°C – Celsius - Marc Elsberg - E-Book

°C – Celsius E-Book

Marc Elsberg

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Beschreibung

Wenn Sie das Klima beeinflussen könnten, wen würden Sie vor der Erderwärmung retten? Ihre Heimat? Grönland? Afrika?
Das neue faszinierende Zukunftsszenario von SPIEGEL-Bestsellerautor Marc Elsberg.


Als mehrere schwarze Flugobjekte über dem chinesischen Luftraum auftauchen, hält die Welt den Atem an. Hat die chinesische Regierung ihre Drohungen wahr gemacht? Werden sie Taiwan angreifen? Das Weiße Haus ist in Aufruhr, und der amerikanische Präsident kurz davor, die Flotte zu alarmieren. Erst in letzter Sekunde kann eine Klimawissenschaftlerin einen Angriff abwenden. Denn sie erkennt sofort, dass da keine Kampfdrohnen am Himmel aufsteigen. China will kein Land angreifen, es will die Macht über das Weltklima an sich reißen. Noch ahnt niemand, dass dies erst der Beginn einer noch viel dramatischeren Entwicklung ist ...

Lesen Sie mehr von Marc Elsberg wie zum Beispiel die thematisch sehr aktuellen Thriller "Blackout", "Gier" oder "Der Fall des Präsidenten". Weitere Informationen finden Sie auf der Homepage von Marc Elsberg.

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Buch

Als schwarze Flugobjekte über dem chinesischen Luftraum auftauchen, hält die Welt den Atem an. Greift China Taiwan an? Das Weiße Haus ist in Aufruhr, und der amerikanische Präsident kurz davor, die Flotte zu alarmieren. Erst in letzter Sekunde kann eine Klimawissenschaftlerin einen Angriff abwenden. Denn sie erkennt sofort, dass da keine Kampfdrohnen am Himmel aufsteigen. China will kein Land angreifen, es will die Macht über das Weltklima an sich reißen. Noch ahnt niemand, dass dies erst der Beginn einer noch viel dramatischeren Entwicklung ist …

Autor

MARCELSBERG wurde 1967 in Wien geboren. Er war Strategieberater und Kreativdirektor für Werbung in Wien und Hamburg sowie Kolumnist der österreichischen Tageszeitung »Der Standard«. Heute lebt und arbeitet er in Wien. Mit seinem internationalen Erfolgsroman BLACKOUT etablierte er sich als Meister des Science-Thrillers. Seitdem ist jedes seiner Bücher ein Bestseller und er ein gefragter Gesprächspartner für Politik und Wirtschaft.

Weitere Informationen unter: www.marcelsberg.com

Von Marc Elsberg bereits erschienenBlackout (auch als Premiumausgabe) · Zero · Helix · Gier · Der Fall des Präsidenten

Besuchen Sie uns auch auf www.instagram.com/blanvalet.verlagund www.facebook.com/blanvalet.

Marc Elsberg

Thriller

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © 2023 by Marc Elsberg. Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Michael Gaeb.

Copyright dieser Ausgabe © 2023 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkterstr. 28, 81673 München.

Redaktion: Angela Kuepper

Covergestaltung: www.buerosued.de

Covermotiv: plainpicture / Nordic Life / Terje Rakke

NG · Herstellung: sam

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-21518-7V007

www.blanvalet.de

Für Ursula

Personenverzeichnis in der Reihenfolge des Erscheinens

Amber Fields – Sprecherin des Weißen Hauses

Kendra Sully – US-Außenministerin

CIA-Direktor

Minister für Homeland Security

Pat Welzer – US-Journalist, Korrespondent in China

Emanuel »Manu« Sanusi – Unternehmer, Milliardär

Gilbert »Gil« Howard – US-Präsident

Ebele Solaya – Managerin

Sienna Banks – britische Klimaaktivistin, wohnhaft in Berlin

Martin – Klimaaktivist

Khalil – Klimaaktivist

Tony Vermaak – Animateur, Sportlehrer, ehemaliger Schauspieler

Benjamin »Ben« Rabelt – Unternehmer, Ehemann von Fayola Oyetunde-Rabelt

Fayola »Fay« Oyetunde-Rabelt, UNO-Klimawissenschaftlerin, Ehefrau von Benjamin Rabelt

Nicolas, 14 – ihr Sohn

Joy, 11 – ihre Tochter

Ife – Cutterin

Lang Chok – chinesischer Außenminister

Mene Odoh – Künstleragentin in Lagos, Nigeria

Thomas Dedak – deutscher Bundeskanzler

Thorben Rausch – Venture Capitalist/Finanzier

Dila Tüzem – Fays Vorgesetzte bei der UNO

Alfred Townsend – US-Diplomat in Kenia

Muhamadar Ndenge – Vertreter Nigerias bei der UNO

Wasilij Kordchiev – Vertreter Russlands bei der UNO

James Nwadike – Produktionsassistent

Ogba Bulus – Regisseur

Igwe – ein Bewohner von Lagos

UFOs

1

»Die rasen direkt auf uns zu!«

So hatte Chen nicht erwartet zu sterben.

Durch das Fenster des Airbus der Singapore Airlines auf dem Weg nach Taipeh sah er die monströsen Maschinen seitlich auf sie zurasen. Unter ihnen der Globus. Rosige Wölkchen flockten in der Morgendämmerung über dem Südchinesischen Meer. In diesiger Ferne ging es über in das graugrüne Festland.

Vor kaum einer Minute hatte Chen die Stimmung mit der Kamera einfangen wollen. Da hatte er sie entdeckt, die kleinen dunklen Punkte, die schnell größer wurden. Schwarz. Bizarr geformt. Bedrohlich. Jetzt filmte er. Auch andere Passagiere hatten sie gesehen. In den Reihen vor und hinter sich hörte Chen ihre aufgeregten Stimmen. Immer mehr Menschen drängten zu den Fenstern. Wollten einen Blick auf die Ungetüme erhaschen. Ein massiver schwarzer Rumpf. Kein sichtbares Cockpit. Sechs ewig lange Flügel, die wie Stachel in verschiedenen Winkeln vom Rumpf abstanden. Die Spannweite musste deutlich über jener eines A380 liegen! Chen zoomte sie heran. Erkannte seltsame Ausstülpungen sowohl an den vielen Flügeln als auch am Rumpf. Waren das Düsen? Bomben? Chens Magen krampfte sich zusammen. Ein Anblick wie aus Science-Fiction-Filmen. Doch das hier war echt. Von Westen her kamen noch mehr immer größer werdende Punkte heran und hielten unbeirrt auf sie zu. Die Passagiere wurden lauter, Angst brach sich Bahn.

»UFOs!«

»Eine Alien-Attacke!«

So mussten sich die Menschen in den hoch gelegenen Büros des World Trade Centers am 11. September 2001 Sekunden vor dem Einschlag des ersten Flugzeugs gefühlt haben, dachte Chen. Ungläubig. Fassungslos. Hoffend. Panisch. Schließlich Leere im Kopf. Einzelne Schreie, die sich kurz vor dem Einschlag zu kollektivem Entsetzen vereinten. Der Moment, in dem sich die Zeit unendlich dehnte, während sie zu begreifen versuchten, was eigentlich geschah. Bis sie stillstand und einen Herzschlag lang Klarheit einkehrte, in dem der Geist auf wundersame Weise alles verstand und doch nichts mehr tun konnte, als das Unausweichliche zu erwarten. Genau so ging es ihm jetzt. Zusammen mit der Klarheit machte sich Kälte in ihm breit. Wenigstens würden sie die Folgen der außerirdischen Invasion nicht mehr erleben müssen. Chen spürte Kims Hand um seine. Gekrallt. Konnte den Blick aber nicht abwenden. Hielt wie gelähmt die Kamera auf die heranrasenden Ungeheuer gerichtet. Wartete auf die Kollision.

2

Das unheimliche Flugobjekt verdunkelte den Bildschirm in Amber Fields’ Büro im Weißen Haus. Für einen Moment war die Welt verschwunden. Im Hintergrund des Videos hörte sie einen Chor nackter Angst.

Ein weißer Blitz leuchtete auf.

Sekundenbruchteile später hatte die nervöse Kamera die Belichtung wieder auf den blauen Himmel eingestellt.

Das UFO war denkbar knapp über die Passagiermaschine hinweggerast.

Schon flog das nächste Monster auf sie zu. In verwackelten Bildern sah Amber, wie die zweite Maschine binnen eines Wimpernschlags den Monitor ausfüllte. Dann verschwand sie nach unten aus dem Bild.

Hartnäckig, wenn auch weiter mit zitterndem Griff, schwenkte der filmende Passagier auf Maschine drei und vier. Mit etwas mehr Abstand als die ersten beiden Flugobjekte kreuzte Nummer drei die Bahn des Linienflugs von Singapur nach Taipeh. Als die vierte Maschine den Bildschirm fast komplett ausfüllte, stoppte der CIA-Chef das Video und zeigte das monströse Ding in einem unscharfen Standbild, was es noch bedrohlicher wirken ließ.

»Das war knapp«, bemerkte US-Außenministerin Kendra Sully. Sie war die Zweite auf dem Splitscreen von Ambers Laptop.

»Flug 372 der Singapore Airlines hatte wegen einer Gewitterfront kurz zuvor eine Kurskorrektur vorgenommen«, erklärte der CIA-Chef, der Dritte auf Ambers Bildschirm. In Washington, D.C., war es Abend, und selbstverständlich saß Amber noch in ihrem Büro. »Wahrscheinlich kamen ihm die Dinger deshalb so nahe. Das erlaubte den Passagieren, Videos zu machen und sie wenige Minuten später per Bord-Wi-Fi online zu stellen. Das Ganze geschah vor drei Minuten. Dadurch wissen wir, wie sie aussehen. Und womit wir es zu tun haben könnten.«

»UFOs …«, setzte die Außenministerin an, doch der CIA-Chef unterbrach sie umgehend.

»… sind es nach bisherigem Stand nicht. Das wäre die gute Nachricht.«

»Die gute?«, warf Amber ungläubig ein. »Gruselig aussehende Riesenflieger sind unterwegs vom chinesischen Festland Richtung Taiwan. Viel schlechter geht kaum.«

»Exakt«, sagte der Minister für Homeland Security. Die Stirn in tiefe Falten gelegt, sah er ihnen von einem der großen Monitore in Ambers Büro zu. In einem weiteren Fenster spielte der CIA-Direktor jetzt Satellitenbilder ein.

