Münsterschatz - Pippa Jansen - E-Book

Münsterschatz E-Book

Pippa Jansen

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Beschreibung

Ein Einbruch in ein Kirchenarchiv, ein toter Obdachloser und eine Skizze, die einige Leute für eine Schatzkarte halten. Spinnen die? Studentin Lara und Herr Fiedler, ihr kauziger Vermieter im Rentenalter, ermitteln auf eigene Faust. Bei den Wohnungslosen am Münster, unter den Kirchensanierern und in Südfrankreich, wo ein europäisches Institut die Geschichte Napoleons im Rheinland aufarbeitet. Mit viel starkem Tee und der gewitzten Hilfe von Freunden und Familie decken sie ein zweihundert Jahre altes Geheimnis der letzten Mönche von Gladbach auf.

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Münsterschatz

PIPPA JANSEN

Kriminalroman

 

Inhaltsverzeichnis

Über das Buch 

Prolog 

Eins 

Zwei 

Drei 

Vier 

Fünf 

Sechs 

Sieben 

Acht 

Neun 

Zehn 

Elf 

Zwölf 

Dreizehn 

Vierzehn 

Fünfzehn 

Sechzehn 

Siebzehn 

Achtzehn 

Neunzehn 

Zwanzig 

Einundzwanzig 

Zweiundzwanzig 

Nachwort 

Leseprobe: Das Tuch des Schweigens 

Weitere Bücher der Autorin 

Über die Autorin 

Impressum 

 

 

Über das Buch

Ein Einbruch in ein Kirchenarchiv, ein toter Obdachloser und eine Skizze, die einige Leute für eine Schatzkarte halten. Spinnen die? Studentin Lara und Herr Fiedler, ihr kauziger Vermieter im Rentenalter, ermitteln auf eigene Faust. Bei den Wohnungslosen am Münster, unter den Kirchensanierern und in Südfrankreich, wo ein europäisches Institut die Geschichte Napoleons im Rheinland aufarbeitet. Mit viel starkem Tee und der gewitzten Hilfe von Freunden und Familie decken sie ein zweihundert Jahre altes Geheimnis der letzten Mönche von Gladbach auf.

 

Prolog

27. Juli 2002, Rheydt-Geneicken

Die Flammen leckten bereits an den Balken des Fachwerks, wo sie gute Nahrung fanden. Fast zweihundert Jahre alt war das Holz, so lang stand das Haus bereits an Ort und Stelle. Geneicken war zwar nicht der Nabel der Welt, aber doch ein Ort mit Geschichte. Die Nähe zu Rheydt, Zoppenbroich und Gladbach hatte für einigen Wohlstand gesorgt. Damit war es nun vorbei, für dieses Anwesen endete die Zeitrechnung in einem feurigen Finale.

Und für den Hausherrn auch.

 

Dummkopf!, dachte der Mann, der das Lodern aus sicherer Entfernung beobachtete, während er mit den Streichhölzern in seiner Tasche spielte. Der Narr hätte ihm das Fundstück einfach überlassen sollen, schließlich hatte er keine Ahnung gehabt, worum es sich handelte. Aber so war das mit den Laien: Sie fragten Experten um Rat, nur um diesen dann zu missachten. Nun war es für den Hausherrn zu spät.

 

Das Holzkästchen, in dem sich das alte Dokument auf dem brüchigen, fast zerfallenen Papier seit vielen Jahrzehnten befand, steckte - wohl verwahrt - in seiner Innentasche.

Ein bisschen bedauerte der Mann den Personenschaden. Der Besitzer des Hauses und des darin aufgefundenen Dokuments war ein netter Kerl gewesen. Aber eben auch sehr stur. Der, von dem die Rede war, war bereits am Rauch erstickt und bemerkte nicht mehr, wie sein Bett, sein Pyjama und schließlich Haut und Haar in Flammen aufgingen.

Mit Ankunft der Feuerwehr wandte der Beobachter sich ab und verließ den Ort seiner Schandtat.

 

Eins

30. Juli 2002

Als Lara vor dem verklinkerten Haus aus dem Auto stieg und die vom langen Sitzen verhärteten Muskeln streckte, fühlte sie sich gleich wieder heimisch. Die ruhige Anliegerstraße mit den achtzig Jahre alten Reihenhäusern und den schlank und hoch aufragenden Bäumen in sommerlichem Grün hatte sich nicht verändert. Nur die Anzahl der parkenden Autos war noch einmal gestiegen, so dass sie froh war, den Platz in der Einfahrt neben dem Eckhaus benutzen zu dürfen. Bevor sie den Kofferraum ihres Kleinwagens öffnen konnte, riss ihr Vermieter auch schon die Haustür auf und rief ihr ein fröhliches »Na, da sind Sie ja, min Deern« zu.

Herr Fiedlers weißen Haare standen wirr in alle Richtungen vom Kopf ab, das letzte Rendezvous mit dem Rasierapparat lag offensichtlich mehrere Tage zurück und seine Füße steckten in einer roten und einer grünen Socke. Diese Marotte hatte er angenommen, als er die Handelsmarine verließ, seine Leidenschaft für die Seefahrt aber weiter pflegte. Das hatte er Lara zwei Jahre zuvor erklärt, als sie während eines Praktikums beim Lokalradio 90,1 drei Monate lang in seinem Dachgeschoss gewohnt hatte. Lara hatte ihn gleich gemocht.

 

Nun fuchtelte Herr Fiedler in der einen Hand mit seinem Stock herum, während er mit der anderen in den Kofferraum langte. Lara deutete auf die leichtere Tasche und antwortete auf seine Fragen: Ja, es sei sehr voll gewesen auf der Autobahn, nein, sie sei auch wirklich nicht zu schnell gefahren, nein, sie habe unterwegs keine Pause gemacht und ja, sie würde gern eine Tasse Tee mit ihm trinken.

