Delikatessenfriedhof - Pippa Jansen - E-Book

Delikatessenfriedhof E-Book

Pippa Jansen

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Beschreibung

Herr Fiedlers ehemalige Mieterin Annabelle bittet den kauzigen Rentner um Hilfe - und wird nur wenige Minuten später von einem Auto überfahren. Ein Unfall? Herr Fiedler und sein Freund Theo sind vom Gegenteil überzeugt. Mit Unterstützung der abenteuerlustigen Studentin Charlie ermitteln sie auf eigene Faust an der Hochschule Niederrhein in Mönchengladbach. Dort stoßen sie auf weitere seltsame Todesfälle von Studentinnen, die während ihres Praktikums bei einem renommierten Feinkosthersteller das Zeitliche segneten. Dass der sich nicht gern auf die Finger und in die Töpfe schauen lässt, müssen sie bald am eigenen Leib erfahren.

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Delikatessenfriedhof

Pippa Jansen

Kriminalroman

Inhaltsverzeichnis

Über das Buch 

Prolog 

Eins 

Zwei 

Drei 

Vier 

Fünf 

Sechs 

Sieben 

Acht 

Neun 

Zehn 

Epilog 

Nachwort 

Leseprobe: Villa Zucker – Allein kann ja jeder 

Weitere Bücher der Autorin 

Über die Autorin 

Impressum 

 

Über das Buch

Herr Fiedlers ehemalige Mieterin Annabelle bittet den kauzigen Rentner um Hilfe - und wird nur wenige Minuten später von einem Auto überfahren. Ein Unfall? Herr Fiedler und sein Freund Theo sind vom Gegenteil überzeugt. Mit Unterstützung der abenteuerlustigen Studentin Charlie ermitteln sie auf eigene Faust an der Hochschule Niederrhein in Mönchengladbach. Dort stoßen sie auf weitere seltsame Todesfälle von Studentinnen, die während ihres Praktikums bei einem renommierten Feinkosthersteller das Zeitliche segneten. Dass der sich nicht gern auf die Finger und in die Töpfe schauen lässt, müssen sie bald am eigenen Leib erfahren.

Prolog

Die zwei Kriminalbeamten standen vor dem Schaufenster und spürten, wie ihnen das Wasser im Mund zusammenlief. Gänseleberpastete, spanischer Schinken, Kaviar in Dosen mit kyrillischer Aufschrift, eine Auswahl leuchtend bunter Früchte und eine sehr gelungene Dekoration erinnerten sie daran, dass Mittagszeit war. Sie sahen sich kurz an.

»Los?«, fragte der Jüngere.

Sein deutlich älterer Kollege nickte. Der Jüngere ging voran, öffnete die Tür, die in den Delikatessenladen führte, und löste damit die Glocke aus.

Eine ältere Dame in schwarzer Kleidung trat aus dem Dämmerlicht im Hintergrund. Sie zögerte kaum merklich, als sie die Dienstausweise bemerkte, die die Herren vorzeigten.

»Was kann ich für Sie tun?«

»Frau Marianne Schwerdtfeger?«

»Ja, das bin ich.«

»Wir möchten Sie bitten, uns ins Polizeipräsidium zu begleiten. Sie stehen unter dem Verdacht, Ihren Mann, Hubert Wilhelm Schwerdtfeger, vergiftet zu haben.«

Der jüngere der beiden Beamten war reaktionsschnell und sportlich genug, Frau Schwerdtfeger aufzufangen, als sie mit seltsam verdrehten Augen und um ihre eigene Achse rotierend vor den beiden verblüfften Polizisten zusammenbrach.

Eins

Annabelle schüttelte ihr Handy und drückte erneut, diesmal fester auf die Taste, die das Gerät normalerweise einschaltete. Nichts. Ein letztes Schütteln, dann ließ sie die Schultern sinken. Der Akku war leer. Sie wusste genau, dass sie ihn vorgestern noch geladen hatte. Aber seitdem hatte sie mehrere Telefonate geführt, was eher ungewöhnlich für sie war, denn sie telefonierte ungern. Aber nichts war mehr normal in ihrem Leben, und so war der Akku leer, wenn sie ihn am dringendsten brauchte. Mist!

Sie wühlte in ihrer Umhängetasche, fand das Portemonnaie und suchte die diversen Kartenfächer ab, fand Kundenkarten, Rabattkarten und Kaffeegutscheine, die sie sowieso nie einlöste. Endlich fand sie das Gesuchte: eine alte Telefonkarte. Jetzt musste sie nur noch eins der vom Aussterben bedrohten öffentlichen Telefone finden. Also Tasche wieder umhängen, rauf aufs Rad und eine Telefonzelle suchen. Es dauerte geschlagene zehn Minuten, bis sie endlich vor einer dieser neuartigen grauen Säulen stand. Sie führte die Karte in den dafür vorgesehenen Schlitz. Nichts. Auch das noch! Sie schwang sich zurück auf ihr Fahrrad. Beim nächsten Apparat hatte sie mehr Glück. Sie wählte die Nummer und lauschte ungeduldig den Rufzeichen. Drei, vier, vor dem fünften wurde abgenommen.

»Fiedler.«

Annabelle war erleichtert. Dass ihr ehemaliger, fast achtzigjähriger Vermieter noch unter der bekannten Adresse lebte, hatte sie bereits einige Tage zuvor in Erfahrung gebracht und für sich genutzt. Das hätte sie ihm längst mitteilen müssen, aber sie war nicht dazu gekommen. Nun würde sich die Gelegenheit aber bald ergeben. Sie atmete auf.

»Guten Abend, Herr Fiedler. Hier spricht Annabelle Sievers. Erinnern Sie sich noch an mich? Ich habe vor zwei Jahren mal in Ihrem Dachgeschoss gewohnt.« Sie sprach hektisch und atemlos und versuchte sich zu beruhigen.

»Ihre Stimme und Ihr Name kommen mir bekannt vor, wenn ich auch im Moment kein Gesicht zuordnen kann. Was verschafft mir denn die Ehre?«

»Kann ich wieder bei Ihnen wohnen? Ab sofort?«

Eigentlich hatte sie nicht so mit der Tür ins Haus fallen wollen, aber diplomatisches Taktieren lag ihr einfach nicht.

»Das hört sich nach einem Notfall an.«

»Ja, das ist es wohl auch.«

»Nun, ich vermiete das Studio gar nicht mehr.«

Annabelle konnte ihr Pech nicht fassen und spürte die Hoffnung aus ihrem Körper weichen wie Luft aus einem schlecht verknoteten Ballon.