Währenddessen scrollte Amber auf ihrem Telefon. Die Videos und Bilder der Passagiere schwirrten bereits durchs Internet. Noch hatten nicht viele Menschen sie gesehen. Das würde sich in Kürze ändern, denn sie unterlagen keiner Geheimhaltung aus Gründen der nationalen Sicherheit. Sie überlegte fieberhaft. Vielleicht wusste einer ihrer Kontakte bereits mehr darüber.

Sie machte rasch ein paar Screenshots und versandte die Nachricht.

3

Pat Welzer schreckte aus dem Schlaf hoch und schnappte nach Luft. Eine Nachtleuchte verteilte grünlichen Schimmer im Raum. Pats Lunge fühlte sich wie ein faustgroßer Schwamm an: zu klein, um genug Luft aufzunehmen. Panisch beschleunigte sich sein Atem. Mit jedem Zug schien seine Lunge zu schrumpfen, noch weniger Luft zu inhalieren. Kam da drin überhaupt etwas an?

Hinter seinen Augen hämmerte roter Schmerz. Hektisch kämpfte er einen Arm frei. Bekam die Handsauerstoffflasche neben dem Bett zu fassen. Ohne zu denken, drückte er den Mund-Nasen-Aufsatz in sein Gesicht. Presste den Knopf daneben. Mit einem leisen Zischen verteilte sich der Sauerstoff unter dem Plastikteil auf seiner Haut. Gierig sog Pat die Luft ein. Behielt den lebenspendenden Atem einen Moment lang in der Lunge, bevor er ihn wieder ausstieß. Ahhhh!

Und noch einmal.

Der rote Hammer in seinem Kopf milderte seine Hiebe. Mit der freien Hand fuhr er über die tiefe Narbe oberhalb seiner rechten Braue, wo sich kalte Schweißperlen sammelten. Er wischte sie weg.

Sein Blick wanderte durch den düsteren Raum. Hotelzimmer war das keines, auch wenn ihr chinesischer Führer es als solches angepriesen hatte. Acht Quadratmeter. Ein einfaches, offenes Regal, auf dem Pat seine Tasche und den Rucksack abgelegt hatte, den die Chinesen ihm zur Verfügung gestellt hatten – so wie das meiste Equipment, das man im Basislager des Mount Everest benötigte. Mehrere Garnituren warmer Unterwäsche und Zwischenschichten. Hightech-Hose, -Anorak und -Handschuhe. Mützen. Zwei Gletscherbrillen. Sonnencreme. Und mehr.

Früher war er als Journalist glamouröser gereist. Die Zeiten waren vorbei; ein Umstand, den er vor allem sich selbst zuzuschreiben hatte. Doch er würde sich zurück nach oben kämpfen. Fragte sich nur, wie.

Die offizielle Einladung der Chinesen war kurzfristig erfolgt, vor vier Tagen. Vorgestern Morgen hatte er am Flughafen in Peking zwanzig weitere Kolleginnen und Kollegen getroffen. Die meisten kannte er. Gemeinsam waren sie nach Lhasa geflogen, begleitet von einem ebenso großen Trupp chinesischer Betreuer. Bewacher wohl eher. Wofür auch immer.

Vielleicht wollten ihnen die Chinesen ja ihre schmelzenden Gletscher zeigen. Oder sie hatten besondere Rohstoffvorkommen freigelegt, und das sollte der Welt nun gebührend präsentiert werden.

Pat hatte so etwas schon ein paarmal gemacht. Die verborgenen Schätze im Hindukusch. Die Narben der Anden – Lithiumabbau. Und jetzt das hier. Es war riskant, mit der Höhenkrankheit war nicht zu spaßen. Bei seinen früheren Einsätzen hatte es Pat kaum erwischt. Aber da hatte das Adrenalin ihn im Griff gehabt. Der Erfolg. Und er war jünger gewesen.

Seine Hand an der Maske kühlte aus. In dem Zimmer herrschten höchstens zwölf Grad. Er schob den Ärmel der dicken Jacke, die er trug, zurück. Es war bereits halb acht Uhr morgens!

Von Lhasa hatten zwanzig Geländewagen ihre Truppe in einer Tagesfahrt zu den letzten Quartieren vor dem Basislager des Mount Everest auf chinesischer Seite gebracht. Nicht weit von seiner Schlafstätte entfernt akklimatisierten sich Hunderte Bergtouristen, Führer und ihr Personal, die es am Ende der Maisaison noch auf den Gipfel schaffen wollten. Hoffentlich waren sie besser in Form als er.

Vorsichtig nahm Pat die Maske ab und versuchte, ohne Sauerstoff zu atmen. Gleich fühlte sich die Luft wieder dicker an. Und dünner. Sein Hals verengte sich. Was durchkam, schien kaum Sauerstoff zu enthalten. Panik lauerte in einem Winkel seines Kopfes. Doch er konnte nicht den ganzen Tag an der Flasche hängen. Wie sah das denn aus! Er zwang sich, kontrolliert zu atmen.

Ging doch.

An seiner Hüfte vibrierte etwas. Sein Telefon.

Er nestelte es hervor. In der Kälte, der Dunkelheit, der Höhe. Alles war schwierig hier. Aber immerhin: Empfang. Zumindest das, was die Chinesen durchließen.

Auf dem Bildschirm stapelten sich neue Nachrichten. Die oberste in Großbuchstaben: MELDEDICH!

Sie stammte von Amber. Amber Fields. Pressesprecherin des Weißen Hauses.

Pat kannte sie aus einer anderen Zeit. Amber und er, das hätte etwas werden können. Wenn er den Reizen anderer Frauen ein wenig entschiedener hätte widerstehen können.

VERDAMMT, PAT! MELDEDICHENDLICH …

Er tippte die Nachricht an, als es an seiner Tür klopfte.

»Aufwachen!«, ertönte es von draußen. »Frühstück haben Sie schon verpasst! In fünfzehn Minuten geht es los!«

Pat erkannte die Stimme eines ihrer Betreuerbewacher.

»Komme!«, rief er abwesend. Seine ganze Aufmerksamkeit galt jetzt Ambers Nachrichten.

Die kommen aus China und fliegen Richtung Taiwan. Was ist das?

Von seinem Telefon starrten ihm Bilder von Kampffliegern wie aus Star Wars entgegen. Der Hals wurde ihm eng. Doch diesmal nicht wegen des Sauerstoffmangels.

4

Die Fotos auf dem Display von Emanuel Sanusis Mobiltelefon zeigten einen Flughafen: drei Rollfelder, Hangars, andere Gebäude. Auf einer der Startbahnen waren zwei seltsame dunkle Konstruktionen zu erkennen. Ein langer, plumper Rumpf, sechs überlange Flügel, je zwei nahe der Schnauze, in der Mitte und am Heck. Darunter prangten Zylinder. Tanks? Oder Waffen.

Er wischte zurück zu den Videos aus der Passagiermaschine.

Dieselben Dinger.

Niemand von den erlesenen Gästen um ihn herum hatte mitbekommen, was soeben auf der Welt geschah. Die Frauen in ihren Zwanzigtausend-Dollar-Abendkleidern und die Männer im italienischen Smoking standen mit ihren Champagnergläsern und Cocktailschalen im Festsaal des Washingtoner Hotels und warteten darauf, dass der Präsident der Vereinigten Staaten sich zu ihnen durcharbeitete.

Der günstigste Beitrag für das Fundraising-Event im exklusiven Johnson-Hotel betrug fünftausend Dollar, für alle, die am Cocktail-Empfang teilnehmen wollten. Ein kurzes Händeschütteln, ein Standardlächeln, ein paar hohle Phrasen und ein schnelles Foto inklusive, bevor der Präsident zum nächsten Paar, zur nächsten Gruppe weitereilte. Wer am anschließenden Abendessen mit ihm im Washington-Saal des Hotels teilnehmen wollte, musste vierzigtausend Dollar hinblättern. Immer noch ein moderater Preis, solange man keinen Wert auf tiefsinnige Gespräche legte.

Gerade versuchte der Präsident seinen Charme bei einem Immobilienentwickler aus Miami und seiner Frau sowie einem Venture-Capital-Investor und dessen Ehemann. Oder was immer dieser Mann für Charme hielt. Am Präsidenten saß selbst der Viertausenddollaranzug, als käme er von der Stange. Trotz reichlich Stretchanteil. Und auch die Fünfhundertdollar-Collegefrisur machte ihn nicht zu einem Teil jener Gesellschaft, zu der er gern von Geburt an gehört hätte.

Manu setzte sich in Bewegung. Als Organisator des Events konnte er es sich erlauben, den Präsidenten für ein paar Minuten zu unterbrechen. Auf seinem Weg grüßte er selbst ein paarmal, nickte und lächelte, winkte nach links und rechts.

Als der Präsident ihn erblickte, breitete er professionell erfreut die Arme aus.

»Manu!«

»Mister President«, erwiderte Manu, obwohl ihn der mächtigste Mann der Welt seit Jahren dazu aufforderte, ihn bei seinem Vornamen Gilbert – kurz Gil – zu nennen. Was Manu unter vier Augen oder in kleineren, vertrauten Runden tat. Aber hier erst ab einem späteren Zeitpunkt, sobald es angemessen war, persönlicher zu werden.

Bevor Gil sich an das nächste Paar wandte, nahm Manu ihn beiseite. Hielt sein Mobiltelefon auf Bauchhöhe, möglichst unauffällig.

»Tut mir leid«, sagte er dabei so leise, dass kein anderer sie verstehen konnte. »Auch für die Gäste. Ich fürchte, in ein paar Minuten bist du hier weg.«

Gils Augenbrauen hoben sich.

Manu spielte das Video ab.

Währenddessen blieb ihm nicht verborgen, dass einige der Gäste um sie herum die Situation verfolgten. Auch wenn sie sich keinen Reim darauf machen konnten, worum genau es gerade ging. Doch ein Präsident war schließlich immer im Amt.

