Das Tuch des Schweigens - Pippa Jansen - E-Book

Das Tuch des Schweigens E-Book

Pippa Jansen

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Beschreibung

In Mönchengladbach steht das 150-jährige Firmenjubiläum eines angesehenen Textilunternehmens bevor, in Krefeld wird eine Übersetzerin ermordet. Dumm für Übersetzerkollegin Lara Lewandowski, dass ausgerechnet sie die Leiche findet und unter Tatverdacht gerät. Da tun eigene Ermittlungen Not. Wieder begeben sich Lara und Herr Fiedler, ihr kauziger Vermieter im Rentenalter, gemeinsam auf Spurensuche. Unterstützt werden sie von Theo, der inzwischen bei Herrn Fiedler wohnt, und Robin, einem kleinen Ausreißer mit Rotznase. Der Fall scheint klarer zu werden – bis eine weitere Leiche auftaucht und die Aufdeckung eines Familiengeheimnisses der niederrheinischen Textilindustrie plötzlich eine Frage von Leben und Tod wird.

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Das Tuch des Schweigens

PIPPA JANSEN

Kriminalroman

 

Inhaltsverzeichnis

Über das Buch 

Prolog 

Eins 

Zwei 

Drei 

Vier 

Fünf 

Sechs 

Sieben 

Acht 

Neun 

Zehn 

Elf 

Zwölf 

Nachwort 

Leseprobe: Delikatessenfriedhof 

Weitere Bücher der Autorin 

Über die Autorin 

Impressum 

 

Über das Buch

In Mönchengladbach steht das 150-jährige Firmenjubiläum eines angesehenen Textilunternehmens bevor, in Krefeld wird eine Übersetzerin ermordet. Dumm für Übersetzerkollegin Lara Lewandowski, dass ausgerechnet sie die Leiche findet und unter Tatverdacht gerät. Da tun eigene Ermittlungen Not. Wieder begeben sich Lara und Herr Fiedler, ihr kauziger Vermieter im Rentenalter, gemeinsam auf Spurensuche. Unterstützt werden sie von Theo, der inzwischen bei Herrn Fiedler wohnt, und Robin, einem kleinen Ausreißer mit Rotznase. Der Fall scheint klarer zu werden – bis eine weitere Leiche auftaucht und die Aufdeckung eines Familiengeheimnisses der niederrheinischen Textilindustrie plötzlich eine Frage von Leben und Tod wird.

Prolog

Es war ein Ortsgespräch innerhalb von Mönchengladbach, und es war eine Nummer, die von diesem Apparat häufiger angerufen wurde. Selbst wenn es also später zu einer Überprüfung käme, was völlig unwahrscheinlich war, würde dieses Gespräch nicht auffallen.

»Sie hat gerade wieder angerufen.«

»Was hat sie zu deinem Angebot gesagt?«

»Sie hat sich noch nicht entschieden.« Das war eine glatte Lüge, aber das konnte der Gesprächspartner nicht wissen.

»Hm. Dann wissen wir also noch nicht, ob wir uns auf einen Prozess gefasst machen müssen.«

»Hast du denn inzwischen herausgefunden, wie unsere Chancen vor Gericht aussähen?«

Diese Frage musste jetzt geklärt werden, um dann zu entscheiden, was zu tun wäre.

»Nicht wirklich gut, fürchte ich. Sofern – und das wissen wir ja noch gar nicht – es überhaupt einen Kläger gibt.«

»Es wird sich schon einer finden, da bin ich sicher.« Erste, sehr vorsichtige Nachforschungen in diese Richtung ließen das Schlimmste befürchten. »Aber auch ohne Kläger und Prozess wäre unser Name beschmutzt. Du weißt selbst, was ein derartiges Gerücht in der jetzigen angespannten Wirtschaftslage anrichten könnte.« Wie angespannt die wirtschaftliche Lage speziell in diesem Unternehmen war, darüber wurde seit Monaten allerstrengstes Stillschweigen gewahrt.

»Ihr müsstet sicher mit Einbußen rechnen, aber es wird euch nicht ruinieren.«

Er hatte wohl immer noch nicht verstanden. Natürlich ging es auch um Geld, sogar sehr viel Geld, wenn die Spur sich bestätigte. Aber ebenso stand das Ansehen auf dem Spiel und die gesellschaftliche Stellung in Mönchengladbach und weit darüber hinaus. Eine Spitzenposition, erarbeitet von mehreren Generationen – auf einem morschen Fundament.

Das Schweigen in der Leitung hatte den Mann am anderen Ende verunsichert. »Du hast alles getan, was du konntest. Du hast es mit guten Worten und mit Geld versucht. Mehr kannst du nicht tun. Jetzt warte ab, ob sie das Geld nimmt. Dann können wir immer noch weitersehen.«

Natürlich konnte man mehr tun, aber daran würde gerade er nicht einmal im Traum denken. Anwälte waren schon seltsam. Innerhalb ihres Regelwerkes absolut skrupellos, aber auf die Idee, eine Lösung außerhalb der Regeln zu suchen, würde zumindest dieser hier nie kommen. »Jaja, dann warten wir also mal ab. Vielen Dank für deine fachliche Beratung.«

Von wegen abwarten. Sie hatte Nein gesagt, hatte das Angebot abgelehnt. Keine Einigung möglich. Aber das war nicht das Ende.

Eine derartige Existenz stellte man nicht einfach zur Disposition. Eine der repräsentativsten Villen, die kurz nach der Jahrhundertwende entstanden war, aufwendig renoviert und technisch auf dem neuesten Stand. Ein über viele Jahrzehnte gepflegter riesiger Garten mit Bäumen, in deren Schatten schon deutsche Kaiser gesessen hatten. Und schließlich der soziale Status. Es war aber auch ein dummer Zufall gewesen, dass dieser Person ein so unglaubliches Machtinstrument in die Hand gefallen war. Zufall hin oder her, jetzt hieß es handeln und retten, was zu retten ist. Es musste noch ein Versuch unternommen werden, dieses Unglück abzuwenden. Ein letzter, endgültiger Versuch – koste es, was es wolle.