»Aber wenn Sie schnell eine Unterkunft brauchen, kommen Sie trotzdem. Sie können auf meinem Sofa schlafen, und wenn es für mehrere Tage sein soll, fragen wir meine Nachbarin, die hat ein Gästezimmer.«

»Herr Fiedler, Sie sind ein Schatz. Ich komme. Kann ich mein Fahrrad wieder im Garten abstellen?«

»Natürlich, wie immer. Bis gleich!«

 

Herr Fiedler kramte in seinem Gedächtnis und förderte zunächst ein pausbäckiges Gesicht mit sandfarbenen Haaren hervor, brachte es probeweise mit dem Namen Annabelle in Verbindung und schüttelte den Kopf. Nein, das passte nicht. Wenig später erschien ein schmales, ernstes Gesicht mit pechschwarzen kurzen Haaren vor seinem geistigen Auge. Eine schlaksige Person, nicht landläufig hübsch und meist recht ernst. Und richtig, diese Frau, an die er sich jetzt erinnerte, fuhr Fahrrad. Sommers wie winters. Jawohl, das musste sie sein. Was das wohl für ein Notfall war?

 

Herr Fiedler ging zurück zu seinem Freund Theo, der in der Küche Schnittlauch schnitt. Der Fußboden war bereits voller grüner Röllchen, von denen einige Herrn Fiedler freudig entgegenzukommen schienen.

»Theo, was hast du dem Schnittlauch getan, dass es vor dir flieht wie vor dem Nachbarshund mit der schwachen Blase?«

Theo, auf dessen Stirn ein dünner Schweißfilm glänzte, grinste schief und lockerte seinen Nacken durch kreisende Bewegungen der runden, leicht hängenden Schultern.

»Ich beantrage ein Wiegemesser oder die Akquisition von küchenfertigem Schnittlauch, wenn ich in diesem Kochduell weiter den undankbaren Part des Kräutermeisters übernehmen soll.«

Sein Lächeln zeigte deutlich, dass der Part so undankbar nicht war.

»Das Wiegemesser ist eine gute Idee, aber küchenfertige Kräuter sind unter unserer Würde. Dem Schnittlauch kommt man übrigens am besten mit der Schere bei.«

Herr Fiedler öffnete eine Schublade, kramte darin herum, fand offenbar nicht das, was er suchte, und warf Theo einen strafenden Blick zu.

»Wo ist sie?«

Theo hatte die Schere schon in der Hand und zeigte mit der Nasenspitze auf eine andere Schublade.

»Warum räumst du alle Sachen in der Küche herum, so dass ich nichts mehr finde?«

Theo, der in einer für seine Verhältnisse rasenden Geschwindigkeit den Schnittlauch mit der Schere direkt in die Salatschüssel schnippelte, ließ ein geistesabwesendes »Hm« hören. Herr Fiedler schüttelte den Kopf und beugte sich über das Kochrezept, das er am Tag zuvor von einem anderen Teilnehmer des Kochkurses zugesteckt bekommen hatte. Dann erinnerte er sich an das Telefongespräch und eröffnete Theo die Neuigkeit.

»Wir bekommen gleich Besuch von einer meiner früheren Mieterinnen.«

»Schön.« Theo griff nach dem zweiten Bund Schnittlauch. Die Falten auf seiner Stirn waren verschwunden.

»Sie heißt Annabelle, befindet sich offenbar in einer Notlage und braucht eine Unterkunft. Ich habe ihr das Sofa angeboten.«

Theo blickte von seiner Arbeit auf und seinen alten Freund an.

»Bereust du es nicht, mich in deinem Dachgeschoss-Studio aufgenommen zu haben, statt all der jungen Damen oder Herren, an die du früher vermietet hast?«

Herr Fiedler schüttelte vehement den Kopf. »Keinesfalls, Theo. Irgendwann muss mit dem ganzen Herumprobieren Schluss sein und man findet den Partner fürs Leben. Und wir zwei alten Knaben passen doch hervorragend zusammen, findest du nicht?«

Theo nickte lächelnd.

»Und die Eleganz, mit der du Schnittlauch schneidest, ist unerreicht. Apropos, reicht es nicht langsam?«

Beide beugten sich über das Rezept und studierten die Zutatenliste.

»Wo nehmen wir den frischen Salbei her?«, fragte Theo.

»Der wächst im Garten.«

»Dann hättest du ihn besser hereingeholt, bevor es dunkel wurde«, murmelte Theo.

»Wieso ich? Du bist für die Kräuter zuständig.«

Theo sah Herrn Fiedler mit hochgezogener Augenbraue an, ließ sich wortlos die für diese Fälle auf der Anrichte stehende Taschenlampe reichen und trollte sich in den Garten. Herr Fiedler naschte derweil von der Salatsauce, bekleckerte sein Hemd und musste sich deswegen rügen lassen, als Theo aus dem ungemütlichen Schmuddelwetter wieder hereinkam – mit einem Zweig Salbei in der Hand.

 

Das Wetter machte auch Annabelle zu schaffen, die sich nach dem Telefongespräch etwas erleichtert fühlte und mit neuer Hoffnung in die Pedalen trat. Sie bog zweimal links ab, stellte aber bald fest, dass sie sich verirrt hatte. Während der Suche nach der Telefonzelle hatte sie nicht darauf geachtet, wohin sie fuhr, jetzt hatte sie den Salat. Hektisch schaute sie sich um und beschloss, maximal zwei Minuten einfach geradeaus zu fahren. Nach einigen Querstraßen wusste sie wieder, wo sie war. Sie musste vor der Bahnlinie rechts rein, dann käme sie automatisch in der Nähe des Fachbereichs Oecotrophologie aus, der an der Rheydter Straße in einem der neueren Hochschulgebäude untergebracht war. Von dort war der Weg einfach zu finden. Sie bog ab.

Nach ein paar hundert Metern bereute sie ihre Entscheidung. Die Bebauung, die wegen des links verlaufenden Bahndamms nur auf der rechten Straßenseite zu finden war, endete ganz. Die Straße lag dunkel und einsam vor ihr. Die Angst, mit der sie seit Tagen lebte, kam mit neuer Wucht über sie, ließ sie innerlich frösteln und äußerlich schwitzen, nahm ihr den Atem. Sie fuhr schneller. Von hinten hörte sie ein Auto näherkommen. Sie fuhr ein Stückchen weiter rechts an die Seite. Die Fahrbahndecke war besonders an den Rändern extrem schlecht und stellenweise richtig ausgefranst. Nicht ungewöhnlich, aber ein ständiges Ärgernis für Radfahrer. Annabelle hatte einen Fahrstil entwickelt, der dieser Problematik Rechnung trug. Sie fuhr da, wo die Fahrbahn gut war, also meistens in der Mitte. Etliche Verwarnungen und sogar einige Bußgelder hatte ihr das eingebracht. Ihr Freund Harun hatte ihr vorgeworfen, dass sie aus reiner Opposition wie ein Schwein mit brennendem Schwanz durch die Stadt fegte. Daraufhin hatte sie ihren Fahrstil kurzzeitig gemäßigt.

