Dein ist die Macht - Maria Höfle - E-Book
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Maria Höfle

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Beschreibung

Ist der Polizeipräsident ein Mörder? Ein Whodunit-Krimi für Fans von Agatha Christie, Elizabeth George, Tana French und natürlich von Kufstein, Tirol und Österreich! »Konstantin, der Vater des Toten hat mich kontaktiert, weil er Angst hatte, dass du befangen bist.« »Du glaubst tatsächlich, dass mein Patenonkel den Journalisten vergiftet hat? Das ist Irrsinn. Martin ist seit sechs Jahren Polizeipräsident. Und er ist bestimmt kein Mörder. Vertrau mir, Dorothea. Bitte!« »Ich vertraue dir. Aber ich kenne die Fakten.« Als an einem heißen Juniabend beim alljährlichen Charity-Ball der Enthüllungsjournalist Richard Vogel vergiftet wird, liest sich die Liste der Verdächtigen wie ein Who-is-Who der Kufsteiner High Society. Der Vater des Toten vermutet den Täter in hohen Polizeikreisen und befürchtet, dass die Mordkommission befangen sein könnte. Er bittet die Polizistin Dorothea Keusch, eigenmächtig zu ermitteln. In ihrem zweiten Fall setzt Dorothea nicht nur ihre Karriere aufs Spiel, sondern muss auch ihre Gefühle für Chefinspektor Konstantin Schmitt auf Eis legen. Bei ihren Nachforschungen stößt sie auf erschütternde Schicksale, Skandale und tiefe Schuld. Um der Wahrheit auf den Grund zu gehen, muss sie nicht nur hinter die Fassade der Stadt blicken, sondern auch ihre eigene Loyalität in Frage stellen... »Ein gut geschriebener Krimi, der den Leser bis zum Schluss in die Irre führt.« ((Leserstime auf Netgalley))

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© Piper Verlag GmbH, München 2020

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: FAVORITBUERO, München

Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt

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Inhalt

Cover & Impressum

Widmung

Disclaimer

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Mein herzlicher Dank

Für Lea

Dieses Buch ist ein Roman.Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

Kapitel 1

»Seit du in Kufstein Inspektorin bist, tummeln sich hier die Leichen.« Chefinspektor Konstantin Schmitt ging in die Knie, betrachtete im Kegel seiner Taschenlampe die elegante Abendgarderobe des Toten und beäugte die Schärpe mit der Aufschrift Kufsteiner Charity-Ball.

Dorothea schwieg.

In der tropischen Juninacht, die heiß und schwül war wie die vergangenen zehn, spannte die Uniformbluse, die Hose kniff rund um ihre Taille. Selbst um vier Uhr morgens war die Hitze mitten in der Altstadt unerträglich. Der penetrante süße Dunst von Blüten hing in der Luft und ließ Dorothea schwer atmen, ihre Kehle schmerzen. Sie konnte vor Müdigkeit kaum noch stehen.

Aus dem Halbdunkel sah Konstantin zu ihr auf. »Das ist also der Preis.«

Dorothea durchsuchte ihr Gehirn, erfolglos. Wovon sprach Konstantin? Sie stutzte. Gab es eine Geheimsprache unter Kollegen der Mordkommission, eine Art Code, den sie als Inspektorin der Kufsteiner Stadtpolizei nicht verstand?

Zwei Stunden lang hatte sie auf dem Kopfsteinpflaster gewartet, im Licht des Vollmondes und ihrer Taschenlampe jedes Detail des prominenten Toten studiert. Mitten in der Stadt lehnte er in der Dunkelheit an dem marmornen Türrahmen an der Ecke des Rathauses. Er wirkte, als ob er in der VIP-Lounge reichlich schottischen Whisky getrunken, eine kubanische Zigarre zu viel geraucht, den Ball verlassen, sich auf die Stufe gesetzt und an die historische Fassade des alten Gemäuers gelehnt hätte. Schräg über ihm hing ein gläsernes Schild:

Rathaus Kufstein

Stadtmarketing

Historischer Rundwanderweg

Station 22:Das Rathaus und die Strafvollstreckung

Elegante Fliege, weißes Hemd, schillernder Frack, schwarze Lackschuhe. Falls der Fährmann der griechischen Mythologie die Toten in der Unterwelt über den Styx setzte, war dieser Passagier heute fraglos der eleganteste in Charons Boot. Sie sollte ihm eine Münze unter die Zunge legen, damit er nicht an den Ufern des Styx herumirren musste.

»Das Geheimnis ist gelüftet.« Konstantin nickte vor sich hin. »Ein hoher Preis.«

Welches Geheimnis? Dorothea gab sich geschlagen. »Welches Geheimnis? Der Preis wofür?«

»Das Geheimnis, das ich schon lange lüften wollte.« Schmitt drehte sich zu ihr um. »Was ist der Preis für eine Nacht mit Dorothea Keusch?« Er grinste. »Nun weiß ich es.« Der Chefinspektor zwinkerte ihr zu. »Man muss wie Daniel Craig aussehen, elegant gekleidet sein und mausetot.«

Dorothea lachte nicht. Sie war fest entschlossen, die makabren Späße des Chefinspektors zu ignorieren und sich auf den leblosen Körper zu konzentrieren.

Schmitts Rücken hinderte sie daran. Er kam ihr noch breiter vor als sonst, noch sportlicher. Seine Haare waren im Nacken länger, nicht mehr ganz präzise geschnitten. Es ließ ihn jünger wirken. Dorothea atmete den Duft seines Aftershaves ein, schloss einen Moment die Augen. Hugo Boss. Konstantin Schmitt. Sie hatte vergessen, wie gut er aussah, wie tief seine Stimme klang, wie ungewohnt es war, ihn zu duzen. Konstantin. Merkwürdig. Denn in den letzten vier Monaten war kein Tag vergangen, an dem sie nicht an ihn gedacht hatte. Sofort meldete sich ihre innere Stimme. Vergiss es. Du hast keine Zeit für solche Flausen.

»Fand heute Nacht das Kufsteiner Event des Jahres statt?« Konstantin wies auf die Schärpe des Toten. »Der Charity-Ball im Rathaus?«

Dorothea nickte und schauderte. In den Festsälen und Gewölben des Kufsteiner Rathauses spielte das Tanzorchester nicht mehr im Tangotakt. Keine Ballgäste drehten sich mehr im Wiegeschritt auf dem Parkett. Doch das Flair von Selbstherrlichkeit, Blasiertheit und Wichtigtuerei zog noch immer um das politische Zentrum der Stadt.

