Dein ist die Schuld - Maria Höfle - E-Book
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Maria Höfle

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  • Herausgeber: Piper ebooks
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2018
Beschreibung

Inspektorin Dorothea Keusch ermittelt im katholischen Eliteinternat – ein Kufstein-Krimi, der unter die Haut geht Die siebzehnjährige Elena wird tot im Foyer des katholischen Elitegymnasiums St. Sebastian aufgefunden. Schnell stellt sich heraus, dass sie schwanger war und genauso schnell ergeht von höchster Stelle die Anweisung, sämtliche Ermittlungen einzustellen. Doch weder die Polizistin Dorothea Keusch aus Kufstein noch ihr Kollege Konstantin Schmitt von der Mordkommission glauben an den offiziell deklarierten Selbstmord. Auf Schmitts Drängen beginnt Keusch, eigenmächtig zu ermitteln und setzt damit ihre Karriere aufs Spiel. Bei den Nachforschungen stößt sie auf haarsträubende Abgründe ganz unterschiedlicher Art. Um jedoch der Wahrheit wirklich auf den Grund zu gehen, muss sie sich ihrer eigenen Vergangenheit stellen…

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Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

 

© 2018 Piper Verlag GmbH, MünchcenRedaktion: Julia FeldbaumCovergestaltung: Favoritbüro, MünchenCovermotiv: Shutterstock.com

 

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich der Piper Verlag die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.

Inhalt

Cover & Impressum

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Mein herzlicher Dank

Für Lea

Kapitel 1

»Welche Leiche beunruhigt Sie mehr? Die am Kreuz oder die darunter?«

Laut hallten die Worte durch die Stille in der eiskalten Schule, und Dorothea ahnte, dass der Kollege von der Mordkommission nun endlich eingetroffen war. Unter den Mief von vergilbten Büchern mischte sich ein Hauch von Hugo Boss, und Dorothea schnaubte leise. Es musste Chefinspektor Konstantin Schmitt sein. Sie wandte sich nicht um.

Überall wäre Dorothea an diesem Januarmorgen lieber gewesen als in dem Foyer eines katholischen Gymnasiums. Sie fröstelte in ihrer Uniform und lauschte Schmitts Schritten, die sich hinter ihr wieder entfernten. Dann betrachtete sie weiter das riesige Kruzifix, das in der Eingangshalle des Sebastianums thronte.

Die Leiche am Kreuz. Ein flaues Gefühl breitete sich in Dorothea aus. Wie ein böses Omen stand das Eichenkreuz in der Halle und versetzte sie zurück in ihre persönliche Hölle. Sie musterte den aufwendig geschnitzten Sohn Gottes, dann blickte sie auf den zerschmetterten Körper auf dem Marmorboden. Gegen den Leichnam Christi wirkte die Tote äußerst bescheiden. Demütig wie eine Büßerin lag sie unter dem Kruzifix. Das rote Kleid des Mädchens leuchtete wie das der Maria Magdalena, der Sünderin, der Prostituierten. Dorothea seufzte.

Keine Schulglocke schrillte an diesem Samstagmorgen, keine Pater, Schüler oder Lehrer hasteten zu den Klassen, dennoch kam Dorothea alles vor wie ein furchtbares Déjà-vu. Das Eichenkreuz, die ausgetretenen Marmorstiegen, die verschnörkelten Säulen. Wie damals im Stiftsgymnasium. Sie fragte sich, ob sich katholische Privatschulen glichen wie ein Gefängnis dem anderen, eine psychiatrische Anstalt der anderen.

Seit sie vor einer Stunde das Schulgebäude betreten hatte, versuchte Dorothea, diese Erinnerungen zu vertreiben, doch sie kehrten immer wieder zurück. Moby Dick. Sie hörte die Rufe ihrer Mitschüler, spürte die Papierkügelchen auf der Haut, schmeckte das Salz ihrer Tränen auf den Lippen. Ihr Gelübde kam ihr in den Sinn. Das Versprechen, das sie nun nach vierzehn Jahren gebrochen hatte.

Entschlossen versuchte sie, die Gedanken zur Seite zu schieben, merkte, dass sie ihre Schultern eingezogen hatte, und richtete sich auf. Noch einmal sah sie sich in der Halle um. Das Foyer des Elitegymnasiums glich dem Kreuzgang eines Klosters: Über drei Stockwerke erhoben sich altehrwürdige Säulengänge, die zu den Klassen führten. Ein muffiger Geruch nach altem Holz und gewienerten Böden stand in dem Saal. Hoch oben wölbte sich eine Kassettendecke, durch eine kreisrunde Öffnung fielen die Strahlen der Wintersonne auf das tote Mädchen.

Rechts stand unter einem der Rundbögen eine Heiligenstatue, eine Messingtafel am Sockel trug die Aufschrift Katholisches Gymnasium St. Sebastian, die Uhrzeiten für Morgenandachten und Bußfeiern waren auf einer Anschlagtafel zu lesen. Jeden Freitagmorgen um 7:15 Uhr gab es die Möglichkeit zur Beichte. Dorothea fragte sich, ob einer der Schüler sie jemals nutzte.

Ein Gipsmodell zeigte Kufstein und die Festung, dahinter hingen die rot-weiße Flagge Tirols und ein Bild des Tiroler Adlers. Nur wenig wies darauf hin, dass sich an Wochentagen tatsächlich Schüler in dem alten Gemäuer aufhielten, doch links in der Ecke waren Plakatwände aufgestellt, auf denen Projekte der Abschlussklassen präsentiert wurden. Dorothea hatte sie aufmerksam angeschaut. Jugendliche mit leeren Augen.

»Stoppt sexuellen Missbrauch von Minderjährigen! – ein Projekt von Elena Goldschmied«, las sie laut. Verstümmelte Schamlippen, verprügelte Kinder. Jacqueline Winter befasste sich mit der Beschneidung von Mädchen, Simon Faber mit dem Thema Mobbing.

Mobbing. Als die Erinnerung plötzlich wieder wie eine Welle über Dorothea zusammenschlug, begann sich die Halle zu drehen. Sie hatte den widerlichen Geschmack des Schwamms auf ihrer Zunge, erstickte erneut fast an der Kreide, krampfte ihre Finger um das Notizbuch und holte tief Luft.

Für einen Moment schien es ihr, als hätte sie sich wieder unter Kontrolle, doch als sie die Aufschrift Zum Turnsaal sah, brach ihr der kalte Schweiß aus. Es war, als wäre sie erst gestern vor den Augen der versammelten Klasse wie ein nasser Sack vom Gerätekasten gefallen. Noch immer klangen ihr die Worte der Lehrerin im Ohr: Eine Klasse überspringen kann unsere Dorothea, aber den Kasten schafft sie nicht.

Mein Gottesgeschenk, meine kleine Göttin des Friedens, meine Spätgeborene. Dorothea, Irina, Cordula. Ihre Eltern hatten einen Pakt gehabt. Und da es ein Mädchen geworden war, hatte ihr Vater den Namen bestimmen dürfen. Und der besonnene Richter hatte sorgfältig ausgewählt für das lang ersehnte Kind, das er mit seiner Gattin nach so vielen Jahren der Unfruchtbarkeit doch noch bekommen hatte.

Dorothea. Irina. Cordula. Keusch. Dick. Dick. Moby Dick.

