sich auf traditionellem Wege eher als schwierig zustellbar erwies.«

»Das könnte meine Schuld gewesen sein«, meldete sich Libby neben mir verlegen.

»Was könnte deine Schuld gewesen sein?« Ich drehte mich zu ihr um, froh darüber, den Blick von Grauauge lösen zu können, wobei ich gegen den Drang ankämpfen musste, gleich wieder hinzuschauen.

»Erst musst du wissen«, sagte Libby so ernst, wie es jemandem in einem Totenkopf-Pflegekittel nur möglich war, »dass ich ja keine Ahnung hatte, dass die Briefe echt waren.«

»Welche Briefe?«, wollte ich wissen. Ich war die einzige Person in diesem Raum, die keinen Schimmer hatte, was hier vor sich ging, und ich wurde das Gefühl nicht los, dass Nichtwissen gerade von Nachteil war – so wie wenn man auf dem Gleis steht und nicht weiß, aus welcher Richtung der Zug angebraust kommt.

»Jene Briefe«, sagte der Junge in dem Anzug, wobei mich seine Stimme wieder sanft umfing, »welche die Anwälte meines Großvaters seit nunmehr drei Woche per Einschreiben an Ihren Wohnort schicken.«

»Ich dachte, das wäre eine Betrügermasche«, sagte Libby zu mir.

»Ich versichere Ihnen«, erwiderte der Junge geflissentlich, »das sind sie nicht.«

Ich war klug genug, um nichts auf die Versicherungen gut aussehender Typen zu geben.

»Lassen Sie mich noch mal beginnen.« Er verschränkte die Hände auf dem Schreibtisch vor uns, wobei der Daumen seiner Rechten sanft über die Manschette an seinem linken Handgelenk strich. »Mein Name ist Grayson Hawthorne. Ich bin hier im Auftrag von McNamara, Ortega & Jones, einer in Dallas ansässigen Anwaltskanzlei, die den Nachlass meines Großvaters verwaltet.« Graysons blasse Augen begegneten meinen. »Mein Großvater ist Anfang des Monats von uns gegangen.« Eine gewichtige Pause. »Sein Name war Tobias Hawthorne.« Grayson beobachtete aufmerksam meine Reaktion – oder, genauer, das Ausbleiben einer solchen. »Sagt der Name Ihnen irgendetwas?«

Und da war es wieder – dieses Gefühl, auf den Gleisen zu stehen. »Nein«, erwiderte ich. »Sollte er?«

»Mein Großvater war ein sehr vermögender Mann, Miss Grambs. Und wie es scheint, wurden, neben unserer Familie und den Leuten, die seit Jahren für ihn arbeiteten, Sie in seinem Testament erwähnt.«

Ich hörte die Worte, konnte sie jedoch nicht begreifen. »Seinem was?«

»Seinem Testament«, wiederholte Grayson, wobei ein mattes Lächeln über seine Lippen huschte. »Ich weiß nicht, was genau er Ihnen vermacht hat, aber Ihre Anwesenheit ist bei der Verlesung des Testaments erforderlich. Wir schieben sie nun schon seit Wochen vor uns her.«

Ich war kein begriffsstutziger Mensch, aber Grayson Hawthorne hätte gerade genauso gut Schwedisch sprechen können.

»Warum sollte Ihr Großvater mir was vermachen?«, fragte ich.

Grayson erhob sich. »Tja, das ist die Frage der Stunde, nicht wahr?« Er trat hinter dem Schreibtisch hervor, und plötzlich wusste ich ganz genau, aus welcher Richtung der Zug angerattert kam.

Aus seiner.

»Ich habe mir die Freiheit genommen, Reisevorkehrungen für Sie zu treffen.«

Das war keine Einladung. Das war eine Vorladung. »Wie kommen Sie überhaupt auf die Idee …?«, begann ich, doch Libby schnitt mir das Wort ab.

»Super!«, sagte sie und bedachte mich mit einem eindringlichen Seitenblick.

Grayson schmunzelte. »Ich werde Ihnen beiden einen Moment geben.« Seine Augen verweilten etwas zu lang auf meinen als angenehm; dann, ohne ein weiteres Wort, stolzierte er zur Tür hinaus.

Libby und ich schwiegen noch ganze fünf Sekunden, nachdem er fort war. »Krieg das jetzt nicht in den falschen Hals«, flüsterte sie schließlich, »aber ich glaub, der Typ könnte so was wie Gott sein.«

Ich schnaubte. »Ja, dafür hält er sich ganz bestimmt.« Nun, da er weg war, fiel es leichter, seine Wirkung auf mich zu ignorieren. Was für ein Mensch verfügte bitte schön über so eine absolute Selbstsicherheit? Sie zeigte sich in jedem Aspekt seiner Haltung und Wortwahl, in jeder Interaktion. Macht war für diesen Typen eine schlichte Lebenstatsache, so wie die Schwerkraft. Die Welt beugte sich dem Willen von Grayson Hawthorne. Was Geld ihm nicht kaufen konnte, das besorgten ihm wahrscheinlich diese Augen.

»Fang mal von vorne an«, sagte ich zu Libby, »und lass nichts aus.«

Sie fummelte an den pechschwarzen Spitzen ihres blauen Pferdeschwanzes herum. »Vor zwei Wochen trudelten plötzlich diese Briefe bei uns ein – adressiert an dich. Ich dachte, das wäre eine Masche. So wie diese E-Mails, die behaupten, von einem ausländischen Prinzen zu kommen.«

»Warum sollte dieser Tobias Hawthorne – ein Mann, den ich nie getroffen habe, von dem ich nie auch nur gehört habe – mich in seinem Testament bedenken?«, fragte ich.

»Ich weiß nicht«, sagte Libby, »aber das« – sie deutete in die Richtung, in die Grayson verschwunden war – »ist keine Masche. Hast du gesehen, wie er Direktor Altman abgefertigt hat? Was meinst du, wie diese Vereinbarung zwischen den beiden aussieht? Ein fettes Schmiergeld … oder eine Drohung?«

Beides. Ich verkniff mir die Antwort, zog mein Handy hervor und verband mich mit dem Schul-Wi-Fi.

Eine Suchanfrage später lasen wir schon die Nachrichtenschlagzeile: Bekannter Philanthrop stirbt mit 78 Jahren.

