Demokratie in Bedrängnis: Warum wir jetzt gefragt sind -  - E-Book

Demokratie in Bedrängnis: Warum wir jetzt gefragt sind E-Book

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Beschreibung

Tragende Grundprinzipien unserer repräsentativen Demokratie werden von unterschiedlichen Seiten in Frage gestellt. Die einen zweifeln, ob unsere Demokratien schlagkräftig und effizient genug seien, um sich im globalen Wettbewerb der Systeme zu behaupten. Andere halten unsere Verfassungssysteme überhaupt für untauglich, um notwendige Maßnahmen - etwa zur Bekämpfung der Klimakrise oder gefährlicher Pandemien – entschieden genug durchzusetzen. Wieder andere halten die repräsentative Demokratie selbst für nicht mehr zeitgemäß. In "Demokratie in Bedrängnis: Warum wir jetzt gefragt sind" greifen deshalb führende europäische Köpfe diese Spannungsfelder auf und formulieren klare Empfehlungen für die Stärkung unserer Demokratie – von den Möglichkeiten der Digitalisierung für die Demokratie über die Hypotheken autoritärer Vergangenheiten bis hin zur Bedeutung von Kultur für unser demokratisches Zusammenleben.

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Thomas Mirow / Hrsg.

Demokratie in Bedrängnis: Warum wir jetzt gefragt sind

Berichte zur Lage der Nation

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass er, sofern dieses Buch externe Links enthält, diese nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung einsehen konnte. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Copyright © 2021 Murmann Publishers GmbH, HamburgLektorat: Evelin Schultheiß, Kirchwalsede

ISBN 978-3-86774-708-0

Besuchen Sie unseren Webshop: www.murmann-verlag.deIhre Meinung zu diesem Buch interessiert uns!Zuschriften bitte an [email protected] Newsletter des Murmann Verlages können Sie anfordern [email protected]

Inhaltsverzeichnis

Zu diesem BuchThomas Mirow

Vom »Role Model« zum Auslaufmodell?Armin Nassehi

Wenn es ernst wirdLaura Spinney

Die Klimapolitik wird zum Stresstest unserer DemokratieOttmar Edenhofer

Moderne Demokratie braucht DigitalisierungXiaoqun Clever

Demokratie braucht gesellschaftliche NeuordnungDennis J. Snower

Demokratie unter der Last der GedächtnisblockadenInes Geipel

Wie viel Westen braucht die Demokratie?Janusz Reiter

Kultur und Demokratie – ein Verhältnis auf GegenseitigkeitMarion Ackermann

Über Herausgeber und Autorinnen und Autoren

Zu diesem BuchVon Thomas Mirow

Die Deutsche Nationalstiftung legt hiermit im zweiten Jahr Berichte zur Lage der Nation vor. Wir wollen damit erneut unseren Stiftungsauftrag erfüllen und zum Nachdenken anregen: über den Zusammenhalt unserer Gesellschaft, über die Festigung unserer Demokratie, über den weiteren Weg Deutschlands in einem vereinten, freiheitlichen Europa.

Europas Demokratien sind herausgefordert wie lange nicht – im Innern und von außen. Über Jahrzehnte bewährte Erfolgsmuster haben an Überzeugungskraft verloren. Allenthalben ist Verunsicherung zu spüren.

In der Mitte der Gesellschaft, auch in Deutschland, machen sich Zweifel breit, ob unsere Demokratien schlagkräftig genug sind, um sich im globalen Wettbewerb der Systeme zu behaupten. Nicht wenige befürchten, unsere Verfassungssysteme könnten untauglich sein, um über grundlegende politische Weichenstellungen – etwa zur Bekämpfung der Klimakrise oder gefährlicher Pandemien – zügig zu entscheiden und diese dann auch umzusetzen. Andere halten im Zeitalter sozialer Medien das Prinzip der repräsentativen Demokratie selbst für nicht mehr zeitgemäß, sehen die Ära großer, stabiler Parteien als beendet an und setzen auf mehr direkte Demokratie, zum Beispiel im Wege häufiger Volksbefragungen. Viele verweisen auf tiefe gesellschaftliche Spaltungen: zwischen Gewinnern und Verlierern der Globalisierung, zwischen Arm und Reich, zwischen gut Informierten und einer – oft lautstarken – Minderheit, die Falschmeldungen Glauben schenkt, zu Verschwörungstheorien neigt und sich in selbstreferentiellen Echokammern einigelt.

