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Auf dem Hamburger Lande geht es beschaulich zu. Eigentlich. Dann überstürzen sich die Ereignisse: Eine Explosion zerfetzt die Morgenluft. Brennende Pfeile fliegen durch die Vierländer Nacht. Bilder werden gestohlen. Bereits zum dritten Mal macht sich Hotelier Karlo auf die Suche nach Vermissten. Kommissar Spannich tappt nicht nur anfangs im Dunkeln. Wer treibt in der Dorfidylle sein Unwesen? Wo ist dieser syrische Koch abgeblieben? Was wissen seine Landsleute? Über den Dächern von Neuengamme grübelt der verängstigte Ferhad: Wie lange wird er sich noch hier oben verstecken müssen? Er war doch nach Deutschland gekommen, um in Sicherheit zu leben! Wann würden die da unten endlich herausgefunden haben, dass er mit der schrecklichen Explosion nichts zu tun hatte?
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Veröffentlichungsjahr: 2021
Deich AlaikumSilke Schopmeyer Roman
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen
oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form,
sowie Übersetzungsrechte sind vorbehalten. Die Handlung
und alle handelnden Personen sind frei erfunden.
Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen
wäre rein zufällig.
Copyright © 2017 Silke Schopmeyer
Süderquerweg 435
21037 Hamburg
Lektorat: Anja Schäfer
Cover: mirafactory/Miriam Beyer
Coverfoto: pixabay
www.silkeschopmeyer.de
Zu diesem Buch
Karlo Kolbergs Leben im Hamburger Dorf Curslack könnte so beschaulich sein. Der Vierländer Hof erfreut sich wachsender Beliebtheit, seine Freundin Gianna erwartet das erste Kind, die Integration im Dorfleben schreitet voran. Wenn nur Hausdame Erne ihn nicht ständig auf die Suche nach Vermissten schicken würde!
Ganz in der Nähe lebt der junge Syrer Ferhad zusammen mit vier Landsleuten auf dem Dachboden der Kirchengemeinde von Neuengamme - offiziell als Teilnehmer eines internationalen Austauschprogramms für Spitzenköche. Neben ihrem Deutschkurs dürfen sich die Gäste auch am alljährlichen historischen Spiel der Gemeinde beteiligen, bis eine verheerende Explosion nicht nur die Neuengammer Morgenluft zerfetzt. Ein Opfer landet schwerverletzt im Bergedorfer Krankenhaus. Erste Stimmen vermuten die Verursacher unter den Syrern - vor allem als Ferhad spurlos verschwindet. Unfreiwillig ermitteln Kommissar Spannich und Karlo mal wieder gemeinsam. Dabei stoßen sie bald auf weitere mysteriöse Vorkommnisse in der näheren Umgebung. Mehrere Brandanschläge versetzen die Dorfbewohner in Angst und Schrecken. Wird sich Karlo erneut in große Gefahr begeben, oder kann er sich diesmal bei Kommissar Spannich revanchieren?
Vierländer Stubenküken
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4 bratfertige Stubenküken oder
2 kleine Hähnchen
Salz
Pfeffer
2-3 mittelgroße Zwiebeln
250 g Champignons
2-3 EL Butterschmalz
2 TL Hühnerbrühe
500 g weißer Spargel
500 g Möhren
1 kleiner Blumenkohl
Zucker
200 g TK-Erbsen
2 EL Butter
1 Bund Kerbel
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Zubereitung
• Stubenküken waschen & trocknen. Mit Salz & Pfeffer würzen. Keulen & Flügel zusammenbinden. Im Bräter rundum ca. 10 Minuten anbraten & herausnehmen.
• Zwiebeln würfeln & Pilze putzen. Im heißen Bratfett anbraten & würzen.
• 1/2 l Wasser & Brühe angießen & aufkochen.
• Stubenküken wieder dazulegen. Zugedeckt im heißen Ofen (E-Herd: 200°C/Umluft: 180°C/Gas: Stufe 3) ca. 40 Minuten (Hähnchen ca. 1 Stunde) schmoren.
• Gemüse putzen bzw. schälen & waschen. Blumenkohl in Röschen teilen. Spargel in kochendem Salzwasser mit etwas Zucker zugedeckt ca. 15 Minuten garen. Möhren & Blumenkohl in kochendem Salzwasser zugedeckt ca. 10 Minuten, Erbsen ca. 3 Minuten garen.
• Butter aufschäumen. Kerbel waschen, abzupfen & hineingeben.
• Gemüse abtropfen lassen. Stubenküken aus dem Fond heben.
