Deich Secret - Silke Schopmeyer - E-Book

Deich Secret E-Book

Silke Schopmeyer

0,0
2,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

„Der Wolkenhimmel in den Marschlanden trug den sanft salzigen Atem des Meeres noch in sich ...“ Ein neuer Fall führt Hobbyermittler Karl Kolberg von seinem Hotel Vierländer Hof über kurvige Deiche nach Ochsenwerder. Wieso verschwinden zwei polnische Landarbeiter quasi über Nacht? Warum lernt ein Hamburger Dorf Italienisch? Was machen chinesische Schilder auf einem brachliegenden Feld? Woher stammen die Papiere eines deutschen Luftwaffenpiloten? Auch Kommissar Spannich bleibt nicht untätig und trifft auf ein Geflecht aus Erpressung, Sabotage und politischen Ränkespielen. Wird die Entführung von zwei italienischen Sportlerinnen ein gutes Ende nehmen? Mit viel Liebe zu den typisch norddeutschen Figuren und grande amore zeigt diese Geschichte, welche zwischenmenschlichen Aspekte die Hamburger Bewerbung für die Olympischen Spiele damals vernachlässigt hat.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2021

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


 

Alle Rechte, einschließlich das des

vollständigen oder auszugsweisen

Nachdrucks in jeglicher Form,

sowie Übersetzungsrechte sind vorbehalten.

Die Handlung und alle handelnden Personen

sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit

lebenden oder realen Personen

wäre rein zufällig.

Copyright © 2015 Silke Schopmeyer ♥ Schortzwerk

Süderquerweg 435

21037 Hamburg

Lektorat: Anja Schäfer

Cover: mirafactory / Miriam Beyer

Coverfoto: Volker Hochmuth

 

www.silkeschopmeyer.de

„Die Menschen in aller Welt aufzufordern,

einander zu lieben, ist kindisch.

Sie aufzufordern, einander zu respektieren,

ist hingegen überhaupt nicht utopisch –

aber um sich respektieren zu können,

ist es erst einmal notwendig,

dass sie sich kennen lernen.“

 

Pierre de Frédy, Baron de Coubertin

1 Freitagabend

2 Am selben Abend

3 Sonntagnachmittag

4 Dienstagabend

5 Mittwochmorgen

6 Mittwochabend

7 Donnerstagabend

8 Dienstagabend

9 Mittwoch

10 Donnerstag

11 Donnerstag

12 Donnerstagabend

13 Freitagmorgen

14 Freitagnachmittag

15 Eine Woche später am Freitagmorgen

16 Montagabend

17 Dienstagabend

18 Freitag

19 Freitagabend

20 In derselben Nacht

21 Dienstagabend

22 Mittwoch

23 Mittwochabend

24 Am selben Abend

25 Himmelfahrt

26 Vatertag

27 Am selben Abend

28 Freitagvormittag

29 Freitagnachmittag

30 Freitagabend

31 Finalsonntag

32 Am selben Tag

33 Sonntagabend

34 Montagmorgen

Ein paar Wochen später

Ich danke ...

Italiano per tutti * Italienisch für alle

Karlo ermittelt auch hier …

 

„In diesem Land geht alles zu Ende. Geht dorthin, wo ihr neu anfangen könnt.“

Während sie bei Kerzenlicht miteinander sprachen, waren die Bomben zu hören. Mehrere Explosionen folgten kurz aufeinander. Unmengen an Staub wirbelten durch die vibrierende Luft und bedeckten den Asphalt ihrer einst so ruhigen Straße.

Vor wenigen Tagen hatte Khaled sein Studium beendet. Unter schwierigen Bedingungen und mit exzellenten Noten. Er wollte endlich als Ingenieur arbeiten. In einer großen internationalen Firma. Sein Englisch war gut. Fast sehr gut. Abwechselnd starrte er von den besorgten Eltern zu seinem fünf Jahre jüngeren Bruder Ferhad, der ihn unsicher ansah. Auf dem Tisch im Wohnzimmer ihres bescheidenen Hauses lag der Brief. Die Einberufung zum Militär.

„Und was ist mit euch?“, fragte er seinen Vater.

„Wir gehen zu Onkel Ahmad in den Libanon.“

„Dann kommen wir mit!“

„Nein, das geht nicht! Ihr müsst nach Europa! Dort liegt eure Zukunft! Später könnt ihr uns besuchen.“ Mit diesen Worten war die Unterhaltung für das Familienoberhaupt beendet.

Er wollte nicht weg. Nicht weg von seinen Eltern, seinen Freunden, seiner Heimat. Irgendwann musste dieser Krieg doch einmal vorbei sein. Irgendwann musste sich die Welt gegen die Kriegstreiber stellen und den Menschen helfen. Warum fand gerade in seinem Land ein sinnloser Krieg statt? Wieso waren so viele seiner Landsleute auf der Flucht? Wo blieb die Gerechtigkeit? Sie wollten doch alle nur ein normales Leben führen. Freunde treffen. Im Café sitzen. Miteinander lachen. Arbeiten. Eine Familie gründen. Bei der Familie bleiben.

1 Freitagabend

 

Der Wolkenhimmel in den Marschlanden trug den sanft salzigen Atem des Meeres noch in sich. Zum Glück hatte der häufige Regen in den letzten Aprilwochen den schweren Kleiboden aufgeweicht und den Arbeitern fiel das Graben leichter. Jahrelang war der Trecker um die Stange herumgefahren, doch nun sollte sie endlich weg.

„Nu man los Männer. Rabotti! Rabotti! Wir ham keine Zeit! Heut Nacht muss dat Stück hier fertich werden!“

Peter Trumm war kein Mann großer Worte. Genauso regungslos wie der Vorarbeiter Anweisungen vom Chef entgegennahm, gab er sie nach unten weiter. Dabei verliehen ihm sein bulliger Körper mit den großflächig tätowierten Armen und der kahl rasierte Kopf gegenüber den überwiegend polnischen Arbeitern auf dem Hof eine gewisse Autorität. Vor seiner Zeit auf dem platten Land war er lange zur See gefahren und hatte sich danach mit verschiedenen Jobs auf Hamburgs sündiger Meile in St. Pauli über Wasser gehalten. Ein paar Meinungsverschiedenheiten hatten ihn vor gut fünf Jahren zu einer räumlichen Veränderung gezwungen.