Nicht zu übersehen ist: In zahlreichen Ländern »des Westens«, aber auch in anderen Teilen der Welt, in denen die Demokratie unaufhaltsam auf dem Vormarsch schien, haben sich autoritäre Kräfte zu gefährlich einflussreichen Parteien und Bewegungen formiert.

In Deutschland konnte eine rechtspopulistische, in Teilen rechtsextreme und demokratiefeindliche Partei in alle 16 Landesparlamente einziehen und in der abgelaufenen Legislaturperiode die größte Oppositionsfraktion im Deutschen Bundestag stellen. Vor allem die Wahlergebnisse in den östlichen Bundesländern sind besorgniserregend, auch weil sie die Bildung kohärenter, stabiler Regierungen nahezu unmöglich machen. Dem zugrunde liegt offensichtlich keine schnell vorübergehende Augenblicksstimmung. Auch wenn es nicht an AfD-Erfolgen im Westen mangelt – die Größenordnung der Unterstützung, die Qualität der gesellschaftlichen Verankerung unterscheiden sich doch signifikant. In ihrem jüngsten Jahresbericht zum »Stand der Deutschen Einheit« diagnostiziert die Bundesregierung »eine in den neuen Ländern … durchgängig skeptischere, distanziertere und auch kritischer ausgeprägte Grundeinstellung gegenüber Politik«.

Verunsicherung und Spaltungstendenzen in den Demokratien werden von außen verstärkt. Autoritär geführte Staaten nehmen auf vielerlei Wegen Einfluss, um demokratische Kräfte und Strukturen weiter zu schwächen: Regierungen werden mit billigen Krediten für große Infrastrukturprojekte gelockt, rechte Parteien demonstrativ hofiert, Internetplattformen und Fernsehkanäle als Propagandainstrumente missbraucht, mehr oder weniger verdeckt hoch komplexe Cyberattacken gestartet. Das Ziel: die Diskreditierung demokratischer Prinzipien sowie die Schwächung demokratischer Bündnisse und Zusammenschlüsse, insbesondere der Europäischen Union, um sich so Vorteile im geostrategischen Wettstreit der Mächte zu sichern. Dabei geht es um viel. Das kommunistische China, über Jahrzehnte auf seinen wirtschaftlichen Wiederaufstieg konzentriert, sieht sich heute auf dem Weg zu der führenden Macht des 21. Jahrhunderts. Russland geht es – ungeachtet seiner endemischen ökonomischen Schwäche – um eine zumindest partielle Rückgewinnung des mit dem Untergang der Sowjetunion verlorenen Weltmachtstatus. Und die von einem autoritär agierenden Präsidenten geführte Türkei spannt alle Kräfte an, um sich als starke Regionalmacht zu etablieren, im Mittelmeerraum, im Nahen Osten, im Kaukasus – bis hin zu Afghanistan.

Der einst für sicher gehaltene globale Siegeszug der Demokratie ist vielerorts zu einem abrupten Halt gekommen und andernorts angeschlagen. Die große, traditionsreiche Demokratie der Vereinigten Staaten von Amerika leidet seit Langem unter einer früher undenkbaren politischen Polarisierung und wurde durch den Sturm auf das Kapitol am 6. Januar 2021 bis in ihre Grundfesten erschüttert.

Was also muss geschehen?

Demokratien ohne Demokraten können nicht bestehen. Ohne Verankerung in einer demokratischen Kultur, in einer demokratischen Zivilisation kann auf Dauer auch die beste Verfassung Recht und Freiheit nicht verlässlich schützen. Das Schicksal der Weimarer Republik hat uns das in Deutschland auf bitterste Weise gelehrt.