»Weißt du, was ›Philanthrop‹ heißt?«, fragte Libby ernst. »Es heißt reich.«

»Es heißt Wohltäter, der für die gute Sache spendet«, korrigierte ich sie.

»So … reich.« Libby bedachte mich mit einem Blick. »Was, wenn du die gute Sache bist? Die würden doch nicht den Enkel von diesem Typen losschicken, um dich zu holen, wenn er dir nur ein paar Hundert Kröten hinterlassen hätte. Wir müssen hier von Tausenden ausgehen. Du könntest reisen, Avery, oder das Geld fürs College zurücklegen, oder dir ein besseres Auto kaufen.«

Erneut spürte ich, wie mein Herz schneller zu schlagen begann. »Warum sollte ein Wildfremder mir etwas hinterlassen?«, wiederholte ich abermals, wobei ich dem Drang widerstand, mich auch nur eine Sekunde irgendwelchen Tagträumen hinzugeben, denn wenn ich erst mal damit anfing, war ich nicht sicher, ob ich würde aufhören können.

»Vielleicht kannte er ja deine Mom?«, mutmaßte Libby. »Ich weiß es nicht, aber was ich weiß, ist, dass du zu der Verlesung dieses Testaments gehen musst.«

»Ich kann nicht einfach weg hier«, erinnerte ich sie. »Und du auch nicht.« Wir würden beide bei der Arbeit fehlen. Ich würde Unterricht verpassen. Und doch … Wenn schon nichts anderes, so würde ein Ausflug immerhin Libby von Drake wegbringen, sei es auch nur für eine kurze Zeit.

Und wenn das alles echt ist … Es wurde jetzt schon schwierig, sich nicht all die Möglichkeiten auszumalen.

»Meine Schichten für die nächsten zwei Tage hat schon jemand übernommen«, informierte mich Libby. »Genauso wie deine. Ich habe einige Anrufe getätigt.« Sie griff nach meiner Hand. »Komm schon, Ave. Wäre es nicht nett, mal wegzukommen, nur du und ich?«

Sie drückte meine Finger. Nach einem Augenblick erwiderte ich die Geste. »Wo genau ist denn die Testamentseröffnung?«

»Texas!« Libby grinste. »Und sie haben uns nicht nur die Flugtickets gebucht. Sie haben erste Klasse gebucht.«

KAPITEL 5 

Ich war nie zuvor geflogen. Als ich dreitausend Meter in die Tiefe hinabblickte, fantasierte ich davon, noch weiter zu fliegen als nach Texas. Paris. Bali. Machu Picchu. Das waren immer Eines-schönen-Tages-Träume gewesen.

Aber nun …

Libby neben mir schwelgte in Seligkeit, während sie genüsslich an einem Gratis-Cocktail nippte. »Fotozeit!«, verkündete sie. »Knuddel dich ran und halt deine warmen Nüsschen hoch.«

Eine Dame auf der anderen Seite des Gangs warf Libby einen missbilligenden Blick zu. Keine Ahnung, was das Objekt ihres Missmuts war – Libbys Haar, die Camouflage-Jacke, in die sie geschlüpft war, nachdem sie ihren Kittel abgelegt hatte, ihr Nietenhalsband, die Selfies, die sie knipsen wollte, oder die Lautstärke, in der sie gerade warme Nüsschen gesagt hatte.

Jedenfalls setzte ich meine arroganteste Miene auf, lehnte mich zu meiner Schwester rüber und hielt dekorativ die warmen Nüsschen hoch.

Libby legte den Kopf auf meine Schulter und machte das Foto. Sie drehte das Handy, um es mir zu zeigen. »Ich schicke es dir gleich.« Das Lächeln auf ihrem Gesicht geriet für einen Moment ins Wanken. »Stell es nicht online, okay?«

Drake weiß nicht, wo du bist, stimmt’s? Ich verkniff es mir, sie daran zu erinnern, dass sie ein Leben haben durfte. Ich wollte nicht streiten. »Mach ich nicht.« Was mich betraf, war das kein großes Opfer. Ich hatte zwar Social-Media-Accounts, aber die benutzte ich hauptsächlich, um Max über Twitter zu schreiben.

Apropos … Ich zog mein Handy hervor. Ich hatte es in den Flugmodus geschaltet, was bedeutete, keine SMS, aber die erste Klasse bot natürlich freies Wi-Fi an. Ich schickte Max ein kurzes Update über das, was passiert war, und verbrachte den Rest des Fluges damit, mich eingehend über Tobias Hawthorne zu informieren.

Er hatte sein Geld mit Öl gemacht, dann expandiert. Da Grayson seinen Großvater als vermögenden Mann tituliert und die Zeitung den Begriff Philanthrop verwendet hatte, war ich davon ausgegangen, dass er so was wie ein Millionär gewesen war.

Irrtum.

Tobias Hawthorne war nicht vermögend oder gut betucht. Es gab keine höfliche Umschreibung für das, was Tobias Hawthorne war, als echt fügen-Sie-ein-Schimpfwort-Ihrer-Wahl-ein-reich. Milliardenschwer. Milliarden – mit großem M und im Plural. Er war der neuntreichste Mensch in den USA und der reichste Mann von ganz Texas.

Sechsundvierzig Komma zwei Milliarden Dollar. Das war sein Reinvermögen. So eine Größenordnung war einfach unvorstellbar. Und so hörte ich auf, mich zu fragen, warum ein Mann, den ich nie getroffen hatte, mir irgendwas hätte hinterlassen sollen – und begann mich zu fragen, wie viel.

Max schrieb mir kurz vor der Landung zurück: Krasse Meise, du willst mich wohl verhackeiern?

Ich grinste. Nein. Ich hock ernsthaft in einem Flieger nach Texas. Machen uns gerade zur Landung bereit.

Max’ einzige Antwort war: Heilige Schneise.