Jetzt fuhr sie so weit rechts, wie es eben ging. Der einzige Punkt, in dem sie nie mit der Straßenverkehrsordnung in Konflikt geraten war, war die Beleuchtung. Sie hatte ihr Fahrrad mit starken Front- und Rücklichtern ausgestattet, die nicht nur dazu dienten, gesehen zu werden. Der Scheinwerfer vorn war stark genug, dass sie die Beschaffenheit des Wegs gut erkennen konnte. So sah sie das Schlagloch kommen.

Im selben Moment jaulte der Motor des hinter ihr fahrenden Wagens auf. Der Schlenker, den sie nach links machen wollte, um das Schlagloch zu umfahren, würde sie in den Weg des herannahenden Fahrzeugs bringen. Sie packte den Lenker fester und fuhr geradeaus auf das mit Wasser gefüllte Loch zu. Das Vorderrad war noch etwa fünfzig Zentimeter von der Stelle entfernt, als sie einen starken Schlag spürte und vom Sattel und den Pedalen rutschte. Sie landete halb unter dem Rad, der rechte Fuß steckte in einem seltsamen Winkel zwischen Rahmen und Vorderrad. Annabelle spürte keinen Schmerz. Aber sie spürte Angst, und zwar so viel wie noch nie in ihrem Leben.

Todesangst.

Sie war gestürzt, bevor sie das Schlagloch überhaupt erreicht hatte. Annabelle schaute sich um, so gut es ging, und sah in einigen Metern Entfernung einen Wagen mit abgeschalteten Lichtern stehen. Der Motor lief. Hektisch versuchte sie, sich unter dem Rad hervorzuwinden und von der Fahrbahn zu kommen. Ihr rechtes Bein bewegte sich nicht, der Rücken war taub. Annabelles Bewegungen wurden fahriger, sie sah jetzt fast ständig zu dem Auto hinüber, während sie mit zitternden Händen versuchte, ihren Fuß aus dem Rad zu befreien.

Dann wurde die Fahrertür geöffnet, eine Silhouette erschien auf der Straße. Sie kannte den Mann, da war sie sicher, obwohl sie sein Gesicht im Dunkeln kaum erkennen konnte. Er schlenderte auf sie zu.

»Helfen Sie mir bitte, ich kann mich nicht bewegen«, sagte sie in der irrigen Hoffnung, ihr Sturz wäre doch durch das Schlagloch verursacht worden. Der Mann kam näher, sagte aber nichts. Sie versuchte weiter, sich aufzusetzen, vergeblich. Der Mann trat hinter sie.

Annabelle schloss die Augen und dachte an Harun. »Diese Sache ist zu groß für dich. Schalte die Polizei ein.« Das waren seine letzten Worte gewesen. Er hatte Recht behalten. Sie spürte Tränen des Verlustes und der Wut in sich aufsteigen, dann zwei Hände, die ihren Kopf fassten.

Dann spürte sie nichts mehr.

 

»Was kochen wir denn heute?«, fragte Herr Fiedler, während er mit dem rechten Zeigefinger die Brotkrümel von seinem Frühstücksteller pickte.

Bevor Theo antworten konnte, schellte die Türklingel. Herr Fiedler sah auf die Uhr.

»Erwartest du so früh schon jemanden?«, fragte Theo verwundert.

»Ich gehe schon«, bot Herr Fiedler an und schnappte sich seinen Stock.

»Anna Fiedler?« fragte der Bote des Paketdienstes, dessen Aufmerksamkeit vollkommen von dem elektronischen Gerät gefangen war, auf dem er mit einem stumpfen Stift herumtippte.

»Sehe ich so aus?«, konnte Herr Fiedler sich nicht verkneifen.

Der Bote schaute auch jetzt nicht auf. »Können Sie die Sendung für sie entgegennehmen?«

Herr Fiedler brauchte nur einen Augenblick, um über die Situation nachzudenken. Annabelle hatte sich zwar seltsamerweise gestern nicht blicken lassen und auch nicht mehr gemeldet, aber offenbar hatte sie wirklich vor, bei ihm einzuziehen, wenn sie bereits ihre Post an seine Adresse schickte. Noch dazu unter seinem Namen. Das war ja sehr geheimnisvoll. Er würde die Sendung entgegennehmen und für sie aufbewahren.

»Wo muss ich unterschreiben?«

Er kritzelte seine Unterschrift auf das zerkratzte Display des nicht sehr sauberen Gerätes, nahm den Umschlag entgegen und schloss die Tür. Er hinkte zurück zum Esstisch und berichtete Theo von der Lieferung. Dann lehnte er den großen, kartonierten und mit EXPRESS beschrifteten Briefumschlag, der tatsächlich an Anna S. Fiedler unter seiner Adresse gerichtet war, nachdenklich gegen den Kerzenleuchter.

Theo blieb einen Moment still. »Hast du schon die Zeitung gelesen?«

»Nein, wie hätte ich das tun sollen? Du hast sie ja noch nicht hergegeben.«

Theo nickte, lächelte aber nicht. »Auf der Lokalseite wird von einem Verkehrsunfall mit Fahrerflucht berichtet. Eine junge Frau ist mit ihrem Fahrrad gestürzt.«

Herr Fiedler richtete sich alarmiert auf. »Annabelle?«

»Der Name wurde nicht genannt. Aber sie war in Richtung Rheydt unterwegs.«

Herr Fiedler wurde blass. »Ich hatte mir ja schon Sorgen gemacht, weil sie nicht kam.« Wieder ärgerte er sich, dass er die Telefonnummer nicht vom Display seines Telefons hatte abschreiben können. Vermutlich hatte Annabelle die Rufnummer unterdrückt.

»Vielleicht ist sie es ja nicht«, sagte Theo.

Herr Fiedler schüttelte den Kopf. »Annabelle Sievers ist höchst zuverlässig. Ein bisschen verschlossen, aber sehr verlässlich. Wenn sie mir damals sagte, dass sie um Punkt zehn den Schlüssel abholen kommt, dann war sie um Punkt zehn Uhr hier. Es muss also einen triftigen Grund dafür geben, dass sie gestern nicht kam und sich auch nicht wieder gemeldet hat. Wir sollten sie im Krankenhaus besuchen. Stand in dem Artikel, wo sie liegt?«

Theos blasse, hängende Wangen bekamen rote Flecken, ein sicheres Zeichen, dass noch mehr unangenehme Nachrichten zu erwarten waren.