Doch geht es dabei vorrangig nicht um eine abstrakte Wertedebatte. Demokratien werden umso stabiler sein, je besser es ihnen gelingt, die ganz konkreten Erwartungen der Gesellschaft an ein funktionierendes Gemeinwesen zu erfüllen. Bürger und Bürgerinnen registrieren sehr genau, ob die Regierung eine schlüssige Klimastrategie verfolgt. Ob sich in einer Pandemie das Gesundheitssystem bewährt. Ob es gelingt, Menschen so gut es geht vor Naturkatastrophen zu schützen. Ob Kriminalität und Terrorismus konsequent bekämpft werden. Ob die öffentliche Infrastruktur, auch im ländlichen Raum, berechtigten Ansprüchen genügt. Ob staatliche Verwaltungen bürgernah und zeitgemäß arbeiten. Ob ein Steuersystem effizient und gerecht ist. Ob das Rentensystem Altersarmut verhindert und Demografie fest ist. Ob bei der Zuwanderung die Balance zwischen eigenen Interessen und humanitärem Schutz stimmt und Integration im Alltag vor Ort funktioniert.

Vertrauen in die Kompetenz öffentlicher Institutionen und in die Unbestechlichkeit ihrer Repräsentanten ist das unentbehrliche Fundament für demokratische Stabilität. Politik und Verwaltung tragen dafür eine besondere Verantwortung. Aber auch alle anderen, die Wert auf ein freiheitliches Gemeinwesen legen, sollten wissen, dass die Vitalität unserer Demokratien immer wieder neu gestärkt werden muss: mit frischen, tauglichen Ideen und mit aktivem bürgerschaftlichen Engagement.

Davon handelt dieser Band: Wir haben führende europäische Köpfe – unter ihnen wiederum vier Mitglieder des Senats der Deutschen Nationalstiftung – gebeten, die Herausforderungen unserer Demokratie zu analysieren und durchdachte Empfehlungen für ihre Festigung zu formulieren.

Der Soziologe Armin Nassehi arbeitet in seinem Grundsatzbeitrag die Stärken der repräsentativen Demokratie heraus, die es zu bewahren gilt, und empfiehlt zugleich, durch zusätzliche interdisziplinäre Beratungsgremien »die Logik der Repräsentation« zu erweitern.

Laura Spinney, britische Autorin eines erfolgreichen Buchs über die Spanische Grippe zu Beginn des 20. Jahrhunderts, legt dar, wie Demokratien trotz ihrer oft langwierigen Entscheidungswege bei der Bekämpfung von Pandemien nicht hinter autoritären Regimen zurückstehen müssen.

Ottmar Edenhofer vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung argumentiert anhand konkreter Vorschläge, wie es in der Demokratie gelingen kann, die für eine Klimawende erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen.

Xiaoqun Clever, eine deutsche IT-Managerin, die als junge Erwachsene ihr Geburtsland China verlassen hat, ist überzeugt, dass die Demokratie die Digitalisierung braucht, und fordert, sie energischer zu nutzen.

Dennis Snower, viele Jahre Präsident des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel plädiert für eine drastische Neuorientierung unseres Wirtschaftssystems als Bedingung für die Erhaltung unserer Demokratie.

Ines Geipel, in DDR-Zeiten eine bekannte Leichtathletin und heute erfolgreiche Publizistin, setzt sich mit den Belastungen auseinander, die Jahrzehnte autoritärer Herrschaft für die Verankerung der Demokratie in Deutschland bedeuten.

Janusz Reiter, unserem Land seit Langem als polnischer Diplomat und Intellektueller eng verbunden, untersucht die komplexe Frage, warum das westliche Demokratiemodell auch in Mitteleuropa stark an Strahlkraft verloren hat.

Marion Ackermann, Generaldirektorin der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, umreißt – gestützt auf ihre Erfahrungen im Freistaat Sachsen – den besonderen Beitrag, den Kunst und Kultur für eine freiheitliche Demokratie leisten können.

Gemeinsam ist allen Beiträgen die Überzeugung, dass auch Deutschland vor großen Veränderungen steht, die entschlossen angegangen werden müssen, sollen die Herausforderungen unserer Zeit bewältigt und unsere Demokratie nachhaltig gesichert werden.

Allen Autorinnen und Autoren danke ich herzlich für ihre wertvollen, gedankenreichen Beiträge, die überwiegend im Laufe des Frühjahrs 2021 verfasst wurden. Mein Dank gilt darüber hinaus Agata Klaus, der Geschäftsführerin unserer Stiftung, für die umfassende Betreuung des gesamten Projekts, der ZEIT-Stiftung für eine hilfreiche Förderung, unseren Partnern beim Murmann Verlag für ihre engagierte verlegerische Unterstützung und ganz besonders Christoph Bertram, der mit seinen konzeptionellen Ideen und seiner präzisen Redaktionstätigkeit maßgeblich zum Entstehen dieses Bandes beigetragen hat.