Sie schloss die Augen und hörte erneut die höhnischen Salven ihrer Mitschüler. Beständig, unerbittlich, täglich wiederkehrend wie das morgendliche Paternoster am Stiftsgymnasium. Rettet unsere Wale! Acht Jahre Hölle. Dorothea hatte die Qualen in die hintersten Winkel ihres Gehirns verbannt, zusammen mit ihrem Gelübde. Dem Versprechen an sich selbst, nie mehr eine Schule zu betreten.

Hinter ihr näherten sich Schmitts Schritte.

»Nun, was sagen Sie? Welcher Fall ist nun wichtiger? Der Tod unseres Heilands oder der eines jungen Mädchens in einem roten Minikleid?«

Dorothea öffnete die Lider und sah auf die tote Schülerin. Sie betrachtete das hübsche Gesicht, die langen dunklen Haare der Toten. Die weißen Stiefel, das rote Kleid, der helle Mantel, selbst die kleinen Ohrstecker und die hauchdünne Kette wirkten schlicht. Doch in der Stunde, die Dorothea bereits frierend in der Kälte verbracht hatte, war genug Zeit gewesen, die Leiche zu studieren und die Details zu bemerken. Das sauber eingenähte Innenfutter. Die Art, wie sich das Licht in den Steinen des Ohrschmucks brach. Die Beschaffenheit der Schuhe. Sie vermutete, dass die Kleidung der toten Schülerin aus der aktuellen Winterkollektion eines Modedesigners stammte, die Stiefel aus echtem italienischen Leder und die Schmuckstücke aus Diamanten gefertigt waren.

Obwohl sie noch nicht lange in Kufstein lebte, war Dorothea das offene Geheimnis bekannt: Das Sebastianum war eine private Bildungsanstalt für katholische Söhne und Töchter. Und für jene, die zu schlechte Manieren für andere Schulen, aber genug Geld für diese hier hatten.

»Beantworten Sie nun meine Frage?«

Langsam wandte sie sich zu Schmitt um.

Er grinste und deutete auf die Statue. »Oder interessieren Sie sich einfach mehr für nackte Päpste als für mich?«

Dorothea spürte, wie das Blut in ihre Wangen stieg, doch sie war nicht gewillt, sich von Schmitt in die Enge treiben zu lassen.

»Märtyrer.«

Sie starrte auf die Skulptur des Heiligen, der mit Pfeilstichen übersät an einen Baum gebunden war.

»Wie bitte?«

»Er war kein Papst. Das ist das Bildnis des heiligen Sebastian – ein römischer Soldat, der der Legende nach zum Märtyrer wurde.«

Für einen Moment stutzte Schmitt, dann blickte er auf seine Kollegin herab und musterte sie eingehend.

Dorothea erwiderte seinen Blick. Sie sah sein kantiges Gesicht, die dunklen Haare, den sportlichen Oberkörper im modischen Wintermantel. Ein Mann wie auf einem Werbeplakat. Plötzlich spannte die makellose Uniform an ihrer Brust und den Schenkeln. Neben dem hochgewachsenen Kollegen fühlte sie sich noch kleiner, korpulenter, gedrungener. Ihr dicker Zopf hing auf einmal tonnenschwer bis zu ihren Hüften.

»Von Blondinen lasse ich mich natürlich immer gern belehren. Vor allem, wenn sie so schöne blaue Augen haben.« Er zwinkerte Dorothea zu und streckte die Hand aus. »Chefinspektor Schmitt, Abteilung Leib und Leben. Unfall? Selbstmord? Mord? Die Mordkommission ist stets zu Ihren Diensten.«

Dorothea ignorierte seine Hand und nahm die Finger nicht von ihrem Notizbuch. »Inspektorin Keusch. Stadtpolizei Kufstein.«

Sein Lächeln verschwand.

Sie hatte ihn bereits einmal getroffen, in ihrem Abschlussjahr an der Polizeischule. In einem Waldstück war die Leiche eines erstochenen Mannes gefunden worden, die Mordkommission hatte Polizeischüler rekrutiert, um den Hain nach der Mordwaffe zu durchkämmen. Chefinspektor Schmitt war derjenige gewesen, der wie ein Pfau an der langen Reihe der Polizeischüler vorbeistolziert war, hochmütig seine Anweisungen gegeben und eine Fahne Aftershave hinter sich hergezogen hatte. Er hatte die Neulinge kaum eines Blickes gewürdigt, es überraschte Dorothea nicht, dass er sich nicht an sie erinnerte.

Wieder schnaubte sie. Konstantin Schmitt, Sohn des legendären Polizeichefs Ernst Schmitt. Mitglied der Abteilung Leib und Leben in Tirol. Eine Position, die ihm sein Vater höchstpersönlich verschafft hatte.

Aber egal, wie er zu der Position gekommen war, jetzt gehörte er zur Mordkommission. Mordkommission. Lautlos formten ihre Lippen die magischen Worte, denn in der Abteilung Leib und Leben war derzeit eine Stelle frei. Eine Stelle, die Dorothea wollte. Mehr wollte als alles andere, wonach sie sich jemals gesehnt hatte. Eine Stelle, die sie vielleicht auch bekommen würde. Falls, ja, falls ihr Fuhrmann eine gute Empfehlung schrieb.

Sie dachte an den Tag, der alles verändert und ihr ihren einzigen sicheren Hafen genommen hatte. Ein stechender Schmerz durchzuckte sie. Noch immer wusste niemand genau, was damals wirklich passiert war. Wer ihren Vater getötet hatte. Aber sie würde es herausfinden. Irgendwann.

»Nun, Inspektorin Keusch, was wissen wir über die Tote?«

Dorothea hob den Kopf und streckte das Kinn vor. »Der Hausmeister hat sie gefunden, als er seine morgendliche Runde durch die Schule machte.« Sie blickte empor zu der Brüstung über dem zerschmetterten Körper. »Auf der zweiten Ebene haben wir die Handtasche der Toten gefunden. Ihr Name ist Elena Goldschmied. Sie ist siebzehn Jahre alt und war Schülerin hier.«

»Selbstmord?«

Dorothea ahnte, warum Schmitt an Selbstmord dachte. Die Brüstung war hoch, niemand konnte das Gleichgewicht verlieren und versehentlich über das Geländer stürzen. Schon gar nicht eine so kleine, zierliche Person wie Elena Goldschmied. Auch ein einfacher Stoß kam nicht infrage. Dennoch spürte Dorothea den Zweifel in ihrer Magengrube, als sie zu der höchsten Galerie in der dritten Etage spähte.

Schmitts Blick bohrte sich in sie, dann sah er zu der toten Jugendlichen, und plötzlich verengten sich seine Augen. An Dorothea vorbei trat er einen Schritt näher zu der Leiche, dann ging er in die Knie.

Nach wenigen Augenblicken wandte er sich wieder zu ihr um. »Meine Kollegen und ich übernehmen ab jetzt. Aber ich hoffe, dass wir uns bald wiedersehen, Frau Inspektorin.«

Dorothea schluckte. Leider hoffte sie das auch.

Kapitel 2

»Chefinspektor Josef Fuhrmann.«

Dorothea las die Buchstaben an der Bürotür und atmete noch einmal tief durch. Dann bürstete sie einen imaginären Faden von ihrer Uniform und klopfte an.