Eins

November 2002

»Ich freue mich, Sie endlich auch persönlich kennen zu lernen!« Die Institutsleiterin Brigitte Hofmann hatte schon am Telefon sehr sympathisch geklungen, und nun war sie sogar extra am Sonntagabend hier erschienen, um Lara willkommen zu heißen. Lara schüttelte der kleinen, stämmigen Frau mit den kurzen Haaren die Hand. Ihr Äußeres entsprach, wie Lara jetzt feststellte, in keiner Weise ihrer Stimme, die sehr leise und sehr hell war. Dagegen erinnerten sowohl der Körperbau als auch der schelmische Gesichtsausdruck Lara an einen der sieben Zwerge aus Walt Disneys Schneewittchen-Film.

»Schön, dass Sie uns hier einen Besuch abstatten, bevor Sie Ihre Stelle in Frankreich antreten.«

Lara musste sich ein Grinsen verkneifen. Neuerdings freute sich alle Welt, sie noch einmal zu sehen, bevor ... Ab hier unterschieden sich die Freudenbekundungen. Bevor sie einem im Vorweihnachtsrausch benommen dem Konsumklimax entgegentaumelnden Deutschland entflieht, hatte eine Kommilitonin formuliert. Bevor sie ins Land ihrer gallischen Vorfahren zurückkehrt, waren die Worte ihrer französischen Oma gewesen. Bevor ihr Liebesleben sich dem einer neunzigjährigen Nonne angleicht, hatte Martin, Radiomoderator aus Gladbach und Laras bester Freund, gefrotzelt. Jetzt freute sich also auch Frau Hofmann, »mit langem O, so viel Zeit muss sein«.

Brigitte Hofmann verzog das Gesicht zu einer ironischen Grimasse. »Es ist alles noch ein bisschen chaotisch hier, wir existieren ja erst seit fünf Monaten.« Sie deutete auf diverse Tapetenrollen, Farbeimer und andere Malerutensilien, die neben der Eingangstür standen. »Nachdem wir bereits Ende September fertig waren, hat uns ein Rohrbruch um Wochen zurückgeworfen. Immerhin ist inzwischen die Bettwäsche eingetroffen, die Heizung funktioniert seit zehn Tagen störungsfrei, und sogar der Postbote hat mittlerweile gemerkt, dass wir hier residieren. Kommen Sie, ich zeige Ihnen Ihr Reich.«

Bereits auf dem Weg zu ihrem Zimmer war Lara beeindruckt. Sie hatte zwar schon einiges über das neu gegründete Übersetzer-Zentrum in Krefeld-Uerdingen gehört und sich den Internetauftritt angesehen. Aber die Wirklichkeit übertraf ihre Vorstellung bei weitem. Das Haus, das schon von außen beeindruckend war mit seiner schieren Größe, der verspielten Fassade und dem Turm, der wie ein Wächter über den Eingang zur Uerdinger Altstadt aussah, war innen vollständig renoviert. Eine riesige Halle bildete den Mittelpunkt des neu eröffneten Zentrums. In frischem Hochglanz strahlende Holztreppen führten von dort in die oberen Stockwerke. Aber das Beeindruckendste waren die Bücher. Etliche zigtausend sollten es sein, das hatte Frau Hofmann schon am Telefon erwähnt. Von Asterix bis zum Zürcher Branchenbuch. Und diese Bücher waren, wie Lara nun sah, einfach überall. Sogar auf den Treppenabsätzen und in Laras Zimmer. Nur die Badezimmer waren buchfrei.

 

Als Lara später in die große Küche kam, die neben dem so genannten Salon mit fünf voll eingerichteten Computerarbeitsplätzen das Herz des Zentrums bildete, saß ein Grüppchen von fünf Übersetzern beim gemeinsamen Abendessen.

»Ciao, bella«, rief einer, der mit Haaren auf dem Kopf und weniger dicken Brillengläsern vielleicht wie ein feuriger Südländer ausgesehen hätte. »Setz dich zu uns, ich bin Antonio. Hier haben wir Charles, Stan, Jamela und Martine.« Er deutete der Reihe nach auf die anderen und nahm das unterbrochene Gespräch mit seinem Tischnachbarn wieder auf. »Wie hast du die Sache mit der Schadenfreude gelöst, Charles?« An Lara gewandt fügte er hinzu: »Er übersetzt einen Kriminalroman, dessen Protagonist beschrieben wird als ein Mann, dessen herausragende Eigenschaft die Schadenfreude ist. Und wie du sicher weißt, gibt es das Wort Schadenfreude im Englischen nicht.«

Bevor Charles antworten konnte, meldete sich Jamela, eine junge Frau mit dunkler Hautfarbe und schwarzen krausen Haaren, lächelnd zu Wort. »Was sollen wir von einem Volk halten, das das Wort Schadenfreude nicht kennt?«

»Man könnte meinen, dass es zwischen einem beliebigen Erdenbewohner und einem Marsmännchen keine größeren kulturellen Unterschiede geben kann als zwischen den europäischen Nachbarn, die sich – geographisch betrachtet – doch eigentlich sehr nahe stehen«, fügte Antonio hinzu, ohne Charles die Gelegenheit zu geben, auf seine Frage zu antworten. »In einem deutschen Krimi, den ich einmal übersetzt habe, wurde der Mord mit einer Aubergine begangen. Mit einer Aubergine!« Um seine Worte angemessen zu unterstreichen, spießte Antonio ein Stück marinierte Aubergine auf seine Gabel und fuchtelte so vehement damit herum, dass das Gemüsestück quer über den Tisch flog.