Aber was konnte so wichtig sein, dass es ihm ein Tech-Unternehmer, Hedgefondsmilliardär, Wagniskapital-Investor und einer der wenigen Schwarzen im Raum in diesem Moment auf seinem Mobiltelefon zeigen musste?

»Was ist das?«, fragte Gil mit Blick auf das Display.

»Videos von Passagieren eines Singapore-Airlines-Fluges über dem Südchinesischen Meer«, antwortete Manu leise. »Vor gerade einmal sechs Minuten.«

Der Präsident blickte ihn aus zusammengekniffen Augen an.

»UFOs?«

»Noch«, erwidert Manu.

Gil überspielte seine Irritation und lächelte die nächststehenden Gäste an. Auch Manu verfiel wieder in seine Rolle als Gastgeber. Er stellte den Präsidenten den nächsten Spendern vor.

5

Die UFOs schossen durch die Finsternis. Für die Videos und Grafiken in Ebele Solayas Virtual-Reality-Brille bildete der abgedunkelte Raum den idealen Hintergrund.

Ebele stand zwischen den organischen Sitzmöbeln, die neben kleinen Tischchen die einzige Einrichtung bildeten. Sie packte die ersten Satellitenbilder der Maschinen mit in die geschlossene Kommunikationsgruppe. Dazu einen Livestream über die Flugrouten der beiden Schwärme.

»Nachricht hinzufügen«, diktierte sie der Software. In dem virtuellen Raum vor ihr erschien sie selbst, wie sie sprach und wie die anderen sie sehen würden.

»Die entscheidende Phase hat begonnen«, sagte sie. »Die Maschinen sind unterwegs.«

Nur zwölf Personen würden diese Informationen erhalten und Ebeles Nachricht sehen. Die entscheidenden zwölf. Ebele musste sie rasch informieren. Damit die anderen das Gefühl hatten, bei ihr und dem Mastermind gut aufgehoben zu sein. Weil sie informierten, noch bevor die eigenen Geheimdienste und privaten Sicherheitsdienste der anderen es taten. Bei denen konnte es sich nur mehr um Minuten handeln, bis sie sich die Sache wenigstens genauer ansahen. Die UFOs begannen bereits, auf ersten sozialen Medien als Insider-Tipp zu trenden. In einer Viertelstunde würde das Internet kaum mehr ein anderes Thema kennen. Außer natürlich die Scheidung dieses Reality-Soap-Stars von ihrem Basketballer. Aber auch die würden die Menschen schnell ablösen mit ihren Spekulationen, Vermutungen und Verschwörungstheorien. Und ihren Ängsten.

»Die Vorbereitungen zur Reaktion der Allianz darauf laufen nach Plan. Ab sofort wird die Geschichte der Welt neu geschrieben.«

6

Diesen Himmel über dem Himalaya mussten die Berggötter persönlich gespannt haben.

Pat fühlte sich wie Ötzi, der Mann aus dem Südtiroler Eis. Bevor der Gletscher ihn freigegeben hatte. Obwohl er die komplette Einheitsausrüstung seiner chinesischen Gastgeber trug. Schick sah anders aus. Gegen den eisigen Wind zog er die Kapuze noch tiefer in die Stirn, den Kragen noch höher ins Gesicht.

Vor der bescheidenen Quartieranlage bestaunten schon andere das Panorama. Sie hatten unglaubliches Glück. Selbst während der Saison im Mai und Oktober gaben die Wolken nur an wenigen Tagen einen solchen Blick frei: Am Ende des schattigen Tals leuchtete der Mount Everest in der Morgensonne.

Einen Atemzug lang vergaß Pat seine Kopfschmerzen, die Kurzatmigkeit, den Frust. Während seiner langjährigen Karriere als Auslandskorrespondent hatte er zahlreiche beeindruckende Orte gesehen und Momente erlebt: den Taj Mahal in der nebeligen Morgensonne, ein Tauchgang mit einem Schwarm Pottwalen, Geburten in den unwirtlichsten Gegenden, von der Wüste Gobi bis nach Syrien. Das und noch mehr. Der Anblick des höchsten Berges der Welt würde sich zu diesem Archiv in seinem Gedächtnis, seinem Herzen brennen, das wusste er sofort. So saugte er ihn erst einmal schweigend in sich auf, im Ohr nur das Rauschen des Windes und das Knattern der Gebetsfahnen.

Nach und nach traten immer mehr Kolleginnen und Kollegen vor die Türen und ließen sich von dem Anblick fesseln. Filmten und fotografierten das spektakuläre Panorama.

Benahmen sich wie Touristen, nicht wie Journalisten. Aber was sollten sie auch tun? Saßen hier fest, während die Action woanders ausbrach. Er nestelte sein Telefon hervor, hatte Ambers Bilder direkt auf dem Schirm. Früher wäre er in Washington zum Weißen Haus gerast. In die Menge von Touristen und vielleicht ersten Demonstrierenden und Verschwörungstheoretikern eingetaucht. Hätte atemlose Interviews und Berichte in die Welt gesendet, am Puls des Geschehens, zur Prime Time. Stattdessen stand er hier, abgeschoben in den Himalaya.

Schnaufend wandte er sich an einen ihrer Bewacher und präsentierte ihm sein Telefon mit Ambers Bildern.

»Was ist das?« Der Mann blieb versteinert, er blinzelte nicht mal. Eine Sphinx auf dem Dach der Welt. War zu erwarten gewesen.

Hinter ihnen klatschte ein Betreuer in die behandschuhten Hände. »Meine Damen und Herren, wir müssen los!«, rief er und wies schräg hinter sie.

Pat sah in einiger Entfernung fünf Hubschrauber zwischen den Felsen warten. Sightseeing am Mount Everest? Na, hoffentlich funktionierten die Geräte in dieser Höhe auch wirklich!

7

Der Mond schimmerte durch die dünnen Wolken und warf düstere Schatten auf das ehemalige Industriegebiet im Süden Berlins. In den lang gestreckten Ziegelbauten waren um diese nächtliche Stunde alle Fenster dunkel. Eines der eisernen Tore war zur Seite geschoben und öffnete sich zu einem finsteren Schlund. Davor parkte ein Lastkraftwagen.

Aus dem Schatten löste sich eine wuchtige Silhouette und schob sich auf das Fahrzeug zu. Weitere Schemen tauchten auf, postierten sich neben der Hebebühne des Lkw.

Routiniert setzte der Mann am Steuer des Gabelstaplers die acht Särge auf der Hebebühne ab. Während der Mann daneben die Hebebühne auf Ladeflächenniveau brachte, wendete der Gabelstaplerfahrer und verschwand wieder in dem schwarzen Schlund.

Auf der Ladefläche schoben Sienna und ihre vier Kumpanen die Särge einen nach dem anderen in den Laderaum.

Sie waren gerade fertig, als der Gabelstapler mit der nächsten Fuhre heranrollte. Sienna wischte sich mit dem Unterarm den Schweiß von der Stirn.

»Puh«, stöhnte Khalil. Es war Mai, und das Thermometer war in dieser Nacht bereits auf zweiundzwanzig Grad geklettert. Die erste Hitzewelle des Jahres. Darauf hatten sie gewartet.

Durch die Dunkelheit surrte der nächste Gabelstapler heran und stellte acht weitere Särge auf der Ladeplatte ab.

8

Manu war mit dem Präsidenten fast am Ende des Saals angelangt. Da entdeckte er am Eingang einen Assistenten, der dezent, aber doch entschieden in ihre Richtung eilte.

Gil wandte sich leise an Manu.

»Vor sechs Minuten oder so sind diese Videos also im Netz aufgetaucht?«, fragte er in seinem lang gezogenen Südstaaten-Dialekt. »Und du kennst sie schon?«

»Mehrere Programme haben die Videos sofort entdeckt.«

»Programme deiner Unternehmen.« Gil klang leicht säuerlich.

»Natürlich.«

»Was sind das für Dinger?«, wollte er wissen.

»Ich habe einen begründeten Verdacht«, erwiderte Manu. »Muss aber noch jemanden anrufen.«

Der Assistent hatte sie erreicht. Er flüsterte dem Präsidenten etwas ins Ohr. Gil lauschte unbewegt, dann sah er auf zu Manu. Warf einen schnellen Blick durch den Raum. Auf die sehr bald sehr enttäuschten Sponsoren, die er nun stehen lassen musste.

»Du hattest recht«, sagte er. »Wir müssen los.«

Natürlich hatte Manu recht.

»Wir?«

»Du kommst mit«, sagte der Präsident.

9

Aus der Luft wirkte das Panorama auf Pat noch überwältigender. Mit drei Kollegen kauerte er in der Passagierkapsel des Hubschraubers, der das Basislager hinter sich gelassen hatte und sie in Richtung Mount Everest flog. Unter ihnen wand sich der gefrorene Strom des Rongbukgletschers. Die riesigen Eisspitzen, die auf seiner Oberfläche aufragten, ließen ihn aussehen wie den eingefrorenen Rücken eines gigantischen Drachen.

Völlig gebannt von dem Anblick, hätte Pat Amber fast vergessen. Rasch tippte er eine Nachricht: Keine chinesischen Infos zu UFOs. Wisst ihr inzwischen mehr?

Der Helikopter setzte zur Landung auf Felsen weit oberhalb des Gletschers an. Der aufwirbelnde Staub zerstob jegliche Faszination und holte Pat in die kalte Gegenwart zurück.

Er hatte keine Ahnung, ob das Netz hier die Nachricht hinausließ, doch er hoffte auf eine Antwort. So majestätisch das Panorama auch war: Das hier war karrieretechnisch das Abstellgleis, das konnte selbst der glitzernde Schnee nicht schönfärben.

Kaum hatte der Hubschrauber den Boden berührt, liefen vermummte Gestalten auf sie zu und öffneten die Türen. Sie winkten Pat und den anderen, auszusteigen. Eine Minute später hob der passagierlose Hubschrauber in einer Staubwolke wieder ab. Aus einer anderen Richtung landete der nächste und spuckte weitere Journalisten aus. Zehn Minuten später hatten die Helis sämtliche Reporter abgeliefert. Das Knattern der Rotoren verschwand in der Ferne.

Da standen sie, auf einem kleinen Plateau aus Felsen und Geröll. Die wenigen freien Hautstellen in Pats Gesicht brannten, als hätte jemand Eiswürfel draufgelegt.