 

Herr Fiedler stob stockschwingend in Richtung Küche davon, und Lara stieg ins Dachgeschoss. Der große Raum war hell und voller Möbel, die jeden Trödelhändler glücklich machen würden: Ein höhenverstellbarer Esstisch mit vier Holzstühlen, die zwar nicht dazu passten, aber an eine Eisdiele der fünfziger Jahre des vorigen Jahrhunderts erinnerten und extrem bequem waren. Eine Kredenz aus Weichholz mit gehäkelten Borten an den Regalbrettern. Ein Bett mit Eisengestell, über dessen Alter Lara sich unsicher war, neben einem Kleiderschrank und einer Kommode, die mit buntem Schrankpapier ausgelegt war. Einzig der Schreibtisch war modern mit Stahlfüßen unter einer großen Eschenholzplatte, wie man sie sonst in guten Kneipen fand. Als sie ihren Laptop auf die Platte stellte, bemerkte sie das Wackeln. Kein Wunder, steckten doch Pappstückchen unter allen vier Beinen, um die Unebenheiten des alten Dielenbodens auszugleichen. Lara brachte den Tisch ins Gleichgewicht.

Miniküche und Kühlschrank waren unverändert, wie immer war eine Bügelflasche Altbier als Willkommenstrunk vorhanden. Dann warf sie einen Blick in das kleine Bad. Den Duschvorhang schmückten Delphine, die zu den blassblauen Kacheln auch viel besser passten als die Blümchen von früher. Nun, viel hatte sich in der Zwischenzeit jedenfalls nicht verändert. Auch der Vermieter selbst war ihr frisch und munter vorgekommen, obwohl er inzwischen stramm auf das Ende des siebten Lebensjahrzehnts zugehen musste.

»Kommen Sie, min Deern, der Tee ist fertig«, schallte es durchs Haus. Begleitet wurde der Ruf vom Getöse einer Schiffsglocke, die ihrer Größe nach für eine schwimmende Stadt mit mehreren Tausend Bruttoregistertonnen gemacht war, in diesem Einfamilienhaus aber wie eine Naturkatastrophe klang.

Lara machte sich kurz frisch, band das schulterlange braune Haar zum Pferdeschwanz, tauschte das verschwitzte T-Shirt gegen ein luftiges Hemd und eilte die Treppe hinunter. Herr Fiedler ließ von der Glocke ab. Er hatte sich doch verändert, stellte Lara fest, denn der Scheitel des Vermieters war auf die Höhe von Laras Nase gesunken. Und sie selbst war mit Sicherheit nicht gewachsen.

Der Tee war sehr stark, sehr schwarz und in Reinform kaum zu genießen. Herr Fiedler legte vorsichtig ein Stück Kandis von der Größe einer Gästeseife in seine zarte Porzellantasse, goss Tee darauf und gab dann vorsichtig eine größere Menge Sahne dazu. Lara begnügte sich mit etwas Milch.

»So, da sind Sie also wieder. Seit Sie damals beim Radio waren, habe ich den Sender immer eingestellt, auch wenn die keine Hörspiele bringen.«

Über seine Leidenschaft für Kriminalhörspiele von Francis Durbridge hatte Herr Fiedler Lara schon berichtet. Sie hatte daraufhin eins gehört, konnte aber an der gemächlichen Inszenierung kein Gefallen finden.

»Die neuen Hörspiele sind nicht so mein Geschmack, die spielen fast alle in Venedig. Oder in Schweden. Auf jeden Fall sind sie viel zu depressiv.«

Lara wollte gerade zum wiederholten Male darauf hinweisen, dass sie diesmal nicht beim Radio arbeiten, sondern nur ihre Masterarbeit schreiben würde, als ihr Mobiltelefon die Titelmelodie von James Bond spielte. Herr Fiedler blickte verblüfft auf die Tasche am Oberschenkel von Laras Cargohose, aus der sie das Telefon zog.

»Also, was die jungen Frauen heute modern finden«, murmelte er, während er sich noch einen Tee eingoss.

»Bist du schon angekommen?«, fragte Martin Bellhaus, Redakteur und Moderator bei Radio 90,1, den sie zwei Jahre zuvor während ihres Praktikums kennengelernt hatte.

»Ja, gerade eben«, antwortete Lara freudig überrascht. »Du hast meine E-Mail also bekommen?«

Martin, der zur Zeit ihres Kennenlernens noch keine große Begeisterung für die elektronische Post aufgebracht hatte, lachte leise.

»Sehen wir dich morgen im Sender? Oder hast du Lust, gleich in die Kellerbar zu kommen?«

Lara zögerte nur einen kurzen Moment und entschied sich dann gegen einen Abend mit Herrn Fiedler. Der würde erst den Tatort gucken und anschließend bis kurz nach Mitternacht klassische Musik von einer seiner zahlreichen Schallplatten genießen. Und, das war einer der Charakterzüge, die Lara so sehr an ihm mochte, er erwartete nicht von ihr, dass sie ihre Zeit mit ihm verbrachte.

»Bis gleich.«

 

Als Lara vor der Altstadtkneipe eintraf, die entgegen der Erwartung, die der Name weckte, im Erdgeschoss eines Gründerzeithauses auf dem Abteiberg lag, waren auch die Unzertrennlichen Stefan und sein Schatten Harry, der eigentlich Dieter hieß, gerade eingetroffen. Die beiden Mittzwanziger gehörten zum Stab der freien Mitarbeiter des Lokalradios und fabulierten von einer zoologisch inspirierten Schimpfwortliste, die von ameisenhirniger Affenschlampe bis zum zeckigen Zitteraal reichte. Martin wirkte erleichtert, als Lara sich zu ihnen auf die Terrasse setzte.

»So, es geht also dem Ende entgegen«, neckte er sie.

Er trug die dunkelblonden Haare etwas länger, aber an die grüne Jeans und das hellblaue Batikshirt meinte Lara sich noch zu erinnern. Definitiv neu war das kreisrunde, silberne Brillengestell. Es verlieh ihm einen ebenso unschuldigen wie intellektuellen Touch. Passend, wie Lara fand.

»Jaja, mit fast dreißig steht der Sensenmann schon bei Fuß«, mischte Stefan sich ein.

»Mit dem Studium, du Depp.« Lara tippte Stefan an den Schirm seiner allgegenwärtigen Baseballkappe. »Das Studium geht zu Ende. Mit meiner Gesundheit steht es zum Besten. Physisch und psychisch. Welchselbiges, vor allem Letzteres, man von dir kaum zu behaupten wagen möchte.«

Stefan, der mit seiner spinnenartigen Figur in ausgewaschenen Flecktarnklamotten und dem schmalen, spitzen Gesicht nicht landläufig gut aber immerhin sympathisch aussah, grinste breit und spöttisch. Harrys Versuch, das Grinsen zu kopieren, ging wie immer daneben. Der etwas zu kurz und zu dick geratene Blondschopf würde niemals cool aussehen, da konnte er sich in noch so kunstvoll zerrissene Jeans und angesagte Markenshirts zwängen.