Die drei Arbeiter standen allein auf dem dunklen Feld. Das nächste Haus befand sich mehrere hundert Meter entfernt. Von Zeit zu Zeit fuhren Autos über die am Ende des Ackers gelegene Straße, meist schneller als die vorgeschriebenen fünfzig Stundenkilometer. Für Ende April war es noch recht kühl und der Wind hatte gegen Abend ein wenig aufgefrischt. Dichte Wolken verdeckten die Sichel des Mondes. Peter schien darüber nicht unglücklich, denn unter diesen Witterungsbedingungen würden keine Radfahrer oder Abendspaziergänger auf dem nahegelegenen Marschbahndamm unterwegs sein.

„Um dat Ding rum graben. Bis man‘s rausziehen kann!“, befahl er in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete. Vom hochgelegenen Kotflügel seines wuchtigen Treckers deutete er auf das flach bewachsene Feld, aus dem eine ungefähr ein Meter zwanzig lange rostige Metallstange schräg hervorragte. Sie war mit ebenso rostigen Nieten besetzt.

In der heraufziehenden Dämmerung nickte der zweiundzwanzigjährige Pawel ihm noch einmal kurz zu und fing an, seinen Spaten in die Erde zu stechen. Mit dem rechten Fuß rammte er die Schaufel jedes Mal ein Stück tiefer hinein. Sein siebzehn Jahre älterer Kollege Irek tat es ihm gleich. Die beiden Polen waren harte Arbeit gewohnt. Nach der langen Zeit in Deutschland erinnerte Ireks krummer Körper schon fast an einen muskelbepackten Bogen. Sein markantes Gesicht war durch die regelmäßige Arbeit im Freien wettergegerbt. Pawel lebte noch nicht einmal ein Jahr hier, hatte aber bereits beachtlich an Muskelmasse zugelegt. Mit der Zeit waren auch die letzten kindlichen Züge aus seinem Gesicht verschwunden. Nur die tiefgründigen blauen Augen waren dieselben geblieben. Vielleicht sahen sie ein wenig müder aus als sonst.

Am heutigen Morgen hatten sie im Gewächshaus der Gärtnerei Ruppke, auf deren Grundstück sie auch wohnten, schon ab sechs Uhr den Boden für die Tomatenpflanzen vorbereitet. Als sie endlich am späten Nachmittag ihren Wohncontainer ansteuerten, hatte Irek ihn gefragt, ob er mit ihm zusammen mal wieder ein bisschen extra verdienen wollte. Irek brauchte immer Geld für seine Familie in Polen. Seine fünfzehnjährige Tochter lernte für die Aufnahme am staatlichen Konservatorium in Danzig. So ein Internat kostete viel Geld. Nur zu Weihnachten, Ostern und drei Wochen im Sommer konnte er seine Familie besuchen. Pawel selbst sparte jeden Euro für eine gemeinsame Zukunft mit seiner Verlobten Ella, die in Polen auf ihn wartete. Er hatte sich zwei Semester des Lehrerstudiums extra frei genommen und arbeitete jeden Tag, ohne sich zu beklagen. Er war froh, Geld verdienen zu können.

Nachdem sie über eine Stunde mühevoll gegraben hatten, stellten die Männer fest, dass der schräg stehende Metallstab unter der Erde in ein breiter werdendes Blechgehäuse überging. In der Dunkelheit konnten sie stark verrostetes Metall erkennen, das wie eine überdimensionierte Zigarre geformt war. Pawel sah seinen Kollegen irritiert an. Was war das? Aufgeregt stachen sie ihre Spaten in den Boden, um den mysteriösen Gegenstand weiter freizuräumen. Peter Trumm schien genauso neugierig und unterstützte die Arbeiten vorsichtig mit seiner Baggerschaufel. Nach ungefähr einer Stunde legten die Männer ihre Spaten zur Seite und starrten ungläubig auf ihr Fundstück. Peter sprang von seinem Trecker herunter.

„Samolot!“, rief Irek in die Dunkelheit.

„Wat sachst du?“, fragte Peter ungeduldig.

„Flugzeug! Das ist alte Flugzeug!“, übersetzte Pawel.

„Du ahnst es nich!“

Drei Augenpaare richteten sich auf die Umrisse eines sehr alten und sehr kaputten Flugzeugs. Die abgebrochenen Tragflächen lagen unmittelbar neben dem Rumpf.

„Das ist bestimmt noch aus dem Krieg!“, raunte der angehende Geschichtslehrer Pawel seinem Kollegen Irek zu.

„Welcher Krieg?“, fragte der Ältere.

„Na, der Letzte. Der von Hitler gegen die Welt.“

„Ach so.“

Trotz der kühlen Luft lief ihnen der Schweiß den schmerzenden Rücken hinunter. Stumm betrachteten sie den Blechhaufen auf dem Acker.

Peter sprach als erster wieder: „Die großen Teile vom Fluchzeuch lad ich später auf’n Hänger. Buddelt ma’n büschen weider hint’n.“ Der Vorarbeiter wies auf eine Stelle, die er bereits mit der Baggerschaufel seines Treckers ausgehoben hatte. Die Männer trafen mit ihren Schaufeln wiederholt auf Metall und fanden mehrere rostige Benzinkanister.

„Alles auf’n Hänger!“

Wenige Meter von den Kanistern entfernt stach Pawel ein weiteres Mal mit seinem Spaten in den Boden: wieder etwas Hartes. Aber er traf auf kein Metall oder Steine. Das hier sah aus wie: Knochen. Das mussten menschliche Knochen sein! Daneben Uniformreste und Stofffetzen. Wahrscheinlich von einem Fallschirm! Für einen Moment unterbrach der gläubige Katholik seine Arbeit und bekreuzigte sich.