Weit vor ihnen hatte sich der Mount Everest eine kleine Wolkenhaube auf den Gipfel gesetzt. Links von ihnen erhob sich der steinige graue Berghang. Rechts fiel der Hang auf den Rongbukgletscher ab, der sich nun etwa hundert Meter unter ihnen erstreckte. Obwohl Pat sich nicht bewegte, atmete er schwer. Er fühlte sich alt.

»Willkommen, noch einmal!«, sagte eine weibliche Stimme auf Englisch klar und deutlich direkt in seinem Ohr. Irritiert griff Pat mit den Fäustlingen an seine Anorakkapuze. Anderen um ihn herum ging es ähnlich. »Bravo, Sie haben es geschafft!«

Was geschafft? Pat mochte sich nicht ausmalen, dass er hier hätte hochlaufen müssen.

»Ab jetzt geht es nur mehr bergab.« So laut konnte doch keiner ihrer Führer sprechen, dass Pat es durch die dicke Kapuze und seine Mütze so scharf verstand! »Ich bin Yin und werde Sie die kommenden Minuten führen. Sie tragen übrigens eine Spezialgletscherbrille mit eingebautem Lautsprecher, weshalb Sie mich tadellos verstehen sollten. Hört mich irgendjemand nicht oder schlecht, dann heben Sie bitte die Hand!«

Selbst wenn, wäre es Pat zu anstrengend gewesen. Sein Körper fühlte sich dreimal so schwer an wie sonst. Diese Höhe war eine Plage. Alle Hände blieben unten.

»Vielen Dank, dass Sie unserer Einladung gefolgt sind!«

»Ein Glas Punsch wäre noch nett«, meinte Pat zu seiner Nachbarin, die so tat, als hörte sie ihn nicht.

»Über die gesamte Strecke werden Sie Netz zur Verfügung haben. Sie können die Brille mit Sprachbefehlen steuern. Wir bitten Sie ausdrücklich, mitzufilmen und zu übertragen, gern in Ihren Social-Media-Feeds.«

Und was würde so wichtig werden, dass sie es live senden sollten, ohne vorab zu wissen, worum es sich handelte? Chinesische Propaganda? Pat versuchte, seinen YouTube-Kanal per Sprachbefehl zu erreichen. Gelang tatsächlich. Vorerst aber beließ er es dabei und ging nicht live.

»Sobald die offizielle Pressekonferenz an dem dafür vorgesehen Ort …«

»Was für eine Pressekonferenz?«, fragte Pat, aber niemand hörte ihn.

»… beginnt, werden Sie eine bessere Verbindung vorfinden. Willkommen auf dem Rongbukgletscher am Fuß des Mount Everest.«

Vor Pat begann der Mount Everest zu wackeln, verdoppelte, vervielfachte sich, die Gipfel begannen zu wanken, sich zu bewegen, abzuheben! Pat wurde schwindelig – die Höhenkrankheit! Dann legte sich ein weißer Schleier über das Bild, wirkte wie eine Kamerafahrt über den Gipfel und den Gletscher, die immer höher führte. Er halluzinierte! Immer höher stieg die Perspektive, schien bereits den halben Himalaya zu zeigen! Fuhr Pats Seele schon auf in den Himmel? Dabei glaubte er doch gar nicht an solchen Quatsch! Und wenn, würde er mit Sicherheit in der Hölle landen!

Während am Rand seines Sichtfelds schneefreie Berge auftauchten, grüne Gebirge, Ebenen, erklärte Yins Stimme: »Wir befinden uns auf etwa fünftausendvierhundert Meter Höhe.«

Pat begriff. Seine Spezialgletscherbrille spielte ihm nicht nur Yins Stimme ein, sondern projizierte vor seinen Augen Augmented Reality! Seine vermeintlichen Todesvisionen waren Einblendungen auf den Scheiben der Brille.

In den Animationen war der Himalaya mittlerweile nur mehr einer von drei weißen Flecken auf dem Globus. Oben war die Arktis dazugekommen, unten die Antarktis. Hinter den transparenten Bildern erkannte Pat nun wieder den realen Mount Everest. Sein Schwindelgefühl legte sich.

Okay, mit dieser Achterbahnfahrt hatten sie definitiv sein Interesse geweckt.

10

Als Tony die Augen aufschlug, war es dunkel. Er wusste nicht, was ihn geweckt hatte oder wie spät es war. Leise hörte er die sanfte Brandung des Indischen Ozeans gegen den kaum zweihundert Meter entfernten Strand des kenianischen Resorts rollen. Er blieb ein paar Sekunden lang liegen, starrte in die Dunkelheit und lauschte den Geräuschen. Der Ruf der Nachtvögel, ein Rascheln im Unterholz nahe seiner Hütte. Das kaum hörbare Flattern des Deckenventilators. Neben sich den Atem der Frau. Cecile.

Er hatte sie am Abend an der Hotelbar kennengelernt. Offiziell sah das Management ungern zu engen Kontakt zwischen Mitarbeitern und Gästen. Aber solange es keine Beschwerden gab …

Sie waren in seiner bescheidenen Unterkunft statt ihrem Hotelzimmer gelandet. Tony schielte zu ihr hinüber. Sie schlief tief. Ihre Haut schimmerte unter einer zarten Schicht Feuchtigkeit.

Er spürte, dass er auf die Toilette musste. Leise stand er auf und schlich hinaus. Anschließend blieb er in dem kleinen Wohnraum. Er wusste, dass er jetzt eine Weile nicht einschlafen würde.

Nackt, wie er war, legte er sich aufs Sofa und griff nach seinem Telefon auf dem Rattantischchen. Wischte durch die Timelines der sozialen Medien.

Gleich die ersten Bilder ließen ihn stocken. Bizarre Flugmaschinen mit sechs Flügeln. Kurze Videos zeigten sie sogar im Flug. Dazu immer ähnliche Texte:

Ufos über China!

Angriff auf Taiwan? Starten Megadrohnen Geheimprogramm?

Hastig scrollte er weiter. Noch mehr davon. Er wechselte in den Browser zu einer Nachrichtenseite. Auch dort waren die Drohnen bereits das dominierende Thema.

Sein Magen zog sich zu einem Klumpen zusammen. So leise wie möglich erhob er sich, schlich in das winzige Nebenzimmer seiner Unterkunft. Öffnete den Kleiderschrank. Tastete in der hinteren Ecke. Fand die drei Kartons. Durchwühlte den ersten. Fand nicht, wonach er suchte. Als er beim dritten angekommen war, entdeckte er ganz unten, worauf er gehofft – oder besser, wovor er sich gefürchtet – hatte: sein altes Telefon. Durch den Bildschirm zogen sich Risse. Hoffentlich funktionierte es noch.

Er tippte es an. Keine Reaktion. In der Box lag noch das alte Ladekabel. Er steckte es in die Dose neben dem Schrank und das Telefon ans andere Ende. Wartete ein paar Minuten. Tippte erneut auf den Schirm. Endlich erschien das Ladesymbol, eine weitere Minute später der Startbildschirm.

Hastig suchte er den Fotoordner. Darin fanden sich bei dieser Programmversion auch noch die Videos. Ungeordnete Thumbnails. Tausende. Mit fliegenden Fingern wischte er, bis er den entsprechenden Zeitraum erreichte.

Da waren sie. Sieben Jahre alt. Er tippte das dritte an. Das Filmchen sah aus, als wäre es von einem anderen, größeren Bildschirm aufgenommen worden. Ein wenig verzogen und unscharf, farbschwach und am Rand eine dunkle Vignette. Trotzdem war das Motiv darauf eindeutig. Es waren UFOs, wie in den Nachrichten.

Fast dieselben.

Nur sieben Jahre älter.

11

Manu verfolgte die Konversation des Präsidenten mit seinem Team auf den Bildschirmen, die in die Rückseiten der Limousinensitze eingelassen waren.

Das Weiße Haus lag nur wenige Hundert Meter entfernt vom Hotel. Selbstverständlich wurde der Präsident trotzdem gefahren. Schon aus Sicherheitsgründen.

Auf zwei Telefonen gleichzeitig scannte er aus den Augenwinkeln den anschwellenden Wahnsinn in den sozialen Medien. Die UFOs begannen zu trenden. Schon verbreiteten sich die wildesten Spekulationen und Verschwörungstheorien.

Von einem der Rücksitz-Bildschirme erklärte die Außenministerin zu Standbildern aus den UFO-Videos und Satellitenbildern:

»Das sind dieselben Dinger. Also chinesische Flugzeuge?«

»Wir gehen von Drohnen aus«, erklärte der CIA-Direktor aus einem Fenster in einem anderen Bildschirm. »Wir können keine Cockpits erkennen. Chinesische Megadrohnen, unterwegs Richtung Südosten.«

Das Internet dagegen wollte darin partout UFOs sehen, las Manu auf seinen Telefonen. Nun war es so weit: Die Außerirdischen griffen an!

»Chinesische Riesendrohnen Richtung Südosten?«, fragte Amber Fields aus einem zweiten Fenster neben dem CIA-Chef. »Da liegt Taiwan.«

Stille, einen Atemzug lang.

»Was sagt unsere Intel?«, fragte Amber den CIA-Chef.

»Arbeitet daran«, musste dieser gestehen.

»Dann soll sie schneller machen!«, explodierte Gil.

»Unsere Flotte im Südchinesischen Meer wird gerade in Alarmbereitschaft versetzt«, erklärte die Außenministerin. »Jets starten in diesen Sekunden.«

12

Hernán Gonzalez kontrollierte ein letztes Mal die Instrumente der Super Hornet. Vor ihm lag die Startbahn der Theodore Roosevelt, Flugzeugträger der Nimitz-Klasse, die größte der US-Navy. Über dreihundertdreißig Meter lang, angetrieben von zwei Westinghouse-Nuklearreaktoren für unendliches Fahren, pflügte sie träge durch die glitzernde Weite des Südchinesischen Meeres. Die Morgensonne warf lange Schatten über das Deck. Neben Hernán bereiteten die grün gekleideten Soldaten das Katapult für den Start vor. Jene in den gelben Westen gaben die letzten Handzeichen. Im Augenwinkel nahm Hernán zwei der begleitenden Schiffe des Kampfverbands wahr. Hinter sich spürte er das Vibrieren der Triebwerke, bereits mit maximaler Startschubkraft, unbändige Kräfte, gerade noch von der Katapultfixierung zurückgehalten. Seit sieben Jahren Super Hornet-Pilot, ließ ein Start von einem Flugzeugträger weder Hernáns Puls noch seinen Adrenalinpegel steigen.