Es war Lara wieder einmal vollkommen unbegreiflich, wie Martin es tagein, tagaus mit diesen beiden Chaoten aushielt. Aber in geringen Dosierungen, das musste sie zugeben, waren die beiden eine echte Bereicherung für diese manchmal etwas spießige Stadt.

»Was tut sich so in Mönchengladbach?« fragte Lara in die Runde.

Martin öffnete den Mund, kam aber nicht zu Wort.

»Sie hält den Atem an und wartet auf Lara, die unerschrockene Heldin der Wortklauberei und Buchstabensuppe«, entgegnete Stefan wie aus der Pistole geschossen. »Ab wann gehst du denn wieder auf Sendung?«

»Da ich dir keine Konkurrenz machen mag, lieber Stefan, sende ich gar nicht, sondern beschränke mich aufs Schreiben.«

»Du weißt, wann es schlau ist, gar nicht erst zum Duell anzutreten.«

Harry lachte zu laut über die Bemerkung und fuchtelte in seiner Begeisterung derart ausladend mit den Armen, dass er der vorbeikommenden Bedienung einen Schwinger verpasste. Lara klappte den Mund wieder zu und verzichtete angesichts dieser Entwicklung fürs Erste auf eine Bestellung.

»Um auf deine Frage zurückzukommen, kann ich mit einem wahren Monsterskandal aufwarten, liebe Lara. Ein geheimnisvoller Einbruch hält die Stadt in Atem«, presste Stefan hervor, während er mit mäßigem Erfolg versuchte, angesichts der Boxeinlage seines Freundes ernst zu bleiben, um es sich nicht mit der Bedienung zu verscherzen. »Ziel der Täter war der höchstwahrscheinlich uninteressanteste Keller unserer schönen Stadt: Das Münsterarchiv.«

Martin hatte Lara derweil eine Apfelsaftschorle bestellt und bekam nur das Stichwort Münsterarchiv mit. »Bist du eigentlich sicher, dass es das Archiv war und nicht die Schatzkammer?«, fragte er Stefan.

»Erklär’s ihm, Harry«, war dessen einziger Kommentar, bevor er sich zurücklehnte und die Augen schloss.

»Also«, begann Harry sofort dienstbeflissen. »Am Rande der Pressekonferenz wegen der Brandstiftung in Geneicken gab es eine kurze Info. Das Archiv ist theoretisch gar nicht so uninteressant, denn dort lagern tatsächlich wertvolle alte Bücher. Aber offenbar wurde nichts gestohlen.«

Da Lara Harry selten mehr als »Ja, Stefan« hatte sagen hören, wollte sie ihm den Spaß an dieser Geschichte nicht verderben. Also zeigte sie mehr Interesse, als sie für die Angelegenheit aufbrachte. »Es war also ein Einbruch ohne Diebstahl?«

Harry nickte engagiert. »Die Eingangstür war aufgehebelt, Bücher, Akten und Zeichnungen wurden durchwühlt. Allerdings lag nichts auf dem Fußboden, alle Dokumente befanden sich auf dem großen Tisch. Da war jemand sehr rücksichtsvoll.«

Stefan gähnte demonstrativ, die Augen hielt er weiter geschlossen. Lara hatte das Gefühl, dass er heimlich die Blondine im hellblauen Sommerkleid zwei Tische weiter beobachtete.

»Also, die Tür wurde aufgebrochen, die Unterlagen ordentlich durchsucht, aber nichts fehlt?« Martins Stimme drückte seine Zweifel ebenso aus wie sein Gesichtsausdruck.

Stefan stand auf, um betont lässig auf die anvisierte Blondine zuzuschlendern, deren Freundin gerade den Tisch verlassen hatte.

»Letztlich bleiben drei Fragen.« Harry zählte an den Fingern ab: »Wer bricht ins Münsterarchiv ein, um dort sehr zielgerichtet und ordentlich die Akten und Pläne zu durchsuchen? Zweitens: was suchte er? Und drittens: Wer hat ihn gestört? Denn dass er gestört wurde, davon geht die Polizei aus.«

»Bitte doch die Hörer um Hilfe«, schlug Lara vor.

»Amen«, entgegnete Martin, um das Thema zu beenden. Dann wandte er sich an Lara. »Und jetzt erzähl mal, was du seit unserem letzten Treffen so getrieben hast.«

 

Zwei

Der nächste Vormittag begann sehr gemütlich mit einem großen, gemeinsamen Frühstück mit Herrn Fiedler. Lara wunderte sich wieder einmal, welche Mengen der neunundsiebzigjährige Vermieter verputzen konnte. Üblicherweise, wie er mehrfach betonte, genehmigte er sich zwar nur eine Scheibe Vollkornbrot mit Butter und Holundergelee und drei Tassen von seinem berühmt-berüchtigten schwarzen Tee. Zu besonderen Gelegenheiten allerdings gönnte er sich das Full Irish Breakfast, in Erinnerung an die Zeit, die er auf der grünen Insel gelebt hatte. Dann briet er Eier und Speck, verzichtete allerdings auf Würstchen und Blutwurst. Gebackene Bohnen und Tomaten ergänzten die warme Mahlzeit, dazu gab es Toast. Manchmal backte er sogar sein heiß geliebtes irisches Sodabrot.

Davon hatte Lara gerade eine Schnitte mit Orangenmarmelade bestrichen, als Herr Fiedler sie nach Neuigkeiten von dem netten Herrn Bellhaus fragte. Zwei Jahre zuvor hatte Herr Fiedler Lara und Martin unbedingt verkuppeln wollen. Zum Glück hatte er sein Engagement in dieser Richtung irgendwann aufgegeben und den »jugendlichen Trotzköpfen« beschieden, sie sollten sich nicht bei ihm beklagen, wenn sie einsam und allein ihr trauriges Dasein fristen müssten. Dann hatte er in ihr herzhaftes Gelächter eingestimmt.

Lara berichtete ihrem Vermieter also über Martins neue Brille, sein überzeugtes Singledasein, das er weiterhin sehr zu genießen schien, und über die Arbeit im Sender, die dem Moderator immer noch viel Vergnügen machte.