Mit Blick auf die Vielfalt von Meinungen zu einer gendergerechten Sprache hat der Herausgeber auf die Vorgabe einheitlicher Richtlinien verzichtet. Die Texte spiegeln auch insofern das individuelle Sprachgefühl der Autorinnen und Autoren wider.

Vom »Role Model« zum Auslaufmodell?Kann die repräsentative Demokratie die Konfliktlinien in unserer Gesellschaft heute noch abbilden und einhegen?Von Armin Nassehi

  

Überhaupt diese Frage! Muss man sie stellen? Ja, sie muss gestellt werden, und am Anfang lohnt sich vielleicht ein Blick von außen, gewissermaßen ein Umweg zur Erhöhung der Kenntlichkeit. Die Selbstkritik der repräsentativen Demokratie ist ohnehin etwas, das ihr eingeschrieben ist, denn in der Demokratie ereignen sich Herrschaft und Machtausübung, kollektiv bindende Entscheidung und ihre Durchsetzung nicht einfach – sie machen sich selbst zum Thema. Der Umweg soll ein (erwartbarer) historischer Umweg sein, aber auch ein (weniger erwartbarer) räumlicher – der erste führt nach Athen ins vierte vorchristliche Jahrhundert, der zweite nach China im 21. Jahrhundert und am Ende führt er nach Freiburg.

Athen: Teilung der Macht

Es hat fast etwas Rituelles, Erörterungen über die (westliche) Demokratie damit zu beginnen, diese sei gewissermaßen als Erbe dem abendländischen Denken und Tun tief eingeprägt. Dabei ist die Praxis der Athenischen Demokratie weit davon entfernt, der »repräsentativen Demokratie« zu entsprechen, wie wir sie hier befragen wollen. Dennoch gibt es eine Kontinuitätslinie von den athenischen Wurzeln der Demokratie hin zu unseren Tagen. Dabei geht es weniger um die Demokratie als ein Verfahren der Entscheidungsfindung und der Legitimation solcher Entscheidungen, sondern um die Herausbildung dessen, was bis heute »Politik« heißt. In den Worten des Historikers Paul Nolte heißt es über die Politik der Athener: »Politik war danach nicht mehr mit einem faktischen System von Herrschaft identisch; sie trat aus der Normalität, aus der scheinbaren Natürlichkeit der Lebensverhältnisse heraus und etablierte sich als eine eigene Sphäre, in der man sprechen, debattieren und entscheiden konnte.« 1

Es ist gewissermaßen der Einbau einer folgenreichen gesellschaftlichen Selbstbeschreibung in den gesellschaftlichen Prozess. Gemeint war damit noch gar nicht eine Form von Staatlichkeit. Aber wenigstens erwuchs die Idee, dass die gute Ordnung nicht, wie noch von Platon präferiert, durch den gerechten und vernünftigen Staatsmann zu garantieren sei, sondern durch die Beteiligung der Bürger, die die Teilung der Macht und den Wechsel in der Verantwortung verlangt und nicht etwa nur unmittelbare Demokratie.

Für Aristoteles war die Demokratie, verstanden als die bloße Mehrheitsherrschaft, zwar in der Lage, die Mehrheit zufriedenzustellen, droht dann aber womöglich an Kompetenzfragen und leicht zu beeinflussenden Stimmungen des Wahlvolks zu scheitern. Das bloße Mehrheitsprinzip löst noch keine Probleme – und dieser Gedanke reicht tatsächlich von Aristoteles und dem griechischen Historiker Polybios, der die Ochlokratie, also die Herrschaft der Masse und des Pöbels anprangert, bis zu Alexis de Tocquevilles Kritik an der Tyrannei der Mehrheit. Aristoteles hat konsequenterweise die Lösung in der Politie gesehen, einer Mischform aus Demokratie im Sinne des bloßen Mehrheitswillens und der Oligarchie politischer Entscheidungsträger. Diese Mischform erlaubt es der Mehrheit, durch Wahl der Entscheidungsträger einerseits mitzuentscheiden, andererseits vom tagespolitischen Entscheidungsgeschäft ferngehalten zu werden.2

Die Legitimations- und Kompetenzbasis der repräsentativen Demokratie liegt darin, tatsächlich jenen Demos abzubilden, der zugleich herrschen und beherrscht werden soll.