• Alles anrichten.
• Fond abschmecken & extra reichen.
• Mit neuen Kartoffeln servieren.
Wenn een Minsch also bang is vör Minschen, de anners sünd, eenfach mol hengohn. Eenfach mol ankieken, angrienen, ansnacken oder sünst wat moken. An’n Enn markst du denn gau: De sünd goor nich so anners … Also, ick glööv ja, dat gifft Minschenfeinde und Bangbüxen op de een Siet un Minschenfrünnen un echte Keerls op de annern Siet. Yared Dibaba
Vierländer Stubenküken
1 In der Früh
2 Im Turm
3 Einige Wochen zuvor
4 Im Vierländer Hof
5 Im Wintergarten
6 In der Landstuv
7 Im Turm
8 In Neuengamme
9 Auf dem Friedhof
10 Im Vierländer Hof
11 Im Turm
12 Im Gemeindehaus
13 Auf dem Revier
14 In der Landstuv
15 Im Turm
16 Auf dem Revier
17 Auf der Suche
18 Im Turm
19 Auf dem Weg
20 Im Visier
21 Im Stegelviertel
22 In Gefahr
23 In der Nase
24 In der Kirche
25 Im Turm
26 Auf der Flucht
27 In der Falle
28 Auf dem Boden
29 Auf der Hut
30 Im Krankenhaus
31 Unterm Dach
32 Auf dem Revier
33 In flagranti
34 Auf der Suche
35 Im Handumdrehen
Epilog
Dank
Hasans Huhn
Karlo ermittelt auch hier …
Zu spät. Eine halbe Stunde später als vereinbart. Warum dämmerte es schon? Das hatten sie genau berechnet. An diesem Morgen Mitte Mai sollte die Sonne doch erst um zwanzig nach sechs aufgehen. Oder um zwanzig vor? Unruhig fuhr er sich durch sein raspelkurzes Haar. Wenn ihn hier jemand sah? Alles war organisiert. Von A bis Z. Das Ding musste er durchziehen. Sonst gab’s richtig Ärger. Und keine Kohle.
So leise wie möglich schloss Alex die Tür seines schwarzen Golfs, den er weiter hinten am Friedhofsausgang geparkt hatte. Eigentlich war es nicht sein Auto, sondern Biancas. Bei Nachtschichten durfte er es sich ausleihen, solange der Wagen um spätestens acht Uhr dreißig wieder vor ihrer Tür stand. Damit sie zur Arbeit in den Salon fahren konnte. Eilig überquerte er die kopfsteingepflasterte Straße und preschte an dem alles in der Umgebung überragenden Gebäude vorbei zur halbhohen Eingangspforte. Nach kurzem Überlegen überwand er die Kindersicherung des Tors und eilte über den geteerten Vorplatz. Dabei suchte er in seiner engen, schwarzen Jacke nach dem Schlüssel. Nicht durch das doppelflügelige Portal sollte er gehen, sondern rechts daneben die grüne Seitentür benutzen. In seiner letzten Nachricht hatte der Chef ihm genaue Instruktionen gegeben:
„Seitentür auf und sofort die Treppe hoch„
Zu seinem Erstaunen schlug ihm beim Eintreten eine Geruchsmischung aus Skihütte und Eckkneipe entgegen. Das alte Gemäuer schien alle Hinterlassenschaften aus der Zeit vor dem Rauchverbot in öffentlichen Gebäuden gespeichert zu haben. Ohne die unzähligen Bilderrahmen mit Fotos von Kinder- und Jugendfreizeiten an den Wänden wahrzunehmen, stieg er mit müden Schritten die Stufen empor. Seine ungefähr fünfundachtzig Kilo Körpergewicht verursachten dabei ein leises Knarzen auf der ausgetretenen Holztreppe. Ein tiefes Gähnen überkam ihn. Vergangene Nacht hatten sie mal wieder einen heftigen Streit schlichten müssen. Gegen zwei Uhr wollten sich fünf aufgebrachte Familienväter aus Syrien auf etwa zehn fußballspielende Afghanen stürzen, damit ihre Kinder endlich in den Schlaf finden konnten. Zum Glück hatte er zusammen mit seinen Kollegen, die im Gegensatz zu ihm sowohl Arabisch als auch Farsi sprachen, eine heftigere körperliche Auseinandersetzung verhindern können. In der zweiten Nachthälfte konnten die gut achthundert Bewohner aus den Krisenregionen dieser Welt einigermaßen ruhig hinter ihren notdürftigen Trennwänden im ehemaligen Baumarkt schlafen. Leider waren jeweils zwei Männer der beiden verfeindeten Gruppen in den frühen Morgenstunden erneut aneinandergeraten, weshalb Alex erst später als gedacht die Halle hatte verlassen können.