Während Herr Fiedler sich um die Eier und den Speck kümmerte, wanderte Laras Blick durch das große Wohn–Esszimmer. Die Möbel waren in Stil und Erhaltungszustand mit denen im Dachgeschoss vergleichbar, wenn es auch zusätzlich einen gemütlichen Fernsehsessel neueren Datums gab. Auf dem Sideboard und einigen Regalen im Wohnbereich stand eine unüberschaubare Ansammlung von Andenken aus Herrn Fiedlers Zeit bei der Handelsmarine. Muscheln, Schnitzereien aus Treibholz, Kästchen mit zweifelhaftem Inhalt, ein Buddelschiff, Schulterstücke einer Kapitänsuniform, ein Sextant und ein Kreiselkompass, eine Flaschenpost und ein, laut Aussage des stolzen Besitzers, echter Mammutstoßzahn verwandelten das Zimmer in ein Kuriositätenkabinett.

Jetzt fing ein kleiner würfelförmiger Stein mit einer Münze darin Laras Blick. Sie meinte, das Gladbacher Münster darauf zu erkennen. Als sie aufstand, um sich das eigentlich eher unscheinbare Stück näher anzuschauen, kam Herr Fiedler mit der heißen Pfanne an den Tisch.

»Na, min Deern, seit wann interessieren Sie sich denn für unser Münster?«

Lara wunderte sich über die Formulierung, hatte sie doch noch nie eine besonders ausgeprägte Frömmigkeit bei dem reichlich lebenslustigen alten Herrn festgestellt.

»Fühlen Sie sich dem Münster so verbunden, dass Sie unser Münster sagen?«

»Zunächst war es natürlich Ilses Münster«, begann Herr Fiedler und wie immer, wenn er von seiner verstorbenen Frau sprach, wurden seine Augen feucht. Er zog ein großes, kariertes Taschentuch aus der Hose und schnäuzte sich geräuschvoll.

»Hab’ ich Ihnen erzählt, wie ich meine Ilse damals kennengelernt habe, als sie evakuiert war?«

Lara beeilte sich zu betonen, dass sie diese Geschichte bereits kannte.

»Als wir nach dem Krieg nach Gladbach kamen, denn wir haben ja tatsächlich erst dort gewohnt, bevor wir nach Rheydt zogen, da war die Stadt zu zwei Drittel zerstört. Und auf dem Abteiberg, wo heute das Münster saniert wird, stand nur noch eine Ruine.«

Lara nahm den sehr kross gebratenen Speck unters Messer, hörte aber weiter aufmerksam zu.

»Ich war neu in der Stadt, mir war die Kirche egal. Wir hatten ja auch eigene Sorgen.« Herr Fiedler machte sich über sein Spiegelei her. »Aber meine Ilse stammte aus Gladbach. Als 1947 ein paar Unternehmer den Münster-Bauverein gründeten, war sie gleich dabei. Einer der Gründer war übrigens evangelisch!«

Herr Fiedler verlor fast die Beherrschung über das Stück Ei auf seiner Gabel und musste sich erst wieder fangen, bevor er weitersprechen konnte.

»Der Münster-Bauverein wuchs schnell, sogar Bürger aus Rheydt engagierten sich, obwohl die beiden Städte eine Intimfeindschaft hegten wie heute Düsseldorf und Köln.«

Lara erinnerte sich an die wechselvolle Geschichte der Zwangsvereinigung, Trennung und erneute Verbindung von Mönchengladbach und Rheydt und nickte.

»Der Bauverein musste damals noch von der Militärregierung genehmigt werden, dazu benötigten die Vorstandsmitglieder den Persilschein, also eine Unbedenklichkeitsbescheinigung vom Entnazifizierungsrat. Im Winter lud dieser Münster-Bauverein zu einer Veranstaltung in die Kaiser-Friedrich-Halle ein.« Herr Fiedler machte eine Kunstpause und schmunzelte. »Auf den Einladungsplakaten, die in der ganzen Stadt hingen, war neben dem Zweck der Versammlung fast genauso groß aufgedruckt, dass der Saal beheizt sei.«

Lara prustete in ihren Tee.

»Wir sind hingegangen. Ilse wegen des Münsters, ich mehr wegen der Wärme. Welches der Anlass für die anderen Besucher war, kann ich nicht sagen, die Halle war jedenfalls rappelvoll.«

»Was passierte an dem Abend?«, fragte Lara schnell, nachdem sie sich ein paar Teetropfen vom Kinn gewischte hatte.

»Es gab Vorträge und Reden, in denen an die Bürger appelliert wurde, das Münster wieder aufzubauen. Der Aachener Bischof war gekommen und betonte, dass die Anstrengungen zum Wiederaufbau des Münsters und der Abtei, denn damals sollten auch alle Klostergebäude wieder hergestellt werden, jedermanns Sache sei, unabhängig von Konfession, Parteibuch oder Wohnort.«

»Und dieser Appell hat trotz der Not der Menschen Wirkung gezeigt?«

»Und wie. Auch wir wurden Mitglied im Bauverein, so wie Hunderte andere auch. Ich kann mich nicht mehr an den ursprünglichen Mitgliedsbeitrag erinnern, aber er war nicht hoch. Ich weiß wohl noch, dass eine Schule Mitglied wurde und wöchentlich ein paar Pfennig Beitrag zahlte. Das Geld haben die Schulkinder selbst aufgebracht.«

Herr Fiedler hielt Messer und Gabel in der Hand, sein Blick aber war gedankenverloren in die Vergangenheit gerichtet.

Lara dachte kurz nach. »Selbst wenn Hunderte Mitglieder wurden und ein paar Mark im Jahr spendeten, konnte man das Münster von dem Geld aber sicher nicht wiedererrichten«, gab sie zu bedenken.

»Da haben Sie natürlich Recht, min Deern. Aber damals gab es in Gladbach etwas, das heute gern als neuzeitliche Errungenschaft gefeiert wird: Sozialsponsoring von Unternehmen.«

Lara hob die Augenbrauen. »Sponsoring von mittelalterlichen Steinen als Marketingtrick der Nachkriegsjahre?«

»Das war kein Marketingtrick, den überbezahlte Manager mit Fünfjahresvertrag und Aktienoptionen als Alleinstellungsmerkmal konzipiert haben.«

Herr Fiedler weidete sich ganz offenkundig an Laras Erstaunen über sein Marketingvokabular, das er flüssig und überzeugend wie nebenbei in seinen Vortrag einflocht. Lara verkniff sich ein Grinsen. Vermutlich hatte er kürzlich einen Studenten der Wirtschaftswissenschaften als Mieter gehabt.