Einer der Gelbgekleideten hob den Daumen. In seinem Helm hörte Hernán die Startfreigabe.

Die Beschleunigung drückte ihn tief in den Sitz, als das Katapult und die entfesselten Triebwerke ihn über die Startbahn jagten. Knapp drei Sekunden später war er in der Luft.

Auf dem Deck, das hinter ihm schnell kleiner wurde, bereitete sich Terry auf den Start vor. In ein paar Sekunden würde Hernán ihn an seiner Seite haben. So wie sechs weitere Kameraden. Gemeinsam würden sie den chinesischen Monsterdrohnen schon zeigen, wer die Herren waren. Hernán beschleunigte weiter in den wolkenlosen Himmel hinauf.

13

Kopfschüttelnd nahm Benjamin Rabelt das ausgedruckte Exposé vom Esstisch, auf dem sich noch die leeren Dessertteller, Weingläser, Karaffen und Flaschen drängten.

»Ein Haus in Schweden«, sagte er und blätterte durch die Seiten. »Als Investition und Vorsorge für uns und die Kinder in Zeiten des Klimawandels.« Er schüttelte den Kopf. »Auf Ideen kommt der. Vater soll uns lieber das Geld geben.«

»Ist doch seine Angelegenheit«, meinte Fayola und begann, den Tisch abzuräumen.

»Aber irgendwann unsere«, sagte Ben und legte die Mappe zurück. Sammelte Gläser ein und stellte sie auf den mit den Resten des Abendessens vollgeräumten Küchentresen.

»Das wird hart morgen früh«, bemerkte er mit einem Blick auf die Uhr der Mikrowelle. Fast halb zwei Uhr morgens.

»Allerdings«, sagte Fay und schlichtete Teller in den Geschirrspüler. Bemühte sich, dabei nicht zu klappern, damit die Kinder nicht wach wurden.

Ben umarmte sie. Küsste sie auf den Nacken. »Machen wir das morgen und gönnen uns lieber noch ein paar nette Minuten.«

Fay wandte sich um, fuhr mit einer Hand durch sein dichtes blondes Haar.

Irgendwo brummte es kurz. Und wieder. Eines ihrer Telefone. Um diese Zeit? Fays Haut fand Ben gerade interessanter.

»Wer ist das?«, fragte sie.

»Ist doch egal«, flüsterte Ben.

»Um diese Zeit?«, erwiderte Fay. »Womöglich ist deinen Eltern auf dem Nachhauseweg etwas zugestoßen.«

Er ließ sie los. Ihr Blick suchte das brummende Telefon.

Ben erblickte es am Rand des Küchentresens, hinter einem Stapel schmutziger Dessertteller. Es war Fays Handy. Auf dem Display leuchtete das Foto eines gut aussehenden Schwarzen Anfang fünfzig auf. Ben verzog das Gesicht. Die netten Minuten konnte er vergessen.

Jetzt hatte auch Fay das Gerät entdeckt.

»Manu!«, bemerkte sie verwundert.

Ben überschlug vage die Zeit. An der Ostküste musste es Abend sein. Manu war schon mal für Überraschungen gut. Angesichts seiner und Fays gemeinsamer Geschichte würde er aber einen guten Grund für einen Anruf mitten in der Nacht haben.

Fay nahm den Anruf entgegen.

Auf dem Display erschien Manus Gesicht. Ein Videocall.

Fay begrüßte ihn auf Englisch. »Du weißt schon, wie spät es hier in Bonn ist?«, sagte sie dann.

Manu schien während des Gesprächs zu laufen. Im Hintergrund erkannte Ben die Wände eines Flurs. Sah aus wie das Innere eines noblen alten Hauses in den USA. Dunkelrote Tapeten, weißer Stuck, alte Bilder mit Reitern und Porträts an den Wänden. Schatten anderer Personen.

»Himmel, Fay! Glaubst du, ich würde dich um diese Zeit stören, wenn es nicht wirklich wichtig wäre?« Wie immer sprach Manu sehr schnell: Himmelfayglaubstduichwürdedichumdiesezeitstören.

»Ja«, erwiderte Fay trocken.

»Allerdings«, bekräftigte Ben und meinte einen Moment lang ein Grinsen auf Manus Gesicht zu erkennen.

»Hi, Ben!« Manus Stimme klang angespannt, als er weitersprach: »Es ist aber wirklich wichtig.«

»Wo bist du?«, fragte Fay.

»In Washington«, sagte Manu. »Ich brauche dich als Expertin, Fay. Jetzt. Sofort. Ich habe dir ein paar Bilder geschickt. Schau sie an.«

»Manu …«

»Bitte! Wir haben wenig Zeit. Eigentlich keine.«

Fay eilte an Ben vorbei ins Wohnzimmer. Auf dem Sideboard lag ihr Tabletcomputer. Sie öffnete das Mailprogramm. Neue Nachrichten. Von Manu.

Auf den vier kleinen Standbildchen erkannte sie nicht viel. Blaue Rechtecke, drei davon noch dazu chinesisch untertitelt. Nur unter dem vierten fand sich ein englischsprachiger Titel:

Unbekannte Flugobjekte attackieren Passagiermaschine über chinesischer Küste

»Was ist das?«, flüsterte Ben, der ihr gefolgt war.

Fay zuckte mit den Achseln, tippte das Eckchen an, und das Video startete. Durch einen blauen Himmel raste ein seltsames Flugobjekt mit mehreren Flügeln und diversen Anhängseln auf die filmende Person zu. Ab und zu erkannte Fay den ovalen Rahmen eines Flugzeugfensters. Im Hintergrund aufgeregte Schreie der Passagiere. Dann war das Ding auch schon über das Flugzeug hinweggeschossen. Dahinter tauchten weitere auf, wurden riesig und flogen unter der Maschine der Filmenden hinweg. Monströse Dinger, schwarz, ohne Cockpit oder Fenster, mit sechs Flügeln, wie aus einem Science-Fiction-Film.

»Was soll das?«, fragte Fay Manu.

»Steht doch dabei«, erwiderte Manu ungeduldig. »Der Passagier einer Verkehrsmaschine über dem Südchinesischen Meer hat das Video noch während des Fluges online gestellt. Müsste jetzt etwa eine Viertelstunde her sein.«

Fay musste sich konzentrieren, um alles mitzubekommen. Sie öffnete das nächste Bild. Ein Onlineartikel öffnete sich.

Breaking: Ungewöhnliche chinesische Flugobjekte unterwegs Richtung Süden. Angriff auf Taiwan?

Als Fay die Bilder sah, gefror sie.

»Ernsthaft?«, fragte sie. »Ist das echt?«

»Absolut«, sagte Manu.

»Fuck«, flüsterte Fay. Sie bemerkte, dass ihre Hand leicht zitterte, als sie die nächste Datei öffnete. Satellitenbilder.

»Ich habe dir auch die Satellitenbilder von Globe geschickt«, erklärte Manu. »Einer der größten privaten Satellitenbetreiber der Welt. Die haben Hunderte Satelliten im All, nicht größer als ein Koffer …«

Fay zoomte währenddessen in ein Bild, auf dem mehrere der Fluggeräte auf einem Rollfeld zu sehen waren. Aus einem Hangar daneben ragten die beflügelten Schnauzen von mindestens zwei weiteren Maschinen.

»Damit können sie inzwischen alle drei Stunden eine komplette Ansicht der gesamten Welt liefern«, ratterte Manu weiter. »Vieles davon stellen sie gratis zur Verfügung. Analysen verkaufen sie …«

»Himmel, Manu«, unterbrach sie ihn. »Ich kenne Globe. Wir verwenden ihre Bilder und Analysen.«

»Klar …«

Fay straffte sich. Seit jener Nacht vor vielen Jahren wusste sie, wie der Alarmmodus bei ihr funktionierte – so, wie auch jetzt. Ihre Gefühle tauchten ab, präzise Beobachtung, kühle Abwägungen und logische Schlussfolgerungen übernahmen.

»Ist es wirklich das, was ich glaube, das es ist?«

»Ich denke, ja«, sagte Manu. »Doch wir zwei sind vermutlich die Einzigen, die sich dessen bewusst sind. Als unabhängige Expertin der UNO musst du das ganz dringend jemandem hier erklären. Ich bin im Weißen Haus.«

»Im Weißen Haus«, ächzte Ben.

»Du machst wohl Witze«, sagte Fay. »Ich bin gerade mal Abteilungsleiterin in der Division Adaption des UNFCCC.«

Erst jetzt bemerkte Fay Nicolas. In Shorts und Schlaf-Shirt stand ihr Sohn in der Tür. Streckte sich und gähnte. Er hatte die schauspielerhafte Attraktivität seines Vaters geerbt, kombiniert mit einem helleren Ton von Fays Teint und ihrem Kraushaar.

»Sagt mal«, beschwerte sich der Vierzehnjährige. »Wisst ihr, wie spät es ist?«

»Das ist unser Text«, meinte Ben. »Für dich, üblicherweise.«

»Sagt mal«, rief Manu aus dem Telefon, »was ist da bei euch los? Fay, konzentrier dich! Ich brauche dich!«

»Das hier ist ernst«, flüsterte Fay Ben zu. »Sehr ernst. Kümmere dich bitte um Nicolas. Ich brauche Ruhe.«

Ben fasste seinen Sohn bei den Schultern und schob ihn in die Küche.

»Wenn du unbedingt um diese Zeit noch hier herumturnen willst, kannst du mir beim Aufräumen helfen«, sagte er und schloss die Tür von außen.

Fay war nun ganz bei Manu.

»Das sind keine Bomber«, sagte sie konzentriert. Ihr war sofort klar gewesen, worum es sich bei den Dingern handelte.