»Herein.«

Schon an dem einzelnen Wort konnte sie hören, dass Fuhrmann genervt war. Ihr Magen verkrampfte sich. Als sie eintrat, saß der Chefinspektor in einem sauber gebügelten Hemd hinter seinem Schreibtisch und überprüfte einen Bericht, ohne den Blick zu heben.

Hinter den halb geschlossenen Lamellenvorhängen des Fensters sah Dorothea dicke Schneeflocken im Schein der Straßenlaternen tanzen. Obwohl es erst kurz nach siebzehn Uhr war, hatte sich die Dunkelheit bereits über die Stadt gelegt. Sie straffte die Schultern und schloss leise die Tür.

»Du wolltest mich sprechen.«

Beim Klang ihrer Stimme schaute ihr Vorgesetzter überrascht auf. Fuhrmann wirkte angespannt, seine Wurstfinger strichen über den Schnauzer, dann glitt seine Zunge über die langen Zähne. Unwillkürlich musste Dorothea sich ein Grinsen verbeißen. Es war ihr schon öfter aufgefallen, aber heute war Fuhrmanns Ähnlichkeit mit einer Ratte besonders verblüffend.

»Setz dich.«

Sie zögerte einen Moment, ließ sich dann aber auf dem Besucherstuhl vor dem Schreibtisch nieder. Der Stuhl war unbequem und zeigte deutlich, dass Fuhrmann es nicht schätzte, wenn man seine Zeit zu lange beanspruchte – was ihn allerdings nicht daran hinderte, seinen Untergebenen selbst ewig dauernde Vorträge zu halten.

Während er weiterlas, starrte Dorothea auf die Wand mit dem Bord, auf dem kein einziges Buch stand. Aufgereiht waren dagegen Pokale und verblasste Fotos in Holzrahmen. Eine Männerrunde im Kegelklub. Ein Viererteam beim Kartenspielen. Auf einem dritten Bild saß der Chefinspektor mit einigen Kollegen um einen Kneipentisch. Alle hoben fröhlich ihre Bierkrüge und prosteten in die Kamera.

Minutenlang betrachtete Dorothea die Gesichter, bis Fuhrmann sich endlich in seinem Drehstuhl nach vorn beugte und nach der Klammermaschine griff. Eine Dunstglocke von frischem Achselschweiß stieg in ihre Nase. Erst als er die Blätter zur Seite gelegt hatte, wandte er sich an Dorothea.

»Hast du das Protokoll über den Diensteinsatz heute Morgen schon geschrieben? Die Tote im katholischen Gymnasium?«

Sie nickte, hielt einen Moment inne, befeuchtete mit der Zunge ihre Lippen und wagte dann den Vorstoß: »Ich habe recherchiert. In derselben Schule gab es vor Kurzem einen Fall von Vandalismus.«

Fuhrmann sah sie verständnislos an, dann glätteten sich seine Züge. »Ich erinnere mich. Die Nazi-Schmierereien.«

Vor Dorotheas geistigem Auge tauchten die Bilder auf. Sie hatte lediglich Fotos der Zerstörung gesehen, dennoch konnte sie sich die Wand vorstellen, als hätte sie selbst davorgestanden. Fünf Swastikas in den dunklen Kellergängen des Sebastianums. Aufgesprüht mit roter Acrylfarbe. Ein ausgebrannter Bastelraum. Und diese Aufschrift.

»Wir sollten den Bericht darüber mitschicken«, sagte sie.

Fuhrmann starrte sie unverwandt an. Dann zogen sich seine Augenbrauen zusammen. »Was war das noch mal, was sie an die Mauer gesprüht haben?«

»A.C.A.B.«

Mit Zeigefinger und Daumen knetete Fuhrmann seine Nase. »Ach ja. Aber jetzt ist mir schon wieder entfallen, was das heißt.«

Dorothea seufzte. »All Cops Are Bastards.« Übelkeit stieg in ihr auf. Rechtsradikalismus und Parolen gegen die Polizei – ausgerechnet in einem Gymnasium. Ein Albtraum.

»Zuerst die Hakenkreuze und jetzt eine tote Schülerin. Kein gutes Jahr für St. Sebastian.« Fuhrmann schien ungerührt. Als Dorothea den Mund öffnete, hob er abwehrend die Hand. »Schick mir das heutige Protokoll vom Ersteinsatz, und ich leite es weiter. Um alles Übrige wird sich die Abteilung Leib und Leben kümmern.«

Die Abteilung Leib und Leben. Wie schon am Morgen hallten die Worte in Dorotheas Ohr nach. Doch Fuhrmann schien nicht daran interessiert, über die Mordkommission zu sprechen. Schon wollte sie sich erheben, als der Chefinspektor hüstelte. Also doch. Dorothea hatte geahnt, dass der Bericht nicht der einzige Grund war, aus dem ihr Vorgesetzter sie in sein Büro gebeten hatte. Sie ließ sich wieder auf dem Stuhl nieder, ihr Puls begann zu rasen. Das Empfehlungsschreiben. Sie hatte auf dieses Gespräch gewartet, die Szene mehrfach in ihrem Kopf durchgespielt; auf dem Weg zur Arbeit, in der Dusche, sogar im Schlaf. Bedächtig legte sie ihre bebenden Finger auf die Schenkel, hielt den Rücken gerade. Sie versuchte, ruhig zu atmen, doch die dumpfe Luft legte sich kratzend über ihren Gaumen. Hinter sich hörte sie die Uhr über der Tür ticken.

»Es geht um deine Bewerbung bei der Mordkommission.« Fuhrmann griff nach einer Flügelmappe, und Dorothea konnte ihren Blick nicht von den blonden Härchen auf seinen Fingern lösen.

»Ja?« Plötzlich war ihr Mund staubtrocken.

»Darf ich ganz offen, sozusagen als Freund zu dir sprechen?«

Dorothea konnte sich nicht vorstellen, in welchem Universum Fuhrmann und sie jemals Freunde gewesen wären. Dennoch nickte sie.

»Ich weiß, dass es dein großer Wunsch ist, zur Mordkommission zu gehen.« Er senkte seinen Blick und rückte einen Stapel Akten zurecht. »Aber ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist.«

Die Worte trafen Dorothea wie ein Faustschlag. Einen surrealen Moment lang fragte sie sich, ob sie sich verhört hatte. Sie hatte mit weisen Ratschlägen, Belehrungen gerechnet, aber nicht mit einer Absage. Fuhrmann hatte ihr oft bestätigt, dass er sie für eine gute Polizistin hielt.

»Warum nicht?« Sie schluckte, und der Wunsch nach einem Glas Wasser wuchs ins Unermessliche.

»Nun, zum Ersten: Du bist viel zu jung dafür.«

Erneut zwang sie sich, tief durchzuatmen. Dann beugte sie sich nach vorn. »Ich habe mir das Team der Mordkommission angesehen. Konstantin Schmitt ist nur wenige Jahre älter als ich.«

Fuhrmann lehnte sich zurück und spielte mit dem Ehering an seiner rechten Hand. »Das ist etwas anderes. Konstantins Vater war Polizeichef.«

Dorothea hörte den bitteren Unterton. Es war allgemein bekannt, dass Fuhrmann sich vor Jahrzehnten selbst einige Male bei der Abteilung Leib und Leben beworben hatte. Sie fragte sich, ob der alte Schmitt sein Mitbewerber gewesen war.