Nach der ersten Treppenwindung und neun weiteren Stufen stand er vor einer verschlossenen Tür, die sich mit dem zweiten Schlüssel öffnen ließ. Zögerlich betrat er den Raum. Durch die Fensterfront auf der linken Seite beschien das zaghaft hereinbrechende Tageslicht einen Billardtisch, einen Tischkicker und ein Waschbecken an der Wand. Auf der rechten Seite des L-förmigen Raums standen unterhalb eines weiteren Fensters ein kleiner Tisch sowie drei Holzstühle. Links vom Tisch führte eine Treppe, die deutlich moderner wirkte als die alten Fußbodendielen, ins nächste Stockwerk. Er atmete einmal tief durch. Ihm war gesagt worden, dass dort oben neuerdings fünf Männer wohnten. An diesem Morgen sollten alle sehr tief und fest schlafen. Dieses ‘sehr tief und fest’ hatte sein Auftraggeber noch extra betont. Trotzdem bückte er sich von seinen fast zwei Metern Körpergröße herunter, zog zur Sicherheit seine groben Arbeitsstiefel mit Stahlkappen aus und ließ sie am Treppenabsatz stehen. Dabei lauschte er aufmerksam. In regelmäßigen Abständen drangen vereinzelte Schnarchgeräusche an sein Ohr. Nun begann der schwierigste Teil seines Auftrags. Auf Tennissocken schlich er Stufe um Stufe in die letzte Etage des großzügigen Hauses. Die Lautstärke der Schnarchtöne nahm dabei beständig zu. Auf der obersten Stufe angekommen, riskierte er einen kontrollierenden Rundumblick. Direkt gegenüber der Treppe standen fünf Betten mit jeweils einem Meter Abstand dazwischen. Unter jeder mit bunten Blümchen gemusterten Decke lag ein schlafender Mensch. Auf der rechten Seite des ausgebauten Dachgeschosses befand sich eine schlichte Küchenzeile. Ansonsten sah es hier aus, als wären rund um den Treppenaufgang herum diverse Wohnzimmereinrichtungen willkürlich zusammengewürfelt worden: Mehrere Sofas, zwei Tische mit unterschiedlichen Stühlen, bunte Lampen, verschiedene Musikinstrumente, sogar einen abgedeckten Vogelkäfig konnte Alex erkennen. Außerdem gab es viele Regale mit unzähligen Büchern. Bücher schüchterten ihn ein - schon immer. Weder bei seinen Eltern noch in seiner Wohnung gab es dickere Schriftstücke als die paar Frauenzeitschriften, die Bianca von der Arbeit mitbrachte. Nur während seiner Zeit hinter Gittern hatte er zwangsläufig lesen müssen, sonst hätte er das Gefängnis niemals mit einem Schulabschluss verlassen können. Ein lauter Schnarchton riss ihn aus seinen Gedanken. Angespannt vergewisserte er sich, dass alle Männer nach wie vor tief und fest schliefen. Der Moment schien gekommen. Viel Zeit blieb ihm nicht mehr. Sein vorgeschriebener Weg führte ihn rechts an den Betten vorbei in Richtung der Küche. Auf der gegenüberliegenden Seite hinter einer roten Schrankwand sollte die besagte Abseite sein. Dort würde er finden, was er suchte, es mitnehmen und schnell wieder verschwinden.
*
Die Wiese dampfte noch in der Morgendämmerung. Fröhlich zwitschernd begrüßte eine bunte Vogelschar den jungen Tag. Das war Gerd die liebste Zeit in dieser anstrengenden Woche. Noch wuselten keine aufgeregt schreienden Kinder um ihn herum. Keine gestressten Mitorganisatoren, sogenannte Teamer, gaben hektisch Regieanweisungen. Es roch nach frischem Morgentau und vor Kurzem erloschenen Feuer. Ein latenter Brandgeruch zog sich durch die gesamte Woche. Er trug bereits sein zeitgenössisches Kostüm in Größe XXL. Langes Hemd, eine speckige Lederhose und als I-Tüpfelchen den schwarzen Schlapphut. Die schwere Lederschürze würde er sich erst später um den stattlichen Bauch legen. Im Gegensatz zu seinem acht Jahre jüngeren Bruder Michael, der als Sportlehrer die Grundschule in Ochsenwerder auf Trab hielt, beschränkten sich seine körperlichen Aktivitäten auf kurze Spaziergänge durch die Vierländer Wiesen oder er unternahm Museumsbesuche mit seinen Studenten.