»Damals waren noch Unternehmer am Werk, nicht Manager. Die spürten eine echte soziale Verantwortung gegenüber ihrer Heimatstadt und ihrer Geschichte.«

Lara nickte. »Und das war sicher vollkommen uneigennützig, wenn beispielsweise ein Bauunternehmer in einer zu zwei Drittel zerstörten Stadt durch eine Spende mit Nennung des Absenders half, das Wahrzeichen der Stadt wieder aufzubauen.«

Laras Spott entlockte Herrn Fiedler einen Seufzer. »Ich sage es ungern, min Deern, aber manche Kapitel der Geschichte seht ihr jungen Leute heute aus einem ganz falschen Blickwinkel. Damals war es tatsächlich vielen Menschen wichtig, das Münster wieder instand zu setzen.«

Mit strengem Blick unterstrich Herr Fiedler seine Worte.

Dann stellte er die naheliegende Frage in versöhnlichem Tonfall. »Woher kommt denn plötzlich das Interesse?«

Lara erzählte ihm kurz von dem Einbruch in das Münsterarchiv, von dem sie am Vorabend erfahren, und von dem Stein in Herrn Fiedlers Regal, der ihr die Geschichte wieder ins Gedächtnis gerufen hatte. Erwartungsgemäß entwarf ihr Hörspiel erprobter Vermieter während des restlichen Frühstücks mögliche Tathintergründe und Szenarien, die aber alle den Einbruch nicht restlos aufklären konnten.

 

Im Sender traf Lara zuerst auf Harry, der mit strahlendem Blick und gerötetem Kopf auf sie zukam und ihr die Hand schüttelte. Lara hatte zwar keine Ahnung, wie sie zu dieser Ehre kam, aber Harry sah glücklich aus, und das war selten genug der Fall.

»Danke, Lara«, presste Harry hervor. Er sah so gerührt aus, dass er vermutlich um einen Kloß im Hals herum sprechen musste.

»Aus der Sache mit dem Münsterarchiv habe ich gerade einen Beitrag gemacht. Ich habe ihn selbst geschrieben und gesprochen. Und zum Schluss«, wenn möglich strahlte er noch ein bisschen mehr, »zum Schluss habe ich um sachdienliche Hinweise gebeten. Derjenige, der den Einbrecher gestört hat, hat ihn ja vielleicht gesehen!«

Lara wünschte ihm viel Resonanz auf seinen Aufruf. Harry nickte gerührt und überließ sie Martin, der endlich die Nachrichten verlesen, das Wetter vorhergesagt und die Staus heruntergebetet hatte.

»Wie geht’s dem alten Seebär und was macht die Kunst?«, begrüßte er Lara.

»Gut und schlecht, in der Reihenfolge der Fragen«, antwortete Lara mit einem Seufzen. »Ich kann mich wirklich nicht mehr daran erinnern, wie ich auf dieses Magisterthema verfallen bin.«

Martins Grinsen wurde breiter. »Sag’s noch mal, ich kann es mir nicht merken«, forderte er sie feixend auf.

»Hass und Liebe im Lokalen – die Berichterstattung über die Stadtteile Mönchengladbach und Rheydt in der Lokalpresse unter besonderer Berücksichtigung der sprachlichen Emotionalität, mit der über den jeweiligen Stadtteil berichtet wird.«

»Ein Leben als kaufmännische Angestellte gewinnt im Rückblick immer mehr Reiz, findest du nicht?«, lästerte Martin. »Warum hast du bloß nach der Ausbildung noch ein Studium begonnen? Kann es wirklich ein ernstes Ziel im Leben sein, Abhandlungen über die Frage zu schreiben, wie Erwachsene Menschen ihren kindlichen Alle-sind-so-gemein-zu-mir-Trotz hinter journalistischen Formulierungen verstecken?«

Martin bewegte sich bereits seitlich auf den großen Schreibtisch zu, an dem gerade niemand saß.

»Warum tust du dir das an? Und wen, zum Teufel, soll das nachher interessieren?«

Blitzschnell ging Martin hinter dem Schreibtisch in Deckung. Der Bleistift, den Lara nach ihm geworfen hatte, landete mit einem klappernden Geräusch an der Glaswand des Studios.

»Meine liebe Lara«, Martins Gesicht erschien hinter dem Redaktionsschreibtisch, dann richtete er sich völlig auf. »Wenn du demnächst anerkannte Wissenschaftlerin bist, solltest du deine Kommunikation nicht mit fliegenden Gegenständen bestreiten.«

Lara lächelte zuckersüß. »Siehst du, deswegen genieße ich die letzten Wochen als Studentin. Da darf ich alles und keiner wundert sich.«

 

 

4. Juli 1802

Im Münster zu Mönchengladbach besserte Bruder Vitus gerade eine Stufe an der Treppe zum Chor aus, als der Abt ihn zu sich rufen ließ. Vitus grübelte auf dem Weg in das Arbeitszimmer des Abtes, ob er sich wieder etwas zuschulden hatte kommen lassen. Es stimmte, dass er gestern in den Laudes fast eingenickt wäre, aber das passierte auch anderen Brüdern, den älteren sogar recht häufig. Unschlüssig, was er sonst verbrochen haben könnte, klopfte er an die Tür des Arbeitszimmers. Bruder Severus, der dem Abt sicher wieder über die finanzielle Lage im Allgemeinen und die schlechte Qualität vieler Betttücher im Besonderen sein Leid geklagt hatte, öffnete Vitus die Tür, grüßte kurz und verließ das Zimmer.

Vitus suchte noch immer in seinem Gedächtnis nach der Verfehlung, die ihn hierher geführt hatte, als der Abt ihn auch schon ansprach.

»Bruder Vitus, ich habe dich nicht rufen lassen, weil du schon wieder in den Laudes eingedöst bist.«

Vitus wurde rot.

»Es gibt wichtigere Probleme in unserer Gemeinschaft als die Schläfrigkeit eines schwer und gut arbeitenden Handwerkers, der in Zeiten geringster finanzieller Mittel mit der Unterhaltung zweier großer Gotteshäuser und der Klostergebäude befasst ist.«

Vitus freute sich über das unerwartete Lob. Er kannte und schätzte den Abt als gerechten und freundlichen Mann. Doch war dessen Miene seit langem schon sorgenvoll und bedrückt.