Fuhrmann verschränkte seine Finger und sprach schnell weiter: »Außerdem sind das Männer.«

Dorotheas Zunge klebte am Gaumen, das Blut rauschte laut in ihren Ohren. »Wie bitte?«

»Nun, bei der Mordkommission hat man jeden Tag mit Leichen zu tun, da braucht man starke Nerven.«

Obwohl ihr zum Weinen zumute war, hätte sie beinahe laut gelacht. Die Mordkommission beschäftigte sich mit toten Menschen. Wer hätte das gedacht? Wie hatte es Fuhrmann nur zum Chefinspektor gebracht? Blinde Wut stieg in ihr auf. Doch sie zwang sich, freundlich zu bleiben.

»Du glaubst nicht, dass ich starke Nerven habe?«

»Schon, aber für eine Frau ist das ja was anderes.« Er streckte seine Hand aus und verschob vorsichtig das gerahmte Foto, das vor ihm stand.

Dorothea kannte dieses Bild, er selbst hatte es ihr kurz nach ihrem Dienstantritt gezeigt. Fuhrmann war darauf zu sehen, der vor einem Vereinszelt den Arm um die mollige Taille seiner Ehefrau legte. Ihre Schürze trug die Aufschrift FC Kufstein, in der Hand hielt sie einen Tortenheber mit einem Stück Kirschkuchen. Neben den beiden waren fünf Buben wie Orgelpfeifen aufgereiht. Schlagartig wurde ihr klar, dass der Schnappschuss Fuhrmanns Frauenbild widerspiegelte.

Der Chefinspektor blickte sie fürsorglich an. »Du möchtest ja sicher mal eine Familie haben. Und die Dienstzeiten bei der Mordkommission sind nicht sehr familienfreundlich.«

Dorotheas Halsschlagader pulsierte. Warum sagte er nicht gleich, dass Frauen hinter den Herd gehörten? Sie lächelte schmal. »Die Dienstzeiten hier sind auch nicht sehr familienfreundlich.«

»Aber die psychische Belastung ist deutlich geringer.« Er schenkte ihr ein joviales Lächeln.

Das war es also, was Fuhrmann dachte. Frauen durften ein bisschen Polizistin spielen, bis sie sich ihrer wahren Berufung widmeten. Aber Frauen bei der Mordkommission – nein. Gott sei Dank dachten nicht alle so wie er, aber gerade von ihm brauchte sie ein Empfehlungsschreiben. Sie presste die Lippen zusammen, erwiderte seinen Blick, blieb aber stumm. Dennoch schien er ihren Widerwillen zu spüren.

»Außerdem kann ich dich hier nicht entbehren. Wir sind so schon unterbesetzt.«

Was für ein Vorwand. Am liebsten wäre sie aufgestanden und hätte ihn angeschrien. Jede einzelne Polizeidienststelle in Tirol war chronisch unterbesetzt. Wenn sie nicht sofort an die frische Luft käme, würde sie ersticken. Wie viele Frauen hatten vor ihr in diesem Büro schon dieselben Worte gehört, wie viele hatte er mit demselben herablassenden Lächeln abgespeist? Sie knetete ihre Finger und zwang sich, ruhig zu bleiben.

»Sag mir bitte klar, was das für meine Bewerbung bedeutet.«

Fuhrmann kratzte seinen Nacken. »Ich bin der Auffassung, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt ist. Du solltest sesshaft werden. Du bist eine junge Frau, und deine biologische Uhr tickt. Such dir einen netten Mann. Am besten hier in Kufstein. In einigen Jahren kannst du dann immer noch darüber nachdenken.«

Ihre Kehle schmerzte. »Du gibst mir also kein Empfehlungsschreiben?«

Er sah sie nicht an, als er antwortete: »Nun, ich werde natürlich erwähnen, dass du deinen Job sehr gut machst, aber aufgrund des Personalmangels muss ich dich leider hierbehalten.«

Kapitel 3

Dorothea war gerade dabei, sich ihre Timberlands zuzuschnüren, als die Türglocke läutete. Sonntagnachmittag. Wer konnte das sein? Sie sah durch das Fenster auf das letzte Tageslicht, das sich am grauen Winterhimmel noch zeigte. Wenn sie nicht gleich aufbrach, würde es zu spät für einen Spaziergang sein. Ihr Blick glitt zur Gegensprechanlage. Erst nach dem fünften Läuten drückte sie auf die Taste.

»Wer ist da?« Nur leises Rauschen kam über den Lautsprecher.

»Konstantin Schmitt. Kann ich raufkommen?«

Was wollte der Chefinspektor von ihr? Acht Tage waren vergangen, seit das tote Mädchen in der Aula gefunden worden war. Ihr Bericht über den Ersteinsatz war ausführlich und klar gewesen. Sie stöhnte. Vielleicht konnte Schmitt nicht lesen. Genervt drückte sie auf den Türöffner.

Als sie die Wohnungstür aufzog, schlugen ihr aus dem Treppenhaus Kälte und der Geruch von nassen Schuhen entgegen. Sie hörte, wie der Chefinspektor tief unter ihr jeweils zwei Stufen auf einmal nahm. Durch das Messinggeländer sah sie, dass er sich über die Haare strich und Schneeflocken von seinem Wintermantel streifte. Auf dem letzten Absatz blieb er stehen und blickte zu ihr herauf.

»Interessantes Outfit.«

Trotz der Kälte im Treppenhaus wurde Dorothea heiß. Sie starrte auf ihren gefütterten Parka, der einst dunkelgrün gewesen war. Sie mochte ihn, weil er angenehm wärmte, konnte aber nicht leugnen, dass er wie ein Sack fast bis zu ihren Knien fiel. Während sie ihre ausgebeulte Hose betrachtete, erklomm Schmitt die letzten Stufen und wies auf die Ohrstöpsel um ihren Hals.

»Rolling Stones, Pink Floyd, Prince?«

Dorothea zog die Tür hinter sich zu. »Ich höre mir Audiobücher an, wenn ich spazieren gehe.« Sie drehte den Schlüssel im Schloss. »Ich wollte gerade aufbrechen.«

Er musterte sie, dann trat er einen Schritt nach vorn. »Darf ich trotzdem kurz reinkommen?«

Dorotheas Magen verkrampfte sich. Ihre Wohnung war ihr Heiligtum, ihr geheimes Reich. Außer ihrer Freundin Vera war noch niemand bei ihr gewesen.

»Woher kennen Sie meine Adresse?«

»Ich habe die Personalabteilung angerufen.« Er grinste. »Ich kann sehr überzeugend sein.«

Analphabet und unerträglich selbstgefällig. Dorothea erwog, Schmitt nicht zu beachten, schlicht an ihm vorbei die Treppe hinunterzusteigen.

Schmitt schien ihren Unwillen zu spüren. »Bitte. Es ist wichtig.«

 

Nachdem er seinen Schal an die Garderobe gehängt hatte, als wäre er hier zu Hause, zog er einen großen weißen Umschlag aus der Innentasche seines Mantels. Dann trat er ins Wohnzimmer, drehte sich einmal um seine Achse und stieß einen Pfiff aus.