„Wat’n los? Wir ham nich de ganze Nacht Tiet!“, rief der Vorarbeiter ungeduldig herüber.

Pawel räusperte sich und antwortete mit leiser Stimme: „Toter Mann.“

„Wat?“

„Knochen von toter Mann.“

„Oha.“ Peter Trumm stieg behäbig von seinem Fahrzeug und stampfte mit schnellen Schritten zu dem Polen, der jetzt reglos da stand. Zusammen blickten sie schweigend auf die Überreste des vermutlich vor vielen Jahren verunglückten Piloten. Der Glatzkopf schluckte kurz und befahl etwas leiser: „Auch auf’n Hänger.“

Pawel nickte und tat wie ihm befohlen. Während Irek die rostigen Kanister zusammen mit den herumliegenden Wrackteilen auf den Wagen lud, griff der Jüngere kurz darauf wieder zu seinem Spaten. Ganz in der Nähe der Knochenfundstelle entdeckte er eine stark zerfledderte Brieftasche. Von den anderen unbemerkt wanderte sie in seiner ausgebeulten Hosentasche.

„So, Männer.“ Peter zeigte auf die Wrackteile vor ihnen. „Nu den Flieger.“

Pawel sah ihn irritiert an. Der Vorarbeiter kniff missbilligend die Augen zusammen. „Hast’n Problem, oder wie?“

„Muss nich Museum sagen?“

„Wat denn für’n Museum?“

„Wegen die Kriegsflugzeug.“

Der andere dachte einen Moment nach und schüttelte dann entschieden den Kopf.

„Nix Museum! Der Chef will, dat dat Feld an diese Stelle schier is. Hier kommt allens wech!“ Er hielt kurz inne und fuhr sich mit der einen Hand über den kahlen Schädel. „Kriegsfluchzeuch sachst du? Warte mal ... ich kiek mir dat Teil nochmal eben an.“

Peter Trumm knipste die Lampe seines Handys an und richtete sie auf die Maschine. Mit angestrengter Miene inspizierte er den rostigen Flugkörper der Länge nach. Von der gläsernen Kabine war nicht mehr viel übrig geblieben. Sein Lichtstrahl glitt nach unten zum zerfetzten Rumpf, aus dem ein ungefähr ein Meter langer zylindrischer Gegenstand ragte. Die auf Weisung des Chefs widerwillig abgeleisteten Jahre bei der Freiwilligen Feuerwehr zahlten sich nun aus. „Achtung Männer! Schnell wech hier! Da is ‘ne Bombe an Bord!“

Hektisch ließ Pawel seinen Spaten fallen und zerrte den verständnislosen Irek mit sich. Gemeinsam stürzten die drei Arbeiter zum Trecker mit dem Hänger. Die Polen setzten sich jeder auf einen der Kotflügel über den Reifen. Peter hastete in das gläserne Führerhaus und startete hektisch den Motor. Ohne sich noch einmal umzublicken, fuhr er mit voller Treckergeschwindigkeit über den Acker auf die Straße zu. Als sie sich ungefähr dreihundert Meter entfernt hatten, war ein ohrenbetäubender Knall zu hören. Dann bebte der Boden unter ihnen. Ein Zischen und Surren glitt durch die Luft. In der Ferne ertönte das laute Klirren mehrerer zerspringender Fensterscheiben. Die beiden Arbeiter schrien vor Schreck, als sie von der Druckwelle erfasst wurden. Stöhnend fielen sie vom fahrenden Trecker auf den harten Boden.

2 Am selben Abend

 

Gedämpftes Licht fiel durch die bleiverglasten Erkerfenster des Bürgermeisteramtszimmers. Thorsten Schmidt stand auf dem dichten Teppich und las auf über einem Dutzend Bronzetafeln die Namen aller Bürgermeister seit 1264. Auf dem Stehpult links neben dem Türrahmen war unter Glas das Goldene Buch der Freien und Hansestadt Hamburg zu sehen. Nach wie vor beeindruckt von den imposanten Räumen des Hamburger Rathauses sah er sich um und ließ die halbhoch mit Mahagoni verkleideten Wände und die ebenso gestaltete Decke auf sich wirken. Zwei ehemalige Inhaber des höchsten Amtes der Stadt starrten gerahmt von den zur Hälfte mit Samt bespannten Wänden zu ihm herunter. Angespannt fuhr er sich durch das lichter werdende hellblonde Haar. Erst seit vier Monaten gehörte er dieser Regierungskoalition an. Vor dem überraschenden Einzug seiner Partei ‚Hamburg-Jetzt!‛ in die Hamburgische Bürgerschaft hatte er als selbständiger Finanzberater gearbeitet. Seine nüchternen Büroräume befanden sich damals noch in Hamburg-Jenfeld. Seit der feierlichen Unterzeichnung des Koalitionsvertrags war Thorsten Schmidt Zweiter Bürgermeister und als Senator zuständig für die Stadtentwicklung. Während er noch auf die Ankunft der weiteren Gäste dieses kurzfristig angesetzten Termins wartete, schweifte sein Blick durch die breiten Balkontüren auf die Alsterarkaden und den Rathausmarkt in der Dämmerung. Wiederholt rückte er seine türkis-lila gemusterte Krawatte über dem grauen Hemd zurecht.