»Die, von der die Zeitung berichtet hat, ist tot.«

Herr Fiedler, der als Kapitän der Handelsmarine ein bewegtes Leben geführt und viel Leid auf der Welt gesehen hatte, spürte, wie ihm das Blut aus dem Kopf in den Magen sackte. Er ließ sich gegen die Rückenlehne fallen und schloss die Augen. Einige Augenblicke lang war nur das Ticken der Wohnzimmeruhr zu hören.

»Theo, das können wir nicht einfach so auf sich beruhen lassen. Wir sollten ein paar ernste Worte mit den Herren von der Kriminalpolizei reden.«

»Über einen Verkehrsunfall?« Theos Stimme klang skeptisch.

Das war, wie Herr Fiedler wusste, normal bei ihm, der als ehemaliger Spezialist für alte Handschriften mit viel Ruhe und Überlegung an alle Entscheidungen herangegangen war.

»Vorausgesetzt, es handelt sich um Annabelle Sievers, dann stellt sich die Situation folgendermaßen dar«, begann Herr Fiedler, hoch aufgerichtet in seinem Stuhl und mit den Manschetten seines bügelfreien Hemdes in den Resten des Frühstücks. »Annabelle ruft mich an und bittet um sofortiges Asyl. Sie sagt, es handelt sich um einen Notfall. Ich biete ihr unsere Couch an, sie akzeptiert, kommt aber nicht und meldet sich auch nicht mehr. Am nächsten Tag bringt ein Kurierdienst einen Brief für Anna S. Fiedler zu meiner Adresse. Und nun scheint es«, Herr Fiedler benutzte die Formulierung der Wahrscheinlichkeit, um den zweifelnden Theo nicht durch voreilige Behauptungen abzuschrecken, »als sei genau diese Annabelle auf dem Weg hierher zu Tode gekommen.«

Herr Fiedler musste sich keine Mühe geben, ein gewisses Entsetzen in seine Worte zu legen. Er empfand es tatsächlich bei dem Gedanken, dass Annabelle die Spröde, wie er sie damals heimlich bei sich genannt hatte, nur kurz nach ihrem gestrigen Gespräch gestorben war. Dass es sich bei dieser merkwürdigen Folge von Notruf und Tod um einen Unfall handelte, erschien ihm mit jeder Minute unwahrscheinlicher.

Er betrachtete den Brief, den er immer noch in der Hand hielt.

»Sollen wir ihn öffnen?«, fragte er vorsichtig,in Erwartung einer entrüsteten Ablehnung.

Theo nickte. Herr Fiedler riss den Umschlag auf und zog mehrere geheftete Seiten heraus. Absender war das Analyse-Institut Dr. Pryzok, Dr. Warbende und Dr. Machalek aus Neuss. Neben einigen Referenznummern waren mehrere Tabellen mit Begriffen und Zahlen aufgeführt. Herr Fiedler gab den Brief kopfschüttelnd an Theo weiter. Theo schaute kurz darauf, zuckte die Schultern und legte ihn weg. Dann war es einige Augenblicke still, während die beiden Männer ihren Gedanken nachhingen.

»Es gibt einige Fragen, die wir der Polizei stellen sollten«, sagte Herr Fiedler leise. »Erstens: Handelt es sich bei dem Unfallopfer um Annabelle Sievers? Zweitens: Gibt es bei dem so genannten Unfall Hinweise darauf, dass es sich um eine geplante Tat handelte? Und drittens: Hat Annabelle Sievers in letzter Zeit Kontakt zur Polizei aufgenommen? Das wäre denkbar, immerhin gab sie gestern zu, sich in einer Notlage zu befinden.«

Theo nickte langsam. »Ich brauche noch etwas Zeit, um mich ausgehfertig zu machen, aber so in einer Stunde können wir los.«

Herr Fiedler saß noch einen Moment sinnend am Tisch, stand dann auf und sah Theo ernst an. »Irgendwie habe ich das Gefühl, dass diese Sache nicht mit einem einmaligen Besuch bei der Polizei erledigt sein wird.«

 

Kommissar Walter Bechstein sah die beiden alten Herren – das Wörtchen »ältere« fand er hier wirklich nicht mehr angebracht – nachdenklich an. Der eine war in Anbetracht der überschaubaren Kopfbehaarung übertrieben ordentlich gekämmt, hatte eine altmodische Brille auf der Nase und trug einen dunklen Wintermantel. Der andere hingegen – Bechstein musste ein Grinsen unterdrücken. Dieser Mann trug eine modische Outdoorjacke aus regenfestem Kunstfasergewebe in verschiedenen Orangetönen, eine schwarze Jeans und Trekkingschuhe mit orangefarbenen Schnürriemen. Seinen Kopf zierte eine für sein Alter beeindruckende Haarpracht, für welche die Bezeichnung Frisur allerdings nicht erfunden worden war. Die Haare standen einfach ungekämmt in alle Richtungen vom Kopf ab. Der Vogel war kleiner als sein Begleiter, hinkte trotz des Gehstocks, war aber offenbar der Wortführer. Bechstein wandte sich also an ihn.

»Wenn ich Sie recht verstanden habe, wollen Sie eine Zeugenaussage machen zu dem Verkehrsunfall mit Fahrerflucht, der sich gestern Abend ereignet hat, richtig?«

»Keine Zeugenaussage, sondern eine Hintergrundaussage.«

»Eine was?«

Bechstein sah den Sprecher und den anderen, der mit betroffenem Gesichtsausdruck daneben saß, ungläubig an.

»Wir waren bei dem Unfall nicht dabei. Aber die junge Frau, wenn es denn dieselbe ist, wollte zu uns.«

»Wer wollte zu Ihnen?«

»Annabelle Sievers.«

Bechstein wurde etwas wacher. »Dann erzählen Sie mal.«

»Ich wohne in Rheydt und habe fast fünfzehn Jahre lang ein Dachgeschoss-Studio an Studenten vermietet. Annabelle Sievers hat vor ein paar Jahren bei mir gewohnt, bevor sie einen Platz im Studentenwohnheim bekam. Gestern Nachmittag gegen fünf rief sie an und fragte, ob sie wieder bei mir einziehen könnte. Sofort.«

»Warum so schnell?«

»Es sei ein Notfall, sagte sie.«

»Was für ein Notfall?«

»Hören Sie, junger Mann –«

Bechstein zog die Augenbrauen hoch. Er hatte noch zwei Wochen bis zur Pensionierung, und dieser Witzbold nannte ihn einen jungen Mann. Bechstein schaute auf seine Notizen. Fiedler hieß der Komiker.

»Ich erzähle Ihnen, was wir wissen. Von Anfang an, der Reihe nach und vollständig. Danach können Sie Ihre Fragen stellen, okay?«

Der zweite Mann, Streckbein, lächelte, als wolle er um Nachsicht bitten.