Kaum dass wir an der Sicherheitskontrolle vorbei waren, nahm uns eine dunkelhaarige Frau in weißem Hosenanzug in Empfang. »Miss Grambs.« Sie nickte mir zu, dann Libby, wobei sie eine identische Begrüßung anhängte. »Miss Grambs.« Sie wandte sich ab in der Erwartung, dass wir folgten. Zu meinem Unmut taten wir es beide anstandslos. »Ich bin Alisa Ortega«, stellte sie sich im Gehen vor, »von der Kanzlei McNamara, Ortega & Jones.« Eine weitere Pause, dann warf sie mir einen Seitenblick zu. »Sie sind eine schwer auffindbare junge Dame.«

Ich zuckte die Achseln. »Ich wohne in meinem Auto.«

»Da wohnt sie nicht«, warf Libby rasch ein. »Sag ihr, dass du da nicht wohnst.«

»Wir freuen uns sehr, dass Sie es einrichten konnten.« Alison Ortega von McNamara, Ortega & Jones wartete nicht darauf, dass ich ihr irgendwas sagte. Ich hatte das Gefühl, dass meine Hälfte dieses Gesprächs vernachlässigbar war. »Während Ihres Aufenthalts in Texas dürfen Sie sich als Gäste der Familie Hawthorne betrachten. Ich bin Ihr Ansprechpartner in der Kanzlei. Egal, was Sie während Ihres Aufenthalts hier benötigen, kommen Sie zu mir.«

Rechnen Anwälte nicht stundenweise ab?, dachte ich. Wie viel kostete dieser persönliche Abholservice die Familie Hawthorne wohl? Ich zog gar nicht erst in Betracht, dass diese Frau keine Anwältin sein könnte. Sie sah aus wie Ende zwanzig. Mit ihr zu sprechen gab mir das gleiche Gefühl wie gegenüber Grayson Hawthorne. Sie war Jemand.

»Gibt es denn irgendwas, das ich für Sie tun kann?«, erkundigte sich Alisa Ortega, während sie auf eine automatische Schiebetür zusteuerte, ohne ihren Schritt im Mindesten zu verlangsamen, obwohl es den Anschein machte, als würde die Tür sich nicht rechtzeitig öffnen.

Ich wartete, bis ich sicher sein konnte, dass sie nicht gegen die Glasscheibe knallen würde, bevor ich antwortete. »Wie wäre es mit ein paar Informationen?«

»Sie müssten bitte etwas spezifischer werden.«

»Wissen Sie denn, was in dem Testament steht?«, fragte ich geradeheraus.

»Nein, weiß ich nicht.« Sie deutete zu einem schwarzen Sedan, der am Straßenrand wartete. Sie öffnete mir die Fondtür. Ich stieg ein, Libby folgte mir. Alisa glitt vorne auf den Beifahrersitz. Der Platz hinter dem Steuer war bereits besetzt. Ich versuchte, einen Blick auf den Fahrer zu erhaschen, konnte aber nicht viel von seinem Gesicht ausmachen.

»Sie werden früh genug herausfinden, was in dem Testament steht«, sagte Alisa, die Worte so glatt und gebügelt wie ihr weißer Wag-es-ja-nicht-ihn-zu-ruinieren-Hosenanzug. »So wie wir alle. Die Testamentseröffnung ist direkt im Anschluss an Ihre Ankunft in Hawthorne House angesetzt.«

Nicht im Haus der Familie Hawthorne. Einfach nur Hawthorne House – als wäre es so ein englischer Herrensitz samt eigenem Namen.

»Werden wir da auch übernachten?«, fragte Libby. »Im Hawthorne House?«

Unsere Rückflugtickets waren auf den nächsten Tag gebucht. Wir hatten für eine Übernachtung gepackt.

»Sie werden sich Ihre Schlafzimmer aussuchen können«, versicherte Alisa uns. »Mr Hawthorne hat das Anwesen, auf dem das Haus errichtet wurde, vor über fünfzig Jahren erworben und seitdem jedes einzelne Jahr damit verbracht, etwas zu dem architektonischen Wunderwerk, das er dort erbaut hat, hinzuzufügen. Ich habe die Übersicht über die Gesamtzahl der Schlafzimmer verloren, aber es sind über dreißig. Hawthorne House ist recht … besonders.«

Das war bisher das Maximum an Information, die wir aus ihr herausbekommen hatten, daher versuchte ich mein Glück weiter. »Ich rate einfach mal drauflos: Mr Hawthorne war ebenfalls recht besonders, ja?«

»Gut geraten«, sagte Alisa. Sie erwiderte meinen Blick. »Mr Hawthorne hatte was übrig für Leute, die gut raten können.«

Und da überkam mich ein unheimliches Gefühl, beinahe wie eine Vorahnung. Ist das der Grund, warum er mich gewählt hat?

»Wie gut kannten Sie ihn denn?«, wollte Libby wissen.

»Mein Vater war schon Tobias Hawthornes Anwalt, bevor ich auf die Welt kam.« Alisa Ortega hatte ihren autoritären Tonfall abgelegt; ihre Stimme war sanft. »Ich habe meine Kindheit und Jugend über viel Zeit in Hawthorne House verbracht.«

Er war nicht nur ein Klient für sie, dachte ich. »Haben Sie irgendeine Ahnung, warum ich hier bin?«, fragte ich. »Warum er mir überhaupt etwas hinterlassen sollte?«

»Sind Sie mehr so der Ich-will-die-Welt-retten-Typ?«, fragte Alisa, als wäre das eine ganz normale Frage.

»Nein?«, erwiderte ich vage.

»Wurde Ihnen je das Leben von jemandem mit dem Namen Hawthorne ruiniert?«, fuhr Alisa fort.

Ich blickte sie ratlos an, bevor es mir gelang, dieses Mal überzeugender zu antworten: »Nein.«

Alisa lächelte, doch das Lächeln reichte nicht ganz bis zu ihren Augen. »Glück gehabt.«

KAPITEL 6 

Hawthorne House befand sich auf einem Hügel. Gewaltig. Weitläufig. Es sah aus wie ein Schloss – eher einem Adelssitz angemessen als texanischem Farmland. Auf der Vorderseite parkte ein halbes Dutzend Autos sowie ein zerbeultes Motorrad, das aussah, als sollte es besser zerlegt und die Einzelteile auf dem Schrottplatz verscherbelt werden.

Alisa beäugte das Motorrad. »Sieht aus, als hätte Nash es nach Hause geschafft.«

»Nash?«, fragte Libby.

»Der älteste der Hawthorne-Enkel«, erwiderte Alisa, die den Blick vom Motorrad losriss und zum Schloss emporsah. »Es sind insgesamt vier.«

Vier Enkel. Ich konnte meine Gedanken nicht davon abhalten, zu dem einen Hawthorne zurückzukehren, den ich bereits kennengelernt hatte. Grayson. Der perfekte, maßgeschneiderte Anzug. Die silbergrauen Augen. Diese Arroganz, mit der er mir mitteilte, ich solle davon ausgehen, er wüsste alles.