Ein Blick zur linken Seite zeigte ihm, dass die Bühne festlich mit Blumengirlanden geschmückt worden war. Auf besonderen Wunsch der Kinder sollte es wieder eine prunkvolle Hochzeit geben. Eigentlich hatten sie in ihren inhaltlichen Vorbereitungen auf das diesjährige historische Spiel im Rahmen des Westfälischen Friedens keinen Hinweis auf eine Hochzeit entdecken können. Aber die Kinder fanden, das sei nach so einem langen Krieg wie dem Dreißigjährigen ein irgendwie voll positives Signal. Deshalb wurde umgehend die feierliche Verbindung zwischen einem brandenburgischen Reichsgrafennebst einer sächsischen Comtesse in das Skript zum Abschlussfest hineingeschrieben. Ein paar achtjährige Mädchen wollten unbedingt Blumen streuen und sich besonders hübsch anziehen. Die Jungs fanden das ganze Prozedere ziemlich albern, hatten sich aber immerhin bereit erklärt, für das Brautpaar Spalier zu stehen. Vor allem freuten sie sich auf das bevorstehende Festmahl mit einem amtlichen Spanferkelbraten.
Als er an den Zeltplanen vorbeischlenderte, stellte Gerd fest, dass diese noch recht klamm waren. Zwischen den Vierländer Deichen mit ihrem weitverzweigten Grabensystem stieg in den Morgenstunden besonders viel Feuchtigkeit auf. Vor allem die schönen Baldachine aus rotem Samt hingen wie nasse Handtücher herunter. In diesem Jahr war die Ausgestaltung etwas prunkvoller geraten, weil die Geschichte in der Neuzeit spielte und nicht mehr bei den Römern, den Steinzeitmenschen oder im mittelalterlichen Hamburg. Das diesjährige historische Spiel der Neuengammer Gemeinde fand im Jahr 1648 im westfälischen Münster statt. Den Kindern sollte gezeigt werden, wie nach einem langen, grausamen Krieg zwischen zwei unterschiedlichen Konfessionen und vielen Ländern Europas ein Friedensvertrag ausgehandelt werden konnte. Gladiatorenkämpfe im alten Rom hätten ihm persönlich deutlich besser gefallen, aber die jungen Teamer wollten sich unbedingt an dieses Thema heranwagen. Immerhin hatte es am ersten Tag noch eine ebenso spektakuläre wie zerstörerische Schlacht gegeben, bei der das über Jahre von engagierten Gemeindemitgliedern in liebevoller Handwerkskunst aufgebaute Dorf stark in Mitleidenschaft gezogen worden war. Jeder sollte dabei - nach strengen Regeln - gegen jeden kämpfen. Zusätzlich zu den bestehenden Holzhütten war ein neuer Holzverschlag entstanden, der mit Feuerpfeilen beschossen werden durfte. Einer der langjährigen Teamer hatte sich dabei als erstaunlich treffsicher hervorgetan. Am Ende dieses verlustreichen Tages reifte auf allen Seiten der mitspielenden Kinder die Erkenntnis, dass es auf diese Weise unmöglich weitergehen konnte. Laut Ablaufplan hatte diese Schlacht den anschließenden Beginn der Friedensverhandlungen eingeläutet.
In ihren Rollen als Gesandte der Niederländer, eines brandenburgischen Fürstentums, der Franzosen, der Spanier und auch des Papstes hatten die über vierzig Beteiligten die Aufgabe einen langfristigen Frieden herbeizuführen. Mit äußerster Entschiedenheit musste in den nächsten Tagen miteinander diskutiert und nach möglichen Kompromissen gesucht werden. Darüber hinaus wurde wie zu der Zeit üblich gekocht, gegessen, geschmiedet sowie Konzerte und Tanzdarbietungen im historischen Dorf besucht. Am Donnerstag war - wie im Spielplan vorgesehen - der entscheidende Durchbruch gefunden worden. Die positive Wendung sollte am heutigen Tag ausgiebig gefeiert werden.