»Ich hatte einen Besucher heute Vormittag.«

Als ob das nicht jeder Mann und jede Maus in diesem Kloster wüssten. Bruder Servatius, der für die Küche zuständig war, hatte Vitus von einem Botschafter berichtet, den er hatte bewirten müssen, obwohl die Vorräte durch die Franzosen, die sich in der Prälatur einquartiert hatten, auf einen denkbar niedrigen Stand gesunken waren. Auch Bruder Coelestinus, der für den Obstgarten sorgte und mit Vitus mittags kurz über die notwendige Reparatur der Gartenpforte gesprochen hatte, hatte den Besuch erwähnt. Und offenbar sollten beide Brüder mit ihren Befürchtungen recht behalten.

»Der Herr kam von Napoleon Bonaparte persönlich und brachte sehr schlechte Nachrichten.« Der Abt holte tief Luft und fuhr sich mit der Hand über die Augen. »Die Abtei wird aufgelöst.«

Vitus war vor Schreck wie auf den Stuhl genagelt. »Müssen wir in eine andere Abtei gehen? Wohin?«

Der Abt blickte Vitus traurig an. »Mehr als das, mein Junge. Alle Klöster in Frankreich werden aufgelöst. Es gibt keinen anderen Ort, an den wir gehen können. Jeder von uns wird seinen eigenen Weg finden müssen.«

Vitus war erschüttert. Er kannte kein Leben außerhalb dieser Glaubensgemeinschaft, die ihn vor nunmehr siebzehn Jahren eines Morgens als schreiendes Bündel vor der Klosterpforte gefunden, in ihre Mitte aufgenommen und auf den Namen des Stadtheiligen getauft hatte.

»Aber wir sind nicht in Frankreich«, wandte er zornig ein. »Eines Tages werden die Franzosen abziehen. Wir müssen nur ausharren.«

Der Abt schüttelte entschieden den Kopf. »Es tut mit leid, Vitus. Im vergangenen Monat hat Papst Pius der Zweite selbst das Konkordat mit den Franzosen geschlossen. Diesmal ist es wohl endgültig.«

Vitus schaute grimmig. »Seit acht Jahren sind die Franzosen hier. Vor sieben Jahren haben wir den gesamten Silberschatz hergegeben. Das Kloster verfällt, das Münster ist fast eine Ruine. Welche Gefahr stellen wir für die Franzosen dar?«

Der Abt lächelte. »Wir sind eine Gefahr, weil wir zeigen, dass der Glaube selbst in diesen schweren Zeiten nicht vergeht. Wir dienen Gott, nicht den Herren dieser Republik.«

Vitus wunderte sich über seinen eigenen Mut, als er mit festem Blick fragte: »Und wenn wir einfach nicht gehen?«

Der ältere Mann schaute den Jüngeren liebevoll, aber auch ein wenig amüsiert an. »Unzählige Kirchenmänner haben in Frankreich ihr Leben verloren. Lass uns unseres erhalten, damit wir eines Tages zurückkehren können.«

Bekümmert senkte Vitus den Kopf. Die Aussicht, den einzigen Ort zu verlassen, den er kannte, war fürchterlich. Wohin sollte er gehen? Er hatte keine Verwandtschaft, keine Freunde außerhalb dieser Gemeinschaft. Und was würde mit dem Kloster geschehen?

»Wer wird sich um die kaputten Fenster, die bröckelnden Mauern und die Dächer kümmern, wenn wir nicht mehr hier sind?«

»Der Herr, Vitus.«

 

Der unerschütterliche Glaube und Optimismus des Abtes waren, neben seiner väterlichen Sorge um die Mitbrüder und seinem geschickten Umgang mit den französischen Herren, der Grund für seine Wahl vor drei Jahren gewesen. Dass sein Vorgänger, Abt Lambert Raves, ihm auf dem Sterbebett noch ein Geheimnis verraten hatte, das für den Fortbestand der Abtei von erheblicher Wichtigkeit war, hatten die Mitbrüder allerdings nie erfahren. Der junge Mönch mit dem spärlich sprießenden Bart sollte nun zumindest einen kleinen Anteil an diesem Wissen bekommen.

»Mein lieber Bruder Vitus«, begann der Abt die kleine Rede, die er sich zurechtgelegt hatte. »Wir werden diesen Ort verlassen müssen, aber wir hoffen auf eine Rückkehr. Und damit wir selbst oder unsere Brüder dann nicht völlig mittellos dastehen, werde ich eine Vorkehrung treffen. Und du sollst mir dabei helfen.«

Das Gespräch zwischen dem Abt und seinem jüngsten Mitbruder dauerte noch etwa eine Stunde. Als der junge Mönch danach das Arbeitszimmer verließ, glühten seine Wangen und seine Augen leuchteten. Auf die begonnene Ausbesserung der Treppe zum Chor konnte er sich nicht mehr recht konzentrieren.

 

Drei

»Kriegen wir hier nun Geld, oder was?«

Sabine, die Aushilfs-Redaktionssekretärin, hockte an ihrem Schreibtisch und heulte. Das konnte nur ein Überfall sein. Zwei zerlumpte Typen undefinierbaren Alters standen vor ihr.

Einer trug eine mit Edding bekritzelte Jeansjacke mit Fransen an den Ärmeln und silbernen Nieten überall. Seine linke Schädelseite war völlig kahl geschoren. Die rechte Kopfseite war mit einer verfilzten Matte aus grau-schwarz gesprenkelten Haaren bedeckt, deren Farbmuster und Stachelfaktor sie an den platt gefahrenen Igel vor ihrer Haustür erinnerte, in dem sie heute Morgen mit einem ihrer Stilettoabsätze stecken geblieben war. Die Augen waren hinter der verspiegelten Sonnenbrille nicht zu erkennen.

Der andere war deutlich älter, ziemlich groß, ging aber gebückt, trug trotz der sommerlichen Temperaturen einen langen, dunkelgrauen Mantel und einen speckigen Hut, den er tief ins Gesicht gezogen hatte. Eine schwarze Collegetasche aus strapaziertem Canvas hing über der rechten Schulter. Die Bartstoppeln verdeckten nur schlecht die Narbe, die vom linken Ohr bis zur Mitte des Kinns verlief.

Gegen den Duft, den die zwei verströmten, kam Sabines Marken-Eau-de-Toilette nicht an. Sie schluchzte jetzt stärker.