»Nein«, stimmte Manu ihr zu. »Aber die US-Verantwortlichen glauben es womöglich. Das kann zu einer Katastrophe führen. Deshalb brauche ich dich. Dringend!«

»Mich.«

»Du bist eine der renommiertesten Expertinnen auf deinem Gebiet. Und bei der UNO, also neutral. Ich werde dich gleich mit jemandem verbinden, dem du erklärst, was diese Flieger wirklich sind. Ich schicke dir einen Link und melde mich wieder.«

»Wem soll ich erklären …?«, fragte Fay, aber Manu war vom Display verschwunden.

14

In Pats Brille erschienen mit einem Mal geisterhafte Bilder uralter Maschinen auf den Felsen vor dem Mount Everest.

»Als im frühen neunzehnten Jahrhundert Dampfmaschinen erstmals breit industriell eingesetzt wurden«, sagte Yin, »reichte der Rongbuk noch Dutzende Kilometer weiter, und seine Kante befand sich an der Stelle, an der wir heute stehen.«

Pats Blick wanderte hinab zu dem Gletscher, doch dieser lag plötzlich direkt vor ihnen! Die Augmented Reality hatte vor seinen Augen den einstigen Zustand rekonstruiert. Nur schwach sah er dahinter in der Tiefe den eigentlichen Gletscher wie einen diffusen Meeresgrund.

Okay. Beeindruckend!

Auf dem künstlichen Gletscher erschien vor Pat nun auch noch ein Mann in der Mode des frühen neunzehnten Jahrhunderts – hoher Mantelkragen, halsverhüllender Hemdschalkragen, mit dunklen, in die Stirn gekämmten Locken.

Joseph Fourier, erklärte eine Einblendung darunter. Mathematiker, Physiker, Klimapionier. Neben dem Kopf war eine altertümliche Illustration der Erde und ihrer Atmosphäre eingeblendet.

»Guten Tag«, erklärte der Mann mit knarrender Stimme und französischem Akzent. »Ich bin Joseph Fourier. Ich entdeckte zu dieser Zeit, dass die Erdatmosphäre unseren Planeten wärmer hält, als wenn er direkt dem Weltall ausgesetzt wäre.«

Fourier und die illustrierte Welt verwandelten sich in Dampfmaschinen, frühe Eisenbahnen, Wälder aus qualmenden Fabrikschloten in Kohleförderungs- und Stahlgewinnungsgebieten des neunzehnten Jahrhunderts.

»Die Entwicklung der Motoren«, fuhr nun wieder Yins Stimme fort, »setzte sich im neunzehnten Jahrhundert –Sie erlauben das Wortspiel – explosionsartig fort. In der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts kamen die Verbrennungsmotoren dazu.«

Das klang alles interessant und war gut aufgezogen. Pat aktivierte per Sprachbefehl seinen YouTube-Kanal und begann live zu senden. Die Agentur würde automatisch informiert werden. Sein Telefon konnte er bei diesen Temperaturen unmöglich hervorholen. Er probierte, ob er über die Brille auch einen seiner Messenger-Dienste erreichte. Üblicherweise funktionierte das in China nicht.

Hier schon! Wahrscheinlich lasen die Chinesen mit. Und wenn schon. Er schickte keine Geheimnisse raus. Rasch sandte er noch eine Nachricht an Amber: Check meinen YouTube-Kanal.

Vor ihm erschienen nun wieder zwei Gestalten, dieses Mal eine Frau und ein Mann.

»Im Jahr 1856 entdeckten die amerikanische Wissenschaftlerin Eunice Newton Foote und 1859 der irische Physiker John Tyndall die Rolle bestimmter Gase in der Atmosphäre dabei, unter anderem Kohlenstoffdioxid – CO2.«

Plötzlich fuhren über den virtuellen Gletscher altertümliche Autos ohne Dach und manche auch noch mit Lenkstangen statt Lenkrädern.

»Dampfmaschinen hatten inzwischen Industrie und Verkehr revolutioniert, und die aufkommende Autoindustrie befeuerte ab dem Jahrhundertwechsel die CO2-Produktion zusätzlich.«

Die Autos verwandelten sich in Mammuts und Wollnashörner, zwischen denen Vorzeitmenschen in Fellen durch eisige Landschaften an Pat vorbeizogen.

Darüber wieder ein Mann mit Namen: Svante Arrhenius, Chemie-Nobelpreisträger. Er sprach mit einem eigenartigen Akzent: »Ende des neunzehnten Jahrhunderts überlegte ich bereits, dass niedrige CO2-Werte die Eiszeiten verursacht haben könnten. Und dass die zunehmende Kohlenutzung die Erde womöglich wärmer machte.«

Eine Grafik zeigte den Anstieg der CO2-Produktion.

»Um 1900 herum«, fuhr die Sprecherin fort, »produzierte die Verbrennung fossiler Ressourcen etwa zwei Milliarden Tonnen Kohlendioxid jährlich.«

Der virtuelle Gletscher vor Pats Augen begann, sich eigenartig zu verfärben. Als wäre er eine Schwarz-Weiß-Aufnahme.

»Im Jahr 1920 machte der britische Bergsteiger George Mallory dieses berühmt gewordene Foto des Rongbuk.«

Auf dem Gletscherbild leuchtete am Rand der Eismasse ein roter Punkt auf. »Wir stehen hier«, erklärte Yins Stimme. »Seitdem stiegen die CO2-Emissionen rapide. Und mit dem Klima ging es bergab.«

In Pats Brille blendete das Bild über in eine neuere Aufnahme des Gletschers. Darauf war der Rongbuk deutlich schmaler und lag viel tiefer. Nur der rote Punkt blieb an derselben Stelle wie zuvor, nun weit oberhalb des Gletschers.

Selbst durch seine Kapuze und die Mütze vernahm Pat das Raunen der anderen.

»Diese Aufnahme machte der US-amerikanische Bergsteiger und Filmemacher David Breashears im Jahr 2007.«

Noch mehr Raunen.

»Innerhalb von knapp neunzig Jahren verlor der Gletscher an dieser Stelle etwa einhundert Höhenmeter – ein kleines Hochhaus, wie Sie selbst sehen können – und geschätzt ein Viertel seiner Masse.«

Vor Pats Augen sank die virtuelle Gletscherebene im Zeitraffer bis auf das aktuelle Niveau.

»Wie gesagt, seither geht es bergab«, sagte Yin und wies mit ihrer Hand zu einem breiten Pfad. Sogar Stufen waren da zu sehen. Wahrscheinlich extra für diese Präsentation gebaut. Damit den unerfahrenen Journalisten im Hochgebirge nichts zustieß. »Folgen Sie mir bitte auf diesem Weg.«

15

Als Manu hinter Gil und der Pressesprecherin in den Situation Room hastete, warteten dort bereits mehrere nervöse Regierungsmitglieder, Militärs und andere Behördenchefs. Von Manu nahmen sie kaum Notiz. Nur in einigen Augen entdeckte er die Frage, ob der Zivilist eine Sicherheitsüberprüfung hatte. Dann widmeten sie sich wieder der Batterie von Bildschirmen. Darauf die Drohnenvideos, Satellitenbilder, zugeschaltete Gesichter weiterer Regierungsmitglieder und des Vorsitzenden der Joint Chiefs of Staff.

»Woher kommen diese Dinger?«, fragte der Präsident gefährlich leise. »Wissen wir endlich Genaueres?«

»Shenzhen«, erklärte der CIA-Direktor.

»Das weiß ich, verdammt! Ich meine: Aus welchen Löchern sind die gekrochen? Wie konnte China von der Welt und unseren Diensten im Speziellen unbemerkt ein Dutzend solcher Riesenmaschinen produzieren?«

»Daran arbeiten wir noch«, sagte der CIA-Direktor mit versteinerter Miene.

»Jetzt ist es zu spät«, brüllte Gil. »Ob 9/11, Afghanistanabzug, Wahlbeeinflussung oder tausend andere Dinge – jedes Mal steht ihr und damit wir alle da wie ahnungslose Idioten!« Er nestelte an seinem Kragen.

Auf zwei Monitoren mit Satellitenbildern und Karten markierten rote Punkte die chinesischen Fluggeräte. Sie flogen in zwei Schwärmen, der größere rechts Richtung Südosten, der kleinere nach links Richtung Südwesten.

»Sie haben sich aufgeteilt«, unterbrach der Verteidigungsminister Gils Tirade. »Sieben Maschinen fliegen Richtung Taiwan, drei auf Vietnam zu. Weitere zwei sind noch in dem ursprünglichen Korridor unterwegs, in dem auch die anderen vor der Teilung flogen.«

»Die Theodore Roosevelt kreuzt in der Gegend«, erklärte der Vorsitzende der Joint Chiefs of Staff. »Acht unserer Jets sind seit mehreren Minuten unterwegs, um China unsere Einsatzbereitschaft zu signalisieren.«

»Acht Jets gegen ein Dutzend dieser Megadinger?«, fuhr der Präsident ihn zornig an. »Die fegen unsere Jungs doch aus dem Himmel wie …« Ihm blieben die Worte buchstäblich im Hals stecken. Manu wusste, was Gil dachte. Wenn kein Wunder geschah, würde das hier sein ganz persönliches Waterloo werden.

»Ankunft Küste in fünf Minuten. Starte Countdown«, sagte der Assistent des Generals mit starrem Blick auf die Bildschirme. Die Hälfte der Anwesenden hing jetzt über ihre Telefone gebeugt und flüsterte oder brüllte hinein.

»Wenn wir nicht schnell zuschlagen, ist es zu spät!«, erklärte der Vorsitzende der Joint Chiefs of Staff energisch.

Manu machte zwei Schritte in den Raum hinein und räusperte sich. Gil merkte auf.

»Mister Sanusi hier«, sagte er mit einer Geste zu Manu, »meint, das sei kein Angriff.«

In einer synchronen Bewegung richteten sich aller Blicke auf Manu. Erstaunt, ungläubig, überheblich und verächtlich bis verärgert darüber, dass der Präsident überhaupt auf diesen Einflüsterer hörte.

»Emanuel?«, forderte Gil ihn auf.

»Nein«, sagte Manu und trat in das Zentrum des Raumes. »Zumindest keiner auf ein Nachbarland. Ich wette, es gibt keine chinesischen Truppenbewegungen«, bemerkte er und hob fragend eine Augenbraue.