»In Uniform auf dem Ball?« Konstantin betrachtete ihre Adjustierung.

»Dienstlich.« Dorothea zwang sich, ihre Uniformbluse nicht glatt zu streichen. »Es hat in den letzten Wochen einige Vorfälle von Vandalismus gegeben.«

»Schon wieder? Die gleiche Vorgehensweise wie im Jänner?«

»Keine Hinweise auf einen rechtsradikalen Hintergrund.« Dorothea schüttelte den Kopf. »Wir gehen von anderen Tätern aus. Die Reifen eines Ferraris wurden aufgeschlitzt, der Zaun einer Villa mit Farbe besprüht. Das Ballplakat zerschnitten.«

»Und die Veranstalter waren nervös?«

»Ja. Fuhrmann hat Speckner und mich als Polizeischutz eingeteilt.«

Seit neun Stunden stellte Dorothea daher sicher, dass niemand ohne überteuerte Eintrittskarte den exklusiven roten Teppich betrat, die weißen Roben der Debütantinnen während der Eröffnung beschmutzte, prominente Gäste bei ihrem Small Talk belästigte, die Kristalllüster zerschmetterte, die Off-White-Tischdecken zerriss, die Mitternachtseinlage störte, die Kameras der Presse beschmierte, kurz: den Glanz und Glamour der Benefizveranstaltung in irgendeiner Weise gefährdete.

Auf eine Leiche war Dorothea nicht gefasst gewesen. Nur auf die Widrigkeiten einer Ballnacht. Zu Recht. Alte Damen in Rüschen und Opalen hatten missbilligende Blicke auf Dorotheas Uniform geworfen, junge Frauen mit perfektem Make-up und extravaganten Frisuren befremdet Dorotheas dicken, langen Zopf, ihr ungeschminktes Gesicht betrachtet. Zu viel nackte Haut für Dorotheas Geschmack, zu hoch getragene Nasen.

Sie hasste Bälle. Mit Entsetzen erinnerte sie sich an den einzigen Tanzabend, den sie jemals besucht hatte. Das blaue Seidenkleid. Ihre Haare in dem kunstvollen Dutt. Die Perlenohrringe ihrer Großmutter. Sie war so stolz gewesen, hatte sich wunderschön wie Cinderella gefühlt. Aber niemand hatte in ihr etwas anderes gesehen als das pummelige Mädchen. In den vierzehn Jahren nach ihrem Abschlussball hatte sie nicht einen einzigen Tanzabend mehr besucht.

Aber diesmal war ihr keine Wahl geblieben. Sich Fuhrmanns Anweisungen zu widersetzen? Ein No-Go! Hatte ihr Vorgesetzter geahnt, dass sie Events solcher Art verabscheute, und sie deshalb zum Dienst eingeteilt?

Sie seufzte.

Seit sie im Jänner hinter Fuhrmanns Rücken ermittelt hatte, schikanierte er sie auf subtile Art. Die Tatsache, dass sie tatsächlich einen Mordfall gelöst hatte, schien noch zusätzlich Öl ins Feuer gegossen zu haben. Sie bekam keinen einzigen interessanten Fall mehr zur Bearbeitung. Und wenn es das Schicksal doch so wollte, dann schob ihr Vorgesetzter dem einen Riegel vor. Spätestens nach einem Tag musste sie ihn an Speckner oder einen anderen von Fuhrmanns Lieblingen abgeben. Monotonie bestimmte ihren Dienstalltag, der Tote auf dem Charity-Ball war seit vier Monaten die einzige – wenn auch groteske – Abwechslung.

»Du vermutest, dass er vergiftet wurde?« Konstantin riss sie aus ihren Überlegungen.

»Ja.« Die Lippen des Toten verrieten es.

Konstantin leuchtete mit einer Taschenlampe in das Gesicht des Mordopfers, musterte es. Warum glaubst du das, schien er zu fragen. Sie konnte es in seinen Augen sehen, aber er stellte die Frage nicht. »Waren beide Eingänge des Rathauses offen?«

»Nein, der Eingang und Ausgang für Gäste war am oberen Stadtplatz. Die zweite Tür kann nur im Notfall geöffnet werden.«

»Was hat er hier getrieben … bei der unteren Pforte?« Konstantin blickte hinauf zum Wahrzeichen der Stadt. »Mitten in der Nacht die Kufsteiner Festung besichtigt?« Oberhalb des Rathauses thronte die St.-Vitus-Kirche. Konstantin zwinkerte Dorothea verschmitzt zu. »Eine Beichte abgelegt?«

Dorothea hatte sich bereits dieselbe Frage gestellt. »Vielleicht hat er sich mit jemandem getroffen?«

»Möglich. Wer hat ihn gefunden?«

»Eine Kellnerin. Sie wollte eine Zigarette rauchen, ohne erwischt zu werden. Sie war wohl nicht die Einzige, die ihn gesehen hat, aber die Erste, die ihn angesprochen hat. Das Personal hatte Anweisungen, auf Unregelmäßigkeiten zu achten. Sich bei uns zu melden. Er hat sich nicht bewegt, also hat sie mich geholt.«

»Ein neuer Mordfall für Keusch und Schmitt?«

Ermittlungen mit Konstantin? Bei dem Gedanken daran ging Dorotheas Atem schneller. Seit Monaten durchforstete sie ständig die Zeitungen nach seinem Namen, verfolgte jeden Fall, den die Mordkommission mit Konstantin an der Spitze bearbeitete. Die Jugendliche, die vergewaltigt und ermordet worden war. Die Mutter, die ihre Kinder aus dem Fenster gestoßen hatte, damit ihr Ex-Mann sie nicht bekommen konnte. Der Industrielle, der seinen Manager erschießen hatte lassen.

Die Vorstellung, wieder mit ihm zu arbeiten, war erhebend. Sprühend, funkelnd. Doch Dorothea wusste, dass sie sich keinen Fehler erlauben durfte, nach Fuhrmanns Regeln spielen musste, wenn sie ihr Ziel erreichen wollte. Überlass die Ermittlungen Konstantin und seinen Kollegen von der Mordkommission.