Alisa bedachte mich mit einem wissenden Blick. »Nimm bitte den Rat von jemandem an, der es bereits ausprobiert und hinter sich gebracht hat – verliere nie dein Herz an einen Hawthorne.«

»Keine Sorge«, erwiderte ich, gleichermaßen verärgert über ihre Unterstellung wie über die Tatsache, dass sie in der Lage gewesen war, auch nur eine Spur meiner Gedanken in meinem Gesicht zu lesen. »Ich verwahre meins hinter Schloss und Riegel.«

Die Eingangshalle war größer als manches Haus – locker hundert Quadratmeter –, so als hätte derjenige, der es erbaut hatte, damit gerechnet, dass der Eingangsbereich auch als Ballsaal herhalten müsse. Steinerne Bögen säumten die Halle zu beiden Seiten und der Raum öffnete sich über zwei Stockwerke bis zu einer kunstvoll verzierten Decke aus geschnitztem Holz. Alleine der Blick nach oben raubte mir den Atem.

»Sie sind eingetroffen.« Eine bekannte Stimme holte meine Aufmerksamkeit auf den Boden zurück. »Und auch noch pünktlich. Darf ich davon ausgehen, dass es keine Probleme mit Ihrem Flug gab?«

Grayson Hawthorne trug nun einen anderen Anzug. Diesmal war er schwarz – genauso wie sein Hemd und die Krawatte.

»Du.« Alisa begrüßte ihn mit einem stählernen Blick.

»Ich nehme also an, meine Einmischung wird mir nicht verziehen?«, fügte Grayson hinzu.

»Du bist neunzehn«, gab Alisa zurück. »Würde es dich umbringen, dich auch so zu benehmen?«

»Womöglich, ja.« Grayson entblößte die Zähne zu einem Lächeln. »Und gern geschehen.« Ich brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass Grayson mit Einmischung meinte, mich holen gekommen zu sein. »Meine Damen«, sagte er, »darf ich Ihnen Ihre Jacken abnehmen?«

»Ich behalte meine an«, erwiderte ich aus reinem Trotz – und weil ich das Gefühl hatte, dass eine Extra-Schutzschicht zwischen mir und dem Rest der Welt gerade nicht schaden konnte.

»Und Ihre?«, fragte Grayson galant an Libby gewandt.

Immer noch baff von der imposanten Eingangshalle, streifte Libby ihre Jacke wortlos ab und reichte sie ihm. Grayson ging unter einem der Steinbögen hindurch. Auf der anderen Seite befand sich ein Korridor. Die Wand war mit kleinen quadratischen Holzpaneelen getäfelt. Grayson legte die Hand auf eines der Paneele und drückte. Er drehte die Hand um neunzig Grad, berührte das nächste Paneel und dann, mit einer Bewegung, die zu schnell für mich war, um sie nachzuverfolgen, tippte er gegen mindestens zwei andere. Ich hörte ein sattes Ploppen und dann glitt ein Teil der Vertäfelung lautlos aus der Wand.

»Was zum …?«, entfuhr es mir.

Grayson griff hinein und zog einen Bügel hervor. »Die Garderobe.« Das war keine Erklärung. Das war eine verdammte Untertreibung, so als wäre das nur irgendein lausiger Wandschrank in irgendeinem alten Haus.

Alisa nahm das wohl als Stichwort, uns Graysons fähigen Händen zu überlassen, und ich versuchte, mit einer Antwort aufzuwarten, die nicht bloß darin bestand, wie ein Fisch mit offenem Mund zu glotzen. Grayson wollte gerade den Wandschrank schließen, als ein Laut tief aus seinem Inneren ihn innehalten ließ.

Ich hörte ein Krächz, dann ein Bumm. Ein schlurfendes Geräusch war hinter den Jacken und Mänteln zu vernehmen, dann schob sich aus der Dunkelheit eine Gestalt durch sie hindurch und trat ins Licht. Ein Typ – vielleicht in meinem Alter, vielleicht etwas jünger. Er trug einen Anzug, aber da endete auch schon die Ähnlichkeit mit Grayson. Der Anzug dieses Jungen war zerknautscht, als hätte er ein Nickerchen drin gehalten … oder auch zwanzig. Das Sakko war nicht zugeknöpft. Die Krawatte, die um seinen Hals lag, war nicht geknotet. Er war groß, hatte jedoch ein glattes Jungsgesicht sowie einen dunkel gelockten Haarschopf. Seine Augen waren hellbraun, genau wie seine Haut.

»Bin ich zu spät?«, fragte er Grayson.

»Man würde meinen, du könntest diese Frage an deine Uhr richten.«

»Ist Jameson schon da?«, änderte der dunkelhaarige Junge seine Frage ab.

Grayson versteifte sich. »Nein.«

Der andere Junge grinste. »Dann bin ich nicht zu spät!« Er sah an Grayson vorbei zu Libby und mir. »Und das müssen unsere Gäste sein! Wie unhöflich von Grayson, uns nicht vorzustellen.«

Ein Muskel in Graysons Gesicht zuckte. »Avery Grambs«, sagte er förmlich, »und ihre Schwester, Libby. Meine Damen, das ist mein Bruder, Alexander.« Einen Moment schien es, als würde Grayson es dabei belassen, doch da hob sich auch schon die gewölbte Augenbraue. »Xander ist das Baby der Familie.«

»Ich bin der Gutaussehende der Familie«, berichtigte ihn Xander. »Ich weiß, was ihr denkt. Dieser witzlose Bursche neben ihm kann doch durchaus einen Armani-Anzug ausfüllen. Aber ich frage euch: Kann er mit seinem Lächeln das Universum erhellen wie die Reinkarnation einer jungen Mary Tyler Moore im Körper eines Schwarzen James Dean?« Xander schien nur einen Sprachmodus zu haben: schnell. »Nein«, beantwortete er seine eigene Frage. »Nein, kann er nicht.«

Endlich hörte er lange genug zu sprechen auf, damit jemand anderes was sagen konnte. »Schön, dich kennenzulernen«, preschte Libby dazwischen.