Der General musterte ihn wütend. Sie waren sich ein paarmal flüchtig begegnet, kannten sich aber nicht näher. Nicht, dass Manu das bedauerte.

»Gibt es?«, fragte Gil nach.

»Nein«, presste der General hervor. »Noch wurden keine beobachtet.«

»Wäre das nicht wahrscheinlich, wenn China einen Angriff auf Taiwan durchführte? Dass wir seit Wochen oder gar Monaten Vorbereitungen beobachten würden?«, fuhr Manu fort. Wenn die Situation nicht so brenzlig wäre, hätte er sie direkt genossen. »Denkt an die Ukraine vor dem russischen Angriff im Februar 2022.«

»Wer weiß, wozu diese Dinger in der Lage sind«, schnauzte der General ihn an. »Vielleicht brauchen die keine anderen Aktivitäten mehr?«

»Worum geht es hier, verdammt?«, fuhr der Präsident dazwischen.

»Mister President«, sagte Manu, »das kann Ihnen jemand anders besser erklären.«

Er griff zum Telefon.

Auf Fays Telefon erschien wieder Manus Gesicht. Die Falte zwischen seinen Augenbrauen war noch tiefer als sonst.

»Ich habe dir einen Link geschickt.«

Fay klickte ihn an. Auf dem Schirm ihres Tablets öffnete sich das Fenster einer Kommunikationssoftware, die ihr nicht bekannt war.

»Das ist eine gesicherte Verbindung«, erklärte Manu. »In den Krisenstab des Weißen Hauses.«

Fay fluchte in sich hinein. Sie war Präsentationen vor wichtigen Persönlichkeiten gewohnt, sprach fließend Englisch. Aber sie saß da in einer einfachen Bluse, in ihrem Wohnzimmer, nach einem langen Tag, einem Gin Tonic und fast einer Flasche Rotwein.

Eine andere Männerstimme klang aus ihrem Laptop: »Denken Sie nicht im Traum daran, Bild- oder Tonaufnahmen von diesem Gespräch zu machen.«

Sicher nicht. So wie sie gerade aussah! Mit der freien Hand zog sie den Ausschnitt ihrer Bluse weiter zu.

»Ich sehe niemanden«, sagte Fay.

»Ist in Ordnung«, erklärte ihr Manu leise über das Telefon.

»In was verwickelst du mich da?«, zischte sie.

Im selben Moment tauchte in einem kleinen Fenster eine Gruppe Menschen in einem schlecht beleuchteten Raum auf. In ihrem Zentrum erkannte Fay tatsächlich den US-Präsidenten. Daneben ein paar Ministerinnen und Minister, drei Männer in Militäruniformen.

»Mister President«, sagte Manu. »Meine Damen und Herren, Fayola Oyetunde-Rabelt vom Klimasekretariat der Vereinten Nationen in Bonn.«

»Was sollen wir mit einer Klimafrau?«, unterbrach ihn eine Reibeisenstimme. Einer der Militärs, ein Typ wie aus dem Bilderbuch. Kantige Gesichtszüge, millimeterkurze weiße Borsten statt einer Frisur. »Das hier ist eine ernste Sache!«

In diesem Augenblick tauchte im Wohnzimmer Joy auf!

»Mama …«, jammerte die Elfjährige.

Herrgott, sie sollte längst schlafen! Hinter ihr erschien wieder Ben und hob ratlos die Schultern.

»Außerdem haben wir unsere eigenen Klimaspezialisten«, bellte der General.

»Ich sehe keinen«, entgegnete Manu.

»Ist sie US-Staatsbürgerin?«, fragte der Militär.

»Ja«, sagte Manu.

Jetzt stand da auch wieder Nicolas! Es war zum Auswachsen.

»Fayola, sprechen Sie«, fordert Gil.

Einem Wutausbruch nahe, wegen der Kinder, aber auch wegen des herablassenden Generals, forderte sie Ben mit einer Geste auf, sich um Nicolas und Joy zu kümmern, während sie sich gleichzeitig bereits voll auf den Bildschirm konzentrierte und zu reden begann, bevor der General sie wieder unterbrechen konnte.

»Guten Abend, Mister President, Ladys und Gentlemen. Diese Fluggeräte – Drohnen, wie es aussieht – sind nicht für einen Angriff gedacht«, erklärte sie.

Ben und die Kinder verfolgten das Gespräch mit immer größer werdenden Augen. Fay warf Ben einen letzten Blick zu. Schnell schob er die Kinder hinaus und schloss die Tür hinter sich.

»Die riesigen, langen Flügel«, fuhr Fay fort, »sind dazu da, sie höher zu tragen als normale Flugzeuge. Sie kennen das von Spionageflugzeugen und Drohnen, die an der Stratosphärengrenze operieren. Sechs Flügel deshalb, weil sie noch mehr Tragfähigkeit in der dünnen Luft benötigen, um schwere Last da hinaufzubringen …«

»Raketen«, unterbrach sie die Reibeisenstimme.

»Mister President«, tönte der General, »müssen wir uns das wirklich anhören? In wenigen Minuten erreichen die Dinger Taiwan und Vietnam!«

»Sie werden nicht angreifen«, sagte die Frau auf dem Monitor, die Emanuel Sanusi ihnen zugeschaltet hatte. Sie hatte ein schlankes Gesicht unter einem Afro, der von einem schwarzen Band über der Stirn zurückgehalten wurde, markante Backenknochen und trug eine schwarze Bluse. »Sie werden weitersteigen!«

»Und was tun?«

»Voraussichtlich noch ein Stück Richtung Äquator fliegen und dort in der Stratosphäre ihr Transportgut verteilen.«

»Wofür? Chemtrails?«, fragte der General höhnisch.

»Das werden Sie sich noch wünschen. Jetzt ist es wichtig …«

»Dass wir endlich reagieren!«, schrie der General jetzt. »Sonst ist Taiwan in wenigen Augenblicken Geschichte, und Vietnam …«

»Es gibt keine anderen militärischen Aktivitäten«, wiederholte Fay. »Die Maschinen werden an Taiwan vorbei beziehungsweise über Vietnam hinweg Richtung freier Ozean fliegen. China hat kaum eine Wahl, was die Flugrouten von einem möglichst südlichen Punkt Richtung Äquator angeht!«

»Aber warum sollten sie ausgerechnet diese Routen über fremden Luftraum wählen?«, erwiderte der General. »China muss damit rechnen, dass wir reagieren, wahrscheinlich militärisch. Dass das hier zu einem ausgewachsenen Krieg führen …«

»Geben Sie uns allen eine Chance«, unterbrach ihn die Frau auf dem Bildschirm, »bevor Sie Ihre Länder womöglich in einen verheerenden Krieg stürzen! Die Maschinen steigen weiter, jede Wette! Und lassen Taiwan und Vietnam buchstäblich links liegen!«

Im Raum war es plötzlich so still, dass Gil meinte, den Herzschlag der Anwesenden zu hören.

»Falls Sie diese Maschinen abschießen wollen«, setzte die Frau nach, »werden Sie noch genug Gelegenheit dafür bekommen. Solche Dinger baut man nicht für einen einzigen Einsatz. Die werden wir ab sofort täglich zu sehen bekommen. Diese Entscheidung können Sie sich also reiflich überlegen.«

»Warum sollte China eine solche Provokation wagen«, entgegnete der General zornig, »wenn nicht für einen Angriff auf Taiwan?! Mister President, die Zeit läuft uns davon!«

»Um unser aller höchste Aufmerksamkeit zu gewinnen«, erklärte die Frau. »Und zwar dafür, was es mit diesen Maschinen vorhat. Die ganze Welt soll hinsehen. Denn wir stehen weder vor einem Angriff auf Taiwan noch auf Vietnam. Sondern vor etwas viel Größerem. Viel, viel Größerem! Wir stehen vor einem Zeitenwechsel.«

»Wenn es nicht um Taiwan oder Vietnam geht«, fragte Gil, »worum geht es denn dann?«

Nüchtern sagte Fay: »China übernimmt die Kontrolle über das Weltklima.«

Die Gesichter im Situation Room erstarrten.

Dann begann der General, lauthals zu lachen.

16

Bergab lief es sich leichter. Trotzdem musste Pat bei jedem Schritt aufpassen. Auch, weil ihm seine smarte Gletscherbrille laufend neue Bilder vor die Nase setzte. Nun wieder eine Grafik.

»Im Jahr 1950 produzierte die Verbrennung fossiler Ressourcen bereits drei Mal so viel CO2 wie zur Jahrhundertwende«, erklärte Yins Stimme so unbeschwert, als säße sie auf einem Sofa und würde nicht vor ihnen die Treppen hinabsteigen.

Sie hielt, alle anderen taten es ihr gleich. In der Brille tauchte erneut ein älterer Mann in einem Anzug auf, Stil Fünfzigerjahre. Sein Name: Roger Revelle, Ozeanograf und Klimatologe. Während neue Bilder der Erdatmosphäre eingespielt wurden, begann er zu sprechen: »Ich zeigte damals, dass die Ozeane das Kohlendioxid nicht, wie bis dahin angenommen, komplett aufnehmen, sondern dieses teilweise in die Atmosphäre wandert und dort verbleibt.«

Hat damals nur kaum jemand drauf gehört, dachte Pat.

Die Farben in der Animation der Atmosphäre wurden intensiver, begannen zu strahlen.

»Und ich sagte voraus«, fuhr Revelle fort, »dass dies in einigen Jahrzehnten profunde Auswirkungen auf das Weltklima haben würde.«

»Die Welt wusste Bescheid«, übernahm Yin wieder, »spätestens seit Mitte der Fünfzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts. Wollen wir weiter?«

Seit siebzig Jahren hätten wir die Erderwärmung stoppen können, dachte Pat. Sie setzte ihren Weg fort. Der Tross folgte. Pat folgte. Keuchend.

Im Situation Room unter dem Weißen Haus hingen die Krawatten längst gelockert um die Kragen. Neben den Drohnen waren auf zwei Schirmen jetzt neue Bilder zu sehen: Eis. Ein Gletscher. Gigantische vereiste Berge.