Nach einem kurzen »scusi« zu niemand Bestimmtem fuhr er fort. »Der Kommissar sagte auch noch, er habe diese geschmacklosen Dinger immer für mörderisch fad gehalten. Mamma mia, so etwas kann man in der italienischen Übersetzung unmöglich schreiben. Also habe ich kurzerhand, da der Roman in Deutschland spielt, eine Kartoffel als Mordwerkzeug genommen. Da kann der Italiener die tödliche Geschmackslangeweile gewissermaßen auf der Zunge spüren.«

Stan, der hagere Weißhaarige neben Lara, prustete los. »Du hast die Mordwaffe geändert? Was hat dein Verlag gesagt?«

Antonio machte eine wegwerfende Handbewegung. »Mein Verleger ist Italiener, allora, was erwartest du? Er fand die Idee klasse.«

»Da gibt es auch nichts dran auszusetzen«, sagte plötzlich eine Stimme von der Tür und die allgemeine Heiterkeit ebbte ab. »Schließlich haben wir alle in unseren Übersetzungen schon amerikanische Schulkinder ›Tesafilm‹ statt ›Scotch tape‹ kleben lassen. Wir haben, weil es in Deutschland nun mal so üblich ist, Kamillentee aufgebrüht statt Lindenblütentee.«

Der Sprecher, den Antonio mit rollenden Augen als »Seine Majestät Simon der Erste« vorstellte, ging zum Kühlschrank und inspizierte den Inhalt.

Martine schüttelte den Kopf. »Das mag bei Unterhaltungsliteratur funktionieren, bei Sachtexten ist eine sehr genaue Übersetzung aber schon wichtig. Besonders –«

»Besonders wichtig für einen Übersetzer ist, dass er das tut, wofür er bezahlt wird. Nämlich übersetzen. So nah wie möglich am Ausgangstext und so verständlich wie möglich für den Leser in der neuen Sprache. Sonst nichts«, unterbrach Simon sie in scharfem Ton.

Lara hatte den Eindruck, dass diese Diskussion die Fortsetzung eines früheren Streits war.

»Aber wir sollten nicht all unsere Moralbegriffe über Bord werfen, nur weil es die Arbeit vereinfacht und Ärger erspart. Leider weißt du allerdings gar nicht, was das Wort Moral bedeutet.«

Martine war aufgestanden, stellte ihren Teller auf die Spüle und verließ die Küche. Die anderen blieben überrascht zurück.

 

Als Lara am folgenden Tag gegen halb sechs Uhr abends in Frau Hofmanns Büro auf die Uhr sah, wurde ihr klar, warum sie sich so gerädert fühlte.

»Haben wir tatsächlich neun Stunden damit verbracht, mögliche Förderprogramme, Kulturtöpfe und Stipendien zu definieren? Ich hatte ja keine Ahnung, dass es so schwer sein kann, Geld zu beschaffen.«

Brigitte, die Lara gleich morgens das Du angeboten hatte, lachte. »Es gibt sicher einfachere Wege, wie Glücksspiel, Postraub oder Scheckkartenbetrug, aber als öffentlich geförderte Einrichtung müssen wir uns leider auf die legalen Formen der Mittelbeschaffung beschränken. Und die sind nun einmal sehr mühselig.«

»Mir pfeift gleich heißer Dampf aus den Ohren, wenn ich nicht sofort etwas gegen die Überhitzung unter der Schädeldecke unternehme. Ich muss an die frische Luft.«

»Die Luft ist nicht frisch, sondern eiskalt, und der Wind treibt einen fiesen, niederrheinischen Nieselregen vor sich her«, erwiderte Brigitte in ihrem breiten schwäbischen Dialekt nach einem Blick aus dem Fenster.

»Heute würde ich mich bei den Eistauchern melden, wenn es so etwas hier gäbe. Versprich mir, dass wir morgen nicht mehr über Fördergelder reden.«

»Morgen unterhalten wir uns über Öffentlichkeitsarbeit. Wir sind einfach zu wenig in den Medien präsent.«

 

Lara zog sich warm an, nahm ihren Schirm mit und verließ das Haus auf dem schnellsten Weg. Sie schritt kräftig aus und ging zielstrebig durch die Innenstadt zum Rheintor und hindurch. Im Hafengelände, das sie laut orangefarbener Warnschilder gerade unbefugterweise betreten hatte, stand sie einfach da und sah auf den Rhein. Am gegenüberliegenden Ufer waren Wiesen, wie sie gestern bei einer ersten Erkundigung festgestellt hatte. Jetzt im Dunkeln war davon nichts zu sehen. Links erhellten die unzähligen Lichter des BAYER-Werks die Nacht, rechts waren die Rheinbrücke und weitere Industrieanlagen zu sehen. Obwohl der Anblick gar nicht übel war, freute Lara sich darauf, schon sehr bald wieder in Arles zu sein, wo sie eine kleine Wohnung in der Nähe der Espace Van Gogh gemietet hatte. Dort befand sich unter anderem das französische Übersetzer-Zentrum, in dem sie ab nächsten Mittwoch, dem ersten Dezember, offiziell angestellt war. Das allein löste in Lara schon Zufriedenheit und Vorfreude aus. Das prickelnde Glücksgefühl, das sich beim Gedanken an ihr neues Zuhause einstellte, hatte allerdings mehr mit Professor Dr. Jacques LeGrand zu tun, Leiter eines deutsch-französischen Geschichtsarchivs, das ebenfalls in der Espace Van Gogh ansässig war.

Lara schreckte durch einen besonders heftigen Windstoß aus ihren Träumereien auf und fand sich nicht im südfranzösischen Sommer, sondern im deutschen Winter wieder. Sie zog den Schal enger um den Hals, verließ ihren Ausguck am Wasser und stieg die wenigen Stufen zum Deich hoch, wo sie sich nach links wandte. Unter den großen Alleebäumen, die um diese Jahreszeit kahl und nass waren, ging sie am Casino vorbei und bis zum Rheinhorst, dann im Grünzug weiter an der mittelalterlichen Stadtmauer entlang. Es regnete jetzt stärker, auch der Wind nahm zu und fuhr häufiger unter den großen Schirm.