»Unglaubliche Wohnung. Dachgeschoss. Riesig. Und trotzdem gemütlich. Sind das antike Möbel?« Ohne auf ihre Antwort zu warten, ging er zum Fenster. »Und der Ausblick. Direkt auf die Festung.«

Dorothea wunderte sich über seine Begeisterung. Sie blickte hinüber zu den drei Türmen und den beiden mittelalterlichen Burgen, die auf dem hohen Felsen mitten in Kufstein thronten. Schmitts Worte erinnerten sie daran, dass sie selbst das Wahrzeichen der Stadt noch nie von innen gesehen hatte. Seine Stimme riss sie aus den Gedanken.

»Ich war letzten Sommer auf einer Hochzeit dort. Ausgesprochen erlesenes Ambiente.« Er sah sie an und zwinkerte. »Und sehr romantisch.«

Erst jetzt bemerkte sie, dass in seinen grauen Augen winzige goldbraune Pünktchen flackerten. Mittlerweile hatte sie den Parka ausgezogen, aber nun wurde ihr auch unter der Strickjacke heiß. Sie musste ihren Blick abwenden und sich räuspern, bevor sie etwas sagen konnte.

»Leider habe ich auch einen direkten Blick auf den Bahnhof dort unten. Aber immerhin macht das die Wohnung für mich erschwinglich.«

Beide starrten auf einen Güterzug, der langsam auf den Schienen heranrollte.

Schließlich begann Dorothea wieder zu sprechen: »Worum geht es?«

Schmitt hielt sich an der Lehne des Biedermeierstuhls fest und sah sie direkt an. »Wollen Sie mir nicht etwas zu trinken anbieten?«

Dorothea seufzte. »Was hätten Sie denn gern?«

»Bier, Wein, Schnaps, was immer Sie haben.« Unaufgefordert setzte er sich an den Tisch.

»Wie bitte?«

»Das war natürlich ein Scherz. Aber ein Kaffee wäre nicht schlecht.«

Widerwillig ging Dorothea in die Küche und holte den Behälter mit löslichem Kaffee aus dem Schrank, den sie nur gekauft hatte, falls ihre Mutter mal zu Besuch käme. Das Glas war immer noch verschlossen. »Feinster Kaffeegenuss. Entkoffeiniert«, las sie auf dem Etikettund fragte sich, ob sie Schmitt lieber eine Tasse Tee anbieten sollte. Dann aber schob sie ihre Zweifel beiseite. Vorsichtig drehte sie den Deckel auf, entfernte die Schutzhülle und gab schließlich einen Teelöffel der braunen Körner in eine große Tasse. Durch die Durchreiche beobachtete sie, dass Schmitt wieder aufstand und die Bilder an der Wand betrachtete. Vor einer Kraterlandschaft blieb er stehen.

»Was sind das für Vulkane?«, fragte er laut. »Wo ist das?«

Sie griff nach dem Teekessel und ließ Wasser hineinlaufen. »Das ist der Bromo. Auf Java. Indonesien.«

»Und die rote Felslandschaft?«

Dorothea schloss die Augen. »In Utah. USA.«

»Sammeln Sie Elefanten?«

Offenbar war er bei ihrer Glasvitrine angekommen. »Ja.«

»Warum ist der hier so bunt?«

Sie beobachtete, wie er die geschnitzte Figur aus der Vitrine nahm. Mit eiligen Schritten ging sie rüber ins Wohnzimmer, nahm ihm das Tier aus der Hand und stellte es wieder neben die anderen.

»Weil die Menschen in der Pink City die Elefanten für ihre Straßenfeste so bemalen.«

Er runzelte die Stirn. »Pink City?«

»Jaipur. Das ist in Rajasthan, Indien.«

»Und da waren Sie überall schon?«

Dorothea nickte müde.

»Und der rote Elefant? Ist der aus der Red City?« Er lachte über seinen eigenen Witz, während Dorothea die Tür der Glasvitrine vorsichtig zudrückte.

»Nein, der ist aus der Mongolei.«

Ohne ihn aus den Augen zu lassen, kehrte sie in die Küche zurück und beobachtete, wie er an ihren Bücherregalen entlangschritt. Den Umschlag hielt er mit beiden Händen fest.

»Ausgrabungsstätten in aller Welt. Interessieren Sie sich für Archäologie?«

Dorothea stellte den Kessel auf den Herd und sah zu, wie die Ringe der Kochplatte rot wurden. Dann nahm sie eine weitere Tasse aus dem Schrank und gab einen Beutel hinein.

»Ich habe Archäologie studiert, bevor ich zur Polizei gegangen bin.«

Hinter sich hörte sie, dass Schmitt an die Durchreiche trat.

»Warum haben Sie das Studium abgebrochen?«

Dorothea wartete, bis der Kessel zu pfeifen begann, und goss das Wasser in die beiden Becher. Erst dann wandte sie sich zu Schmitt um.

»Abgebrochen? Ich habe meine Doktorarbeit eingereicht und mich dann zur Aufnahmeprüfung für die Polizeischule angemeldet.«

Er grinste, als sie ihm den Kaffee in die Hand drückte. »Oh, entschuldigen Sie, Frau Doktor Archäologin.«

Nebenan im Wohnzimmer stellte sie ihre Teetasse auf den Jugendstiltisch in der Erkernische und setzte sich. Schmitt nahm ihr gegenüber Platz. Behutsam legte er den Umschlag auf die Tischplatte, dann nahm er einen Schluck und betrachtete das Bild auf seiner goldenen Tasse. »Klimt?«

Sie nickte.

»Und Ihre?«

Dorothea nahm den Teebeutel aus ihrer Tasse und drückte ihn vorsichtig aus. Sie legte ihn auf die Untertasse und antwortete schließlich: »Rubens.« Als sie Milch in ihren schwarzen Tee goss, fing sie Schmitts erstaunten Blick auf.

»Sie sind Archäologin, reisen gern und interessieren sich für Kunst. Sind Sie sich sicher, dass Sie Polizeiinspektorin sind?«

»Warum sind Sie hier?«

Er rührte in seinem Kaffee und begann, kleine Tropfen auszuschöpfen und sie langsam wieder zurück in den Becher zu gießen. »Ich habe gehört, dass Sie sich für die freie Stelle in unserer Abteilung beworben haben.«

Dorothea nickte nur.

»Und? Wie stehen Ihre Chancen?«

»Das wissen Sie besser als ich. Mein Chef gibt mir jedenfalls kein Empfehlungsschreiben. Sind Sie gekommen, um mir den Job anzubieten?« Dorothea war bestürzt über den wütenden Ton in ihrer Stimme.

Schmitt hob abrupt den Kopf. »Nein, leider habe ich auf die Personalpolitik keinen Einfluss. Im heiligen Land Tirol liegt das wohl in Gottes und in schwarzer Hand.«

»Und der Allmächtige hat Ihnen schon so früh eine Stelle bei der Mordkommission beschafft?«

»Sie sind gut informiert.« Er lächelte verlegen und senkte den Blick. »Es stimmt, mein Vater hat mir zu der Position verholfen. Aber Oberkommissar Ernst Schmitt ist mittlerweile in Pension.« Er rührte weiter im Kaffee.

»Es geht also nicht um meine Bewerbung. Warum sind Sie dann hier?«

Endlich legte er den Löffel auf die Untertasse. Dorothea vernahm das Klicken von Metall auf Porzellan, und ein Schauer lief ihr über den Rücken.