Der Erste Bürgermeister betrat sein Amtszimmer durch die Tür neben dem imposanten Kamin aus hellem Marmor. Mit den leicht graumelierten Schläfen im vollen dunklen Haar wirkte der hoch gewachsene Veit Relin insbesondere auf seine weibliche Wählerschaft wie eine Mischung aus George Clooney und Sky Dumont. Direkt hinter ihm erschien eine äußerst attraktive Frau – zwanzig Jahre jünger als der Mittfünfziger und für Thorsten Schmidt keine Unbekannte: Nina van Haff – Olympiasiegerin im Weitsprung. Sie trug ihr blondes Haar zu einem Pferdeschwanz, dessen Spitze ihr eng anliegendes schwarzes Etuikleid berührte. Das Kleid betonte ihre üppige Oberweite, die dank einer vor Kurzem erst veröffentlichten Fotostrecke in einem Herrenmagazin einem Großteil der medial interessierten Bevölkerung bekannt war. Die opulent gestalteten Räume des Hamburger Rathauses schienen Frau van Haff nicht sonderlich zu beeindrucken. Mit einem offenen Lächeln reichte sie dem Zweiten Bürgermeister die Hand. Kurz nach ihr erschienen drei Männer und eine weitere Frau. Die beiden Herren im Rentenalter trugen hanseatisch dunkelblaue Anzüge mit goldenen Knöpfen, blau-weiß gestreifte Hemden und dazu passende dunkelblaue Krawatten mit ebenfalls golden schimmernden Krawattennadeln. Der dritte im Bunde konnte noch keine dreißig Jahre alt sein. Sein schlanker Körper steckte in einer schlichten Hose und einem blau-weiß karierten Hemd. Auch wenn sein Gesicht weiche Züge aufwies, fielen Thorsten Schmidt bei der Begrüßung dessen große raue Hände auf. Dieser Mann musste körperliche Arbeit gewohnt sein. Als Letztes reichte ihm der zweite weibliche Gast ihre sehnige Hand. Sie trug einen praktischen Kurzhaarschnitt und ein beige-farbenes Kostüm. Er schätzte sie wie den Bürgermeister auf Mitte fünfzig.

„Ach, Herr Kollege! Sie sind schon da?“, begrüßte Veit Relin seinen Stellvertreter. „Machen Sie sich doch Licht!“ Mit einem kurzen Nicken gab er einem der mit ihm eingetretenen Ratsdiener ein unmissverständliches Zeichen. Umgehend schaltete der dunkelblau Uniformierte den imposanten Kronleuchter ein. Sofort legte sich ein heller Schimmer über den rechteckigen Holztisch und die zehn gepolsterten Stühle. Der Erste Bürgermeister schritt zum Platz an der Stirnseite des Tisches und nickte seinen Gäste auffordernd zu. Thorsten Schmidt zögerte einen Moment zu lange, woraufhin ihn sein Vorgesetzter mit gönnerhaftem Ton einlud: „Werter Kollege, als Zweiter Bürgermeister dürfen Sie gerne an meine Seite. An die rechte natürlich!“

„Gut.“ Der Vorsitzende der neuen Law & Order-Partei ließ sich umgehend auf dem ihm zugewiesenen Stuhl nieder.

„Meine Damen, meine Herren, ich freue mich außerordentlich, dass Sie es so kurzfristig einrichten konnten!“ Der Bürgermeister machte eine kurze Pause, um sofort mit freudig-erregter Stimme weiterzusprechen: „Wir stehen vor einer wahrlich denkwürdigen Aufgabe! Unser schönes Hamburg will sich für die nächsten Olympischen Sommerspiele bewerben!“ Ein wissendes Raunen wanderte durch den Raum. „Wir alle können uns ausmalen, was ein Zuschlag für diese Stadt bedeuten würde! Die Infrastruktur käme voran. Der Sprung über die Elbe. Die finale Gestaltung der Hafencity. Mit Olympia kann die Welt den Weg durchs Tor zur Welt beschreiten!“

Einer der Älteren meldete sich zu Wort: „Ich verstehe und teile Ihre Begeisterung, Herr Bürgermeister, aber glauben Sie, dass nach den Erfahrungen mit der ein wenig überdimensionierten Skihalle in Harburg und dem Fiasko mit der Waterworld in Wilhelmsburg die Bevölkerung von einer Herkulesaufgabe wie Olympia zu überzeugen ist?“

„Aber ja doch!“ Gerade weil er nur ungern an die beiden für den Steuerzahler höchst kostenintensiven Projekte zurückdachte, reckte Veit Relin beide Arme beschwörend in die Luft. „Erinnern wir uns alle noch einmal an den grandiosen Empfang der deutschen Olympiamannschaft bei ihrer Rückkehr aus London. An einem ganz normalen Arbeitstag wurde das Schiff gefühlt von der Hälfte aller Hamburger begeistert umjubelt. Das hat nicht nur die Sportler tief beeindruckt.“ Er machte eine Pause, in der er innerlich auf diesen denkwürdigen Tag zurückblickte. „Liebe Mitstreiter! Eine erneute Olympiabewerbung muss in der Bevölkerung die Skepsis gegenüber Großprojekten aufweichen. Der neue schwedische IOC-Chef Erik Gustafsson betont seit seinem Amtsantritt stets den Aspekt der Nachhaltigkeit, die Idee der olympischen Familie und vor allem der Völkerverständigung. Ich darf ihn unter Berufung auf Pierre de Coubertin zitieren, ‘Solange die Jugend dieser Welt alle vier Jahre zusammenkommt, um sich im sportlichen Wettkampf nach vorgegebenen Regeln zu messen, kann sie sich nicht andernorts die Köpfe einschlagen’.“ Beschwörend glitt sein Blick von einem Teilnehmer der Zusammenkunft zum anderen. „Olympia wäre die Riesenchance für unsere Stadt! Wurde nicht in der letzten Urbanitätsstudie deutlich auf unsere Defizite hingewiesen? Die Welt liege inzwischen woanders! Der Stadt fehle die Vision. Sie sei mit sich selbst zufrieden und verliere die globalen Koordinaten aus den Augen. Das will ich nicht über mein Hamburg hören!“ Er schüttelte entschieden den Kopf und schwenkte den rechten Zeigefinger. „Die Schlafende Schöne muss erwachen! Der Hafen ist das eine. Die Förderung des Wissenschaftsstandorts ist sicherlich ebenfalls von großer Bedeutung, aber ein sportliches Großereignis wie Olympia würde sehr viele stockende Infrastrukturprojekte entscheidend voranbringen!“

„Und was ist mit Berlin?“, fragte der Zweite Bürgermeister die Runde. „Ist ja immerhin unsere Hauptstadt.“ Geringschätzend sah Veit Relin auf seinen Stellvertreter herab. Thorsten Schmidt fühlte sich wie ein minderwertiges Insekt.