»Was ist jetzt?«, fragte der Jüngere noch mal. »Wo ist die Kohle?«

Erst als die Unzertrennlichen ihre Begeisterung nicht mehr zähmen konnten und hinter der Tür laut losprusteten, bemerkte Sabine, dass die zwei Besucher keine Waffe auf sie gerichtet hatten. Angesichts Stefans Belustigung, die dieser nun breit grinsend zur Schau stellte, als er mit Harry im Schlepptau den Empfangsbereich des Senders betrat, griff Sabine nach ihrer Handtasche und stöckelte in Richtung Damentoilette davon. Der jüngere Besucher wurde langsam ungehalten.

»Wenn wir hier keine Kohle sehen, sagen wir auch nix über den Einbruch.«

Stefan, der die Besucher im Treppenhaus getroffen und hereingelassen hatte, wischte sich eine Träne von der Wange als Martin, der wieder einmal Nachrichten, Wetter und Staus verbreitet hatte, den Empfang betrat.

»Was ist hier los?«, fragte er völlig entgeistert angesichts der Szene, die sich ihm bot.

»Die Herren erklären dir das, wir müssen jetzt weg«, rief Stefan ihm noch über die Schulter zu und verschwand schleunigst, dicht gefolgt von einem etwas verunsicherten Harry.

»Was ist das hier für ein Irrenstall? Wir wollen Hinweise wegen dem Einbruch geben. Das tun wir allerdings nur gegen Belohnung.«

Martin verbiss sich den Hinweis auf den Genitiv nach der Präposition »wegen« und bemühte sich auch sonst um Beherrschung. Da hatte Harry aus der langweiligsten Geschichte seit Erfindung des Gladbacher Telefonbuches eine reißerische Story gemacht, und schon standen zwei durchgeknallte Typen im Sender, die sich wichtig machen wollten, während Harry sich von Stefan wegschleppen ließ. Hatte nicht Lara Harry geraten, er solle die Bevölkerung um sachdienliche Hinweise bitten? Der würde er was erzählen!

Martin bat die beiden Herren, einen Moment zu warten, und rief Lara an.

»Du bist schuld, jetzt komm her und hilf mir!«

Martin legte auf und sah zur Uhr. Sie würde zwanzig Minuten brauchen, diese Zeit musste er irgendwie überbrücken. Allerdings nicht in einem Raum mit diesen beiden Stinkern. Er drückte dem Jüngeren zehn Euro in die Hand und bat ihn, in einer halben Stunde wiederzukommen. »In dem Supermarkt am Eck gibt es guten Kaffee.«

Eine halbe Stunde später kamen Lara und die beiden Zeugen zeitgleich im Sender an. Martin bugsierte die Gesellschaft in den Konferenzraum. Der Jüngere starrte sehnsüchtig auf die knallrote Espressomaschine im Retrodesign, die der Sender zum zehnjährigen Bestehen geschenkt bekommen hatte. Martin dachte an das Geld aus seinem eigenen Portemonnaie und bot weder Kaffee noch Kekse an.

»Mein Name ist Bellhaus, das ist Frau Lewandowski. Dürfen wir Ihre Namen auch erfahren?«

»Ich bin Mike und das ist der Doc«, antwortete der Jüngere. »Ich bin dafür, dass jeder wenigstens einmal seinen richtigen Namen sagt«, stellte Lara klar.

Der Doc streckte ihr seine rechte Hand entgegen, an der der Zeigefinger fehlte. »Doktor Roland Westheim.«

Während Lara unbehaglich die versehrte Hand schüttelte, schien Mike noch mit sich zu ringen.

»Schröder. Gerd.« Die Hände wanderten tiefer in die Taschen, die Schultern höher, bis fast zu den Ohren. »Kann man sich ja nicht aussuchen.«

»Nee«, bestätigte Lara aus tiefstem Herzen und verfluchte zum hundertsten Mal die Schöpfer eines Computerspiels, die der langbeinigen, vollbusigen und adligen Titelheldin ihren Namen gegeben hatten.

Mit einem freundlichen »Zur Sache« brachte Martin die Anwesenden zum Thema zurück.

»Ihr habt um Hinweise gebeten wegen dem Einbruch in das Archiv. Ich weiß, wer’s war und sage es – gegen eine Belohnung.«

Mikes Rede hörte sich auswendig gelernt an.

»An wie viel Geld hatten Sie dabei gedacht?«, fragte die praktisch veranlagte Lara.

»So an fünfzigtausend.«

»Es wurde ja gar nichts gestohlen. Wofür sollte also jemand so viel Geld bezahlen, da nichts wiederzubeschaffen ist?«, warf Martin ein.

»Es gibt ja noch andere Gründe, als dass schon was geklaut worden ist.«

»Zum Beispiel?«

Mike lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Es könnte ja sein, dass noch was geklaut wird.«

Martin und Lara blickten einander verständnislos an, zuckten die Schultern.

»Was sollte das sein?«

»Ein Schatz.«

»Im Münsterarchiv?«, fragten Lara und Martin gleichzeitig.

Mike sah sie verärgert an. »Quatsch. Doch nicht da. Der Schatz ist woanders. Aber die Schatzkarte kann man nur lesen, wenn man die mit Karten aus dem Archiv vergleicht.«

Erneuter Blickkontakt zwischen Martin und Lara.

»Woher wissen Sie das?«

Mike sonnte sich in seinem Ruhm. »Ich habe die Schatzkarte gesehen.«

Martin beugte sich vor. »Dann sollten Sie schnellstens zur Polizei gehen.«

Mike lehnte sich grinsend zurück. »Die Bullen zahlen nicht für Infos.« Seine rechte Hand wanderte zum linken Handgelenk, an dem eine silberne Uhr mit einem schwarz schimmernden Zifferblatt vom Ärmel nicht ganz verdeckt wurde. »Außerdem wurde die Anzeige zurückgezogen, weil nix fehlt. Keine Anzeige, keine Polizei.«

Martin wunderte sich. »Sie sind aber gut informiert.«

Mike grinste. »Witzbold, was? Schließlich waren wir ja gleich die Hauptverdächtigen. Wir wohnen nämlich da am Münster. Aber irgendwann mussten die Bullen einsehen, dass wir den Bruch nicht gemacht haben. Manchmal haben die mit dem dreckigen Kragen die weiße Weste und die anderen nicht.«

Lara sah den Doc an, der schweigend das Gespräch verfolgte. Er blickte ausdruckslos zurück.