Über die überdachte Holzbrücke begab sich Gerd in das eigentliche historische Dorf, das an dieser Stelle das ganze Jahr über aufgebaut blieb. Vor einem hohen Weidezaun reihten sich mehrere Holzhütten aneinander. Die Schäden der Kämpfe des ersten Tages hatten sie notdürftig behoben, aber noch immer erinnerten herausgebrochene Holzlatten an weniger friedliche Zeiten. Zielstrebig ging er auf die offene Hütte mit dem Lehmbackofen zu und wunderte sich. Warum brannte hier noch kein Feuer? Kein bisschen Qualm verließ den Schlot des Ofens. Die Jungs vom Dachgeschoss hatten sich doch darum kümmern wollen. Unter dem Beifall aller Teamer hatte sich sein Assistent, dieser blutjunge Kameltreiber, noch dazu bereit erklärt. Wo war der Kerl nur? Der konnte doch nicht verschlafen haben. Gerade heute! Schließlich brauchten sie die Glut für die Schmiede, für die Gießerei! Es mussten noch weitere Münzen angefertigt werden, damit die Braut eine ansehnliche Mitgift erhalten konnte. Ferhad wollte das angeblich erledigen, bevor er sich in einen brandenburgischen Reichsgrafen mit Heiratsabsichten verwandelte.
Um keine Zeit zu verlieren, suchte Gerd in seinen ausgebeulten Taschen fieberhaft nach Streichhölzern - eines der wenigen Zugeständnisse an die modernen Zeiten. Befriedigt stellte er fest, dass wenigstens das Holz bereits aufgeschichtet worden war. Mit einem Ratsch glimmte das Stäbchen auf. Sofort warf er es auf die Holzscheite und beobachtete das entstehende Feuer. Bis es unerwartet zischte. Das Geräusch klang irgendwie anders als ein langsam aufglimmendes Ofenfeuer. Verwundert runzelte er die hohe Stirn und bückte sich ein wenig. Eine kleine Glut schien sich in dem selbstgebauten Lehmbackofen zu entwickeln. Gerd richtete sich wieder auf und trat einen Schritt zurück. Dann ging alles ganz schnell: Ein ohrenbetäubender Knall zerfetzte die Luft. Der weiße Lehmofen zerbarst in unzählige kleine Teile, der offene Holzverschlag zerfetzte, die Holzteile trafen die umliegenden Schuppen, Ställe und Wohnhäuser. Durch die heftige Druckwelle wurde Gerd zur gegenüberliegenden Baumgruppe geschleudert. Regungslos blieb er unterm dichten Blätterdach liegen.
*
Im Dachgeschoss zuckte der frühmorgendliche Besucher erschreckt zusammen. Instinktiv verließ Alex den Küchenbereich und drückte sich an der gegenüberliegenden Schrankwand entlang, hinter deren Glastüren ungefähr tausend Spiele aufbewahrt wurden. Am Ende lag die Abseite. Das Ziel seines Auftrags. Unter Schock versuchte er, flach zu atmen. Die Gedanken in seinem Kopf kreisten unaufhörlich. Verdammte Scheiße! Was war das? Was war da gerade mit einem megalauten Knall in die Luft geflogen? Er riskierte einen vorsichtigen Kontrollblick um die Ecke. Unruhig wälzten sich die Männer in ihren Betten herum. Ihr tiefer und fester Schlaf war durch die Explosion zunichtegemacht worden. Es dauerte nicht lange und erste Stimmen erfüllten den Raum. Aufgeregt unterhielten sie sich in einer ihm fremden Sprache. Arabisch vermutlich. In Anbetracht des markerschütternden Knalls erhoben sich die Fünf erstaunlich schwerfällig von ihren Betten. Einer von ihnen torkelte zum halbrunden Dachfenster und starrte angestrengt hinaus. Ein anderer wankte vorsichtig die Treppe hinunter. Nach einem Blick aus dem Fenster, das zum weitläufigen Außengelände hinausging, rief er aufgeregt etwas nach oben. Mit ungeschickten Bewegungen zogen sich die Männer notdürftig an und taumelten ebenfalls die Holzstufen hinab.
Vorerst unentdeckt blieb Alex in seinem Versteck zurück. Nach wenigen Augenblicken herrschte Stille. Was sollte er tun? Auf gar keinen Fall durfte man ihn hier sehen. Bloß keine Komplikationen! Ratlos fuhr er sich mit beiden Händen über den Kopf. Das konnte echt nicht wahr sein! Diesen Sonderauftrag vom Chef hatte er doch nur kurz dazwischenschieben wollen. Ein letztes Mal illegal. Dank der Kohle wollte er mit Bianca endlich einen geilen Urlaub machen. Wellness oder so. Das würde ihr gefallen. Sie musste ja nicht wissen, woher das Geld kam. Sonderprämie eben. Mit einem Seufzen blickte er auf sein Handy. Halb sieben. Später musste er wieder zur Schicht. Im Baumarkt. Die ganze Nacht. Hoffentlich waren vorher noch ein paar Mützen Schlaf drin. Nach einem inneren Seufzer öffnete er vorsichtig die Tür hinter der Schrankwand und versteckte sich so leise wie möglich in der Abseite.