Das Problematische an der Demokratie ist nach diesem Verständnis einerseits das Verhältnis von Legitimation zu Kompetenz, andererseits das Verhältnis der politischen Sphäre zu ihren gesellschaftlichen Voraussetzungen. Das ist exakt die Frage der repräsentativen Demokratie, deren Legitimations- und Kompetenzbasis darin liegt, tatsächlich jenen Demos abzubilden, der zugleich herrschen und beherrscht werden soll. Dass dieses Verhältnis nicht unproblematisch ist, liegt an der gesellschaftlichen Funktion des Politischen, auf die zurückzukommen ist. Jedenfalls lässt sich die repräsentative Demokratie nicht mit dem bloßen Hinweis rechtfertigen, eine vollständige Demokratie müsse den Demos vollständig abbilden und repräsentieren. Denn offensichtlich fügt die Demokratie diesem Demos etwas hinzu, was er selbst nicht enthält. Und offensichtlich ist die politische Demokratie von etwas abhängig, das sie selbst nicht voraussetzen kann.

Peking: Im Zentrum die Gesamtheit, nicht der Einzelne

Die westliche sozialwissenschaftliche und philosophische Debatte über die Bedeutung der repräsentativen Demokratie ist zumeist eine sehr selbstbewusste Debatte. Niemals lässt sie Alternativen zur demokratischen Herrschaftsform auf theoretischer und normativer Augenhöhe zu, auch wenn die Geschichte der westlichen politischen Systeme ihre Selbstdementierung in faschistischen Systemen, im Nationalsozialismus von rechts sowie im Stalinismus und der kommunistischen Ideologie von links zur Genüge unter Beweis gestellt hat. Es ist womöglich dieser innere Konflikt des Westens, der den Blick nach außen erschwert; man erkennt im Spiegel undemokratischer und autokratischer Herrschaft mehr an Eigenem, als man es sich wünschen würde. Deshalb entlastete die eigene dunkle Geschichte womöglich davon, diese Herausforderungen wirklich ernst zu nehmen. Im Selbstbild scheint sich mit der westlichen repräsentativen Demokratie eine zumindest normativ alternativlose Form etabliert zu haben, von der abzuweichen allenfalls eine empirische Evidenz besitzt, aber sicher keine guten Gründe.

Freilich haben sich die Verhältnisse geändert. Alternativmodelle zur westlichen liberalen Demokratie lassen sich beim besten Willen nicht mehr bloß als fehlerhafte Alternativen abtun, die trotz geschichtsphilosophischer Zuversicht den entsprechenden Standard nur noch nicht erreicht hätten. Das fängt in der postkolonialen Kritik des westlichen Selbstbewusstseins an und führt über die Neubetrachtung der kanonischen Schriften des Westens bis zur feministischen Kritik und rassismuskritischen Zurückweisung des universalistischen Modells.

All diese Herausforderungen lassen sich noch in der Weise integrieren, dass etwa die Kritik an einer mangelnden Repräsentation von Frauen, People of Color oder diverser Minderheiten letztlich auf Erfüllung der liberalen und universalistischen Versprechen der Einbeziehung aller zielt. Solche Kritik ist im Wesentlichen Selbstkritik, sie wirft ihrem Gegenstand vor, seinen eigenen Standards nicht gerecht zu werden, und zehrt von dem, was sie kritisiert. Noch das identitätspolitische Pochen auf Anerkennung partikularer Ansprüche nährt sich am universalistischen Repräsentationsmodell, auch wenn es sich in unauflösbare Paradoxien verstrickt beim Versuch, den Universalismus mit partikularistischer Verve zu erreichen. Das galt rhetorisch sogar für die inzwischen kaum mehr relevante linke und realsozialistische Kritik der westlichen »kapitalistischen« Demokratie, die wenigstens semantisch zumeist den Terminus des Demokratischen in Anspruch nahm.