Mit einer wegwerfenden Handbewegung wischte der Bürgermeister den Einwand vom filzgrünen Tisch. „Ach Berlin. Die Berliner sind wegen ihrer maroden Infrastruktur und ihrer ‚arm - aber sexy-Haltung‛ noch stärker strapaziert als wir mit unseren ein, zwei - zugegebenermaßen - schwierigen Projekten. Peanuts! Denken wir doch nur an München 1972 oder Barcelona 1992. Erst die Spiele haben diesen Nichthauptstädten zu dauerhaftem Ansehen, verlässlichem Wohlstand und kontinuierlichem Wachstum verholfen. Hamburg will und Hamburg kann Olympia!“

Währen die anderen zustimmend murmelten, starrte Thorsten Schmidt schweigend auf den Tisch.

„Da ich mich persönlich im Sport nicht so gut auskenne, haben wir uns in der Stadt nach Experten umgesehen und diese auch gefunden. Meine Damen und Herren, darf ich Ihnen meine Mitstreiter in Sachen ‚Hamburg goes to Olympia‛ präsentieren?“ Er deutete auf den älteren Herrn neben dem Zweiten Bürgermeister: „Herr Johannes Cornelsen, unser Sportamtsleiter.“

„Guten Abend“, nickte der Angesprochene einmal kurz in die Runde.

„Zu meiner Linken: Nina van Haff, Olympiasiegerin und Weltmeisterin im Weitsprung!“

„Hallo zusammen und tausend Dank für die Einladung!“

„Neben Frau van Haff begrüße ich Herrn Roger Repenbrook, den Vorsitzenden des Hamburger Landesruderverbands.“

„Danke, Herr Bürgermeister“, entgegnete der ehemalige Erfolgsruderer mit hanseatischer Euphorie.

Dann wandte sich Veit Relin wieder der anderen Seite zu: „Außerdem möchte ich Frau Annegret Winkel, die Leiterin des Olympiastützpunktes, willkommen heißen.“

„Ich freue mich, an so einem Ereignis mitwirken zu dürfen!“ Feine Lachfältchen begleiteten ihr Strahlen.

„Schließlich wollen wir auch Herrn Magnus Grünfeld, erster Vorsitzender des Bürgervereins von ... ähm …“ Er sah kurz auf seine Unterlagen und fuhr fort: „… von Ochsenwerder, in unserer kleinen Runde begrüßen.“

„Guten Abend allerseits.“ Auch wenn er innerlich eine gewisse Aufregung verspürte, antwortete Magnus Grünfeld mit fester Stimme. Die Anwesenden ließen sich ihre Irritation über den ungewöhnlichen Gast kaum anmerken und lächelten ihm freundlich zu.

„Als Letzten im Bunde möchte ich Ihnen noch unser Küken vorstellen, den Senator für Stadtentwicklung und Zweiten Bürgermeister, Herrn Thorsten Schmidt.“ Dieser hob einmal kurz die Hand und schürzte die Lippen.

„Da bei Olympia natürlich der Sport im Fokus steht, möchte zunächst unser Sportamtsleiter ein paar Worte an Sie richten.“

Der ehemalige Segler Johannes Cornelsen begann, mit bedächtiger Stimme zu den Anwesenden zu sprechen. Langatmig bekundete er seinen Dank für die Gastfreundschaft des Ersten Bürgermeisters und erteilte schließlich der Vorsitzenden seiner Arbeitsgruppe, Frau Nina van Haff, das Wort.

„Ich freue mich total, hier heute dabei sein zu dürfen! Olympia in Hamburg - der Hammer! Davon kann man nur träumen! Als ich vor fünf Jahren zu Hamburgs Sportlerin des Jahres gewählt worden bin, war dieser Traum noch in weiter Ferne. Doch jetzt scheint er zum Greifen nah. Wenn wir alle zusammen richtig gute Arbeit machen!“ Sie suchte den Augenkontakt zu ihrem Gegenüber und fragte ihn mit einem herausfordernden Lächeln: „Herr Schmidt, was können Sie als Senator für die Stadtentwicklung zu den städtebaulichen Auswirkungen und Möglichkeiten durch die Olympischen Spiele sagen?“

Warum fühlte er sich im Moment bloß wie beim Abfragen der Englischvokabeln vor der gesamten Klasse? Außerdem bekam der Jungpolitiker bei Ninas Anblick die eindeutigen Bilder dieses Herrenmagazins nicht mehr aus dem Kopf. Leicht errötet und stotternd begann Thorsten Schmidt mit seinen Ausführungen: „Wir … wir … haben das Glück, dass in der Hafencity und vor allem auf dem Grasbrook noch einige Flächenreserven für die Sportstätten und die Unterbringung vorhanden sind. Allein schon das olympische Dorf braucht eine enorme Fläche für die über zehntausend Athleten mit ihrem fast ebenso großen Betreuerstab.“

„Da muss ich leider kurz einhaken“, unterbrach ihn Nina van Haff.

Irritiert starrte der Senator sie an. „Ja, bitte?“

„Vor einigen Tagen hat es von Seiten des IOC eine neue Direktive bezüglich des olympischen Dorfs gegeben.“

„Als da wäre?“

„Es soll kein olympisches Dorf mehr geben.“

„Kein olympisches Dorf?“

„Exakt.“

„Und wo sollen dann die Sportler hin?“

Nina hielt kurz inne, bevor sie weitersprach. „Wie Herr Relin vorhin ganz treffend geschildert hat, soll das olympische Ideal der Völkerverbindung wieder stärker in den Vordergrund gerückt werden.“ Sie suchte in ihren Unterlagen und holte schließlich einen Zettel hervor. „Ich wurde gebeten, folgende Aussage des Erfinders der Olympischen Spiele der Neuzeit, Pierre de Coubertin, zu zitieren: ,Die Menschen in aller Welt aufzufordern, einander zu lieben, ist kindisch. Sie aufzufordern, einander zu respektieren, ist hingegen überhaupt nicht utopisch – aber um sich respektieren zu können, ist es erst einmal notwendig, dass sie sich kennen lernen’.“

„Und wie soll das jetzt konkret funktionieren? Ohne olympisches Dorf?“, fragte Thorsten Schmidt mit schneidender Stimme.