Ferhads Atem ging stoßweise. Ihm war schwindelig. Seine Brust tat ihm weh. Die Beine zitterten. Außerdem hatte sich an der steilen Treppe ein Splitter in seine rechte Hand gebohrt. Am schlimmsten aber war die Angst. Wie klebriger kalter Schleim legte sie sich um seinen Brustkorb. Was würden sie mit ihm tun? Der Krieg war furchtbar gewesen, aber da ging es nicht um ihn als Person. Hier jedoch drehte es sich um ihn selbst. Um Ferhad Al Latif. Er hatte nichts getan! Wie hatte das nur passieren können? Meine Güte, war das ein lauter Knall gewesen! Wie in den letzten Bombenwochen zu Hause, als er und sein Bruder Khaled von den Eltern auf die lange Reise Richtung Norden geschickt worden waren. Wie hatten sie an diesem Morgen bloß verschlafen können? Dabei hatte er sich doch extra den Wecker gestellt. In seinem Handy. Um früh das Feuer anzuzünden. Wieso hatte er das Klingeln nicht gehört? Was war da draußen passiert? Nichts hatte er mit dieser schrecklichen Explosion zu tun! Gar nichts! Auch wenn er sich in den letzten Tagen oft über Gerd und seine Sprüche geärgert hatte. So etwas hatte keiner verdient! Wie war es zu dieser Explosion gekommen? Resigniert lehnte er sich zurück an die kalte Wand. Bis zum heutigen Tag waren ihm die letzten Monate erschienen wie ein unwirklicher Traum. Seit sie in Ochsenwerder angekommen waren. Seit sie hier in Neuengamme aufgenommen worden waren. Seit Sophie in sein Leben getreten war.
Ein Terrorist? Er war kein Terrorist! Er war vor dem Terror geflohen! Vor Assad und seiner Armee. Vor Daesh - oder dem IS - wie die Deutschen diese Verbrecher nannten. Deshalb mussten sie damals raus aus Aleppo. Weg von der Familie. Warum hatten diese Männer ihn nur so genannt? Vorhin auf der Toilette. Als sie im Flur standen und redeten. Mit Hilfe der freiwilligen Helfer bei diesem schrecklichen Baumarkt, dank Erne, dem freundlichen Pastor und natürlich durch Sophie hatte er schon ganz gut Deutsch gelernt und der Unterhaltung einigermaßen folgen können.
„Nu sach mir mal eins …“, raunte ein älterer Mann. „… wer mokt hier wohl jeden Morgen den Ofen an?“
Ein anderer schnaubte verächtlich.
„Und wer kommt direktemang aus’m Kriech nach uns hier?“
„Da sachst was“, entgegnete der andere mit einem hässlichen Lachen. Er klang deutlich jünger als sein Gesprächspartner. Ferhad kam seine Stimme irgendwie bekannt vor.
„Die kennen sich doch hunnert pro mit Sprengstoff und Waffen aus! Dat is so!“
„Einer von de Arabers soll schon die ganze Woche Brass mit Gerd gehabt haben!“, wusste der Jüngere zu berichten. „Dieser Fahrrad!“
„Fahrrad?“
„Oder so ähnlich …“
„Egal! Dat sin allens Terroristen! Die ham dat im Blut!“
„Die Bullen kommen gleich, dann is aber man Zappenduster hier mit der Terrorzelle in unsern Gemeindehaus!“
Nach den letzten beiden Bemerkungen hielt Ferhad den Atem an. Kalte Panik stieg in ihm hoch und gesellte sich zum Schwindel in seinem Kopf. Er wurde verdächtigt! Die Bullen? Diesen beleidigenden Ausdruck für Deutschlands Polizisten hatten sie schon sehr früh gelernt. Auf keinen Fall durften sie ihn hier finden. Er wollte nichts mit der Polizei zu tun haben. In Syrien nicht und in Deutschland erst recht nicht! Zu viele schreckliche Gefängnisgeschichten hatte er sich in den letzten Jahren anhören müssen. Wer glaubte denn einem Flüchtling aus dem Nahen Osten? Er hatte keine Zeit mehr zu verlieren! Sofort musste er sich verstecken. Nur wo?