Inzwischen gibt es selbstbewusste politische Konzepte, die nicht bloß die eigene kulturelle Inkompatibilität mit dem individualistischen Westen ins Feld führen, sondern ebenso die Dysfunktionalität der westlichen Demokratie.

Aber inzwischen finden sich auch selbstbewusste, hochnormative politische Konzepte, die nicht defensiv bloß die kulturelle Inkompatibilität mit dem individualistischen Westen ins Feld führen, sondern ihrerseits die Dysfunktionalität der westlichen Demokratie zum Ausgangspunkt der eigenen Argumentation machen. Wer diese Form des Denkens verstehen will, sollte das kürzlich ins Deutsche übersetzte Buch des Philosophen Zhao Tingyang lesen, der an der Chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften und an der Universität Peking lehrt. Es ist die selbstbewusste Verteidigung einer Gesellschaftsordnung ohne Massendemokratie mit marktkritischen Elementen.

Zhaos Buch ist keineswegs eine defensive Rechtfertigung der chinesischen Autokratie gegen die normativen Ansprüche des Westens, sondern eine offensive Kritik an deren inneren Widersprüchen. Dieses Denken kommt einer naturrechtlichen Ordnungsvorstellung am nächsten – und wenn man das Buch mit seiner neokonfuzianischen Perspektive unvoreingenommen liest, fühlt man sich an die gegenrevolutionäre Attitüde eines Joseph de Maistre erinnert.3 Wie dieser spricht auch Zhao dem »Egoismus die Berechtigung« ab, die Welt selbst gestalten zu wollen, und zwar durch »Maximierung des eigenen Nutzens«. In ihr sieht er vor allem die »Unterwerfung der Natur unter grenzenlose Entwicklung« und also die »Zwangsläufigkeit allen Übels«.4

Man muss zugeben: Allzu fremd klingt das nicht. Für Zhao ist der Populismus, dessen Wortführer gerade mit demokratischen Mitteln ins Amt gewählt werden können und werden – die Beispiele liegen vor Augen –, ein Hinweis darauf, dass es die innere Verfasstheit der Demokratie selbst sei, die die Falschen ins Amt wähle und mit Macht ausstatte. Die Demokratie transformiere sich in eine »Publikratie« 5, weil Grundlage des Demokratiekonzepts nicht die Repräsentation des Ganzen, sondern die der unterschiedlichen Einzelinteressen sei. Zhao zeigt an Thomas Hobbes’ Konzept, dass dieses seinen Ausgangspunkt an der Differenz der Perspektiven nehme, zwischen denen letztlich (wenn auch nur potenzielle) staatliche Gewalt vermitteln müsse. Der Fehler liege schon im Ausgangspunkt des Denkens, nämlich mit der Existenz des Individuums zu beginnen, also mit dem Problem statt der Lösung.

»Die Koexistenz geht der Existenz voran, mit anderen Worten, die Koexistenz ist die Voraussetzung der Existenz.«

Zhao bezieht sich dabei auf den antiken konfuzianischen Philosophen Xunzi, ein Zeitgenosse von Aristoteles: »Anders als Hobbes sah Xunzi im Urzustand ein Gen der Kooperation, die Gruppe gehe dem Individuum vor.« 6 Daraus folgt ein »ontologisches Prinzip: Die Koexistenz geht der Existenz voran, mit anderen Worten, die Koexistenz ist die Voraussetzung der Existenz.« 7 Einer Demokratie bedarf es dann gar nicht, weil diese ja nicht das Gemeinsame verwalte, sondern gerade die Differenz unterschiedlicher Ansprüche, Interessen, Meinungen, Lebensformen und dergleichen anstachele. Die Demokratie befördert nach diesem Verständnis sogar das Trennende, weil sie gerade den Differenzen einen Wert gibt, nicht der Einheit und dem »Kriterium der vollständigen Einbeziehung«.8 Zhao meint also, die Demokratie versuche letztlich, ein Problem zu lösen, das sie selbst erst erzeugt, und macht das Christentum mit seiner Hervorhebung des Individuums als Ebenbild Gottes dafür verantwortlich, universelle und oberste Prinzipien einer monotheistischen Ordnungsvorstellung gegen alles andere, also das Partikularistische, durchzusetzen. Gegen Universalismus als Legitimation zur Einstufung des Anderen setzt Zhao »Kompatibilität«: »Die Politik muss dem Himmel entsprechen, nicht einem Gott.« 9