Martin ergriff das Wort. »Der Sender hat keine Belohnung ausgesetzt und die Hauptpfarre, zu der das Münsterarchiv gehört, auch nicht, soweit ich weiß. Ich rate Ihnen daher dringend, zur Polizei zu gehen und Ihre Aussage dort zu machen, Anzeige hin oder her. Wir können Ihnen jedenfalls kein Geld bieten.«

Mike war sichtlich schockiert und sagte, sichtlich um Haltung bemüht: »Dann besorge ich mir die Kohle halt woanders.«

Er stand auf und verließ den Konferenzraum, gefolgt von seinem schweigsamen Begleiter. Auf dem Weg nach draußen rannte er Sabine über den Haufen, die erneut in Tränen ausbrach.

Martin schüttelte den Kopf und hoffte, dass der Rest des Tages besser würde.

 

 

4. August 2002

Die Meldung, dass ein Obdachloser, der sich üblicherweise in Mönchengladbach aufhielt, in Geilenkirchen tot aufgefunden worden war, kam nur deshalb groß heraus, weil ausgerechnet zwei Kinder, die siebenjährige Melody und ihr zwei Jahre älterer Bruder Marius-Lucius, die Leiche gefunden hatten. Ihre Mutter ließ durch einen Rechtsanwalt prüfen, wen sie auf Zahlung von Schmerzensgeld verklagen konnte. Die Ermittlungen im Fall des toten Mannes, der inzwischen anhand bei ihm gefundener Papiere als Gerd S. identifiziert worden war, dauerten noch an. Nach dem aktuellen Stand der Erkenntnisse ging die Kripo von einem Gewaltverbrechen aus.

Lara war erschüttert, als Martin ihr die Nachricht telefonisch überbrachte, bevor sie über den Sender ging.

»Gewaltverbrechen?«, fragte sie heiser. »Weißt du mehr?«

»Noch nicht«, musste Martin zugeben. »Wir haben die Meldung eben von der Polizei bekommen. Stefan versucht bereits, Details zu erfahren.«

Lara fühlte sich wie betäubt. »Was machen wir jetzt?«

Martin holte tief Luft. »Ich glaube, wir sollten uns mal mit dem Doc unterhalten.«

»Wo finden wir den denn?«, wollte Lara wissen. »Im Telefonbuch wird er ja wohl nicht stehen.«

Martin hatte schon darüber nachgedacht und erinnerte sich an das Gespräch im Sender. »Hat Gerd alias Mike nicht gesagt, dass sie am Münster wohnen?«

Lara schüttelte den Kopf über die Formulierung, versprach aber, sich dort umzusehen.

Sie informierte Herrn Fiedler kurz über die Entwicklung und machte sich dann auf den Weg zum Abteiberg. Als sie vom Haus Erholung in die Abteistraße Richtung Rathaus fuhr, überlegte sie, wo ein Obdachloser wohl am Münster wohnen würde. Sie beschloss, hinter der Propstei links in den Weg einzubiegen, der zum Münsterplatz führte.

Und tatsächlich: An der Mauer neben dem Tor zum Abteigarten hockte der Doc in seinem dicken Wintermantel und mit Hut bei satten 25 Grad Außentemperatur auf dem Boden und starrte vor sich hin.

Als er Lara bemerkte, traten Tränen in seine Augen. »Ich habe versucht, es ihm auszureden.«

»Was auszureden?«, fragte Lara mit einem mulmigen Gefühl. Sie fluchte still, dass sie dem Mann gar nichts mitgebracht hatte. Aber selbst wenn sie daran gedacht hätte, was hätte sie ihm geben sollen? Etwas zu essen? Oder zu trinken? Ein Buch vielleicht? Komische Situation.

Der Doc hatte auf ihre Frage nicht geantwortet, sondern starrte weiter vor sich hin. Lara wollte nicht drängen und setzte sich einfach rechts neben ihn auf den Boden, weil auf der linken Seite eine dunkle Sporttasche stand, in der sich wohl die wenigen Habseligkeiten des Mannes befanden. Der schaute sie schweigend an.

Hatte sie etwas falsch gemacht? Vielleicht mochte er ihre Nähe nicht? War sie in seine Privatsphäre eingedrungen? Lara stöhnte innerlich. Sie fände es auch nicht gut, wenn sich jemand in ihrem Wohnzimmer breit machen würde, ohne wenigstens vorher um Erlaubnis zu fragen.

»Entschuldigung«, stammelte sie und rutschte ein Stückchen zur Seite. »Ich wollte nicht aufdringlich sein.«

Der Doc rang sich ein trauriges Lächeln ab. »Ist schon in Ordnung. Der Straßen Knigge ist in solchen Situationen nicht ganz eindeutig.«

Das machte Lara noch verlegener. Sie wollte zurück zur Sache. »Wovon wollten Sie ihn abhalten?«

Der Doc sah weiter auf einen Punkt vor seinen Füßen. »Noch mehr aus dem Typen herauszupressen.«

Lara zog die Luft ein. »Sie meinen, Mike hat jemanden erpresst und der hat ihn umgebracht?«

Der Doc nickte. »Ich vermute es.«

Lara schluckte. »Haben Sie das der Polizei gesagt?«

Jetzt sah der Doc Lara an. Der Blick aus seinen grauen Augen war müde, aber klar.

»In der Tat habe ich den Beamten, die gestern Nachmittag hier erschienen, um ihren Aachener Kollegen Amtshilfe zu leisten, meine Vermutung in dieser Hinsicht dargelegt.«

Lara wunderte sich wieder einmal über die Ausdrucksweise des Mannes, die so gar nicht zu seinem Äußeren und seinen Lebensumständen passte.

»Die nette junge Beamtin und der etwas korpulente Kollege fragten natürlich, wen er erpresst haben könnte und womit.«

Der Doc machte eine Pause und starrte wieder vor seine Füße.

»Ich hätte ihnen sagen können, dass er den Einbrecher vom Münsterarchiv erpresst hat, der einen bisher unbekannten Münsterschatz klauen will.«

Lara schüttelte den Kopf. »Hört sich völlig bescheuert an.«

»Eben. Und da sich die Glaubwürdigkeit wohnungsloser älterer Männer sowieso schon nur in einem sehr kleinskaligen Maßstab darstellen lässt, habe ich von einer weiteren Erörterung dieses Themas abgesehen und nur geantwortet, dass ich das leider nicht weiß.

---ENDE DER LESEPROBE---