Lara beschloss, ihren Rundgang zu beenden. Sie näherte sich einem Parkplatz, vor dem eine steinerne Marienstatue auf einer hohen Säule stand, und wollte dort nach rechts einbiegen, als sie aus dem Augenwinkel einen Schuh in dem Gebüsch an der Straßenecke sah. Ihr erster Gedanke war, dass jemand hier seinen Müll abgeladen hatte. Aber der Schuh lag nicht. Er stand aufrecht, die Ferse auf dem Boden, die Spitze zeigte in die Luft.

Lara blieb wie angewurzelt stehen. Ihre Gedanken kamen plötzlich über Zeitlupengeschwindigkeit nicht mehr hinaus, dann versiegten sie ganz. Ohne es wirklich zu wollen, ging sie die wenigen Schritte bis zu dem Schuh.

Langsam folgte Laras Blick dem, was darin steckte. Ein Bein in einer Jeans. Eine dunkelblaue Winterjacke, rautenförmig abgesteppt, ein Kragen aus Cord. Die Jacke ist offen, gibt den Blick frei auf einen hochgerutschten Pullover und weiße Haut. Aus dem Jackenärmel ragt eine Hand mit einem einzelnen goldenen Ring am kleinen Finger. Ein seitlich weggedrehtes Gesicht, unter blonden Haaren verborgen. Am Hinterkopf sind die hellen Haare dunkel und verklebt.

Lara überlegte unendlich langsam, was sie jetzt tun sollte. Dann trat sie zögernd einen Schritt vor. Sie schloss den Schirm und legte ihn auf den Boden, beugte sich hinunter zu der Frau und stupste sie vorsichtig mit dem Zeigefinger an.

»Hallo?«, sagte sie und kam sich sofort furchtbar dumm vor. Dass diese Frau nicht antworten konnte, musste selbst ein Blinder sehen.

Zögernd ging Lara in die Hocke, schob den Ärmel der Frau etwas hoch und legte zwei Finger auf die Schlagader am Handgelenk. Konzentrierte sich, fühlte nach dem Puls. Sie konnte keinen ertasten. Sie beugte sich noch weiter vor und legte die Hand an den Hals. Nichts.

Lara wusste nicht, wie lange sie so verharrt hatte. Plötzlich sprang sie auf und lief, einem jähen Impuls folgend, los.

Nach wenigen Schritten stoppte sie mitten in der Bewegung. Ein großer Hund versperrte ihr bellend den Weg.

»So weit kommt das noch, dass Sie abhauen und die Frau da liegen lassen«, keifte die kleine dicke Frau im Regenmantel, die drei Meter hinter ihrem Hund stand und Lara anstarrte. »Mein Mann hat schon die Polizei angerufen, die kommt jeden Moment. Wenn Sie versuchen zu fliehen, hetzen wir die Hunde auf Sie.«

»Fliehen? Was …?« Lara hielt verblüfft inne. »Blödsinn. Wir brauchen einen Arzt.«

Sie machte einen Schritt zur Seite. Der Hund, der sie immer noch ankläffte, führte den gleichen Schritt spiegelbildlich aus.

»Lassen Sie mich vorbei«, presste Lara hervor.

Der Mann war nun auch näher gekommen, sein Hund zerrte mit aller Macht in Richtung Gebüsch.

»Ganz ruhig, Rex«, raunte Herrchen seiner Bestie zu. »Das hast du gut gemacht. Nun pass schön auf, dass die uns nicht noch durch die Lappen geht.«

Lara glaubte, sich verhört zu haben, und wollte zu einer Antwort ansetzen, als das Geräusch eines aufheulenden Motors sie zusammenzucken ließ. Ein Wagen raste vom Parkplatz und verschwand in der Dunkelheit. Unmittelbar danach bogen ein Notarzt- und ein Streifenwagen auf den Platz.

Zwei Polizisten sprangen aus dem Wagen und strebten auf die Gruppe zu. »Kommen Sie bitte hier herüber«, ordnete der kleinere der beiden Uniformierten an und führte Lara und die Hundebesitzer einige Meter zur Seite, von wo sie den Arzt, der sich schnell über die Frau gebeugt hatte, nicht mehr sehen konnten.

»Diese Frau hier«, die kleine Dicke zeigte mit einem fetten Finger auf Lara, »hat die andere Frau da im Gebüsch gewürgt, und dann wollte sie weglaufen. Aber mein Mann und ich konnten sie daran hindern. Unsere Hunde sind gut abgerichtet.« Bei diesen Worten tätschelte Frauchen stolz den Kopf ihres Hundes, der sich im Licht der Straßenlaterne als wilde Mischung verschiedener groß gewachsener Rassen unter maßgeblicher Beteiligung eines Schäferhundes herausstellte. In dieser Überlegung hielt Lara plötzlich inne.

»Wie bitte? Sagten Sie gerade ›gewürgt‹?«

Wieder war es der kleine Polizist, der die Initiative ergriff und Lara am Arm nahm. »Kommen Sie bitte mit.« Er führte sie noch drei Meter weiter. »Würden Sie mir bitte Ihren Namen nennen?«

Lara tat es.

»Wohnen Sie hier in Krefeld?«

Lara nannte die Adresse des Übersetzer-Zentrums.

Der Notarzt trat zu dem Polizisten und raunte ihm etwas ins Ohr. Der Uniformierte wurde blass unter seiner Mütze, dann flüsterte er dem Notarzt etwas zu und deutete erst auf seinen Kollegen, dann auf Lara.

»Was ist?«, wollte Lara wissen. Die beiden Männer starrten sie nur an. Der größere Polizist ging zum Streifenwagen und sprach erst leise, dann immer lauter in sein Funkgerät. Lara konnte die Worte »Todesfall mit Fremdeinwirkung«, »K-Wache« und »KK 11« verstehen. Dann ging der Uniformierte zurück zu den Hundebesitzern.

Der blasse Polizist musterte Lara kühl, wie ihr schien.