»Verbringst du viel Zeit in Garderobenschränken?«, schob ich hinterher.

Xander wischte sich die staubigen Hände an seiner Hose ab. »Geheimgang«, sagte er, bevor er wiederum versuchte, seine Hosenbeine mit seinen Händen abzustauben. »Dieser Ort ist voll davon.«

KAPITEL 7 

Es juckte mich in den Fingern, mein Handy hervorzuholen und Fotos von dem Haus zu machen, doch ich widerstand. Libby hatte keine derartigen Hemmungen.

»Mademoiselle …« Xander machte einen Schritt zur Seite, um sich einem von Libbys Schnappschüssen in den Weg zu stellen. »Dürfte ich fragen: Wie stehen Sie zu Achterbahnen?«

Ich bekam ernsthaft Angst, Libbys Augen könnten ihr gleich aus dem Kopf ploppen. »Dieses Haus hat eine eigene Achterbahn?«

Xander grinste. »Nicht ganz.« Und bevor ich mich versah, zog das »Baby« der Hawthorne-Familie – das in Metern gute eins neunzig maß – meine Schwester zum hinteren Ende der Eingangshalle.

Ich war völlig perplex. Wie kann ein Haus eine Nicht-ganz-Achterbahn haben? Grayson neben mir schnaubte. Ich erwischte ihn dabei, wie er mich anschaute, und verengte die Augen. »Was?«

»Nichts«, erwiderte Grayson, obgleich das Zucken seiner Mundwinkel etwas anderes vermuten ließ. »Es ist nur … Sie haben eine sehr expressive Mimik.«

Nein. Hatte ich nicht. Libby sagte immer, ich sei schwer zu durchschauen. Mein durchtriebenes Pokerface hatte monatelang Harrys Frühstücksmahlzeiten finanziert. Von wegen expressiv.

Nichts an meinem Gesicht war irgendwie auffällig oder bemerkenswert.

»Ich entschuldige mich für Xander«, meinte Grayson. »Er hält gemeinhin nichts von so antiquierten Konzepten wie denken, bevor man spricht und mehr als drei Sekunden hintereinander stillzusitzen.« Er blickte zu Boden. »Er ist der Beste von uns, selbst an seinen schlimmsten Tagen.«

»Miss Ortega meinte, ihr wärt zu viert.« Ich konnte nicht anders. Ich wollte mehr über diese Familie erfahren. Über ihn. »Vier Enkelsöhne, meine ich.«

»Ich habe drei Brüder«, erklärte Grayson. »Dieselbe Mutter, verschiedene Väter. Unsere Tante Zara hat keine Kinder.« Er schaute an mir vorbei. »Und was meine Verwandtschaft betrifft, sollte ich wohl vorab gleich eine zweite Entschuldigung aussprechen.«

»Gray, Darling!« Eine Frau kam in einem Wirbel aus Stoff und Schwung auf uns zugerauscht. Als ihre wallende Tunika sich beruhigt hatte, versuchte ich, ihr Alter einzugrenzen. Älter als dreißig, jünger als fünfzig. Darüber hinaus ließ es sich nicht genauer festmachen. »Sie warten alle im Großen Salon auf uns und sind bereit«, sagte sie zu Grayson. »Oder zumindest werden sie es in Kürze sein. Wo ist dein Bruder?«

»Etwas spezifischer, Mutter.«

Die Frau verdrehte die Augen. »Komm mir nicht mit Mutter, Grayson Hawthorne.« Sie wandte sich zu mir. »Man könnte meinen, er wäre in diesem Anzug zur Welt gekommen«, sagte sie in einem Tonfall, als würde sie mir ein großes Geheimnis anvertrauen, »dabei war Gray mein kleiner Nackedei. Ein richtiger Freigeist. Bis er vier war, konnten wir ihn schlicht nicht dazu bringen, seine Kleidung anzubehalten. Offen gesagt, habe ich es gar nicht erst versucht.« Sie hielt inne und taxierte mich, ohne sich die Mühe zu machen, es unauffällig zu tun. »Du musst Ava sein.«

»Avery«, berichtigte Grayson sie. Falls ihm seine angebliche Vergangenheit als FKK-Dreikäsehoch peinlich war, so zeigte er es nicht. »Ihr Name lautet Avery, Mutter.«

Die Frau seufzte, lächelte aber auch, so als wäre es ihr unmöglich, ihren Sohn anzuschauen und in seiner Gegenwart nicht in völlige Verzückung zu geraten. »Dabei habe ich mir immer geschworen, meine Kinder würden mich nur mit meinem Vornamen anreden«, erklärte sie mir. »Ich habe sie als ebenbürtige Personen erzogen, weißt du? Aber andererseits habe ich mir auch immer vorgestellt, Mädchen zu bekommen. Am Ende waren es vier Jungs …« Sie vollführte das eleganteste Schulterzucken der Welt.

Rein objektiv war Graysons Mutter völlig überspannt. Aber subjektiv? Absolut mitreißend.

»Meine Liebe, würde es dir was ausmachen, mir deinen Geburtstag zu verraten?«

Die Frage erwischte mich unvorbereitet. Ja, ich hatte einen Mund. Er war voll funktionsfähig. Aber bei dieser Lady konnte ich einfach nicht schnell genug mithalten, um eine Antwort zu produzieren. Sie legte eine Hand auf meine Wange. »Skorpion? Oder Steinbock? Nein, ganz klar ein Fisch …«

»Mutter«, unterbrach Grayson und berichtigte sich sogleich. »Skye.«

Ich brauchte einen Moment, um zu kapieren, dass dies ihr Vorname sein musste und er ihn benutzt hatte, um ihr entgegenzukommen und sie damit davon abzuhalten, mich ins astrologische Kreuzverhör zu nehmen.

»Grayson ist ein guter Junge«, sagte Skye zu mir. »Zu gut.« Dann zwinkerte sie mir zu. »Wir reden später noch.«

»Ich bezweifle, dass Miss Grambs lange genug bleibt, um einem Plausch am Kamin beizuwohnen – oder einer Tarotsitzung.« Eine zweite Frau, in Skyes Alter oder etwas älter, schaltete sich in unser Gespräch ein. Wenn Skye für fließende Stoffe und eine überbordende Art stand, dann vertrat diese Frau die Fraktion Bleistiftrock und Perlenkette.