»Der Staatsanwalt hat den Tod von Elena Goldschmied als Selbstmord deklariert.«

Sie schwieg. Deshalb also hatten die Zeitungen nicht über den Tod der Schülerin berichtet. Dorothea ahnte, dass Schmitt die Überraschung in ihren Augen gesehen hatte. Er schaute zum Fenster, und sie folgte seinem Blick. Draußen verschwand das letzte Tageslicht im Kaisertal.

Erst als die Wintersonne ganz untergegangen war, sprach Schmitt weiter: »Ich bin mir nicht sicher, ob es Selbstmord war.« Er nahm den Umschlag und schob ihn über den Tisch. »Das sind Kopien der Akte. Ich möchte gern, dass Sie den Fall untersuchen.«

»Für die Mordkommission?«

»Nein, für mich.«

Gegen ihren Willen war Dorothea beeindruckt. Sie atmete den Duft seines Aftershaves ein und betrachtete das modische Hemd. Konstantin Schmitt wirkte nicht wie jemand, der genauer hinsah, den Dingen auf den Grund ging. Doch nun fragte sie sich, ob sie zu schnell geurteilt hatte. Sie lauschte dem Knacken in den Deckenbalken und suchte nach einer Erwiderung.

»Warum gerade ich?«, fragte sie schließlich.

»Weil Sie nicht einmal gefragt haben.«

»Was habe ich nicht gefragt?«

»Warum ich glaube, dass es kein Selbstmord war.«

Dorothea fixierte den Umschlag, nahm ihn aber nicht in die Hand. »Ich würde Ihnen gern helfen, aber ich kann nicht.« Sie erhob sich.

»Können Sie nicht, oder wollen Sie nicht?«

Sie sah ihn an und betonte ihre Worte wie für ein kleines Kind. »Ich darf mir gerade jetzt keinen Fehler erlauben. Mein Vorgesetzter …«

»Er muss ja nichts davon wissen.«

Dorothea nahm Schmitts noch volle Tasse und trug sie zur Spüle. »Chefinspektor Fuhrmann kennt jeden in Kufstein. Wenn er herausfindet, dass ich auf eigene Faust in einem Mordfall ermittle, ist die Hölle los.« Und ich kann meine Bewerbung vergessen, fügte sie in Gedanken hinzu. Während sie den lauwarmen Kaffee in die Spüle schüttete, hörte sie den Stuhl über das Parkett schaben.

»Sie glauben also auch, dass es kein Selbstmord war.«

Dorothea sah zu, wie die Flüssigkeit allmählich im Ausguss verschwand. Schließlich antwortete sie leise: »Ja.«

Einen Moment lang hielt sie inne, dann ging sie wieder ins Wohnzimmer.

»Warum untersuchen Sie den Fall nicht selbst?«

Er fuhr sich mit den Fingern durch die akkurat geschnittenen Haare. »Das ist von Innsbruck aus schwierig. Offiziell ist der Fall ja abgeschlossen. Ich habe bereits einen neuen Fall zugewiesen bekommen. Deshalb hoffte ich, dass Sie vielleicht …«

Dorotheas Finger bebten, als sie die Teetasse vom Tisch hob. »Es tut mir leid, aber ich kann Ihnen nicht helfen.«

»Möchten Sie wirklich einen Mörder laufen lassen?«

»Nein, natürlich nicht! Aber ich kann meine Karriere dafür nicht aufs Spiel setzen.«

»Sie meinen die Karriere, bei der Sie Mörder fassen wollen?«

Kapitel 4

»Ein Tisch für zwei?«

Dorothea nickte und rieb sich die Finger. Sie spürte, wie die letzten Schneeflocken auf ihrem Gesicht schmolzen, und zog langsam den Parka aus. Mittlerweile war es draußen dunkel und eiskalt, die Luft in dem indischen Restaurant jedoch durchflutete warm ihre Glieder, der Klang von indischer Musik und das gedämpfte Klirren von Töpfen und Pfannen umhüllten sie. Tief atmete Dorothea das Aroma von Curry, Kardamom und Kurkuma ein, und ein wohliges Gefühl breitete sich ihr aus. Dann sah sie sich im Bombay um, aber Vera war nirgends zu sehen. Dorothea merkte, wie Nervosität in ihr aufstieg.

Der Kellner mit weißem Turban lächelte freundlich und deutete auf den Tisch mit dem Schild Reserviert. Dorothea wählte den Holzstuhl mit Blick zur Tür und versuchte, ihre Vorahnung zu unterdrücken. Wenn Vera zu spät kam, handelte es sich meist nicht nur um Minuten.

Um sich abzulenken, betrachtete sie eingehend die Landkarte an der Wand. Delhi, Kalkutta, Mumbai. Sie las die Namen der Städte, und die Erinnerungen kamen zurück. Die verwinkelten Gassen der Slums, der Geschmack von reifen Mangos, der feuchte Geruch des Monsuns. Einzelne Bilder tauchten in ihrem Geist auf. Der kleine nackte Junge, der auf dreckigen Lumpen auf dem Gehsteig schlief. Die Krähe, die daneben seinen toten Welpen zerhackte. Der Tempel der heiligen Ratten. Tausende graue Tiere, Tausende schwarze Augen, Tausende lange Schwänze. Noch immer spürte sie auf ihrer Haut die Krallen der Ratte, die über ihre Füße gelaufen war. Bei dem Gedanken daran schüttelte sie sich vor Ekel.

»Möchten Sie vielleicht schon etwas trinken?«

Dorothea zögerte. »Nein, danke. Meine Begleitung müsste jeden Moment kommen.«

Sie nahm ihr Mobiltelefon aus der Tasche, doch dann öffnete sich die Tür. Erleichtert hob Dorothea den Kopf, aber es war nur ein junges Pärchen, das den Raum betrat. Wieder betrachtete sie das Display. Kein Anruf. Keine Nachricht. Ihre Finger tasteten nach den zwei Eintrittskarten in ihrer Strickjacke, das Glanzpapier fühlte sich kühl an. Ihr Blick fiel auf den leeren Stuhl an der anderen Tischseite, und sie fragte sich genervt, was nun schon wieder vorgefallen war. Von Zeit zu Zeit kam es vor, dass Vera in einem ihrer seelischen Tiefs versank. Dann kam sie zu spät, rief nicht an, vergaß Verabredungen. Dorothea kämpfte gegen die Wut, die langsam nach ihr griff, nahm die Serviette und strich sie glatt. Danach schaute sie auf die Uhr. Schon zwanzig Minuten über der Zeit.

Ausgerechnet heute, dachte sie und ärgerte sich über sich selbst. Sie hätte es wissen müssen.

Der Kellner näherte sich dezent. »Wollen Sie nun bestellen?«

Sie lächelte verlegen. »Ich warte noch. Aber ich hätte gern eine Tasse Schwarztee. Mit Milch, bitte.«

Nena. Festung Kufstein. Einlass 20:00 Uhr. Dorothea legte die Tickets auf das Tischtuch. Ihre Vorfreude schlug immer mehr in Frustration um, gegen die sie nicht ankam. Sie nahm einen Schluck aus dem Teeglas, doch das Gebräu schmeckte seltsam und bitter. Angespannt lauschte sie dem Klingeln des Windspiels über der Tür. Als ihre Freundin nach einer halben Stunde noch immer nicht da war, griff Dorothea nach dem Mobiltelefon.