»Ich muss Sie bitten, hier zu bleiben, bis die Kollegen von der Kriminalwache eintreffen. Das wird nicht lang dauern, aber die werden Ihnen sicher einige Fragen stellen wollen.«

 

Es dauerte tatsächlich nicht lang oder zumindest kam es Lara nicht so vor, wobei sie sich nicht sicher war, ob sie überhaupt noch ein Zeitgefühl hatte. Ihr Kopf war leer bis auf einige Worte, die ziellos darin herumzuirren schienen. Worte wie Todesfall, Fremdeinwirkung, gewürgt, Flucht. Unbeteiligt sah sie etliche Wagen auf dem Parkplatz eintreffen. Ganz kurz fragte sie sich, ob es wohl in Ordnung war, dass hier niemand einen Parkschein zog, dann schalt sie sich selbst für diesen blöden Gedanken.

Der Uniformierte, der ihren Namen notiert hatte, redete kurz mit den Neuankömmlingen, kam aber schnell zurück und wich Lara nicht mehr von der Seite.

 

Ein großer, bulliger Mann mit einer aus dem Mundwinkel baumelnden Lakritzschnecke kam als Erster an die Stelle, an der die Leiche unter Mariens steinernen Augen im Gebüsch lag, danach trudelten immer mehr düster dreinblickende Männer ein. Sie zogen Absperrbänder in einem weiten Kreis um die Leiche herum, suchten mit gesenkten Köpfen und starken Lampen den Boden ab und steckten Kärtchen mit Nummern in die Erde. Jemand markierte die Stelle, an der Laras Schirm lag, nahm ihn auf und trug ihn zum Parkplatz. Ein Mann, der einen Koffer neben dem Gebüsch abgestellt hatte, beugte sich über die Leiche. Er hatte eine Stirnlampe aufgesetzt, sodass Lara anhand des Lichtkegels seine Blickrichtung nachvollziehen konnte.

Die Arbeiten wurden fast schweigend erledigt, ab und zu verursachte der Blitz des Fotografen unheimliche Lichteffekte in der Dunkelheit. Lara stand die ganze Zeit im Regen, den sie nicht mehr wahrnahm, und sah zu, wie die Tote schließlich in einen großen Sack gepackt wurde. Der Inhalt ihrer Jackentaschen war begutachtet und in Klarsichtbeutel gesteckt worden, die Nummernkärtchen wurden wieder eingesammelt. Irgendwann kam der Mann, dem immer noch die Lakritzschnecke am Kinn hing, mit einem Zettel in der Hand zu Lara. Er starrte sie einen Moment an.

»Sie haben die Tote gefunden?«

Lara nickte.

»Kennen Sie die Frau?«

»Ich habe ihr Gesicht nicht gesehen, die Haare waren darüber gefallen.«

Der Mann sah sie wieder mit einem durchdringenden Blick an und wechselte unvermittelt das Thema.

»Sie haben dem Kollegen gesagt, dass Sie zurzeit im Übersetzer-Zentrum wohnen?«

Lara nickte.

»Wie kommt es, dass gerade Sie die Frau in dieser dunklen Ecke finden?«

Lara zuckte die Schultern. »Was soll das heißen – gerade Sie?«

»Wollen Sie mir wirklich weismachen, Sie hätten sie nicht erkannt?«

Lara zitterte plötzlich, ob vor Kälte oder wegen der fürchterlichen Vorahnung, die sie langsam beschlich, hätte sie nicht sagen können. Erinnerungsfetzen nahmen vor ihrem inneren Auge Gestalt an. Die hellen, etwa schulterlangen Haare hatte sie gestern noch gesehen. Der goldene Ring am kleinen Finger war ihr aufgefallen. Er hatte der Hand etwas Puppenhaftes gegeben.

»Martine?« Lara spürte noch, wie ein Gefühl der Übelkeit ihren Magen überschwemmte und sich dann heiß und schwer im ganzen Körper ausbreitete.

 

Laras nächste Wahrnehmung war die der Lakritzschnecke neben ihren Füßen, die über ihr schwebten.

»Na, da sind Sie ja wieder.«

Lara bemerkte, dass sie im nassen Gras lag. Der Doktor mit der Stirnlampe hielt ihre Beine weiterhin senkrecht in die Luft.

»Was hat Sie denn so umgehauen?«

Sie schwieg.

»Sie sollten die Dame nach Hause bringen. Eine Vernehmung in diesem Zustand wird keine verwertbaren Ergebnisse bringen«, empfahl der Arzt, dessen Lampe Lara blendete, dem Kriminaler, der auf seiner Lakritzschnecke herumkaute. Er musste sie aufgefangen haben, als sie vor ihm zusammengesackt war, denn sie spürte keine Schmerzen von einem Sturz. Verlegen schloss Lara die Augen bis ihre Füße abgelegt wurden und das gleißende Licht des ärztlichen Scheinwerfers verschwand.

 

Als am folgenden Morgen bei Piet Fiedler das Telefon klingelte, hockte er auf einem Esszimmerstuhl vor der Wohnzimmergardine und schaute durch einen kleinen Spalt in der Gardine gebannt auf eine große Schüssel mit Milchreis, die auf der Terrasse stand.

»So'n Schiet«, entfuhr es ihm, und er erwog, einfach nicht ans Telefon zu gehen. Aber so häufig klingelte der Apparat nicht, und Herr Fiedler wusste, dass seine Neugierde ihn den ganzen Tag quälen würde, wenn er jetzt nicht feststellte, wer ihn um diese Zeit anrief. Also verließ er seinen Beobachtungsposten und nahm den Hörer ab.

»Fiedler«, flüsterte er in die Muschel, als ob ihn jemand belauschen könnte.

»Hallo, Herr Fiedler, Lara Lewandowski hier. Sind Sie krank? Ihre Stimme hört sich so komisch an.«

»Nee, min Deern. Ich stecke gerade in einer Observierung. Wie geht es in Krefeld?«

»Haben Sie nichts in der Zeitung gelesen? Oder im Radio gehört?«

»Ich bin einem Geheimnis in meinem Gartenhaus auf der Spur, da komme ich kaum zum Zeitunglesen.«

»Eine Übersetzerin ist gestern ermordet worden.«

»Sie meinen, eine von Ihren Übersetzerinnen in diesem Zentrum?« Herr Fiedler tastete nach einem Stuhl.