Als die beiden Männer nach einer gefühlten halben Ewigkeit endlich zur Seitentür hinausgegangen waren, betätigte Ferhad die Spülung, wusch sich die Hände und huschte über die großzügige Diele eilig ins offenstehende Büro der nicht anwesenden Gemeindesekretärin. Wahrscheinlich stand Elisabeth Wohlwill zusammen mit seinen vier Mitbewohnern und allen anderen draußen auf der Wiese. Gerne hätte er noch einmal mit seinem Bruder gesprochen, der sich bestimmt Sorgen um ihn machen würde. Darauf konnte er im Moment jedoch keine Rücksicht nehmen. Zu seinem eigenen Schutz musste ihm schnell etwas einfallen. Nach einem Blick in den großen Schlüsselkasten neben dem Schreibtisch kam ihm die rettende Idee. Letztens hatte ihn Walter, der Friedhofsgärtner, noch dorthin geführt.
Jesus Christus spricht:
…Ich war fremd und obdachlos und ihr habt mich aufgenommen.
Matthäus 25,35
Der Neuengammer Kirchenvorstand und Mitarbeiter
Gegen Rassismus und Ausländerfeindlichkeit!
Wie jeder Besucher der Neuengammer Kirchengemeinde wurden auch die beiden Pastoren aus Ochsenwerder und Curslack mit diesen Worten, die auf einem großflächigen Banner über dem Eingang geschrieben standen, begrüßt.
„Plötzlich bekommt das Zitat eine sehr konkrete Bedeutung“, bemerkte der Curslacker Pastor Christian Himmel beim Hineingehen.
„Dann wollen wir mal sehen“, entgegnete Benjamin Florin, sein Kollege aus Ochsenwerder.
„Und … hättste’s gewusst?“, spielte Christian auf ihren andauernden Bibelstellenwettbewerb an.
„Ich weiß ja nicht, was ihr in Curslack so treibt, aber bei uns dreht sich im Moment jede zweite Predigt um genau das Thema.“
Auf der großzügigen Diele befand sich Pastor Traugott Warmeling gerade in regem Austausch mit der aufgebracht wirkenden Gemeindesekretärin. Bei jedem Zusammentreffen mit seinem fast doppelt so alten Kollegen hatte Benjamin Florin das Gefühl, als hätte der liebe Gott in dem stattlichen Riesen einen besonderen Schalter installiert, der ihn von innen heraus strahlen ließ. Wer mit ihm sprach, fühlte sich danach immer ein bisschen wärmer. Der junge Pastor fragte sich jedes Mal, ob er einen Ansatz dieses Gefühls jemals seiner Gemeinde würde vermitteln können.
Unter seinem Talar und in der Freizeit trug Traugott stets ausgebeulte braune Cordhosen in Bärengröße, kombiniert mit groben Holzfällerhemden. Abgerundet wurde sein unkonventionelles äußeres Erscheinungsbild von seinen vollen grau-braunen Haaren, die ihm in Wellen bis zur Schulter reichten.
„Keine Sorge, Elisabeth, die Herrschaften werden deine Blumen schon nicht anrühren“, versuchte er sie mit beruhigenden Gesten und seinem beseelten Lächeln zu besänftigen.
Über die langjährige Zusammenarbeit hinweg hatte seine Mitarbeiterin offensichtlich eine gewisse Immunität gegen dieses innere Strahlen entwickelt. Die nur wenige Jahre jüngere Frau schien von den Beschwichtigungsversuchen ihres Chefs nicht gänzlich überzeugt. In einem übertrieben betonten Hochdeutsch entgegnete die ehemalige Hamburger Innenstadtbewohnerin, die vor ihrer Hochzeit mit einem Vierländer Großgärtner in Barmbek-Süd gelebt hatte: „Wenn die Orchideen nur ein Quäntchen zu viel Wasser bekommen, dann …“
„Das wird schon.“
„Und was ist mit den Kindern?“, fragte sie nach wie vor aufgebracht und strich dabei über ihre weite Blumenbluse Größe XL.
„Die gehen in unseren Kindergarten“, antwortete der Pastor mit Unschuldsmiene. Dabei faltete er die Hände vor seiner gemütlichen Bauchwölbung.
„Und was sagen die Eltern dazu?“
„Denen werde ich alles genau erklären.“
„Ich weiß ja nicht … also mein Ernst sagt …“
„Ah, die Kollegen!“ Sichtlich dankbar für die Ablenkung begrüßte Pastor Warmeling die beiden Besucher: „Einen wunderschönen guten Morgen!“
„Dir auch, lieber Traugott!“, wünschte Benjamin Florin und reichte ihm die Hand.