Mordkommission. Die Abteilung Leib und Leben. Im September würde eine neue Stelle ausgeschrieben werden. Und diesmal wollte Dorothea es schaffen. Sie hatte einen Plan. Sie würde die Stelle bekommen. Den Tod ihres Vaters aufklären.

Sie musste nur die Prüfung hinter sich bringen. Aber dazu brauchte sie Zeit. Zeit, die sie nicht mehr hatte. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als am Ende ihrer Schicht endlich mit ihrem Vorgesetzten zu reden. Sie seufzte. Vorher musst du ihm noch erklären, warum du das Landeskriminalamt eingeschaltet hast.

Neben ihr erhob sich Konstantin. »Wie wäre es mit einem Totendrink, Inspektorin Keusch?« Er grinste.

Dorothea überging den Scherz und sah zu ihm auf. »Der Name des Toten ist Richard Vogel. Er ist ein freier Journalist … « Sie stockte.

Konstantin erwiderte ihren Blick, seine Augen waren ernster, als Dorothea sie jemals gesehen hatte. Er nickte. »… und Herausgeber eines Kufsteiner Magazins. Vogel ist dafür bekannt, Skandale aufzudecken. Ganz Kufstein kennt und fürchtet ihn.«

Kapitel 2

»Du hast das Landeskriminalamt angerufen?« Fuhrmanns Gesicht verfärbte sich scharlachrot unter dem Schnauzer und den buschigen Augenbrauen bis hinauf zum blonden Haaransatz. Der Chefinspektor hielt sich an der Schreibtischplatte fest und erhob sich von seinem Drehsessel. »Weil die Lippen des Toten zu rot waren?« Die Kante schnitt in seinen Bierbauch, er beugte den Oberkörper nach vorn, ungläubig, wutentbrannt. »Weil sie moosig rochen?«

Dorotheas Magen verkrampfte sich. Um sieben Uhr morgens, kurz nach Dienstbeginn, wies das sauber gebügelte Hemd ihres Vorgesetzten unter den Achseln bereits Schweißflecken auf. Ausdünstungen, die an Zwiebeln erinnerten, hingen in der Luft, vermischten sich mit dem Geruch von Bügelstärke, durchzogen das Büro. Übelkeit stieg in ihr auf.

»Ist dir nicht in den Sinn gekommen, dass Richard Vogel vielleicht einen Herzinfarkt hatte?« Fuhrmanns Stimme bebte.

Trotz der Hitze im Büro fühlten sich Dorotheas Fingerspitzen auf ihren Knien kalt an. Auf dem unbequemen Stuhl vor dem altgedienten Schreibtisch hielt sie sich ruhig, konzentrierte sich auf eine abgewetzte Stelle am Kragen ihres Chefs.

»Warum hast du keinen Arzt gerufen?« Polternd, drohend klang seine Stimme.

Weil ich mir sicher bin, dass die Todesursache nicht natürlich ist. Und weil dann die Vorschrift so lautet. Dorothea öffnete den Mund, registrierte Fuhrmanns abwehrende Hand und realisierte, dass es eine rhetorische Frage gewesen war.

»Eiben? Taxin-Vergiftung?« Der Chefinspektor war rasend, so, als habe man ihn persönlich angegriffen. »Hast du zu viele Krimis gelesen?«

Dorothea hatte mit Verwunderung gerechnet, nicht mit blanker Wut. Warum geriet Fuhrmann so aus der Fassung? Dicke Zwiebelschwaden durchzogen die Luft, sie ignorierte den fahlen Geschmack auf ihrer Zunge, zwang sich, gute Miene zum bösen Spiel machen. Wenn sie ihr Ziel erreichen wollte, musste sie diese Tirade über sich ergehen lassen.

»Ich möchte nicht zum Gespött der Mordkommission werden, nur weil eine meiner Inspektorinnen zu viel Fantasie hat.«

Und da war sie. Des Rätsels Lösung. Die Erklärung für Fuhrmanns Rage: Seine größte Angst war es, sich zu blamieren. Bloßgestellt zu werden. Als unfähig zu gelten. Das Einzige, was Chefinspektor Fuhrmann mehr hasste als Polizisten, die sich eigenständiges Denken erlaubten, waren Polizistinnen, die sich eigenständiges Denken erlaubten.

»Die Mitglieder des Landeskriminalamtes sind überheblich genug.« Er schnaubte verächtlich. »Wir brauchen ihnen nicht noch mehr Zündstoff zu liefern, indem wir einen Herzinfarkt als Mord präsentieren.«

Dorotheas Oberschenkel begannen zu schmerzen. Nach zwölf Stunden Dienst, einem anstrengenden Ball, einem Toten und dem Wiedersehen mit Konstantin, das sie sich anders ausgemalt hatte, wollte Dorothea nur noch schlafen.

»An deiner Stelle würde ich zu Gott beten, dass es wirklich Gift war.« Fuhrmann trat ans Fenster, die Hände in den Hosentaschen. Die Beulen im Stoff verrieten, dass er sie zu Fäusten geballt hatte. Durch die halb geschlossenen Lamellenvorhänge beobachtete der Chefinspektor die Fahrzeuge auf der Kreuzung, ein schwarzer Mercedes blieb stehen, fuhr quietschend los. »Weißt du, wer bei diesem Ball war?«

Dorothea nickte. Viele unangenehme Mitglieder der Spezies Homo sapiens. Doch sie schwieg.

»Rechtsanwälte, Ärzte, die High Society von Kufstein.« Fuhrmann drehte sich zu ihr um. »Die Presse. Das Fernsehen. Der Bürgermeister, der Vizebürgermeister, Landtagsabgeordnete, sogar der Polizeipräsident.« Er zog ein riesiges Taschentuch aus seiner Hosentasche und wischte sich mit seinen Wurstfingern den Schweiß von der Stirn. »Wenn sich herausstellt, dass Vogel an einem Herzinfarkt gestorben ist, ist die Polizei auf viele Schlipse getreten und hat sich wieder einige Feinde gemacht. Und die Presse wird uns kreuzigen.« Er zerknüllte die karierte Baumwolle, stopfte sie zurück. »Dein vermeintliches Mordopfer war einer von diesen Aasgeiern. Wusstest du das? Sie werden einen Heidenspaß daran haben, uns in der Luft zu zerreißen.«

Es war kein Herzinfarkt. Du hast solch panische Angst vor einer Niederlage, dass es dir nicht mal in den Sinn kommt, dass ich recht haben könnte.