»Ja. Und ich habe sie gefunden.« Laras Stimme klang nicht so kraftvoll wie sonst.

»Kann ich Ihnen irgendwie helfen, min Deern? Haben Sie schon mit Ihren Omas telefoniert?«

»Natürlich habe ich schon mit meiner Familie gesprochen. Und vielen Dank für Ihr Hilfsangebot, aber ich wüsste im Moment nichts, was Sie für mich tun könnten. Ich wollte mich nur melden, damit Sie sich keine Sorgen machen, falls Sie etwas in der Zeitung lesen und am Ende noch meinen, ich sei die Leiche.«

»Das ist wirklich sehr rücksichtsvoll, min Deern. Ihr Ableben wäre auch gänzlich unpassend, schließlich zahlen Sie meine Rente.«

»Sie vergessen, dass ich demnächst in Frankreich arbeite und für Ihre Rente nicht mehr zur Verfügung stehe.«

»Dann finanzieren Sie eben einem Franzosen seinen späten Rotwein. Hauptsache, Sie passen auf sich auf. Mein Angebot, Ihnen Beistand jeglicher Art zu leisten, steht.«

Herr Fiedler ging nachdenklich zu seinem Beobachtungsposten zurück. Mit vielen Mietern seines Dachgeschoss-Studios hatte er sich trotz des riesigen Altersunterschieds gut verstanden, und mit einigen von ihnen pflegte er weiterhin Kontakt. Dazu zählte in besonderem Maße Lara Lewandowski.

Herr Fiedler hatte ganz in Gedanken schon eine Weile auf die Milchreisschüssel gestarrt, bevor ihm klar wurde, dass etwa die Hälfte des Breis fehlte. Er nickte langsam und lächelte leicht.

»Das hab ich mir doch gedacht«, murmelte er, stellte den Stuhl wieder an seinen Platz zurück und begab sich in seinen Lieblingssessel, in dem er den Rest des Vormittags mit der Lektüre eines spannenden Krimis verbrachte.

 

In dem Zimmer, das Brigitte Hofmann der Kriminalpolizei zur Verfügung gestellt hatte, warteten zwei Männer auf Lara, die nach einer schrecklichen Nacht unausgeschlafen und wie gerädert zur Vernehmung erschien.

»Ich bin Kriminalhauptkommissar Watermann, wir kennen uns ja schon. Setzen Sie sich.« Sein Begleiter, der älter, kleiner und dicker war, stellte sich nicht namentlich vor.

Lara nahm schweigend Platz. Der kantige Mann ihr gegenüber wirkte in dem kleinen Zimmer noch massiger als am Abend zuvor. Sein Haar war auch jetzt ungekämmt, und obwohl es noch früh am Morgen war, hing ihm schon wieder eine Lakritzschnecke aus dem Mundwinkel und zappelte leicht auf und ab, wenn er sprach. Diesem Kriminalhauptkommissar war sie gestern am Tatort filmreif in die Arme gesunken. Grässlich.

Er starrte sie schon wieder so intensiv an, dass sie sich fragte, ob sie Zahnpastareste im Gesicht oder einen Seifenklecks auf der Nase hatte. Endlich senkte er den Blick und studierte seine Notizen.

»Sind Sie auch Übersetzerin?«

»Nein. Ich arbeite ab kommenden Mittwoch für das Europäische Netzwerk der Übersetzer-Zentren als Koordinatorin. Mein Arbeitsplatz wird in Arles sein. Man bat mich, vorher einige Tage in Krefeld zu verbringen, um das neue Übersetzer-Zentrum kennen zu lernen. Das tue ich zurzeit.«

»Soso, Sie verlassen das Land. Haben Sie noch einen Wohnsitz in Deutschland?«

»Nein. Meine Studentenwohnung habe ich aufgelöst, das kommende Wochenende bis Dienstag früh werde ich bei meiner Familie in Köln verbringen, und am ersten Dezember, also Mittwoch, trete ich die Stelle in Arles an.«

»Das glaube ich kaum.«

Lara überlegte, ob sie den wegen der Schnecke leicht nuschelnden Kriminalbeamten missverstanden hatte. Oder war das ein Scherz? Ein Blick in sein ernstes Gesicht machte diese Hoffnung zunichte.

»Was hatten Sie gestern an der Stelle zu suchen, an der Sie die Leiche gefunden haben?«

Lara berichtete detailliert.

»Der weiße Regenschirm mit dem Werbeaufdruck einer französischen Automarke, der neben der Leiche lag, ist Ihrer, nicht wahr?«

»Ja, stimmt. Kann ich den wiederhaben?«

»Sobald das Labor damit fertig ist.«

Labor …? Das Wort löste in Lara ein vages Gefühl von Unbehagen aus.

Watermann sprach bereits weiter. »Zuerst haben Sie behauptet, dass Sie die Frau nicht kennen.«

»Es war dunkel, und wegen der Haare konnte ich das Gesicht nicht sehen. Ich habe sie tatsächlich nicht erkannt. Immerhin hatte ich sie ja auch erst einmal ganz kurz gesehen.«

»Wann war das?«

»Am Sonntagabend bei einem gemeinsamen Abendessen hier im Zentrum mit den Übersetzern.«

»Aber als ich Sie gestern Abend ein zweites Mal fragte, ob Sie die Frau vielleicht doch kennen, ist der Groschen gefallen. Wodurch kam Ihnen in dem Moment die Erleuchtung?«

Verschwommene Bilder von nassem Haar und einem Ring tauchten in Laras Bewusstsein auf. »Es war keine Erleuchtung. Eher so, als ob der Schock, der mich am Denken hinderte, plötzlich weg gewesen wäre. Und dann erkannte ich den Ring am kleinen Finger.«

»Aha.«

Der Gesichtsausdruck, der dieses »Aha« begleitete, gefiel Lara nicht. Sie hatte Mitleid erwartet, dass sie diesen grausigen Fund gemacht hatte. Oder Dankbarkeit, dass sie das Opfer gefunden hatte, bevor der Regen die Spuren womöglich völlig vernichtete. Aber davon war in den Augen unter den buschigen Brauen nichts zu finden. Aus diesem Blick sprach eher Wachsamkeit. So wie man sie jemandem entgegenbringt, dem man nicht glaubt. Lara schnappte nach Luft.