Bevor Christian Himmel den Neuengammer Kollegen begrüßte, wandte er sich an die nach wie vor unzufrieden blickende Gemeindesekretärin: „Guten Morgen Elisabeth, du hast doch irgendwas mit deinen Haaren gemacht, oder?“ Er deutete auf ihren praktischen Kurzhaarschnitt. „Sehr flott!“
Benjamin verdrehte innerlich die Augen, als er sah, wie der Sekretärin eine leichte Röte ins Gesicht stieg und sich ihr Mund zu einem Lächeln verzog.
„Ach, Christian … nur eine neue Tönung …“, winkte sie ab.
„Siehst du, meine Liebe! Ist mir doch sofort aufgefallen“, entgegnete Christian eine Spur zu selbstgefällig.
Nachdem sich alle gegenseitig begrüßt hatten, kam der Hausherr ohne Umschweife zur Sache: „Dann wollen wir mal sofort zur Tat schreiten. Ich zeige euch eben unsere Räumlichkeiten.“ Mit einem Seitenblick auf seine Sekretärin fragte er: „Möchtest du uns begleiten, Elisabeth?“
Obwohl sie nach wie vor verträumt in Christians Richtung starrte, entgegnete die Kirchensekretärin mit unterkühlter Stimme: „Vielleicht später. Da sind noch ein paar Dinge zu erledigen.“
*
Durch die Wände des hellen Jugendraums, in dem der für eine gelungene Jugendarbeit unvermeidliche Tischkicker und ein Billardtisch standen, war lautes Kindergebrüll und Gestampfe zu hören.
„Die sind ja wie immer fröhlich dabei“, sagte Pastor Himmel in Richtung der Kinderstimmen.
„Mit der engagierten Holzschuhtanzgruppe müssten sich unsere neuen Gäste irgendwie arrangieren“, entgegnete der Hausherr augenzwinkernd. „Das geht hier jeden Vormittag so zu.“
„Alte Holzdielen haben auch ihre Nachteile“, stellte Pastor Benjamin Florin mit Blick auf den honigfarbenen Fußboden fest.
„Na ja, zum Glück verfügen wir über ein großzügiges Außengelände. Irgendwann im Laufe des Tages dürfen sich auch die Eltern wieder um ihre lebhafte Brut kümmern.“
Pastor Warmeling führte seine Besucher über eine steile Treppe ins ausgebaute Dachgeschoss. Auf den letzten Stufen konnte er sich ein angestrengtes Schnaufen nicht verkneifen. Immer wieder nahm er sich vor, weniger zu essen und sich mehr zu bewegen. Leider blieb es meist bei den guten Vorsätzen. Oben angekommen, begutachteten die Kollegen mit Wohlwollen die gemütliche Einrichtung des Raums.
„Ich vergesse immer, wie verwinkelt euer Gemeindehaus ist“, bemerkte der Pastor aus Ochsenwerder.
„Sie tappen umher im Dunkel ohne Licht … er lässt sie irren wie Trunkene“, zitierte sein Kollege aus Curslack.
„Tja …“ Benjamin Florin kratzte sich am Kopf.
„Florinchen, du lässt nach!“, frotzelte Christian Himmel.
„Liefert ihr euch immer noch euren Schlagabtausch?“, erkundigte sich Pastor Warmeling milde lächelnd.
„Man muss die jungen Kollegen auch mal ein wenig fordern!“, scherzte Christian, während er in einem Wandregal interessiert die Büste einer nackten Frau betrachtete. „Dieses Kunstwerk sollten wir aus gegebenem Anlass besser entfernen.“
„Da magst du recht haben …“, stimmte Benjamin ihm zu, als sein Handy vibrierte. Nach einem prüfenden Blick auf das Display sprach er lächelnd in den Hörer: „Nina! Was kann ich für dich tun? … Du musst wohin? … Charity … Hmm … Vier-Jahreszeiten … Muss ich wirklich?“ Er verdrehte die Augen. Christian Himmel grinste. „… Der graue Anzug … Um halb acht vor der Tür … Bis nachher!“ Er senkte die Stimme merklich und drehte den Kopf zur Seite. „Ich freu mich … Ich dich auch.“ Sichtlich verlegen wandte er sich wieder seinen Kollegen zu.
„Na, darfst du wieder nicht deine ollen Zimmermannshosen tragen?“, feixte Christian.
„Die hab ich schon ewig nicht mehr angehabt“, empörte sich Benjamin. „Nur im Garten!“
„Ein Hochlied auf die Frauen …“
„Du nervst!“
„Du kneifst!“
Entschlossen legte Benjamin die Hände in die Hüften.