„Es ist ausdrücklich gewünscht, dass alle Sportler auf bereitwillige Haushalte in der Hamburger Bevölkerung aufgeteilt werden.“

„So kirchentagsmäßig?“, bemerkte ihr Gegenüber belustigt.

„Oder wie beim Turnertag?“, fragte der Sportamtsleiter nach.

„Das kann man so sehen. Natürlich in einer ganz anderen Größenordnung und Qualität. Das erfordert eine Menge Organisation, Schulung der Gastgeber in Sitten und Gebräuchen, Bereitstellung der Infrastruktur und und und ...“

„Aus Sportlersicht kann ich diese Entscheidung nur bedauern. Das olympische Dorf gehört doch zu Olympia wie die Eier zu Ostern“, gab Annegret Winkel vom Olympiastützpunkt zu bedenken.

„Es wird ja weiterhin Ostern geben, nur dass die Eier diesmal von vielen Osterhasen verteilt werden, mit denen die Sportler auch ins Gespräch kommen sollen und nicht von einem unsichtbaren Osterhasen, den keiner wahrnimmt“, versuchte Nina den Einwand zu entkräften.

„Also, ich glaube, dass sich die olympische Bewegung mit dieser neuen Regelung ein neues, ja, ein menschlicheres Image geben wird. Alle sprechen nur noch von Doping und dem Kommerz. Wenn die Sportler bei den Gastgebern des Landes wohnen, rückt die Welt wieder enger zusammen.“ Der Sportamtsleiter versuchte, der neuen Entwicklung etwas Positives abzugewinnen.

Die Leiterin des Olympiastützpunktes hielt dagegen: „Haben Sie denn dabei an die Sportler gedacht? Was diese neue Regelung für sie bedeutet? Über zehntausend junge Menschen wollen untergebracht werden! Das ist ’ne ganze Menge!“

„Auch wenn ich persönlich das Dorf immer super fand. Der ständige Trubel lenkt auch ganz schön ab. Manche Spitzensportler schlafen sogar bewusst außerhalb“, berichtete Nina van Haff.

Der Erste Bürgermeister räusperte sich kurz und meldete sich dann zu Wort: „Meine lieben Freunde! Ich finde diese Aufgabe ganz sympathisch. Wir müssen eben umdenken. Neue Wege gehen. Es ist doch so: Seit den verheerenden Ereignissen 1972 in München werden die Sportler während der Spiele von der Außenwelt abgeschottet. Bis auf die wenigen Kontakte mit den Volunteers nehmen sie von dem Gastgeberland nicht viel mit nach Hause. Mit diesem neuen Konzept ist Coubertins Idee der kulturellen Begegnung und der völkerverbindenden Freundschaft gewahrt. Er würde sich über die Idee freuen. Vor der sportlichen Höchstleistung steht immer noch die Freundschaft und der gegenseitige Respekt!“

„Aber wir haben bereits Vorgespräche geführt. Auch zum Bau des Dorfes“, gab sein Stellvertreter zu bedenken. Seine Hände begannen zu schwitzen.

„Dann wird es diesbezüglich auch bei Vorgesprächen bleiben!“, stellte Veit Relin unmissverständlich fest und fuhr fort: „Ich habe bereits dieses Bild vor Augen: Sportler mit Fahnen in den Händen, stolzgeschwellter Brust. Alle freuen sich auf gemeinsame Wettkämpfe in unserer schönen Stadt. Am Ende der Eröffnungsfeier fliegen weiße Tauben in den Himmel ...“

„Entschuldigen Sie, Herr Bürgermeister, aber seit bei den Spielen in Seoul 1988 einige Vögel in der olympischen Flamme verbrannten, hat man von diesem optisch netten Brauch Abstand genommen“, unterbrach ihn Frau van Haff, um kurz darauf weiterzusprechen: „Im Sommer entscheidet der Olympische Sportbund OSB über die deutsche Bewerberstadt. Wir haben uns nicht zuletzt wegen dieser neuen Vorgabe ein sehr vielversprechendes Pilotprojekt überlegt, das ich Ihnen im Folgenden einmal vorstellen möchte."

Der Senator für Stadtentwicklung wirkte nun nicht mehr irritiert, sondern hochgradig verärgert. Warum wurden seine Einwände derartig übergangen? Immerhin stellte seine Partei den Koalitionspartner - und er diente hier garantiert nicht als Steigbügelhalter!

„Wir werden in den nächsten Wochen einen Testlauf fahren.“ Frau van Haff räusperte sich und versuchte, jeden mit ihrem Augenaufschlag zu erreichen. „Der Bezirk Bergedorf verfügt über optimale Wassersportbedingungen. Anfang Juni wird es dort einen Ruder-Weltcup mit rund fünfzig Nationen geben. Natürlich sind die Hotels bereits gebucht und alle Mannschaften untergebracht. Nur das italienische Team hat sich sehr lange damit Zeit gelassen. Nun wollen sie doch noch mit einer gut fünfzigköpfigen Delegation daran teilnehmen. Da in Italien ein rigoroser Sparkurs gefahren wird, haben wir der Mannschaftsleitung, mit dem Gedanken eines Testlaufs im Hinterkopf, gratis Kost und Logis bei bestens vorbereiteten Privatunterkünften angeboten - in unmittelbarer Nähe zur Regattastrecke. Deshalb möchte ich nun Herrn Grünfeld aus Ochsenwerder bitten, ein paar kurze Worte an uns zu richten.“