»Sie glauben doch wohl nicht, dass ich etwas damit zu tun habe?«

»Haben Sie denn?«

»Natürlich nicht! Was, zum Teufel, hätte ich denn für ein Motiv haben sollen?«

»Ein Motiv gibt es immer, und wenn es noch so unbegreiflich ist.«

Watermann biss ein Stück von der Lakritzschnecke ab und zog an dem Rest, um sich das Ding wieder in den Mundwinkel zu klemmen.

Am liebsten hätte Lara laut gestöhnt. So ein arroganter Sack. Der hatte wohl zu viele Fernsehserien gesehen, in denen das Ermittler-Duo Guter Bulle/Böser Bulle spielte. Dieser hier war also der böse Bulle, der jede Frage mit einer Gegenfrage abbügelte.

»Sie wurden gesehen, wie Sie sich an der Leiche von Martine Mirambaud zu schaffen machten und dann versucht haben, davonzulaufen.« Watermanns Stimme klang leidenschaftslos, fast gelangweilt.

Laras Antwort war umso hitziger. »Ich habe nach dem Puls gefühlt und wollte Hilfe holen, als ich merkte, dass kein Puls da war.«

»Wo wollten Sie Hilfe holen?«

»Auf dem Parkplatz ist eine Telefonzelle, von dort wollte ich die Polizei anrufen.«

»Haben Sie kein Mobiltelefon?«

»Ich hatte es nicht bei mir.«

»Das lässt sich ja nun leider nicht mehr nachprüfen. Aber das ist im Moment auch nebensächlich. Da Sie keinen festen Wohnsitz haben, muss ich Sie bitten, die Stadt nicht zu verlassen.«

 

Die Arbeitsplätze im Salon des Übersetzer-Zentrums waren an diesem Tag verwaist. In dem neu eingerichteten Institut, das Übersetzern aus aller Welt Arbeits- und Recherchemöglichkeiten bot, war gestern noch konzentriert gearbeitet worden. Heute lag eine lähmende Stille in den Räumen.

Lara fand einige Übersetzer in der Küche. Sie schwiegen. Charles hatte gerade eine Kanne Tee aufgebrüht.

»Hol dir eine Tasse und mach es wie die Briten: Glaube fest daran, dass ein Viertelliter braun gefärbtes Wasser die Kraft hat, Wunden zu heilen, die Monarchie zu erhalten und die Apokalypse zu verhindern.«

Sein Spruch klang wie ein verzweifelter Versuch, die traurige Wahrheit nicht ganz so ungeschminkt hinnehmen zu müssen. Er stand in krassem Gegensatz zu Charles’ geröteten Augen und seinem grauen Gesicht.

Lara befolgte den Rat und fühlte sich gleich besser. Wenn auch nur wenig.

»Der glaubt doch tatsächlich, dass ich es war«, platzte sie heraus.

»Der commissario? Wie kommt er darauf?«, fragte Antonio.

Lara schüttelte den Kopf. »Diese Spaziergänger haben mich bei Martines Leiche gesehen. Als ich zur Telefonzelle wollte, haben sie mir Flucht unterstellt. Und schon stehe ich unter Verdacht. Jetzt schickt der doch glatt noch meinen Regenschirm ins Labor.«

Charles, Stan, Antonio und eine weitere Frau, die sich als Heidi vorstellte, nickten, erwiderten aber nichts.

»Seid ihr auch verdächtig?«, fragte Lara.

Stan und Heidi schüttelten den Kopf. »Wir waren zur Tatzeit nicht in Uerdingen.«

»Steht die denn schon fest?«

Antonio, den Lara bisher ungewöhnlich schweigsam fand, konnte nun mitreden. »Die Tatzeit liegt zwischen sechs und halb sieben abends.«

Lara zuckte zusammen. »Woher weißt du das?«

Alle Blicke richteten sich auf Antonio.

»Um halb sieben hast du sie gefunden und da war sie noch warm.«

Lara spürte, wie ihr schlecht wurde. Sie hatte zwar am Handgelenk nach einem Puls gesucht, dabei aber nicht wirklich realisiert, dass die Haut noch warm war. Warme Haut war normal. Vermutlich hätte sie es bemerkt, wenn die Haut kalt gewesen wäre. Der Mord war also unmittelbar vor ihrem Eintreffen geschehen.

»Die Bemerkung hat der Uniformierte fallen gelassen, der dich gestern Abend vom Tatort hierher gefahren hat. Hast du das nicht mitbekommen?«

Benommen schüttelte Lara den Kopf.

Die Küchentür wurde aufgerissen und Watermann platzte herein. »Ist hier ein Herr Wegener?«

Er sah sich um, erkannte aber offenbar alle Anwesenden und verschwand ohne ein weiteres Wort.

»Che rùstico!«, kommentierte Antonio mit hochgezogenen Augenbrauen.

»Sonst noch Fakten, die mich in den Knast bringen?«

Vor Laras Augen erschien eine Vision blasshäutiger Frauen in blauer Einheitskleidung, die in einer langen Schlange an der Essensausgabe standen und gräulichen Pamps auf ihre Teller geklatscht kriegten – eben irgendetwas, was man mit Löffeln essen konnte.

Stan tätschelte ihre Hand, sagte aber nichts. Er schien mit den Tränen zu kämpfen.

»Martine wurde von hinten erschlagen, Tatwaffe noch nicht gefunden. Sie wurde zwei Meter bis in das Gebüsch geschleift, in dem Lara sie fand. Die Info bekam Watermann während unseres Gesprächs.«

Charles' knappe Bemerkungen klangen in Laras Ohren anklagend.