Man kann Zhao durchaus als einen staatsnahen Philosophen lesen, der die chinesische Autokratie rechtfertigt und dem Westen nicht nur vorhält, mit seinem demokratischen Verfahren keineswegs gegen Inkompetenz, politische Hasardeure und starke innergesellschaftliche Konflikte gefeit zu sein, sondern zudem die Gesellschaft nicht wirklich erreichen und mitnehmen zu können, man denke an seine mangelnde Krisenkompetenz bei Klimawandel oder Migrationsfragen.

Die Kritik ist nicht von der Hand zu weisen. Sie ähnelt in ihrer meritokratischen Tendenz durchaus den Bedenken des Aristoteles, ob das Demokratieprinzip in der Lage sei, kompetente Akteure an die Macht zu bringen, die weder von ihren Partikularinteressen, noch von ihrem Unwissen korrumpiert werden. Das Problem der Demokratie, so Zhao, bestehe also in dem Zweifel, ob die richtigen Personen und die richtigen Konzepte zum Zuge kommen könnten. Dass das nicht immer der Fall ist, ist kaum zu bestreiten. Zugleich räumt Zhao aber ein, dass es in jeder komplexen, modernen Gesellschaft Zielkonflikte und widerstreitende Interessen gibt, die nur unter einer entscheidenden Voraussetzung versöhnt werden könnten: »Ein System ist dann und nur dann legitim, wenn es der Volksseele entspricht.« 10

Es ist hier nicht der Ort, darüber zu räsonieren, ob diese Argumentation an einer Petitio Principii laboriert, aber es gilt doch, auf eine empirische und eine normative Falle hinzuweisen, die dieses neokonfuzianische Konzept der »Tianxia« enthält. Die empirische Falle ist die Frage, ob und wie sich ein Zustand »vollständiger Einbeziehung« einstellen kann, die normative Falle besteht in der Frage, wer darüber entscheidet, was jener »Volksseele« entspricht und wie mit Abweichungen davon umzugehen ist. Die chinesische Praxis jedenfalls vermag beide Fragen nicht befriedigend zu beantworten. Denn auch sie steht vor der zu klärenden Herausforderung, wie viel gesellschaftliche Kohäsion vorausgesetzt werden kann und muss, damit Konflikte gelöst werden können. Oder anders formuliert: Wenn, wie für Zhao, die Demokratie als ein Verfahren zur Verarbeitung und zum Ausgleich unterschiedlicher Perspektiven und Interessen prinzipiell ausgeschlossen ist, bleibt es dann eher eine Frage der unmittelbaren Macht und des Ausschlusses von Differenzen und Kritik, ob man den »Himmel auf die Erde« holen kann.11 Die Demokratie beginnt eben nicht im Himmel, sondern auf der Erde – und muss ihre Probleme mit terrestrischen Mitteln lösen.

Freiburg: Böckenfördes Gesetz

Hat der bisherige Weg von Athen nach Peking geführt – und dabei durchaus in den Grundfragestellungen nach Athen zurück –, muss er nun in den Westen, genau genommen den Südwesten Deutschlands verlängert werden. Kaum eine staatswissenschaftliche Debatte kommt heute ohne Rekurs auf den berühmten Satz des Freiburger Staatsrechtlers Ernst-Wolfgang Böckenförde aus: »So stellt sich die Frage nach den bindenden Kräften (in unserem Gemeinwesen) von neuem und in ihrem eigentlichen Kern: Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.« 12 Böckenförde beschreibt hier die Folge jenes Säkularisationsvorgangs, der nicht nur zu einer operativen und semantischen Trennung von Politik und Kirche/Religion geführt hat, sondern auch bewirkt, dass die zuvor religiös und konfessionell gestifteten gesellschaftlichen Bindungskräfte nun eben säkular, also irdisch gestiftet werden müssen. Es führe »kein Weg über die Schwelle von 1789 zurück, ohne den Staat als die Ordnung der Freiheit zu zerstören«.13