»Sie rief also an, fragte nach einer Unterkunft und bestätigte, dass es sich um einen Notfall handele. Ich sagte ihr, dass ich das Studio gar nicht mehr vermiete und konnte ihre Enttäuschung förmlich durchs Telefon spüren. Daraufhin bot ich ihr an, auf unserer Couch zu schlafen. Sie war sehr erleichtert und sagte, sie käme dann gleich. Mit dem Fahrrad. Ich habe ihr noch gesagt, dass sie das Fahrrad wie immer in den Garten stellen soll, sie kennt sich ja aus.«

Bechstein fragte vorsichtig »Fertig?« und musste sich einen vernichtenden Blick gefallen lassen.

»Sie kam nicht. Sie hat sich auch nicht mehr gemeldet. Das sieht ihr nicht ähnlich. Sie war immer sehr zuverlässig. Deshalb habe ich mir Sorgen um sie gemacht.«

Kommissar Bechstein nickte widerwillig. Der alte Knacker machte einen geistig ganz fitten Eindruck. Ob er selbst in zehn oder zwanzig Jahren noch so gut beieinander sein würde? Heute jedenfalls fühlte er sich nicht ganz auf der Höhe. Er hatte Sodbrennen. Der Kaffee im Präsidium schmeckte nicht besonders gut, bekömmlich war er erst recht nicht. Aber besser als das Magen schonende Zeug, das seine Frau zuhause aufschüttete. Da konnte er auch Kinderkaffee trinken. Er unterdrückte ein Aufstoßen.

»Heute früh kam ein Kurierdienst und brachte einen Brief für Anna S. Fiedler, wohnhaft unter meiner Adresse.«

»Ihre Frau?«, fragte Bechstein dazwischen, wusste aber im selben Moment, dass er einen Fehler gemacht hatte.

Herr Fiedler klappte den Mund wieder zu und schaute kurz auf seine fleckigen, faltigen Hände, die er über den Knauf seines Stocks gelegt hatte. Theo Streckbein blickte noch unglücklicher drein, wenn das überhaupt möglich war, und legte ihm eine Hand auf den Arm. Herr Fiedler fasste sich offenbar und sprach weiter, als sei nichts geschehen. Nur seine Stimme klang jetzt ein bisschen schneidend.

»Ich habe den Brief, der meiner Meinung nach nur für Annabelle Sievers bestimmt sein kann, geöffnet, nachdem Theo mir von dem tödlichen Verkehrsunfall berichtet hatte. Es handelt sich um den Bericht eines Analyse-Instituts aus Neuss. Hier.«

Herr Fiedler hatte den Brief während seiner letzten Worte aus der Jackentasche gekramt und hielt ihn Bechstein hin. Der warf einen kurzen Blick darauf, sah Zahlenkolonnen und Messwerte, lateinisch oder sonst wie fremd klingende Worte und leider nicht viel, das verständlich gewesen wäre. Außer im Kopf oben den Vermerk »Stichprobenanalyse gemäß telefonischem Auftrag von Fr. Anna Fiedler.«

»Was bedeutet das?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Herr Fiedler prompt.

»Ist das alles, was Sie mir zu diesem Fall zu sagen haben?«, fragte Bechstein, diesmal deutlich vorsichtiger. Beide Herren nickten.

»Nun, vielen Dank. Mal sehen, inwieweit uns das weiterhelfen wird. Wir suchen natürlich nicht nach verloren gegangener Post der jungen Dame, sondern nach einem Autofahrer, der sie überfahren hat und dann vom Unfallort geflohen ist.«

Das besondere Detail, auf das ihn der Rechtsmediziner aufmerksam gemacht hatte, verschwieg er.

»Wir bestehen darauf, dass Sie unsere Aussage zu Protokoll nehmen und bei den weiteren Ermittlungen in diesem Fall berücksichtigen«, mischte sich plötzlich der bisher schweigsame Streckbein ein.

»Sie bestehen darauf?« Bechstein wollte seinen Ohren nicht trauen. Diese beiden Zeugen waren die Krönung seines unerfreulichen Tages.

»Wir sind der Meinung, dass die junge Dame Angst hatte, als sie um sofortige Aufnahme in unseren Haushalt bat. Die Tatsache, dass sie nur wenige Minuten später Opfer eines Unfalls mit tödlichem Ausgang wurde, verleitet uns zu der Vermutung, dass dies kein gewöhnlicher, also kein zufälliger Verkehrsunfall war. Es könnte ja genauso gut ein als Unfall getarnter Mord gewesen sein.«

Der Kommissar unterdrückte ein Seufzen. Mit Pensionären war das so eine Sache. Wenn die sich erst einmal etwas in den Kopf gesetzt hatten, konnten sie einem wochenlang auf den Sender gehen. Mein Gott, bald gehörte er selbst dazu!

»Ich werde Ihre Aussage aufnehmen, dann können Sie beide unterschreiben und dann werden wir auch in dieser Hinsicht ermitteln. Ist es so recht?«

Die letzte Frage hatte Bechstein mit spöttischem Unterton gestellt. Herr Streckbein fühlte sich offenbar provoziert, denn er konterte mit leicht erhobener Stimme.

»Es geht hier nicht um uns, sondern um eine junge Frau, die frühzeitig aus dem Leben gerissen wurde, und zwar, dessen sind wir sicher, nicht aufgrund eines ungnädigen Schicksals, sondern mit krimineller Absicht.«

Er sah Herrn Fiedler an, der heftig nickte. Dann fuhr er mit etwas ruhigerer Stimme fort.

»Wir möchten einfach sicherstellen, dass der Verantwortliche gefunden und zur Rechenschaft gezogen wird. Auch wenn das die junge Frau nicht wieder lebendig macht.«

Während Bechstein das Protokoll nach Herrn Fiedlers Angaben tippte, beruhigten sich die beiden »Hintergrundzeugen« wieder.

»Den Analysebericht hänge ich an das Protokoll«, erklärte Bechstein.

»Machen Sie sich eine Kopie, das Original behalten wir«, beschied Herr Fiedler ihm.

Auf Diskussionen hatte Bechstein, dessen Magen jetzt drückte und den das Tippen des Berichts auf der alten Schreibmaschine genervt hatte, nun wirklich keine Lust mehr. Er fertigte eine Kopie an und schaute auf die Uhr. Der letzte Samstagsdienst seines Lebens zog sich in die Länge wie dieses bunte Gummiband, das sein Physiotherapeut ihm für die Schulterübungen aufgeschwatzt hatte.

 

»Was ist los mit dir, Theo?«, fragte Herr Fiedler seinen Freund, sobald sie an der frischen Luft waren. Sie hatten beschlossen, zu Fuß nach Hause zu gehen. So konnten sie sich ein bisschen abreagieren und bekamen auch ihre tägliche Bewegungsration. Außerdem waren die Busse um diese Tageszeit recht voll, was im Zustand nervlicher Anspannung, in dem sie sich befanden, nicht leicht zu ertragen war. Sie gingen langsam nebeneinander her, Herr Fiedler wegen seines Stocks wie immer rechts.