»Ich bin Zara Hawthorne-Calligaris.« Sie taxierte mich mit einer Miene so streng wie ihr Name. »Dürfte ich Sie wohl fragen – woher kannten Sie meinen Vater?«

Stille senkte sich über den riesigen Saal. Ich schluckte. »Ich kannte ihn nicht.«

Wieder konnte ich Graysons seitlichen Blick spüren. Nach einer kleinen Ewigkeit schenkte Zara mir ein schmächtiges Lächeln. »Nun, wir wissen Ihre Anwesenheit zu schätzen. Die letzten Wochen waren eine zermürbende Zeit, wie Sie sich sicher vorstellen können.«

Ja, diese letzten Wochen, ergänzte ich, in denen ihr mich nicht zu fassen bekommen habt.

»Zara?« Ein Mann mit gelecktem, nach hinten gekämmtem Haar unterbrach uns und ließ einen Arm um ihre Taille gleiten. »Mr Ortega hätte uns gern auf ein Wort.« Der Mann, bei dem ich auf Zaras Ehemann tippte, würdigte mich kaum eines flüchtigen Blickes.

Was Skye wiederum wettmachte: »Meine Schwester hat ein Wort mit Leuten«, bemerkte sie an mich gewandt. »Ich führe Unterhaltungen. Reizende Unterhaltungen. Offen gesagt bin ich so zu meinen vier Söhnen gekommen. Wunderbare, intime Unterhaltungen mit vier faszinierenden Männern …«

»Ich zahle dir was, wenn du genau jetzt aufhörst«, unterbrach Grayson sie mit einem gequälten Ausdruck im Gesicht.

Skye tätschelte die Wange ihres Sohnes. »Bestechen. Bedrohen. Sich rauskaufen. Du könntest nicht mehr ein Hawthorne sein, wenn du es versuchen würdest, Darling.« Sie bedachte mich mit einem wissenden Lächeln. »Deswegen nennen wir ihn auch den Erben in spe.«

Da war etwas in Skyes Stimme, etwas in Graysons Miene, als seine Mutter die Worte Erbe in spe sagte, bei dem mir dämmerte, dass ich völlig unterschätzt hatte, wie sehr die Familie Hawthorne auf die Eröffnung dieses Testaments hinfieberte.

Sie wissen genauso wenig wie ich, was in dem Testament steht. Plötzlich hatte ich das Gefühl, in eine Arena getreten zu sein – völlig ahnungslos, wie die Spielregeln lauteten.

»Nun«, sagte Skye und schlang einen Arm um mich, einen um Grayson, »sollen wir uns in den Großen Salon begeben?«

KAPITEL 8 

Der Große Salon war gerade mal ein Drittel kleiner als die Eingangshalle. Ein riesiger gemauerter Kamin befand sich an der Stirnseite. Wasserspeier mit Fratzen waren links und rechts in den Stein gemeißelt. Waschechte Gargoyles.

Grayson setzte Libby und mich in zwei Lehnsesseln ab und entschuldigte sich dann, um nach vorne zu gehen, wo drei ältere Herren in Anzügen herumstanden und sich mit Zara und ihrem Ehemann unterhielten.

Die Anwälte, wurde mir klar. Ein paar Minuten später gesellte Alisa sich zu ihnen, während ich die anderen Anwesenden im Raum in Augenschein nahm. Ein weißes Pärchen, schon älter, mindestens sechzig. Ein schwarzer Mann in seinen Vierzigern mit einer militärischen Haltung, der mit dem Rücken zur Wand stand und beide Ausgänge im Blick behielt. Dann Xander mit einem Typen an seiner Seite, der ganz offensichtlich ein weiterer Hawthorne-Bruder war. Dieser war älter – Mitte zwanzig etwa. Er musste definitiv mal zum Friseur, und zu seinem Anzug trug er ein Paar Cowboy-Stiefel, die, genau wie das Motorrad draußen, schon bessere Tage gesehen hatten.

Nash, dachte ich, als mir der Name einfiel, den Alisa vorhin genannt hatte.

Schließlich stieß eine uralte Dame zum Getümmel. Nash bot ihr einen Arm an, aber sie nahm stattdessen Xanders. Er führte sie auf direktem Weg zu Libby und mir. »Das ist Nan«, stellte er sie uns vor. »Die Frau. Die Legende.«

»Papperlapapp.« Sie gab ihm einen kräftigen Klaps auf den Arm. »Ich bin die Großmutter dieses Bengels.« Nan ließ sich mit sichtlicher Mühe auf dem freien Sessel neben mir nieder. »Älter als die Erde selbst und doppelt so gemein.«

»Sie hat ein weiches Herz«, versicherte Xander gut gelaunt. »Und ich bin ihr Liebling.«

»Du bist nicht mein Liebling«, brummte Nan.

»Ich bin jedermanns Liebling!« Xander grinste.

»Viel zu sehr nach deinem unbelehrbaren Großvater geraten«, grummelte Nan. Sie schloss die Augen und ich sah das leichte Zittern ihrer Hände. »Furchtbarer Mann.« Zärtlichkeit schwang darin mit.

»War Mr Hawthorne Ihr Sohn?«, erkundigte sich Libby sanft. Sie arbeitete mit älteren Leuten und war eine gute Zuhörerin.

Nan nutzte die Gelegenheit, um abermals zu schnauben. »Schwiegersohn.«

»Er war auch ihr Liebling«, stellte Xander klar. Da war etwas Schmerzliches in der Art, wie er es sagte. Das hier war keine Gedenkfeier. Sie mussten den Mann schon vor einigen Wochen zur Ruhe gebettet haben, doch ich kannte Trauer, konnte sie spüren … konnte sie förmlich riechen.

»Alles in Ordnung, Ave?«, erkundigte sich Libby neben mir. Ich musste an Graysons Behauptung denken, wie verräterisch mein Gesichtsausdruck war.

Besser, an Grayson Hawthorne denken als an Beerdigungen und Trauer.

»Mir geht’s gut«, erwiderte ich. Aber das stimmte nicht. Selbst nach zwei Jahren traf mich die Sehnsucht nach Mom manchmal wie ein Tsunami. »Ich gehe nur mal kurz raus«, sagte ich und zwang mich zu einem Lächeln. »Ich brauche ein bisschen frische Luft.«

Auf dem Weg nach draußen hielt mich Zaras Mann auf. »Wohin gehst du? Wir fangen gleich an.« Er schloss seine Hand um meinen Oberarm.