»Als ob wir nicht schon genug Probleme mit unserem Image hätten.« Der Chefinspektor wandte sich erneut ab, trat ans Fenster. »Für die Bevölkerung ist die Polizei rückständig, konservativ und ausländerfeindlich.«

Dorotheas Blick fiel auf die Fotos und Pokale auf dem Wandregal. Kegelklub, Männerstammtisch, Fußballklub, ein pausbäckiges Hausmütterchen, fünf Söhne im Fußballdress. Wenn man Fuhrmann ansah, war es kaum möglich, andere Adjektive als konservativ und rückständig zu benützen. Ein Schauer lief über ihren Rücken. Selbst das Attribut ausländerfeindlich traf auf einige ihrer Kollegen zu. Sie wartete und studierte die Härchen in Fuhrmanns Nacken.

Endlich ließ er sich wieder in seinem Drehstuhl nieder, wischte sich ein zweites Mal über das Gesicht. Er nahm eine Akte zur Hand. »Speckner hat auf dem Ball keine Spur von den Vandalen gesehen. Du?«

»Nein.«

»Schreib deinen Bericht!« Er widmete sich den losen Blättern, hob noch mal den Kopf, sah sie an. »Das nächste Mal rufst du mich an, bevor du eine solche Entscheidung triffst – selbst um vier Uhr morgens.« Sie war entlassen. »Lass die Tür offen, wenn du rausgehst, sonst ersticke ich.«

Dorothea blieb sitzen und pickte einen imaginären Faden von ihrer Uniformhose. Sie sehnte sich nach ihrem Bett, lechzte nach kaltem Wasser. Am liebsten wäre sie aufgestanden und hätte das Büro verlassen. Du musst mit Fuhrmann reden. Du hättest es schon letzte Woche tun sollen. Die innere Stimme nagte, nörgelte. Es stimmte. Sie hatte dieses Gespräch viel zu lang hinausgeschoben. Eine Welle der Müdigkeit überrollte sie. Ihr Timing war denkbar ungünstig. Das Letzte, was sie an diesem Morgen brauchte, war, auf Fuhrmanns Gnade angewiesen zu sein.

Dorothea räusperte sich.

»Ist noch was?«

»Ich hätte gern eine Woche frei.«

Das Scharlachrot kehrte zurück, Fuhrmann platzierte seinen Kugelschreiber sorgfältig neben der Akte, zu sorgfältig. Dorothea konnte förmlich sehen, wie sich sein Unmut zusammenbraute, sich die Rädchen in seinem Kopf drehten. »Wozu brauchst du eine Woche Urlaub?«

Fuhrmann hat es vergessen. »In zwölf Tagen ist die Prüfung für den dienstführenden Beamten.« Dorothea versuchte, sachlich zu klingen. »Ich habe mich angemeldet.«

Sie wartete. Fuhrmann war nicht der begnadetste Denker unter der Sonne, sie gab ihm Zeit, sich zu erinnern, zu orientieren.

»Du willst dich tatsächlich noch einmal für eine Stelle in der Abteilung Leib und Leben bewerben?« Er klang ungläubig. »Das halte ich für eine schlechte Idee.«

Keine Überraschung. Trotz mehrmaliger Bewerbungen hatte Fuhrmann es in seinen vierzig Dienstjahren nie weiter als zu der Position eines Postenkommandanten gebracht. Als er sich Anfang des Jahres geweigert hatte, Dorothea ein Empfehlungsschreiben zu geben, hatte ihr Vorgesetzter unbewusst sein Credo offenbart: Wenn ich es nicht erreiche, darf es auch niemand anderer tun. Schon gar keine Frau.

Dorothea schluckte. »Seit sechs Wochen hatte ich kaum einen freien Tag.« Weil mein pseudosportlicher Kollege Gruber jeden Montag Fußball spielt, sich ständig Bänder und Sehnen reißt und nun den Fuß gebrochen hat.

»Krankenstände kann ich nicht beeinflussen.« Fuhrmann zog eine Schublade auf. »So sehr es dir missfällt, im Moment bist du Teil meines Teams. Und das bedeutet, dass du manchmal auch für andere einspringen musst. Ich kann nichts dafür, wenn meine Mitarbeiter sich verletzen.« Er holte eine Mappe heraus und schlug sie auf. »Laut Dienstplan hast du morgen und übermorgen frei.«

»Gruber ist zurück im Dienst.« Dorothea versuchte es in beiläufigem Tonfall. »Und Vera macht bereitwillig Überstunden. Ich habe schon mit ihr gesprochen.«

»Diensteinteilung obliegt mir … und nur mir.« Fuhrmann warf ihr einen scharfen Blick zu.

Schlechter Schachzug. »Natürlich.« Sie blickte auf ihre robusten Schnürschuhe, ließ ihre Stimme vor Unterwürfigkeit triefen.

Er gab vor, die Tabelle zu studieren. »Morgen und übermorgen frei, einen Tag Zeitausgleich, mehr kann ich dir nicht bieten.« Er klappte den Schnellhefter zu, ließ die Lade rasselnd zurollen und nahm seinen Kugelschreiber in die Hand. »Aber nachdem du ein Genie bist, wird das sicher reichen.«

Kapitel 3

Der Schrei des Journalisten hallte durch den Ballsaal und ging Dorothea durch Mark und Bein. Sie wollte zu dem Mann laufen, doch ihre Glieder wurden tonnenschwer, bleiern. Um sie brodelte es wie in einem Vulkan, ihre Uniform verwandelte sich in eine dampfige Decke. Wieder erklang der Laut, durchdringend, gellend, qualvoll … wie in einem Albtraum.

Mit einem Satz erwachte sie. Warum war sie am frühen Nachmittag noch im Bett? Durch die Ritzen der Jalousien fiel grelles Sonnenlicht, in ihrem Schlafzimmer war es kochend heiß. Die Luft fühlte sich an wie aus einem Haartrockner. Es war, als ob sie nach zehn Minuten in der Hölle aus dem Schlaf gerissen worden wäre.