»Dieser Mensch vermittelte mir den Eindruck, dass ihm die ganze Sache zu viel Aufwand ist«, sagte Theo leise, aber mit eisiger Stimme. »Was für eine Frechheit! Es geht immerhin um ein Menschenleben.«

Herr Fiedler war baff. Dass sein Freund sich echauffiert und den unwilligen Kommissar unter Druck gesetzt hatte, sah ihm gar nicht ähnlich. Und Worte wie »Frechheit« kamen ihm ausgesprochen selten über die Lippen. Normalerweise war Theo der ruhende Pol, während Herr Fiedler seine Leidenschaften mit, wie er fand, angemessener Vehemenz vertrat. Theo wurde langsam alt und dünnhäutig, dachte Herr Fiedler.

»Dieser Kommissar wird wohl beruflich dauernd mit dem Verlust von Menschenleben konfrontiert«, fügte Theo ruhiger hinzu. »Da stumpft man vielleicht ab, wenn man noch nicht am eigenen Leib erfahren hat, wie wertvoll so ein Leben ist.«

Herr Fiedler schwieg nachdenklich. Dann kam ihm die Erleuchtung. »Mensch, Theo, morgen ist der Todestag deiner Frau.«

Theo nickte mit unglücklichem Gesichtsausdruck.

»Wollen wir nach Wegberg zum Friedhof fahren?«

Theo hob unschlüssig die Schultern. »Ach, das ist so ein Aufwand.«

Langsam begann Herr Fiedler, sich ernsthafte Sorgen um seinen Freund zu machen. »Wir sind jeden Monat dort gewesen, seit du bei mir wohnst. Warum sollten wir morgen nicht fahren?«

»Ich weiß nicht recht. Die Bahnfahrt, dann zum Friedhof, dort das Grab pflegen. Das wird mir, glaube ich, alles ein bisschen viel. Ich bin ja nicht mehr der Jüngste.«

Herr Fiedler blieb stehen und sah seinen Freund entrüstet an. »Theo, du bist sieben Jahre jünger als ich. Nun mach also mal einen Punkt.«

»Lass es uns morgen früh entscheiden«, beendete Theo die Diskussion.

Herr Fiedler kannte ihn gut genug um zu wissen, dass das Thema für heute erledigt war. Auf dem weiteren Heimweg sagte Theo nicht mehr viel und wollte sich auch nicht an weiteren Mutmaßungen zum Fall Annabelle Sievers beteiligen. Zuhause angekommen, ging er bald in sein Dachgeschoss-Studio und ließ Herrn Fiedler allein im Wohnzimmer zurück.

 

Theos Stimmung hatte auch Herrn Fiedler zu schaffen gemacht. Seine Frau Ilse war zwar schon lange tot, und über die Jahre hatte er sich an das Alleinsein gewöhnt. Aber obwohl er täglich mit ihr sprach, vermisste er sie schmerzlich. Zum Glück hatte ihn die Nachbarin damals auf die Idee gebracht, das Dachgeschoss zu vermieten. Mit den Studenten hatte er immer Leben im Haus gehabt, manchmal mehr, als ihm lieb war. Bei diesem Gedanken angekommen, gab er sich selbst einen Ruck und nahm den Brief des Analyse-Instituts zur Hand. Gewissenhaft ging er die Worte unter der Überschrift »Substanzen« durch, die in der linken Spalte aufgelistet waren. Binapacryl, Captofol, Mancozep und ähnliche mehr. Diese Begriffe sagten ihm nichts. Auch bei den »Substanzklassen« wurde er nicht schlauer. Dithiocarbamat, Phtalsäurev. chl., Dinitrophenol. In der rechten Spalte waren Zahlen aufgelistet, mit denen er ebenso wenig anfangen konnte. So kam er nicht weiter. Unter der Tabelle gab es einen Schlusssatz, der ein Fazit enthielt. »Es handelt sich bei der eingesandten Stoffprobe um ein Präparat, das neben den genannten Wirkstoffen Verunreinigungen enthält und den modernen Anforderungen in puncto Wirksamkeit nicht gerecht wird.«

Was sollte das wohl bedeuten? Herr Fiedler rieb sich die müden Augen, sah auf die Uhr und beschloss, für heute das Grübeln zu beenden. Er legte eine Platte mit klassischer Musik auf und ging gegen Mitternacht schlafen.

 

Der nächste Morgen begann neblig und kalt, aber es dauerte nicht lang, bis die Sonne die grauen Schleier vertrieb und das erste Blau am Himmel zu sehen war. Während er seinen Tee braute und das Frühstück vorbereitete, pfiff Herr Fiedler vor sich hin. Dann wartete er darauf, dass Theo herunterkam. Nach zwei Tassen Tee und dem Studium der Zeitung sah er zum wiederholten Mal auf seine Uhr und beschloss, nach seinem Freund zu sehen. Oben klopfte er kräftig an die Tür zu Theos Studio. Er hörte ein seltsames Geräusch, rief Theos Namen und horchte nochmal. Genug gezaudert, dachte Herr Fiedler und öffnete die Tür. Dämmerlicht empfing ihn. Herr Fiedler tastete sich zum Fenster, zog den Vorhang beiseite und sprach seinen Freund leise an.

»Theo, geht es dir nicht gut?«

Ein Blick in das Gesicht, das sich ihm langsam zudrehte, jagte Herrn Fiedler einen gehörigen Schrecken ein. Theos Augen waren gerötet und glänzten unnatürlich. Seine Nase schien zu glühen, die wenigen Haare klebten ihm schweißnass am Kopf.

»Theo, du siehst schrecklich aus.«

»So fühle ich mich auch.«

Obwohl er nur flüsterte, lösten die wenigen Worte einen Hustenanfall aus.

»Ich bringe dir das Fieberthermometer und ein Glas Wasser, bevor wir entscheiden, was wir mit dir anstellen.«

Wenig später war klar, dass die Temperatur leicht erhöht aber nicht Besorgnis erregend war, und so verordnete Herr Fiedler seinem Freund Bettruhe und Lindenblütentee. Theo verzog das Gesicht. Als er widersprechen wollte, kam ihm ein erneuter Hustenanfall dazwischen.

»Und Honig musst du lutschen gegen den Hustenreiz. Am besten Waldhonig, ich besorge gleich welchen. Und dann hole ich auch noch Husten- und Bronchialtee, Erkältungstee und ein Huhn.«

»Ich brauche keine Gesellschaft«, krächzte Theo mit einem gequälten Lächeln.