»Lieber Anrufer. Der gewünschte Gesprächspartner ist vorübergehend nicht …«

Die Worte jagten heißes Blut in ihre Adern. Sie suchte ihre Geldbörse und winkte dem Kellner.

Noch bevor sie aufblickte, roch Dorothea das herbe Parfüm und hörte das Klappern der hohen Absätze. Gemächlich hob sie den Kopf. Wie üblich glich Vera einer alternden Rockdiva. Rot-schwarz gefärbte Haare fielen über die schmalen Schultern, große Glitzerohrringe klimperten an ihren Ohrläppchen, die Fingernägel leuchteten flammend rot. Unter dem offenen Mantel steckten die langen Beine in einem kurzen Rock und Stiefeln mit hohen Absätzen, das Top ließ den Ansatz schon etwas erschlaffter Brüste und ein verblasstes Tattoo erkennen. Von Weitem wirkte das Gesicht jugendlich, aber aus der Nähe konnten die dicke Make-up-Schicht, der grüne Lidschatten und knallroter Lippenstift die Spuren von Alter, jahrelangem Kettenrauchen und Müdigkeit nicht verbergen.

»Inspektorin Nagler. Wie schön, dass Sie mich schon so früh mit Ihrer Anwesenheit beglücken.« Vergeblich versuchte Dorothea, den Zorn in ihrer Stimme zu unterdrücken.

»Tut mir echt leid.« Veras Stimme klang rau, sie war außer Atem. »Philipp hat mir das Auto erst um fünf gebracht. Dann musste ich den Kleinen noch zu meiner Mutter verfrachten.«

»Lass mich raten.« Dorothea seufzte genervt. »Du hast wieder einmal vergessen, dein Handy aufzuladen.«

Beschämt nickte ihre Freundin, dann sprach sie hastig weiter: »Und dann war noch Stau. Wegen dem Konzert.«

Dorotheas Ärger verflog langsam. »Welches Konzert?« Sie wandte sich ab, um ihr Lächeln zu verbergen.

»Weißt du das gar nicht?« Vera zog ihren Mantel aus und hängte ihn über die Stuhllehne. »Nena. Auf der Festung. Bin ein absoluter Fan.« Endlich setzte sie sich und atmete hörbar aus. »Aber im Moment bin ich wieder mal ziemlich knapp bei Kasse. Und Philipp und Patrick brauchen was zum Anziehen.« Vera fischte einen Spiegel aus ihrer Handtasche und prüfte ihr Make-up.

»Warum kann Philipp eigentlich nicht auf seinen kleinen Bruder aufpassen?«

Ohne ihre Augen von dem Spiegel zu nehmen, antwortete Vera: »Ein Achtzehnjähriger? Am Sonntagabend?« Sie fuhr sich durch die Haare. »Keine Chance. Ich habe Glück, dass ich mein eigenes Auto haben darf.«

»Und Andi?« Dorothea dachte an den gebräunten Hünen, den ihr Vera vor vier Monaten als ihren neuen Freund vorgestellt hatte.

»Andi? Welcher Andi?«

Veras Stimme triefte vor Sarkasmus, und Dorothea wusste, dass sie in ein Fettnäpfchen getreten war. Mit einem Knall schnappte die Puderdose zu.

»Ach, du meinst den Idioten, der mich mit seiner Arbeitskollegin betrogen hat?«

 

Als der Kellner die gegrillten Hähnchenstücke in leuchtend roter Tandoori-Soße und das Lamm-Curry servierte, schloss Vera schließlich ihre Erzählung ab. »Und nun bin ich wieder mit den Jungs allein.« Während sie Reis auf ihren Teller häufte, musterte sie Dorothea. »Du siehst aber auch nicht besonders glücklich aus.«

Dorothea nahm die Schale, die Vera ihr hinhielt, schwieg aber.

»Fuhrmann?«

Ohne ihren Blick zu heben, nickte Dorothea.

»Macht nichts, Kleines, du schaffst das auch allein.« Ihre Freundin klang zuversichtlich.

Dorothea war gerührt. Veras immerwährendes Vertrauen in ihre Fähigkeiten stärkte sie, aber die Enttäuschung saß tief.

»Vera, wie hältst du es nur mit so einem Chef wie Fuhrmann aus?«

Gleichgültig zuckte Vera die Schultern. »Man gewöhnt sich an alles.« Sie spießte eines der Fleischstücke auf und schob es in den Mund. Nachdenklich kaute sie und fuhr mit vollem Mund fort: »Er ist kein schlechter Mensch. Schanzt mir immer einige Überstunden zu, weil er weiß, dass ich das Geld dringend brauche.«

Dorothea gab einen Löffel von dem Curry auf den Teller und sah zu, wie sich die safrangelbe Soße mit dem Reis vermischte. »Wie lange arbeitest du schon für ihn?«

»Seit zweiundzwanzig Jahren.«

Sie dachte an Fuhrmanns Rattengesicht, an seine Meinung über Frauen. »Ist es dir nie in den Sinn gekommen, dich versetzen zu lassen?«

Messer und Gabel blieben in der Luft hängen. »Ach, Schätzchen, als Mutter sieht man die Welt ein wenig anders. Und wenn man alleinerziehend ist, sowieso.« Plötzlich sah sie unendlich müde aus.

»Möchten Sie noch eine Nachspeise?« Freundlich räumte der Kellner die Teller ab. Dorothea warf einen prüfenden Blick auf ihre Armbanduhr.

»Hast du heute noch was anderes vor?« Veras Stimme klang enttäuscht, doch Dorothea lächelte sie an.

»Nur mit dir deinen Geburtstag zu feiern.« Noch einmal sah Dorothea auf ihre Uhr. »Aber wir haben noch Zeit fürs Dessert.«

 

Während sie ihre frittierten Milchbällchen löffelte, begann Dorothea zögernd, im Plauderton zu sprechen: »Hast du von der toten Schülerin im Gymnasium gehört?«

Vera spielte mit ihrem Feuerzeug, und Dorothea konnte sehen, dass sie bereits nach einer Zigarette lechzte. »Machst du Witze? Seit Tagen gibt es kein anderes Gesprächsthema mehr in Kufstein.« Ihre Augen verengten sich. »Warum fragst du?«

Dorothea biss sich auf die Lippe. Ihre Kollegin war eine sehr gute Beobachterin und hatte einen untrüglichen Instinkt für die Wahrheit. Sie erinnerte sich an die Nacht, in der sie Vera kennengelernt hatte, und schüttelte langsam den Kopf. »Kein besonderer Grund.«

»Dorothea?«

Sie wusste, dass Vera äußerst hartnäckig sein konnte, holte tief Luft, atmete wieder aus und murmelte leise: »Man hat mich um einen Gefallen gebeten.«

Auch Veras Gehör war offensichtlich vorzüglich. »Gefallen? Was für einen Gefallen? Und wer ist ›man‹?«

Dorothea zögerte einige Sekunden, ehe sie antwortete: »Konstantin Schmitt. Er ist ein Mitglied der Mordkommission.«

»Ich weiß, wer Konstantin Schmitt ist.«

Der hasserfüllte Ton in Veras Stimme ließ Dorothea aufblicken. »Woher kennst du ihn?«

Veras Hand ballte sich um das Feuerzeug, die Knöchel wurden weiß. »Tut hier nichts zur Sache. Was will er von dir?«

Noch immer erstaunt über die heftige Reaktion starrte Dorothea ihre Kollegin an. Ohne ihren Blick von Veras Augen zu nehmen, antwortete sie vorsichtig: »Schmitt glaubt, dass es kein Selbstmord war.«

»Nein!«

»Wie bitte?«

»Meine Antwort ist Nein.«

Dorothea hatte das seltsame Gefühl, in einem dunklen Raum gegen eine Mauer zu laufen. »Du weißt ja nicht mal, was ich sagen wollte.«

»Das weiß ich sehr wohl. Er will, dass du herumspionierst. Auf eigene Faust. Nein!«

Es dauerte ein paar Sekunden, bis das Gehörte in Dorotheas Verstand vorgedrungen war. Dann begannen ihre Gedanken zu rasen. Was war zwischen Schmitt und Vera vorgefallen? Dorothea musterte Veras zusammengepresste Lippen, aber ihre Freundin wich dem Blick aus.