Magnus Grünfeld hatte bisher aufmerksam zugehört. Bei seinem ersten offiziellen Besuch im Hamburger Rathaus schien ihn die würdevolle Atmosphäre nicht sonderlich einzuschüchtern. Nach Ninas Aufforderung setzte er sich aufrecht hin, fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar und sprach mit einem zurückhaltenden Lächeln in die Runde: „Danke, Frau van Haff. Also, ich muss schon sagen: Ich bin echt begeistert! Eigentlich habe ich die Olympischen Spiele der letzten Jahre immer mit einem besorgten Auge betrachtet, vor allem wegen der ungeklärten Umweltfragen. Sie müssen wissen, ich bin dabei, unseren Hof auf biologische Landwirtschaft umzurüsten.“ Er erntete anerkennendes Nicken. „Neben dem hier noch nicht thematisierten Anspruch der Nachhaltigkeit wirkt das ganze Konzept auf mich sehr persönlich und nah bei den Menschen. Aus dem Grund kann ich mir durchaus vorstellen, dass die Bewohner in Ochsenwerder die italienischen Ruderer sehr gerne bei sich aufnehmen würden!“ Frau Winkel lächelte ihm wohlwollend zu. „Trotzdem ist sicherlich noch Überzeugungsarbeit zu leisten. Nächste Woche haben wir turnusgemäß eine Gemeindesitzung anberaumt. Dazu möchte ich Sie alle recht herzlich einladen!“

„Da muss ich kurz noch einmal dazwischengrätschen, Herr Grünfeld“, schaltete sich Frau van Haff ein. „Zum jetzigen Zeitpunkt werden wir Ihren lieben Nachbarn von dem Olympiagedanken hinter diesem Pilotprojekt noch nichts sagen. Im Moment werden lediglich schöne Privatunterkünfte für Weltklasseruderer gesucht. Alles andere ist selbstverständlich top secret!“

Er hasste Schiffsreisen! Schon als kleiner Junge plagte ihn dabei immer die Übelkeit. Trotzdem musste er stark sein. Für seinen Bruder. Seit dem Abschied von den Eltern hatte er für ihn die Verantwortung übernommen. Vater hatte ihm zwei dicke Umschläge mit Geld in die Hand gedrückt. Nach dem Verkauf des Eisenwarenladens, der schon dem Großvater gehört hatte. Schon als kleines Kind faszinierten Khaled die vielen Schrauben und noch mehr die verschiedenen Werkzeuge. Oft hatte er aus Ausschussware kleine Kunstwerke gebaut. Aber auch nützliche Dinge wie ein Fahrrad für die Puppe seiner jüngeren Cousine. Am ersten Tag des Ingenieurstudiums wähnte er sich am Ziel seiner Wunschträume. Er wollte technische Meisterwerke konstruieren, die den Menschen großen Nutzen brachten.

Aber auf keinen Fall Schiffe! Die Überfahrt in die Türkei verlief auf ruhiger See und dauerte zum Glück nicht lang. Auch wenn im Nachbarland kein Krieg herrschte, konnten sie nicht bleiben. Er hatte so viele Pläne für sein Leben. Sie mussten unbedingt weiter nach Europa. Fünftausend Euro – fast die gesamten Ersparnisse des Vaters - hatten ihre beiden Plätze auf einer rostigen alten Fähre nach Italien gekostet. An Bord drängten sich viel zu viele Menschen. Schreiende Kinder, weinende Frauen, ernst blickende Männer. Am schlimmsten war jedoch der Seegang. Keiner mochte etwas essen oder trinken. Überall stank es. Es roch nach allem, was Menschen von sich geben konnten. Sogar nach Hoffnungslosigkeit und Angst. Die blieben. Auch wenn sich die Nächte langsam erwärmten, froren sie. Immer wieder spritzte kalte Gischt auf das Deck. Ihre Vorräte gingen bald zur Neige und sie mussten das Wasser auf dem Schiff trinken. Es schmeckte salzig und sandig. Die Schlepper verteilten altes Brot. Viele Passagiere schliefen im Sitzen und träumten von einer besseren Zukunft.

3 Sonntagnachmittag

 

„Karlo! Amore!! Karlooo!!!“, rief Gianna Moretti aus dem ersten Stock des Vierländer Hofs. Die Inneneinrichtung des neuen Apartments stand kurz vor der Vollendung. Für die restlichen Arbeiten benötigte sie die Hilfe ihres Freundes. Die beiden hellen Räume am Ende des Flurs bildeten den Abschluss der vor über einem Jahr begonnenen Erweiterungsmaßnahme. Neben dem Apartment waren zehn neue Doppelzimmer zu den bestehenden zehn hinzugekommen.

Plötzlich spürte Gianna einen Luftzug. Mit leisen Schritten hatte sich Karlo an sie herangeschlichen. Er schob ihre dichten Locken beiseite und küsste sanft den Nacken seiner Freundin.

„Karlo! Finalmente!“ Freudestrahlend drehte sie sich zu ihm um. Sofort wollte er sie in seine Arme ziehen, was sie jedoch mit einer leichten Handbewegung abwehrte. „Scusa, amore. Aber, wir haben zu tun! Heute kommen doch die Gäste aus Holland und nichts ist fertig!“

„Das wird schon klappen, meine kleine Perfektionistin. Ist doch wunderschön hier!“ Anerkennend bewunderte er den altweiß gestrichenen Raum, die grün-weiß karierte Decke auf dem Couchtisch und die frischen weißen Freesien aus Hinrichs Gewächshaus, die Gianna in einer bauchigen Glasvase arrangiert hatte. „Du musst mir helfen, die Vorhänge anzubringen.“ Sie deutete auf die lindgrünen Stoffbahnen über dem Sofa, das mit dezenten Blümchen gemustert war. „Das ist mir zu hoch. Und die Bilder dort sollen über das Bett.“ Sie zeigte auf zwei Leinwände mit abstrakten Farbverläufen.