»Das kommt live aus China«, sagte Amber, »vom YouTube-Kanal eines US-amerikanischen Journalisten, der kurzfristig zu einer Präsentation auf dem Mount Everest eingeladen wurde. Auch andere Chinakorrespondenten senden dasselbe auf ihren Kanälen.«

Der Monitor zeigte seltsame Überblendungen. Dick vermummte Gestalten hinter Gletscherbrillen vor ewigem Eis. War das im Hintergrund der Mount Everest? Darüber, halb transparent, das Porträt des Ex-US-Präsidenten Lyndon B. Johnson, über Dokumente gebeugt. Dazu erklärte eine weibliche Stimme mit leichtem Akzent auf Englisch: »… wenige Jahre später, 1965, wies das Wissenschaftliche Beraterkomitee des US-Präsidenten Lyndon B. Johnson die US-Politik in einem Bericht explizit auf die absehbaren Folgen für das Klima hin. US-Politiker wussten Bescheid – spätestens seit 1965.«

»Was, zum …«, setzte Gil an, ließ es dann aber. An der Stelle des Gesichts eines seiner Vorgänger war soeben eine Grafik erschienen.

»Damals betrug die Kohlendioxidkonzentration in der Atmosphäre rund 320 Teile pro Million – ppm, parts per million«, erklärte dazu die Sprecherin.

»Was ist das?«, wollte Gil nun doch wissen, während ein Balken in der Grafik immer höher wuchs.

»Mittlerweile halten wir bei 420 ppm, Tendenz weiter steigend …«

»Auslandskorrespondenten in China«, erklärte Amber. »Auf einer Präsentation am Mount Everest, bei der es um das Klima geht.«

Den Balken ergänzten Zahlen.

»Stand heute«, sagte die Sprecherin, »produziert die Welt zwanzig Mal so viel Kohlendioxid wie im Jahr 1900.«

»Und daran hat China einen enormen Anteil!«, rief Gil.

Ein Assistent flüsterte ihm etwas ins Ohr.

Der Präsident wedelte mit der Hand.

»Machen Sie das leiser, Amber. Unsere Piloten haben Sichtkontakt.«

17

Zuerst hatte Hernán Gonzalez die chinesischen Flugmaschinen nur auf den Instrumenten gesehen. Dann waren sie als dunkle Punkte weit vor ihnen aufgetaucht. Und schnell größer geworden. Hernán versuchte Funkkontakt zu ihnen aufzunehmen. Niemand antwortete.

Nun waren sie gut dreißig Meilen von Taiwans Südzipfel entfernt. Auf der Insel mussten alle Alarmsysteme rot blinken. Die Abwehrsysteme warteten nur mehr auf den Befehl loszuschlagen. Wenn Hernán und seine Mitpiloten dann zu nahe wären, würde es sie womöglich auch erwischen. Für einen Sekundenbruchteil tauchten in seinem Geist Bilder von Einsatzzentralen in Taiwan und dem Weißen Haus auf, in denen Anzugträger mit versteinerten oder auch leicht verschwitzten Gesichtern darauf warteten, dass einer der lang gefürchteten Momente der internationalen Konfliktgeschichte gekommen war.

In Wahrheit, da war sich Hernán sicher, wusste niemand, wie man damit umgehen sollte: losschlagen, bevor die anderen es konnten? Oder warten, ob es tatsächlich ein Angriff war, und riskieren, dass es für eine Abwehr dann zu spät wäre? Ein Krieg um Taiwan konnte der Zündfunken für eine Katastrophe in der gesamten Region sein. Und weit darüber hinaus. Er kam sich vor wie eine Fliege über einem Riesenhaufen Scheiße.

Doch etwas war seltsam. Ein unbestimmtes Gefühl, das Hernán nur schwer in Worte fassen konnte. Während seiner Einsätze hatte er gelernt, auf seine Intuition zu achten. Denn das meiste geschah schneller, als man denken konnte. Und sein Bauchgefühl sagte ihm, dass diese Monstren ihn nicht weiter beachten würden. Vielleicht auch nur, weil sie es nicht nötig hatten.

»Die sind deutlich höher als wir«, erklärte er in sein Mikro. »Und steigen weiter.«

»Ihre Flughöhe?«, verlangte die Kommandozentrale.

»Bereits fünfundvierzigtausend Fuß«, antwortete Hernán. »Ich versuche, an sie heranzukommen. Aber die scheinen mir wenigstens fünfzigtausend Fuß hoch zu fliegen. Eher mehr.«

Fünfzigtausend Fuß, etwa fünfzehntausend Meter, galt als maximale Flughöhe für die SuperHornet, die sie im Notfall binnen einer guten Minute erreichen konnte. Bei Bedarf schaffte sie es aber auch höher. Hernán würde sehen, wie weit er kam.

»Außerdem«, sagte er, »wenn sie den Kurs nicht sehr bald ändern, passieren sie die taiwanesische Südküste in etwa vierzig Meilen Entfernung.«

Er und die anderen US-Jets hatten sich zwischen die Drohnen und die Insel gesetzt, die weit unten erkennbar war. Er gab dem Geschwader den Befehl, in einer lang gezogenen Linkskurve auf einen Parallelkurs zu den Drohnen zu gehen und auf deren Höhe zu steigen.

»Noch immer keine Anzeichen für einen Angriff«, sagte er. »Die ziehen schnurgerade Richtung Südosten.«

Sie waren nun auf der Höhe von Kaohsiung an der Südwestküste. Wenn diese Drohnen es auf Taiwan abgesehen hatten, gingen sie es kompliziert an. Hernán spürte, wie seine Nackenmuskulatur sich verkrampfte. Inzwischen saßen da unten alle auf Nadeln, die Finger einen Millimeter über den Knöpfen, die ein Desaster starten könnten. Von der Theodore Roosevelt waren weitere Jets unterwegs.

Bloß diese unförmigen schwarzen Riesendinger mit ihren sechs Riesenflügeln, die sie wie unappetitliche Monsterinsekten aussehen ließen, hielten unbeeindruckt von ihren Begleitern Kurs Richtung Südost. Neben ihnen wirkten die Super Hornets nicht wie Hornissen, sondern wie Fruchtfliegen neben bizarren Herkuleskäfern.

In dieser Richtung lagen noch ein paar kleine Inseln. Dahinter kam dann lange nichts außer der Philippinensee.

Fieberhaft suchte sein Blick an den Ungetümen nach Anzeichen für Angriffswaffen oder gar bevorstehende Attacken auf ihn oder die anderen. Deutlich konnte er nun sehen, dass die Flügelpaare in unterschiedlicher Höhe am Rumpf montiert waren. Die vordersten in der Tiefdeckerposition am unteren Rand, leicht nach unten geneigt, die mittleren – länger als die anderen – an der Seitenlinie, die hinteren in einer Hochdeckerposition, etwas nach oben geneigt. Doch weder an den zahlreichen unförmigen Ausbeulungen entlang der sechs schwarz schimmernden Flügel noch am gleich gefärbten Rumpf konnte er etwas erkennen, das ihn auch nur entfernt an Raketen oder andere Waffen erinnerte. Wenn diese Dinger überhaupt Waffen trugen, mussten sie die hinter Klappen verborgen haben. Oder es waren elektronische, welche die Drohnen nie verließen. Aber auf welche Entfernung konnten die wirken? Aus sechzehn Kilometer Höhe oder mehr?

Hernáns Instrumente begannen zu zittern, als er zweiundfünfzigtausendfünfhundert Fuß – sechzehntausend Meter – Höhe erreichte. Die ganze Maschine vibrierte. Hernáns Körper spannte sich, um das Schütteln zu beherrschen. Dabei rechnete er kühl aus, wie lange er die Hornet noch einer solchen Belastung aussetzen konnte.

Die Herkuleskäfer flogen schon jetzt geschätzt dreihundert Meter höher. Und stiegen weiter. Dabei hielten sie eine präzise V-Formation.

»Die müssen gewaltige Triebwerke haben«, stellte Hernán fest. Inzwischen war ihm auch klar geworden, warum sie sechs Flügel besaßen, noch dazu so viel länger und breiter als alle, die er je gesehen hatte. Die konnten sie trotz ihrer Größe in diese Höhe tragen. Und womöglich weiter hinauf.

Was wollten sie da oben?

Langsam ließen sie Taiwan hinter sich.

»Gehen Sie auf Betriebshöhe«, befahl das Kommando über Funk, »und folgen Sie den Maschinen in Sichtkontakt, so lange wie möglich.«

18

Martin steuerte den Kleinlaster bedächtig durch Berlins nächtliche Straßen. Khalil hatte sich in den engen Raum zwischen den Sitzen und der Wand zum Laderaum gezwängt. Natürlich benutzten sie auch dieses Elektromodell nur ungern. Autos mit Verbrennermotoren gegen solche mit elektrischem Antrieb auszutauschen, löste weder das Problem der Blechlawinen in den Städten noch die Ressourcenverschwendung durch die Fahrzeugproduktion. Aber in diesem Fall kamen sie nicht drum herum.

Die Straßen waren nicht so leer, wie man es um diese Zeit erwarten würde. Immer wieder entdeckte Sienna in Hauseingängen Obdachlose, da und dort sogar kleine Zelte. Tiere huschten durch das Gebüsch, wahrscheinlich Ratten oder Marder.

Sienna sah die Timeline ihrer Social-Media-Feeds und Nachrichten-Apps durch. Nach den ersten Meldungen stutzte sie. Sie waren voll mit einem einzigen Thema: Über China waren seltsame Monsterdrohnen am Himmel erschienen. Nach dem ersten Scan sah Sienna klarer.

Martin hatte ihre Anspannung bemerkt.

»Ist was?«, fragte er.

Sie hielt das Telefon so, dass er und Khalil es sehen konnten. Martin wurde langsamer, warf einen kurzen Blick auf die Bilder der Drohnen.

»Was ist das?«

»Die Gerüchte reichten von Aliens über einen chinesischen Angriff auf Taiwan, Vietnam oder sonst wen bis hin zu etwas mit Klima. Wahrscheinlich hat China die Dinger in die Luft geschickt. Angeblich fliegen sie höher als jedes normale Flugzeug.«

Sie wischte weiter und landete bei einem Auslandskorrespondenten, der vom Rongbukgletscher berichtete. Zeigte Martin wieder rasch das Display.

»Lass das«, bat er, »ich muss fahren.«