»Und was ist mit dem Mädchen? Was ist mit ihren Eltern?«

»Das ist seine Verantwortung, nicht deine.« Veras Stimme klang hart.

»Vielleicht würde es mir aber helfen.« Dorothea blickte auf ihren Teller. Es war ihr peinlich, ihren eigennützigen Gedanken auszusprechen. »Bei meiner Beförderung.«

Vera nickte. »Da hast du recht.« Der gefährliche Unterton in ihrer Stimme jagte Dorothea einen Schauer über den Rücken. »Es kann dich nämlich deinen Job kosten. Damit ist das Problem der Beförderung dann eindeutig gelöst.«

Dorothea nahm einen kleinen Bissen, doch die Nachspeise schmeckte plötzlich nach Pappe.

»Dorothea.« Veras Stimme wurde weich. »Ich weiß, warum du zur Mordkommission willst. Ich sehe es in deinem Gesicht, jedes Mal, wenn du das Foto deines Vaters anschaust.«

Dorothea schob das Dessert von sich. Auf einmal fühlte sie sich, als sei ihr Kopf mit Watte gefüllt.

»In all meinen Jahren habe ich noch keine so gute Polizistin gesehen wie dich. Und ich weiß auch, dass das in Tirol leider oftmals nicht das Kriterium für eine Karriere ist.« Sie seufzte. »Aber glaub mir, meine Kleine, du wirst es irgendwann trotzdem zur Mordkommission schaffen.«

Ohne aufzusehen, tupfte Dorothea ihre Lippen ab, faltete die Serviette und strich sie einige Male glatt.

»Dorothea, bitte schau mich an. Willst du wirklich deine Zukunft aufs Spiel setzen? Hat Schmitt dich mit seinem Charme um den Finger gewickelt?« Vera schnaubte laut. »Darin ist er ja Meister.« Sie streckte ihre Hand aus und legte sie auf Dorotheas Arm. »Aber ich bitte dich, sei vernünftig!«

Irgendetwas in Dorothea zerriss wie ein Gummiband. Sie entzog Vera ihren Arm. »Na, wenn das unsere Männerexpertin Nagler sagt, dann wird es wohl so sein.«

Veras Augen verengten sich. »Wie war das?«

»Du musst es ja wissen.«

»Was willst du damit sagen?«

»Nur, dass deine Vergangenheit mit Männern nicht unbedingt für dein Urteilsvermögen spricht.«

Die Nasenflügel ihrer Freundin begannen zu beben. »Hör zu, meine Liebe, nur weil du dich anziehst wie eine Nonne und auch wie eine lebst, heißt das nicht, dass es alle anderen auch so machen müssen. Es spricht nichts dagegen, auch mal Spaß im Leben zu haben. Und wenn man dabei hinfällt, dann ist das eben so. Hinfallen. Aufstehen. Krone richten. Weitergehen. Das ist mein Motto.« Sie schnaubte verächtlich. »Nicht so wie du. Sich ewig zu verkriechen wie eine Schildkröte, nur weil ein Mann dich vor Jahren verletzt hat.« Als sie abrupt aufstand, fiel der Stuhl mit einem Poltern um. »Aber ich muss mir das nicht bieten lassen.« Sie kramte in ihrer Handtasche und legte schließlich einen zerknitterten Geldschein auf den Tisch.

Der verletzte Ausdruck in Veras Augen traf Dorothea. »Vera, es ist dein Geburtstagsessen. Ich habe dich eingeladen. Und hier ist noch ein Geschenk für dich.« Sie spürte die Reue wie einen Stich in ihrer Brust.

»Nein danke, ich brauche keine Almosen von Nonnen. Wie du weißt, bringen meine Freier ja genug ein. Ich schlage vor, du spendest es deinen Freundinnen im Kloster.

Kapitel 5

Er stand auf dem Glockenturm und winkte ihr von Ferne zu. Dorothea konnte seine Worte nicht verstehen, aber sie sah, dass er lachte. Sie spürte die Strahlen der Nachmittagssonne auf ihrer Haut, den Geschmack von Schokoladeneis auf ihrer Zunge. Ausgelassen winkte sie zurück und ging langsam auf ihn zu.

Doch plötzlich war ein riesiger Schatten hinter ihm. Sie öffnete ihren Mund, um zu rufen, konnte aber keinen Laut hervorbringen. In Panik begann sie zu rennen, aber schon nach zwei Schritten bekam sie keine Luft mehr.

Wie gelähmt stand sie da und sah zu, wie er stürzte. Minutenlang fiel er, und sie hörte ihn schreien. In einem fremden, hohen Ton, wie ein Tier, das geschlachtet wurde. Verzweifelt versuchte sie, ihre Arme auszubreiten, aber sie waren viel zu kurz.

Erst als sie ihre Hände betrachtete, merkte sie, dass sie die eines Kleinkindes waren. Das Gewicht der Schultasche auf ihrem Rücken zog sie nach unten. Obwohl sie am ganzen Körper schwitzte, war ihr eiskalt.

Als sie den dumpfen Aufprall hörte, wusste sie, dass er tot war. Sie rief seinen Namen, und beim Näherkommen sah sie, dass er nicht mehr seinen Anzug, sondern ein rotes Kleid trug. Dorothea kniete sich auf den harten Steinboden und nahm sein Haupt in ihre Hände, aber als sie in das schmerzverzerrte Gesicht sah, merkte sie, dass die leblosen Augen Elena Goldschmied gehörten und nicht ihrem Vater.

Mit einem Ruck wachte Dorothea auf. Ihr Körper fühlte sich kalt und steif an, die Zunge lag pelzig in ihrem Mund. Es war stockdunkel, und für einen Moment wusste sie nicht, wo sie sich befand. Unter ihren Fingerkuppen ertastete sie das Leder ihres Sofas, und auf dem Couchtisch zeichneten sich die Umrisse eines Bordeaux-Glases ab.

Mühsam gelang es ihr, sich zu erheben, dann aber stolperte sie über das Buch, das ihr aus der Hand gefallen war, und sie stieß sich im nächsten Moment den Fuß an der Kante ihres Bücherregals. Der Schmerz durchzuckte ihren Körper.

Als sich ihre Augen endlich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, tappte sie zum Fenster, aber die Festung war in dichtem Nebel verschwunden, der Mond ließ den Anblick gespenstisch wirken. Vor ihrem Haus zitterten die Äste des Kirschbaums im Nachtwind, irgendwo schlug ein Fensterladen gegen eine Mauer.