Benommen blinzelte sie. Die Zeiger ihres Weckers standen auf halb zwei. Zigarettenrauch zog von der Terrasse ihres Nachbarn herein, bei dem blauen Dunst drehte sich Dorotheas Magen um. Sie versuchte, sich zu orientieren, und mit einem Schlag kam die Erinnerung zurück.

Der Nachtdienst. Der Kufsteiner Charity-Ball. Der tote Journalist. Das Gespräch mit ihrem Vorgesetzten. Die Prüfung. Der Stapel Unterlagen, der auf sie wartete. Sie rechnete nach. Fünf Stunden Schlaf. Kein Wunder, dass ihre Augen brannten. Sie schloss ihre Lider, und der Journalist drohte abermals zu schreien. Dorothea fuhr auf. Es war nicht die verzweifelte Stimme eines Mannes, sondern der eindringliche Klingelton ihres Mobiltelefons, das irgendwo in der Wohnung lag.

Nach einer Schrecksekunde ließ Dorothea ihre Wange auf das Kissen sinken. Ihre Mutter. Es war Wochenende. Sonntags besuchte Dorothea sie meist oder rief sie an. Heute war sie zu erschöpft, zu ausgelaugt für eine Warum-kannst-du dir-nicht-einen-ungefährlicheren-Job-suchen-Predigt. Sie hatte keine Zeit, keine Lust. Ein weiterer gellender Ton.

Benebelt und genervt schlug Dorothea das Laken zurück. Sie zählte bis sieben, bis sie ihr Mobiltelefon auf der Biedermeierkommode fand.

Unbekannte Nummer. Nicht ihre Mutter.

»Hallo?« Ihr Puls hämmerte plötzlich gegen ihren Hals.

Stille.

»Hallo?« Sie merkte, dass sie den Atem anhielt.

Unbeholfenes Räuspern am anderen Ende der Leitung.

Dorothea atmete erleichtert aus. Ein Versehen. Sie nahm das Gerät vom Ohr.

»Frau Keusch?«

Ihr Finger stoppte mitten auf dem Weg zu dem roten Kreis.

»Spreche ich mit Dorothea Keusch? Sind Sie die Inspektorin?«

»Ja.« Sie trat an die Tür zur Dachterrasse, sah die Gießkanne. Ihre Pflanzen würden in der sengenden Sonne verenden. Sie legte ihre rechte Hand an den Hebel der Terrassentür.

»Ich muss dringend mit Ihnen reden.«

Die Männerstimme gehörte einer älteren Person. Dorothea seufzte innerlich. Eine entlaufene Katze? Ein verloren gegangener Hund? Mit einem Ruck drückte sie den Hebel nach unten, schob die schwerfällige Glastür zur Seite.

»Mit wem spreche ich?« Ein Schwall heißer Luft traf sie mitten ins Gesicht.

»Mein Name ist Erich Vogel. Chefinspektor Schmitt von der Mordkommission war heute Morgen bei mir. Mein Sohn wurde in der Nacht tot aufgefunden.«

Auf der Schwelle hielt Dorothea inne, unfähig, vorwärts oder rückwärts zu treten. »Das tut mir sehr leid«. Sie suchte nach weiteren Worten, ihr Gehirn war wie blockiert in der surrenden Hitze, mehr als die hohle Beileidsbezeugung fiel ihr nicht ein.

»Sie müssen sofort zu mir kommen, Frau Inspektorin.«

Was wollte der Vater des Journalisten? »Ich bin heute nicht im Dienst.« Sie musste sich von den Ermittlungen fernhalten. »Ich kann eine Kollegin des LKA zu Ihnen schicken.«

»Nein. Ich brauche Sie.«

»Warum gerade mich?« Irgendetwas war seltsam, surreal, regte sich dunkel in ihrem Hinterkopf. Sie wollte sich setzen, darüber nachdenken. Die Biedermeierstühle im Wohnzimmer waren meilenweit weg, die Sitzecke auf der Terrasse unerreichbar.

»Nicht am Telefon. Ich muss Sie persönlich sprechen.«

Mit einem Mal verstand Dorothea, was sie beunruhigte. »Woher haben Sie meine private Telefonnummer?«

»Ich erwarte Sie in einer halben Stunde.« Der Mann am anderen Ende der Leitung schien ihre Frage nicht zu hören. »Haben Sie etwas zum Schreiben? Notieren Sie sich meine Adresse.«

»Herr Vogel, das ist ein Missverständnis.« Endlich funktionierte Dorotheas Gehirn, sie trat auf die Holzdielen, nahm die Gießkanne. Das Metall war so heiß, dass sie zusammenzuckte. Sie zwang sich, höflich zu bleiben. »Ich bin kein Mitglied des Landeskriminalamtes.«

»Das weiß ich.« Erich Vogel klang ungeduldig. »Deshalb muss ich unbedingt mit Ihnen sprechen.«

Kapitel 4

Dorothea war unheimlich zumute. Der Vater des Toten hatte sie in eine Art Jagdhöhle geführt, gespickt mit Trophäen von Großwild. Dichte Vorhänge verhüllten Fensterluken, die Glut des Juninachmittags herrschte in einem anderen Universum. Grobe Steine an den Wänden und geschwärzte Deckenbalken suggerierten, dass sie sich in einer gespenstischen Felsengrotte befand. In den Lichtkegeln von Spots starrten Köpfe von Nashörnern und Schädel von toten Büffeln aus düstern Augenlöchern auf Dorothea herab. Fellhäute von Zebras auf dem rostroten Fliesenboden, ausgestopfte Löwen, Bären und Antilopen umzingelten sie, verbreiteten einen penetranten Geruch von gegerbter Haut und mottenbefallenem Fell, ließen Dorothea kaum atmen.

Sie fröstelte bei dem Gedanken an so viele Kadaver und all das sinnlose Morden um sie herum. Neben afrikanischen Masken und riesigen Stoßzähnen prangten Fotos von dunkelhäutigen Guides und dem selbstgefälligen Erich Vogel mit einem Gewehr in der Hand. Eine Hyäne stierte Dorothea drohend aus leblosen Glasaugen an. Irgendwo über ihr schlug unheilverkündend eine Tür, Dorothea bekam das Gefühl, in einem Horrorfilm zu sein, in dem das tote Tier auf dem Sprung dazu war, sich für seine Ermordung zu rächen.