Herr Fiedler war erleichtert. Wenn Theo der Humor noch nicht abhandengekommen war, konnte es so schlimm nicht um ihn stehen.

»Das Huhn ist nicht als Haustier gedacht, das kommt in den Topf. Hühnersuppe ist auf der ganzen Welt ein Hausmittel gegen Erkältung.«

 

Während er die Einkäufe erledigte, war Herr Fiedler regelrecht erleichtert über die Erkältung seines Hausgenossen. Die Krankheit, die ihm bereits in den Knochen gesteckt hatte, war also die Erklärung für Theos verdrießliche Stimmung und das Motivationstief am Vortag. Armer Theo. Aber auch kein Weltuntergang, ein Infekt ging wieder vorüber. Herr Fiedler pfiff fröhlich vor sich hin, als er mit den Einkäufen nach Hause kam und seinem Patienten wenig später die erste Kanne Husten- und Bronchialtee ans Bett stellte.

»Das Gebräu schmeckt ungefähr zwei Liter lang akzeptabel, dann etwa fünf Liter lang widerlich, und ab dem zehnten Liter schlägt es auf den Magen. Sieh also zu, dass du die Erkältung schnell wieder los wirst.«

Er zwinkerte seinem alten Freund verschwörerisch zu und fragte nach den Wünschen des Kranken.

»Ich will sofort in ein Krankenhaus, hier ist mir die Behandlung zu rustikal«, krächzte Theo hervor.

»Papperlapapp. Ich komme regelmäßig nach dir sehen. Wenn du zwischendurch etwas brauchst, klingelst du.«

Herr Fiedler stellte eine kleine Portiersglocke auf den Tisch, die Theo amüsiert betrachtete.

»Jetzt gehe ich die Suppe kochen. Heute Nachmittag lasse ich dich, wenn dein Zustand es zulässt, allein und höre mich im Studentenwohnheim um. Vielleicht kann mir dort jemand sagen, welcher Notfall bei Annabelle vorlag.«

 

Das Studentenwohnheim wirkte zunächst wie ein ganz normales Haus. Bei den Klingelschildern begannen allerdings schon die Probleme. Der oberste Knopf gehörte zu Karin. Der Punkt auf dem »i« war kein Punkt, sondern ein Blümchen. Der zweite Knopf kam ganz ohne Namen aus und der dritte sollte ein Schallsignal in die Wohnung von Schlipsi und Babs senden. Vortrefflich. Herr Fiedler beschloss, die offenstehende Haustür als Einladung aufzufassen und sich nicht länger mit kryptisch verschlüsselten Klingelschildchen aufzuhalten.

Im Treppenhaus begegnete er niemandem, also stieß er die Etagentür zum ersten Stock auf und lugte in den Korridor. Ein Pärchen stand in enger Umarmung in einen leidenschaftlichen Kuss versunken auf dem Flur. Herr Fiedler überlegte kurz, ob er die beiden ansprechen und nach Annabelle fragen sollte, entschied sich dann aber dagegen und stieg langsam zum zweiten Stock hinauf. Vor der dritten Wohnungstür auf der rechten Seite war ein ganzer Pulk von Menschen versammelt. Sie gafften auf die offenstehende Tür.

»Entschuldigung«, sagte Herr Fiedler laut und deutlich, als er sich der Menschentraube bis auf wenige Schritte genähert hatte. »Ich suche die Wohnung von Annabelle Sievers.«

Die jungen Leute starrten den alten Mann an. Er hatte sich nicht die Mühe gemacht, sich zu kämmen oder besonders herzurichten und trug die übliche Kombination aus Trekkingschuhen, Jeans und Outdoorjacke. Schwer atmend stützte er sich auf den Stock. Aus der offenen Tür trat Kommissar Bechstein.

»Was wollen Sie denn hier?«

Herr Fiedler unterdrückte einen Seufzer und bemühte sich um einen entgegenkommenden Tonfall. »Ich bin auf der Suche nach jemandem, der Annabelle Sievers gekannt hat.«

»Die kannte hier keiner näher, das haben wir schon gefragt«, blaffte Bechstein und machte sich in der Tür absichtlich breit. »Außerdem gibt’s hier gar nichts zu sehen. Gehen Sie bitte alle weiter.«

Den letzten Satz hatte er mit lauter Stimme gesprochen, seine rechte Hand vollführte die dazu passenden wedelnden Bewegungen. Die Meute blieb, wo sie war. Der Kommissar winkte lustlos ab und verschwand wieder in der Wohnung.

 

»Woher kannten Sie denn die Annabelle?«, fragte eine junge Frau mit langem, blondem Haar, das sie kunstvoll hochgesteckt hatte.

»Mein Name ist Fiedler. Ich war ihr Vermieter. Vorgestern rief sie mich an und fragte, ob sie wieder bei mir wohnen könnte. Und zwar sofort, weil sie sich in einer Notlage befinde. Jetzt frage ich mich, was los war. Vielleicht kann mir von Ihnen jemand helfen?«

Herr Fiedler blickte erwartungsvoll in die Runde.

»Die war sehr verschlossen, die Anna«, sagte eine kleine, pummelige Schwarzhaarige, die fast genau vor Herrn Fiedler stand. »Sie hatte keine Freundinnen. Aber vielleicht kann Charlie Ihnen weiterhelfen. Sie war eben noch hier in der Wohnung.«

»Wo finde ich Charlie?«

»Im fünften Stock bei Berger, Hausmann und Wölfinger.«

Herr Fiedler stutzte. »Das klingt ja wie eine Rechtsanwaltskanzlei.«

Die Pummelige lächelte. »Ist aber nicht im Entferntesten damit zu vergleichen.«

Herr Fiedler dankte und trat in die Wohnung. »Herr Kommissar, gibt es denn hier nun einen Hinweis, was die Sache mit dem Analyse-Institut soll?«, fragte er in unschuldigem Ton, während er sich unauffällig umsah. Unmittelbar rechts neben der Eingangstür führte eine schmale Tür in ein winziges Bad, geradeaus lag der einzige Raum. Das Fenster ohne Gardinen ging auf eine kahle Birke. Die Ausstattung war mit Schreibtisch, Stuhl, Bett und Schrank karg, Dekoration gab es praktisch keine. So wie damals bei ihm im Dachgeschoss.

»Raus hier!«, blaffte Bechstein.

Herr Fiedler spürte einen festen Griff an seinem rechten Oberarm, als ein jüngerer Ordnungshüter ihn von hinten packte. So leicht würde er es ihnen nicht machen. Er hatte sich noch keinen ausreichenden Überblick verschafft. Sein Stock schwang nach hinten, ein unterdrückter Fluch war zu hören.

»Gott, haben Sie mich erschreckt. Ich verliere das Gleichgewicht, wenn Sie mich so schubsen!«, rief Herr Fiedler laut.