„Mach ich gleich. Aber zuerst kommst du mal zu mir.“

Mit sanftem Druck zog er sie an sich und suchte ihren Mund. Manchmal musste er sich kneifen, weil Gianna nun schon über zwei Jahre bei ihm wohnte und jede Nacht den Alkoven mit ihm teilte. Anfangs hatte allein ihr Anblick seinen Körper in einen unkontrollierbaren Unruheherd verwandelt. Jetzt stellte sich dieses Gefühl wohldosiert ein, wenn er sie nach kurzer Zeit der Trennung wieder in seine Arme schließen konnte. Ihre Küsse wurden leidenschaftlicher. Eng umschlungen standen sie vor dem frisch bezogenen weißen Metallbett. Als Karlo sie gerade in Richtung der weichen Matratze drücken wollte, klopfte es plötzlich an der Tür. Ohne eine Antwort abzuwarten, stürmte Hausdame Erne Wulffke herein. Wie zwei ertappte Teenager lösten sich Gianna und Karlo eilig voneinander.

Alle drei schienen peinlich berührt.

„Oh! Ich wusst ja nich … ähm …“ Verlegen strich Erne ihr apricotfarbenes Twinset zurecht. „Chef, da is Besuch für Sie.“

„Ja, Erne. Einen Moment. Bin gleich da.“

 

*

 

„Wadek!“ Sichtlich erfreut begrüßte Karlo den Mann in grauer Arbeitskleidung. „Das ist aber nett, wie geht’s?“ Hinter dem wettergegerbten Lächeln seines Gegenübers konnte er ernsthafte Sorgen erkennen.

„Ich brauche Hilfe.“

„Gerne. Was kann ich tun?“

„Meine kleine Nichte Elzbieta, alle sagen Ella, hat Freund, Pawel. Is nich lange in Deutschland für Arbeit. Jetzt is weg.“

„Wie weg? In Polen? Oder hier?“, fragte Karlo irritiert nach.

„Weiß nich. Is nich in Polen bei Ella.“

„Das heißt, er wohnt hier und ist plötzlich verschwunden?“

„Is guter Junge. Jeden Sonntag wir gehen nach polnische Kirche in St. Pauli. Aber heute er nich kommen.“

„Vielleicht wollte er nur mal länger schlafen. Oder er hatte keine Lust.“

„Er immer kommt!“, wies Wadek Karlos lapidaren Einwand entschieden zurück.

„Wann hast du ihn denn das letzte Mal getroffen?“

„Sonntag vor eine Woche. In Kirche. Aber heute Morgen nich. Ich war vorhin bei seine Wohnung. Da is auch nich!“

Karlo seufzte innerlich. Er wusste nicht, was er davon halten sollte. Seit Wadek ihn vor zwei Jahren aus dem Schuppen seines Dirigenten Manfred Eckers befreit hatte, fühlte er sich ihm verpflichtet.

„Und was soll ich jetzt tun?“

„Kannst du diese Kommissar fragen? Der auch war in Schuppen.“

„Spannich?“

„Weiß nich Namen.“ Kommissar Spannich! Insgeheim hatte Karlo gehofft, diesen Menschen mit dem akkurat gezogenen Seitenscheitel und der ständig rutschenden Nickelbrille nicht noch einmal wiederzusehen. Jedoch wirkte Wadek ziemlich verzweifelt. „Sie nächstes Jahr wollen heiraten. Pawel is Student. Sehr klug. Will Lehrer werden. Muss Geld verdienen für Haus in Polen.“

„Ich will mal sehen, was ich tun kann“, versprach Karlo.

 

*

 

Im Polizeikommissariat von Bergedorf saß Dirk Spannich an seinem Schreibtisch und brütete über dem verzwickten Fall einer Bande von Produktpiraten. Innerhalb kürzester Zeit hatten sie in seinem Bezirk drei Lager mit gefälschten Markenhandys entdeckt. Passend dazu hatte es in den letzten Tagen allein auf seiner Dienststelle drei Betrugsanzeigen wegen defekter Mobiltelefone gegeben. Alle Geräte waren von den Geprellten zu einem deutlich günstigeren als dem Listenpreis im Internet bestellt worden.

Nach einer Weile stellte der Kommissar seinen grünen Bleistift in einen silbernen Behälter, der mehrere gleichfarbige Stifte enthielt. Er schloss die grüne Mappe und legte sie auf andere ordentlich gestapelte grüne Aktenmappen, die in einem silbernen Ablagekorb auf weitere Bearbeitung warteten. Nach einem Blick auf die Uhrzeit im Computer bückte er sich nach unten, um pünktlich zur Mittagspause seine Brotdose aus dem Aktenkoffer hervorzuholen. Eine erste Prüfung ergab, dass seine Mutter heute sogar an ein Salatblatt zwischen Salami und Brot gedacht hatte. Ein paar Gurkenscheiben lagen daneben. Er wollte gerade abbeißen, als plötzlich das Telefon vor ihm klingelte. Mit einem Seufzer legte er das Brot zurück in die Dose, rückte seine Brille zurecht und nahm den Hörer ab. „Spannich?“

„Hallo, Herr Kommissar Spannich, Kolberg hier, Karl Kolberg, erinnern Sie sich?“

„Ach, der Herr Kolberg!“ Auch wenn die Angelegenheit bereits zwei Jahre zurücklag, hatte er diesen gefährlich neugierigen Hotelier nicht vergessen. „Was haben Sie denn diesmal für uns? Wieder eine Frau um den Verstand gebracht? Oder versehentlich Pflanzenschutzmittel getrunken?“

Innerlich verdrehte Karlo die Augen. Musste der Kommissar ihn unbedingt wieder an diese Biggi erinnern, die damals aufgrund seiner Zurückweisung mehrere Sabotageakte auf ihn hatte verüben lassen? Er schluckte den Ärger herunter. „Ein Bekannter von mir bräuchte Ihre Hilfe. Er vermisst den Verlobten seiner Nichte.

---ENDE DER LESEPROBE---