»Setzen Sie sich!«

Zögerlich ließ sich Dorothea in dem Ledersessel nieder. Ihr Gegenüber erinnerte sie an einen amerikanischen Kriegsveteranen. Kurz geschorene weiße Haare, aufrechte Haltung, glatt rasiert. Sein Sohn war vor weniger als vierzehn Stunden tot aufgefunden worden, dennoch wirkte alles an Erich Vogel geordnet, streng, unnahbar. Die Kaki-Hosen und das kurzärmelige Hemd mit Brusttaschen und Schulterklappen waren frisch gewaschen und sauber gebügelt.

»Sie müssen mir helfen.« Aus einer Bar holte er eine Flasche und zwei Gläser, stellte sie auf dem niedrigen Mahagonitisch ab und setzte sich Dorothea gegenüber. Verstohlen beobachtete sie Erich Vogel. Das Schild an der Klingel hatte den Titel und den Beruf des Mannes genannt, der Ingenieur war sehr rüstig, nur die verzögerten Bewegungen ließen darauf schließen, dass er Ende siebzig war. Seine Hände zitterten leicht, als er goldbraune Flüssigkeit in einen geschliffenen Kristallschwenker goss. Er streckte den V. S. O.P Hennessy Dorothea entgegen, deutete auf das zweite Glas, und Dorothea verneinte. Sie brauchte Wasser, keinen brennenden Schluck Cognac.

Mit einem Quietschen drehte Erich Vogel den Korken zurück in den Flaschenhals. »Chefinspektor Schmitt hat mir berichtet, dass der Tod meines Sohnes genauer untersucht werden müsse.« Seine bebenden Finger umschlossen hart das Etikett. Dorothea öffnete ihre Lippen, doch Erich Vogel hob seine Hand. »Schmitt meinte, ich solle nicht beunruhigt sein, das LKA müsse alle Möglichkeiten prüfen.« Dorothea war überrascht darüber, wie sachlich die Stimme des Vaters klang. »Im Falle auch nur eines Hinweises muss die Abteilung Leib und Leben routinemäßig ermitteln.« Er presste die Lippen aufeinander.

Dorothea verstand. Sie gab ihrer Stimme einen wohlwollenden Klang. »Sie glauben nicht, dass Ihr Sohn …?«

»… ermordet wurde?«, beendete der Vater den Satz für sie. »Nein, ich glaube es nicht.« Er sah sie direkt an, seine Augen waren stahlgrau und kalt. »Ich weiß es. Mein Sohn wurde Opfer einer Verschwörung.« Erich Vogel fixierte einen mottenzerfressenen Leoparden, der eine Antilope stellte. »Es war ein Attentat.« Er nippte an seinem Cognac. »Wie das Regenschirm-Attentat.«

Dorothea erschrak. Der Schein trog. Kein Wunder, dass der Mann so gefasst wirkte. Er war verwirrt. Fieberhaft überlegte sie. Wie konnte sie den Ingenieur beruhigen, das Gespräch so schnell wie möglich beenden und nach Hause kommen? Ärger stieg brodelnd in ihr auf. Warum war sie hierher gekommen? Neugier? Wichtigtuerei? Du solltest zu Hause sitzen und lernen. Oder schlafen. Schlaf. Allein der Gedanke daran ließ ihre Glieder schwer werden.

»Nein.« Die polternde Silbe riss sie aus ihren Überlegungen. »Ich bin nicht dement.« Erich Vogel hatte es in ihren Zügen gelesen. »Ich bin auch kein Alkoholiker.« Er deutete auf die braune Flüssigkeit in dem Glas. »Ich trinke genau zwei fingerbreit Cognac jeden Tag. Nicht mehr und nicht weniger.« Er sah auf die Uhr. »Und nie vor drei Uhr nachmittags.« Als wollte er seine Worte untermauern, nahm er einen Schluck. »Glauben Sie mir, Frau Inspektorin. Mein Sohn wurde Opfer einer Verschwörung. Wie dieser andere Journalist.«

»Sie meinen Georgi Markow?«

Fuhrmanns Worte kamen Dorothea in den Sinn: Hast du zu viele Krimis gelesen? Plötzlich erschien seine Reaktion verständlicher. So ähnlich musste für ihren Vorgesetzten ihre eigene Vergiftungstheorie geklungen haben.

Sie räusperte sich vorsichtig. »Herr Vogel«, sie sprach langsam und deutlich. »Georgi Markow war ein bulgarischer Schriftsteller. Er kritisierte öffentlich die kommunistische Führung seines Heimatlandes.« Sie hielt inne, stellte sicher, dass ihr Gegenüber sie verstanden hatte. »Wir leben in einem freien Land, nicht in einem Polizeistaat. Österreich ist eine Demokratie.« Wenigstens theoretisch. »Georgi Markow wurde von einem Agenten des bulgarischen Geheimdienstes ermordet. Das KGB lieferte die Kapsel und das Gift.«

»Behandeln Sie mich nicht wie einen debilen Greis.« Erich Vogel schlug mit der flachen Hand auf den Kaffeetisch, die Tumbler klirrten gefährlich. »Ich bin nicht senil. Ich habe lediglich einen Vergleich gezogen.«

Dorothea musterte den alten Mann, wartete.

»Richard wollte einen Polizeiirrtum berichtigen.« Er atmete schwer, auf seinen Knien waren die Finger nun zu Fäusten geballt. »Er wollte einem Opfer der Justiz helfen. Genau das hat er gesagt.«

»Wovon sprechen Sie?«

»Man kann niemandem trauen – das waren seine Worte.« Er schloss die Augen, legte Zeigefinger und Daumen an seine Nasenwurzel, als habe er Kopfschmerzen.