Bechstein bekam einen roten Kopf und baute sich drohend vor dem kleineren Rentner auf. »Ich belange Sie wegen Behinderung polizeilicher Ermittlungen, wenn Sie nicht sofort verschwinden.«

Herr Fiedler wusste, wann er sich geschlagen geben musste. Außerdem hatte er genug gesehen. Er verließ die Wohnung und stieg in den fünften Stock. Die Praxis Berger, Hausmann und Wölfinger war nicht zu übersehen. Ein großes handgemaltes Schild an der Tür gab sogar die Geschäftszeiten an: Nie vor Mittag, nachmittags wie’s grad passt, abends meist im Außendienst.

Auf Herrn Fiedlers Klingeln öffnete ein schlaksiger junger Mann die Tür, starrte Herrn Fiedler einen Moment an und rief über die Schulter: »Udo, deine Gebete wurden erhört. Merlin ist da.«

Herr Fiedler grinste. »Falsch, junger Freund. Mein Name ist Fiedler, nicht Merlin, und ich möchte nicht zu Udo, sondern zu Charlie.«

»Kommen Sie rein«, forderte der junge Mann ihn unbeeindruckt auf und ging voran in die Wohnung, die deutlich größer war als das Zimmer ein paar Stockwerke tiefer. Es gab eine richtige Küche, in der sich acht junge Menschen drängten. Es roch stark nach Malz.

»Wie war doch gleich die Temperatur, die wir jetzt erreichen sollen?«, fragte eine männliche Stimme vom Herd her, auf dem, wie Herr Fiedler jetzt sehen konnte, ein etwa zehn bis fünfzehn Liter fassender Kochtopf stand, in dem jemand rührte.

»Dreiundsiebzig. Hast du die?«, entgegnete eine andere Stimme.

»Jawoll, dreiundsiebzig Grad erreicht.«

»Eieruhr auf vierzig Minuten«, befahl eine weibliche Stimme. »Protokollchef: Verzuckerungsrast bei dreiundsiebzig Grad um sechzehn Uhr begonnen. Sind die Hopfenpellets und die Dolden abgemessen und abgewogen?«

»Alles parat«, meldete ein stämmiger junger Mann mit dunklen Locken, der am Küchentisch etliche Utensilien sortierte.

Herr Fiedler stand in der Tür und staunte. Diese Bande junger Leute braute Bier!

»Was wird es denn, Alt oder Kölsch?«, fragte er niemand Bestimmten.

Die junge Frau, die die Anweisungen gegeben hatte, drehte sich um und blickte Herrn Fiedler von oben bis unten aus ihren strahlend grünen Augen an. Die Sommersprossen auf Nase und Wangen passten wunderbar zu der üppigen Mähne lockiger roter Haare, die sie offen trug. Ihre orangefarbene Jeans endete deutlich unter, ihr Oberteil deutlich über dem Bauchnabel. Sie war definitiv nicht dem Schlankheitswahn verfallen, ihre Formen hätten manchen Maler des Barock sicher inspiriert.

»Von welcher Expedition sind Sie denn übrig geblieben?«, fragte sie mit einem leicht spöttischen Grinsen.

»Ich bin mit Columbus Richtung Westen gesegelt und habe auf dem Rückweg irgendwie den Anschluss verloren«, antwortete Herr Fiedler und schaute genauso forsch zurück.

Sie kicherte. »Ich wollte immer schon mal einen Zeitzeugen fragen, wie das damals war mit der Entdeckung der Neuen Welt.«

»Der Ausguck rief ›Land in Sicht‹ und Chris sagte ›Endlich: Indien‹«, antwortete Herr Fiedler.

»Warum fragen Sie nicht, ob wir Pils machen?«, fragte sie.

»Untergäriges Pils benötigt für die Gärungsphase eine sehr niedrige Temperatur. Schwierig. Obergäriges Bier ist mit Haushaltsmitteln leichter herzustellen.«

Sie nickte anerkennend. »Persönliche Erfahrung?«

»Reichlich.«

Herr Fiedler grinste. Dann wechselte er den Stock von der rechten in die linke Hand und streckte ihr die frei gewordene entgegen.

»Fiedler. Mit wem habe ich die Ehre?«

»Charlie.«

»Frau oder Fräulein?«

»Sehr witzig.«

Sie zog die sommersprossige Nase wieder kraus, was ihr außerordentlich gut stand. Diese Frau könnte Reklame für Herrn Fiedlers heiß geliebtes Irland machen, wenn sie nicht diesen herausfordernden Blick hätte. Oder vielleicht gerade deswegen?

»Also, wollen Sie uns beim Brauen unterstützen oder was führt Sie hierher?«, fragte sie.

»Ich habe gehört, dass Sie eben in Annabelle Sievers’ Wohnung waren. Wissen Sie etwas, das mir helfen könnte, diesen Todesfall zu verstehen?«

Das Lächeln war schlagartig verschwunden. »Woher kannten Sie Annabelle und was gibt es bei einem Verkehrsunfall zu verstehen?«

»Sie hat in meinem Dachgeschoss gewohnt, bevor sie hierher zog. Am Tag ihres Todes rief sie mich an und sagte, dass sie Hilfe in einem Notfall bräuchte. Ich glaube nicht, dass sie einem Unfall zum Opfer fiel, sondern einem Mord. Haben Sie eine Idee, wieso?«

In der Küche war es schlagartig still geworden.

»Ist das Ihr Ernst?«, fragte Charlie schockiert.

Herr Fiedler nickte. »Kannten Sie sie gut?«

»Nur vom Sehen.«

»Warum waren Sie dann in der Wohnung? Und warum war überhaupt die Kriminalpolizei dort?«

»Die Wohnung ist aufgebrochen worden, und ich bin im AStA.«

Herr Fiedler krauste die Stirn.

»Allgemeiner Studierenden-Ausschuss. Da es immer einen schlechten Eindruck macht, wenn die Bullen im Studentenwohnheim herumschnüffeln, wollte die Kripo, dass jemand vom AStA bei der Wohnungsbegehung dabei ist. Das war ich.«

»Und, ist Ihnen etwas aufgefallen?«, fragte Herr Fiedler.

»Kein Computer da.«

»Genau das habe ich auch bemerkt. Haben Sie die Polizei darauf hingewiesen?«

»Klar. Aber da niemand weiß, welches Gerät sie besaß, ist es schwer, danach zu fahnden.«

Die Brauer hatten im Hintergrund ihre Gespräche wieder aufgenommen, nur Herr Fiedler und Charlie schwiegen einen Moment.

»Also, wie geht’s weiter, Sherlock?«

Herr Fiedler straffte die Schultern.

---ENDE DER LESEPROBE---