Ich wand meinen Ellbogen aus seinem Griff. Es war mir egal, wer diese Leute waren. Niemand hatte das Recht, Hand an mich zu legen. »Mir wurde gesagt, dass es vier Hawthorne-Enkel gibt«, sagte ich mit eisiger Stimme. »Meinen Hochrechnungen nach fehlt einer noch. Ich bin gleich zurück. Sie werden nicht mal merken, dass ich weg bin.«

Ich landete im Garten hinter dem Haus statt vor dem Eingang – falls man es denn Garten nennen konnte. Endlose picobello gepflegte Rasenflächen. Es gab einen massiven Brunnen. Steinerne Statuen. Ein Gewächshaus. Und vor mir, so weit das Auge reichte, erstreckte sich das Land. Ein Teil davon war baumbewachsen. Andere Teile offene Flächen. Doch wenn man da so stand und hinausschaute, konnte man sich problemlos vorstellen, dass ein Mensch, der zu dessen Grenzen aufbrach, es womöglich nie wieder zurückschaffen würde.

»Wenn Ja Nein ist und einmalnie, wie viele Seiten hat ein Dreieck dann?« Die Frage kam von oben. Ich schaute auf und sah auf dem Balkon über mir einen Jungen, der gefährlich hoch auf einem schmiedeeisernen Geländer hockte. Wohlgemerkt betrunken.

»Du wirst runterfallen«, sagte ich.

Er grinste verschmitzt. »Ein verlockender Vorschlag.«

»Das war kein Vorschlag«, sagte ich.

Er bedachte mich mit einem lasziven Lächeln. »Es ist keine Schande, einem Hawthorne einen Vorschlag zu unterbreiten.« Sein Haar war dunkler als das von Grayson und heller als Xanders. Er trug kein Hemd.

Immer eine gute Entscheidung mitten im Winter, dachte ich, konnte meine Augen aber nicht davon abhalten, von seinem Gesicht abwärts zu wandern. Sein Oberkörper war schlank, sein Bauch straff. Er hatte eine lange, dünne Narbe, die sich von seinem Schlüsselbein zur Hüfte zog.

»Du musst das Mystery-Girl sein«, sagte er.

»Ich bin Avery«, korrigierte ich ihn. Ich war hier rausgekommen, um den Hawthornes und ihrer Trauer zu entfliehen. Im Gesicht dieses Jungen konnte ich keine Spur von Kummer oder Sorge sehen, er wirkte, als wäre das Leben ein einziger großer Jux. Als würde er nicht so trauern wie die Leute drinnen.

»Wie du meinst, M. G.«, gab er zurück. »Darf ich dich M. G. nennen, Mystery-Girl?«

Ich verschränkte die Arme. »Nein.«

Er zog die Beine aufs Geländer und stand auf. Er schwankte und mich durchfuhr blitzartig eine grauenhafte Erkenntnis. Doch, er trauert, und er ist viel zu weit oben.

Ich hatte mir nicht erlaubt, mich der Selbstzerstörung hinzugeben, als meine Mom starb. Das hieß jedoch nicht, dass ich den Ruf nicht gehört hätte.

Er verlagerte das Gewicht auf ein Bein und streckte das andere aus.

»Nicht!« Bevor ich noch mehr sagen konnte, bückte der Junge sich, packte das Geländer mit beiden Händen, stemmte sich darauf und schwang die Beine nach oben, beide Füße in der Luft. Ich konnte sehen, wie sich seine Muskulatur anspannte und über den Schulterblättern wölbte, als er die Beine immer weiter nach außen sinken ließ … und fiel.

Er landete direkt neben mir. »Du solltest nicht hier draußen sein, M. G.«

Ich war nicht diejenige, die gerade oben ohne von einem Balkon gesprungen war. »Genauso wenig wie du.«

Ich fragte mich, ob er mitbekam, wie schnell mein Herz hämmerte. Ich fragte mich, ob sich sein Puls überhaupt beschleunigt hatte.

»Wenn ich tue, was ich sollte, und das nicht öfter, als ich sage, was ich nicht sollte« – seine Lippen verzogen sich – »zu was macht mich das?«

Jameson Hawthorne, dachte ich. Aus der Nähe konnte ich die Farbe seiner Augen erkennen: ein dunkles, unergründliches Grün.

»Was«, wiederholte er nachdrücklich, »bin ich dann?«

Ich löste meinen Blick von seinen Augen. Und von seinen Bauchmuskeln. Und seinem planlos gegelten Haar.

»Betrunken«, erwiderte ich; dann, weil ich die nervige Retourkutsche schon kommen spürte, schob ich zwei weitere Worte hinterher. »Außerdem: zwei.«

»Was?«, fragte Jameson Hawthorne.

»Na, die Antwort auf dein erstes Rätsel«, klärte ich ihn auf. »Wenn Ja Nein und einmal nie ist, dann ist die Anzahl der Seiten eines Dreiecks … zwei«, führte ich meine Antwort aus, ohne mir die Mühe zu machen, zu erklären, wie ich zu meiner Schlussfolgerung gekommen war.

»Touché, M. G.« Jameson schlenderte an mir vorbei, wobei sein nackter Arm meinen leicht streifte. »Touché.«

KAPITEL 9 

Ich blieb noch ein paar Minuten länger draußen.

Nichts an diesem Tag fühlte sich real an. Und morgen schon würde ich nach Connecticut zurückkehren – hoffentlich ein klein bisschen weniger arm und um eine gute Story reicher – und würde wahrscheinlich keinen der Hawthornes je wiedersehen.

Ich würde nie wieder eine Aussicht wie diese haben.

Als ich in den Großen Salon zurückkehrte, hatte Jameson Hawthorne es wunderbarerweise geschafft, ein Hemd samt Sakko aufzutreiben. Er lächelte in meine Richtung und tippte sich leicht an die Stirn. Grayson neben ihm versteifte sich, seine Kiefermuskulatur spannte sich an.

»Nun, da alle da sind«, ergriff einer der Anwälte das Wort, »lasst uns beginnen.«

Die drei Rechtsanwälte standen in einer Dreiecksformation. Derjenige, der gesprochen hatte, besaß wie Alisa dunkles Haar, braune Haut und eine selbstsichere Ausstrahlung. Ich tippte, dass es der Ortega bei McNamara, Ortega & Jones war. Die anderen zwei – vermutlich Jones und McNamara – standen links und rechts von ihm.