»Wann war das?«

»Vor einer Woche.« Der Ingenieur gab einen kehligen Laut von sich, von Neuem ballten sich seine Hände zu Fäusten. »Ich sehe ihn vor mir, als ob es vor einer Minute gewesen wäre. Er sagte, er würde Zorn heraufbeschwören und eine Karriere zerstören, aber er müsse es tun.«

»Haben Sie Chefinspektor Schmitt von Ihrer Vermutung berichtet?«

»Hören Sie mir nicht zu?« Jäh wandte sich der Mann an Dorothea. »Oder sprechen Sie kein Deutsch?«

Worauf wollte Erich Vogel hinaus? Warum war er so wütend? Dorothea betrachtete die makabren Tierpräparate rund um sich herum, schloss ihre Augen. Richard wollte einen Polizeiirrtum berichtigen. Wie bei einem 3-D-Bild nahm etwas Gestalt an und traf sie wie ein Schlag in die Magengrube. »Sie glauben, dass ein Polizist Ihren Sohn ermordet hat?« Sofort verwarf sie die absurde Idee. »Das kann ich mir nicht vorstellen.«

»Haben Sie noch nie etwas von JFKs Ermordung gehört?«

Dorothea konnte die Logik des Ingenieurs nicht nachvollziehen, ihr Bedarf an Verschwörungstheorien war jedoch weit über das Maß hinaus gedeckt. »Ich verstehe Ihre Besorgnis. Aber die Mitglieder der Mordkommission sind äußerst kompetent und vertrauenswürdig.« Sie konzentrierte sich darauf, höflich zu bleiben. »Und durchaus in der Lage, objektiv zu ermitteln.«

»Soweit ich weiß, leitet Chefinspektor Schmitt die Ermittlung.« Erich Vogel blickte sie an, erst jetzt fiel ihr auf, wie scharf seine Augen wirkten. »Er ist der Sohn des letzten Polizeichefs. Und sein Großvater stammt aus Kufstein. Ich kann mir schwerlich vorstellen, dass er unbefangen ist.«

Dorothea biss sich auf die Lippen. Der Vater des Journalisten war gut informiert.

Er schien ihre Gedanken zu erahnen. »Ich lese Zeitungen, ich sehe mir Nachrichtensendungen an. Und hier in Kufstein kennt man sich, wenigstens dem Namen nach.«

»Ich bin ebenfalls Polizistin. Woher wollen Sie wissen, dass Sie mir vertrauen können?«

»Sie haben bei einem vermeintlichen Selbstmord ermittelt. Sie waren die Einzige, die Zweifel an dem offiziellen Urteil hatte.« Sein Blick über Dorotheas beige Baumwollhose und ihr graues Top zeigte, dass er sie sich anders vorgestellt hatte. »Sie haben schließlich den wahren Täter gefunden. Sie sind unbescholten.«

»Woher haben Sie diese Information?« Dorothea vernahm den entgeisterten Ton in ihrer eigenen Stimme. Ihre Rolle in der Aufklärung des Todes eines jungen Mädchens war nie publik geworden, nie in der Presse Thema gewesen. »Wer hat Ihnen meine Telefonnummer gegeben?« Eine wegwerfende Geste. Sie musste Härte zeigen, um das Gespräch wieder unter Kontrolle zu bringen. »Es tut mir leid, ich kann Ihnen nicht helfen.«

Erst als Dorothea aufstand, fest entschlossen, den Raum zu verlassen, hob er beschwichtigend die Hand. »Frau Kettner.«

Dorothea stutzte. Daniela Kettner. Die Mutter eines jugendlichen Neonazis, der in den Fall der toten Schülerin verwickelt gewesen war. Eine winzige Wohnung, ein gewalttätiger Ehemann, das zweite Kind im Kindergartenalter, die sanfte Wölbung, die verraten hatte, dass ein drittes unterwegs war. Dorothea rechnete nach. Die Frau musste etwa im siebten Monat schwanger sein.

»Sie hat das Kind verloren, als ihr Mann sie halb totgeprügelt hat. Sie wohnt mit dem Kleinen in einer Gemeindewohnung. Sie putzt für mich, wäscht meine Wäsche.«

Dorothea ließ sich zögerlich nieder, während Erich Vogel berichtete.

»Als sie das erste Mal meine Hemden bügelte, fragte ich nach ihrer Familie. Sie erzählte von dem kleinen Tobias. Von ihrem Sohn Roman. Von dem Tod der Schülerin. Davon, dass Schmitt ermittelte und der Tod der Jugendlichen als Selbstmord deklariert wurde. Frau Kettner meinte, dass Sie als Einzige Zweifel hatten und eigenständig Nachforschungen anstellten.«

Dorothea schwieg. Es war Konstantin gewesen, der ebenfalls Bedenken gehabt hatte, der sie gebeten hatte zu recherchieren. Konstantin, der mit ihr zusammengearbeitet hatte. Aber das wusste nur ein sehr enger Personenkreis.

»Sie irren sich.« Sie musste diese Konversation beenden. »Chefinspektor Schmitt ist ein sehr guter Ermittler. Er wird den Tod Ihres Sohnes aufklären.«

»Im Fall von Elena Goldschmied lag er falsch.«

Sie drehten sich im Kreis, Dorothea fühlte sich machtlos.

Der Vater des Toten spürte ihre Unsicherheit. »Ich habe Sie angerufen, weil ich weiß, wie wichtig die ersten achtundvierzig Stunden in einer Mordermittlung sind.« Er zog einen zusammengefalteten Bogen aus seiner Hemdtasche und legte ihn auf den Tisch. »Ich habe den Namen seines Schulfreundes aufgeschrieben. Richard und er kannten sich seit ihrer Kindheit. Er ist der Rektor der Fachakademie für Wirtschaftswissenschaft in Kufstein.« Der Vater war stolz auf den bedeutenden Freund seines Sohnes. »Sicherlich weiß Günther Schall mehr.«

Fast gegen ihren Willen entfaltete Dorothea das Blatt Papier. Es war säuberlich mit Tinte beschrieben, in gestochener Handschrift. Gegen ihren Willen las sie den Namen, die Adresse.