Jetzt erinnerte sie sich auch wieder an einen Umstand, dem sie bisher keine Bedeutung beigemessen hatte. »Sie hatte den Ring noch am Finger. Außerdem wusste der Hauptkommissar schon am Tatort ihren Namen und dass sie hier wohnte. Daraus schließe ich, dass sie ihre Brieftasche noch bei sich hatte, also Raub als Motiv ausscheidet.«

Zustimmung wurde gemurmelt, dann verfielen die Übersetzer wieder in kollektive Grübelei.

»Ich hatte also das Pech, fast genau zur Tatzeit am Ort des Geschehens aufzutauchen, wurde beobachtet, wie ich mich erst über Martine beugte und dann das Weite suchte, und bin somit automatisch zur Verdächtigen erklärt worden. Vermutlich schlichtweg mangels anderer Bewerber um diesen Posten.« Lara schüttelte wieder den Kopf und schwieg einen Moment.

»Ich kann nicht hier herumsitzen und darauf warten, dass die Schnarchnasen von der Polizei irgendwann einsehen, dass ich es nicht war«, erklärte sie plötzlich entschlossen. »Ich will wissen, wer Martine umgebracht hat. Und ich will meinen neuen Job antreten. Was macht das für einen Eindruck, wenn ich anrufe und meinem Chef erkläre, dass ich leider nicht kommen kann, weil ich die Hauptverdächtige in einem Mordfall bin. Noch dazu bei einem Mord an einer Übersetzerin!«

»Was willst du unternehmen? Du kannst den Kommissar nicht dazu zwingen, dass er dir glaubt.« Dieser Einwurf kam von Stan.

»Ich werde selbst ein paar Fragen stellen«, entschied Lara. »Und wenn es euch recht ist, fange ich gleich damit an. Wer hat eine Idee, was das Motiv betrifft?«

»Das ist Unsinn, Lara.« Heidis Stimme war schneidend. »Wir haben kein Motiv, Martine umzubringen.«

»Ich denke auch nicht, dass ihr ein Motiv habt, sondern dass wir gemeinsam herausfinden können, wer eins hatte. Ich brauche eure Hilfe, schließlich kanntet ihr Martine viel länger.«

Heidi sah noch immer nicht begeistert aus, nickte aber mit gesenktem Kopf. »Dann stell mal deine Fragen.«

Lara öffnete den Mund und schloss ihn wieder. »Das Problem ist: Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll.«

»Martine war beliebt, ich denke, das kann ich für alle sagen, richtig?« Stan sah sich um und fand seine Worte bestätigt. »Sie arbeitete sehr ernsthaft, ging selten aus und war ein stiller Typ.«

»Sie telefonierte mindestens einmal die Woche mit ihren Eltern«, steuerte Heidi bei. »Ob die Eltern sie jetzt hier identifizieren müssen?«

Diese Frage konnte niemand beantworten.

»Wie lange war Martine denn schon hier?«, wollte Lara wissen.

»Zwei Monate.«

»Hat sie sich in dieser Zeit verändert?«

»Sie hat abgenommen.«

Alle sahen Antonio an, von dem die Bemerkung gekommen war.

»Sie ist dünner geworden, besonders im Gesicht. Ist euch das nicht aufgefallen?«

Heidi sah nachdenklich auf die Tischplatte. »Ich fand, dass sie blass geworden ist. Aber das ist im Winter eigentlich normal. Zumal sie meist gearbeitet hat und selten an die frische Luft ging.«

»Hat Martine denn keine Ausflüge gemacht? Ich denke, dass man sich die Gegend, in der man ein paar Monate arbeitet, doch sicher ansehen will.«

Stan nickte. »Anfangs schon. Werner hat sie ein paar Mal mitgenommen. Er hatte sie quasi adoptiert, vielleicht kann er dir weiterhelfen.«

Lara fielen keine weiteren Fragen ein, und so machte sie sich auf die Suche nach Simon und Werner. Ersterer blieb unauffindbar, weshalb sie wenige Minuten später in Werner Bröders Zimmer auf dem Bett hockte.

»Fürchterlich«, sagte Werner jetzt zum dritten Mal, und Lara fand, dass das Wort nicht nur die Situation, sondern auch sein Aussehen treffend charakterisierte.

»So eine nette Frau. Sie wurde im selben Jahr geboren wie meine jüngste Tochter.«

Laras Blick wanderte zu dem Foto von drei Frauen um die dreißig, das auf dem Schreibtisch stand. Ihre Ähnlichkeit mit Bröder war unverkennbar.

»Du hast ein paar Ausflüge mit ihr gemacht, nicht wahr?«

»Ja, ich konnte Martine gleich gut leiden. Ich muss zugeben, dass ich als Vater von drei Töchtern eine Art Beschützerinstinkt gegenüber Frauen in dem entsprechenden Alter entwickle. Ich habe mich aber nicht aufgedrängt.« Werner unterstrich diese Feststellung mit einer Handbewegung. »Martine und ich, wir haben schnell festgestellt, dass das Leben in ihrer belgischen Heimat und am Niederrhein einige Ähnlichkeiten aufweist.«

»Inwieweit Ähnlichkeiten?«

Werner lächelte traurig. »Am Niederrhein ist nicht gerade der Bär los, weder kulturell noch wirtschaftlich. Es gibt noch viele bäuerliche Strukturen, kleine Dörfer, wo jeder jeden kennt. Das ist in den Ardennen auch so.«

Lara nickte.

»Kurz nach ihrer Ankunft habe ich sie gefragt, ob sie mit zum Polterabend meiner jüngsten Tochter kommen wollte. Susanne, das ist meine Tochter, ist nämlich mit einem Kleinkünstler liiert. Die beiden haben für ihre große Feier in Goch die Weltbühne Hassum gemietet und ein niederrheinisches Kabarettprogramm auf die Beine gestellt.

---ENDE DER LESEPROBE---