Seit wann braucht es vier Anwälte, um ein Testament zu verlesen?, dachte ich verwirrt.

»Sie sind hier«, verkündete Mr Ortega, der seine Stimme in alle Ecken des Raumes aussandte, »um den letzten Willen und das Testament von Tobias Tattersall Hawthorne anzuhören. Auf Mr Hawthornes Weisung hin werden meine Kollegen nun die Briefe verteilen, von denen er jedem von Ihnen einen hinterlassen hat.«

Die beiden anderen Männer begannen damit, ihre Runde im Raum zu machen und jedes Kuvert einzeln auszuteilen.

»Sie dürfen diese Briefe öffnen, wenn die Testamentseröffnung abgeschlossen ist.«

Ich bekam ebenfalls einen Umschlag gereicht. Mein voller Name war in kunstvoller Handschrift auf der Vorderseite vermerkt. Libby neben mir blickte zu dem Anwalt auf, doch er überging sie und verteilte weiter Kuverts an die Anwesenden im Salon.

»Mr Hawthorne hat festgelegt, dass sämtliche der folgenden Personen zur Testamentseröffnung persönlich anwesend sein müssen: Skye Hawthorne, Zara Hawthorne-Calligaris, Nash Hawthorne, Grayson Hawthorne, Jameson Hawthorne, Alexander Hawthorne sowie Miss Avery Kylie Grambs aus New Castle, Connecticut.«

Ich fühlte mich ungefähr so angestarrt, als wäre ich nackt.

»Da Sie nun alle hier sind«, fuhr Mr Ortega fort, »können wir beginnen.«

Libby ließ wortlos ihre Hand in meine gleiten.

»Ich, Tobias Tattersall Hawthorne«, las Mr Ortega, »verfüge im Vollbesitz meiner geistigen und körperlichen Kräfte, dass meine weltlichen Besitztümer, einschließlich sämtlicher Geld- und Sachgüter, wie folgt verteilt werden.« Der Anwalt legte eine Pause ein. »Andrew und Lotte Laughlin vermache ich für die Jahre treuer Dienste eine Summe von hunderttausend Dollar pro Person sowie ein lebenslanges, mietfreies Wohnrecht im Wayback Cottage am westlichen Ende meines Anwesens in Texas.«

Das ältere Pärchen, das ich vorhin gesehen hatte, lehnte sich aneinander. Alles, was ich denken konnte, war: EINHUNDERTTAUSEND DOLLAR. Die Anwesenheit der Laughlins war für die Testamentseröffnung nicht verpflichtend gewesen und doch hatten sie gerade hunderttausend Dollar erhalten. Pro Kopf!

Ich gab mir große Mühe, mich daran zu erinnern, wie man atmete.

»John Oren, dem Leiter meines Personenschutzteams, der mein Leben öfter gerettet hat, als ich zählen kann, vermache ich den Inhalt meiner Werkzeugkiste, die gegenwärtig im Büro von McNamara, Ortega & Jones aufbewahrt wird, sowie eine Summe von dreihunderttausend Dollar.«

Tobias Hawthorne kannte diese Menschen, sagte ich mir mit wummerndem Herzen. Sie haben für ihn gearbeitet. Sie waren ihm wichtig. Ich bin niemand.

»Meiner Schwiegermutter, Pearl O’Day, vermache ich eine jährliche Pension von hunderttausend Dollar, zudem einen Fonds für medizinische Ausgaben wie im Anhang festgelegt. Sämtlicher Schmuck, der meiner verstorbenen Ehefrau, Alice O’Day-Hawthorne, gehörte, soll nach meinem Tod in den Besitz ihrer Mutter übergehen, damit er nach ihrem Gutdünken verteilt wird.«

Nan brummte vernehmlich. »Kommt ja nicht auf dumme Gedanken«, wies sie den Raum im Allgemeinen an. »Ich werde euch alle überleben.«

Mr Ortega schmunzelte, doch dann erstarb sein Lächeln. »Meinen …« Er hielt inne und setzte noch mal an. »Meinen Töchtern, Zara Hawthorne-Calligaris und Skye Hawthorne, hinterlasse ich die finanziellen Mittel, die nötig sind, um die Summe sämtlicher Schulden zu begleichen, auf die sie sich zum Zeitpunkt meines Todes beliefen.« Mr Ortega hielt noch einmal inne, seine Lippen pressten sich aufeinander. Die anderen beiden Anwälte starrten unverwandt geradeaus und vermieden es, irgendein Mitglied der Familie Hawthorne direkt anzuschauen. »Darüber hinaus vermache ich Skye meinen Kompass – auf dass sie immer den wahren Norden finde; und Zara vermache ich meinen Hochzeitsring – auf dass sie immer so ganz und gar und unerschütterlich liebe, wie ich ihre Mutter liebte.«

Eine weitere Pause, noch peinlicher als die letzte.

»Machen Sie weiter.« Das kam von Zaras Ehemann.

»Neben dem bisher Aufgeführten«, las Mr Ortega langsam, »vermache ich jeder meiner Töchter eine einmalige Erbzahlung von fünfzigtausend Dollar.«

Fünfzigtausend Dollar? Ich hatte die Worte kaum gedacht, da stieß Zaras Mann sie erzürnt aus. Tobias Hawthorne hat seinen Töchtern weniger hinterlassen als seinem Leibwächter.

Plötzlich bekam Skyes Anspielung auf Grayson als Erbe in spe eine ganz neue Bedeutung.

»Das haben wir dir zuzuschreiben.« Zara drehte sich zu Skye um. Sie erhob ihre Stimme nicht, dennoch klang es vernichtend.

»Mir?«, erwiderte Skye empört.

»Daddy war nicht mehr derselbe, nachdem Toby starb«, fuhr Zara fort.

»Verschwand«, berichtigte Skye sie.

»Gott, hör dir doch nur mal zu!« Zara verlor die Beherrschung über ihren Ton. »Du hast ihn auf diese Gedanken gebracht, nicht wahr, Skye? Hast mit den Wimpern geklimpert und ihn überzeugt, uns zu übergehen und alles deinen …«

»Söhnen.«