»Mein Sohn hatte auch eine …«, er zögerte, »Freundin. Aber ich weiß ihren Namen leider nicht mehr.«

»Herr Vogel, ich darf nicht ermitteln. Ich würde damit meinen Job aufs Spiel setzen. Ich bin mir sicher, dass Sie das verstehen.«

»Nein. Ich verstehe es nicht. Immerhin haben Sie schon einmal eigenmächtig gearbeitet.«

»Das war etwas anderes.«

»Inwiefern? Ist der Tod eines siebzehnjährigen Mädchens wichtiger als der eines …«, er hielt inne, »… zweiundvierzigjährigen Journalisten?«

Die Pause mutete Dorothea seltsam an. Welches Wort war dem Vater auf der Zunge gelegen? »Wenn Sie der Polizei nicht trauen, können Sie einen Privatdetektiv engagieren.«

»Es geht um einen Mordfall. Nicht um Ehebruch. Privatdetektive haben keinen Zugriff auf die Polizeiakte.«

»Ich ebenfalls nicht.« Sie drehten sich im Kreis. Es kostete Dorothea viel Überwindung, ihre Hände nicht vor Frustration in der Luft zu werfen. »Sobald ich im Computer irgendetwas in Verbindung mit dem Tod Ihres Sohnes recherchiere, wird mein Vorgesetzter davon erfahren.«

»Das hat Sie im Jänner auch nicht davon abgehalten, es zu tun.«

Ich habe beinahe meinen Job verloren. Der wütende Schrei steckte in Dorotheas Kehle. Doch sie schwieg. Irgendetwas sagte Dorothea, dass Erich Vogel dieses Argument nicht gelten lassen würde. Sie beschloss, eine andere Strategie anzuwenden. »Herr Vogel, die Obduktion muss erst durchgeführt werden, der toxikologische Bericht ist noch nicht erstellt. Es könnte sein, dass Ihr Sohn eines natürlichen Todes gestorben ist.«

»Glauben Sie das?

Dorothea zögerte. Sag Ja. Steh auf! Verlass endlich diese beklemmende Höhle. »Nein.«

Der Großwildjäger nickte. »Mein Sohn hat sein Leben dafür eingesetzt, Gerechtigkeit für andere zu erlangen.« Er erhob sich. »Ich erwarte, dass Sie dasselbe für ihn tun.«

Kapitel 5

Pornografische Darstellung minderjähriger Personen … Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren.

Auf der Dachterrasse verschwammen die Zeilen des Paragrafen in der brütenden Nachmittagssonne vor Dorotheas Augen, selbst unter dem weißen Sonnensegel drückten die hohen Temperaturen gegen ihre Schläfen, ihre Finger um den Bleistift fühlten sich glitschig an. Es war viel zu heiß, um Gesetzestexte auswendig zu lernen, viel zu heiß, um überhaupt irgendetwas zu tun.

Der Geruch von vertrocknetem Gras und ausgedörrter Erde lag in der Luft. Dorothea strich sich mit den Händen über das Gesicht, lehnte sich auf der niedrigen Bank aus Teakholz zurück, streckte ihre Beine aus, spürte die erwärmten Fliesen unter ihren Fußsohlen, die harte Wand in ihrem Rücken. Seit einer Stunde versuchte sie, sich auf die Unterlagen zu konzentrieren, doch immer wieder kehrten ihre Gedanken zu dem Vater des Toten zurück. Richard wollte einen Polizeiirrtum berichtigen.

Sie lauschte. Weit unter ihr ließ Frau Webers Tochter Geschirrtücher durch die Luft schnalzen, bevor sie sie auf die Wäschespinne hängte. Jedes Wochenende kam sie und half der alten Frau, die Hausarbeit zu erledigen. Schuldbewusst dachte Dorothea an ihre eigene Mutter und schob den Gedanken schnell wieder beiseite. Sie wollte sie heute einfach nicht anrufen.

Eine Stunde nach ihrem Gespräch mit Erich Vogel wanderte die Sonne bereits Richtung Westen, die Luft über den Gleisen weit unter ihr sirrte trotzdem vor Hitze. Eine Elster im hohen Kirschbaum beäugte Dorothea misstrauisch. Der Vogel der germanischen Todesgöttin Hel, ein Unheilsbote. Hexentier und Galgenvogel im Mittelalter. Reiner Aberglaube.

Sie schob die unsinnigen Gedanken beiseite, kippte den letzten Schluck ihres Eistees hinunter. Er schmeckte, als ob sie ihn mit Spülwasser aufgegossen hätte. Als sie das Skript wieder in die Hand nahm, kam es ihr unendlich schwer vor. Sie las den nächsten Paragrafen. Nach zwei Sätzen merkte sie, dass sie kein Wort behalten konnte.

Konstantin ist ein guter Ermittler. Er übersieht nichts, er wird alle Möglichkeiten in Betracht ziehen. Warum kannst du dich nicht auf deine Unterlagen konzentrieren?

Wie tausend Ameisen verteilte sich die Unruhe in ihrem Köper. Seufzend nahm sie den leeren Glaskrug, ging in die Küche, goss schwarzen Tee in das Gefäß und presste eine Zitrone aus. Sie roch an dem Blatt Zitronenmelisse, lauschte dem leisen Knacken der Eiswürfel und versuchte, die Anspannung zu verscheuchen.

Erich Vogel und seine Theorie.

Das bohrende Gefühl verschwand nicht. Irgendwas an den Aussagen des Vaters ließ sie nicht los. Sie nahm ihr Mobiltelefon zur Hand.

 

»Möchtest du reinkommen?« Dorothea versuchte, so beiläufig wie möglich zu klingen, als sie die Tür öffnete. Die Sonne erhitzte immer noch die Dachgeschosswohnung, der Luftzug aus dem Treppenhaus brachte wenig Linderung. Selbst nun, um halb sechs Uhr abends, war jede Bewegung beschwerlich.

Dorothea hatte der Versuchung widerstanden, eine Stunde im Bad zu verbringen und sich ewig vor dem Spiegel zu überlegen, was sie anziehen sollte, fest entschlossen, sich nicht für Konstantin chic zu machen. Eine kalte Dusche. Ihr Tunika-Kleid aus grauer Rohseide. Das musste reichen.

Konstantins Outfit ließ sie ihre Entscheidung wieder überdenken. Sein hellblaues Hemd wirkte auf wundersame Weise leger und elegant zugleich, er roch nach Aftershave und Duschgel. Sofort fühlte sie sich zerdrückt, wie aus einem Schläfchen gerissen. Wie konnte Konstantin nach einem Tag Ermittlungsarbeit bei 32 Grad im Schatten so taufrisch aussehen?

»Reinkommen?« Der Chefinspektor stutzte gespielt verwirrt. »Wer bist du, und was hast du mit Dorothea Keusch gemacht?«