Schon diese einfache Formulierung macht den Unterschied deutlich. Nicht die All-Einheit einer Volksseele ist, anders als bei Zhao, hier Ausgangspunkt. Der bietet letztlich einen quasi-religiösen konfuzianischen Säkularismus an, der es dem Staat leicht macht, immer schon das Allgemeine zu repräsentieren; dem Volk werden innere Konflikte oder gar Widerspruch gar nicht zugemutet und dies dann als Legitimation für die autoritäre Herstellung von Einheit benutzt. Böckenförde dagegen rechnet mit Differenzen und Konflikten, er sieht auch den quasi-religiösen Charakter der »Nation«, der einst die inneren Widersprüche zu verdecken in der Lage war, aber nun, in säkularer Verfassung, das Unterschiedliche irgendwie zusammenbringen muss.14 Das Ambivalente am Konzept der Nation ist eben, dass diese neben einem ausschließenden auch ein emanzipatorisches Element in sich trägt, weil die Nation in einer von Ungleichheit geprägten Gesellschaft Gleichheit und Gleichberechtigung versprechen kann. Gerade deshalb stellt sich die Frage, welche Voraussetzung die vorpolitischen, nichtpolitischen Sphären der Gesellschaft erfüllen müssen, damit der Staat politische Konflikte demokratisch austragen kann. Hier erst sind wir bei der Repräsentationsfrage angekommen.

Wen und was muss die Demokratie repräsentieren?

Die Frage nach der Relevanz der repräsentativen Demokratie würde unterschätzt, beschränkte man sie darauf, zu klären, ob parlamentarische Verfahren oder das Angebot an Parteien oder der gesetzliche Minderheitenschutz tatsächlich die gesamte Bevölkerung entsprechend abbilden könnten.15 Denn dies würde bedeuten, dass man die zu repräsentierende Gesellschaft gewissermaßen als gegeben hinnimmt, um sie dann politisch zu repräsentieren, als seien Interessen, Milieus und Gruppen schlicht vorpolitisch schon vorhanden. Das neokonfuzianische Modell kann so denken und dabei mit der Voraussetzung einer Volksseele jenen zu repräsentierenden Raum schon vordefinieren und quasi-religiös untermauern. Es würde, ganz anders als bei Böckenförde, in der Konsequenz die Voraussetzungen politisch garantieren, die in einer liberalen und pluralistischen Gesellschaft zwar politisch miterzeugt, aber eben nicht staatlich garantiert oder gar kontrolliert werden können.

Politik kann nicht einfach Macht ausüben, sondern muss diese Macht in der Gesellschaft umsetzen, um von dort die Macht wieder zurückgespiegelt zu bekommen.

In der liberalen Demokratie stellt sich das Repräsentationsproblem erheblich komplexer dar. Das liegt vor allem daran, dass in der Demokratie Herrscher und Beherrschte in eins fallen. »Die Einheit des (politischen, A. N.) Systems kommt in der Paradoxie zum Ausdruck, dass das Volk zugleich Souverän und sein eigener Untertan ist.« 16 In der repräsentativen Demokratie wird diese Paradoxie dadurch abgemildert, dass Herrscher und Beherrschte trotz Identität differenziert werden und sich in dieser Oszillation von Identität und Differenz wechselseitig beobachten. Daraus entsteht ein Machtkreislauf, in dem die Macht sowohl von der Politik als auch vom Volk ausgeht. Politik kann nicht einfach Macht ausüben, sondern muss diese Macht in der Gesellschaft umsetzen, um von dort die Macht wieder zurückgespiegelt zu bekommen.

Diese systemtheoretische Denkungsart, die die Einheit des Politischen in dieser Wechselseitigkeit vorfindet, lässt sich bereits in Max Webers Herrschaftsbegriff wiederfinden. Anders als amorphe Macht, die sich gegen alle Widerstände durchsetzen kann, markiert Weber Herrschaft als die Chance, Gefolgschaft und Gehorsam zu finden, zugleich aber auch Zustimmung zur Legitimationsquelle der ausgeübten Herrschaft.

Von dieser Verbindung zehrt letztlich politische Herrschaft, die nicht einfach auf Machtausübung beruht, sondern jenen Machtkreislauf im Blick hat, der seine Durchsetzungsmöglichkeiten nicht beliebig, zur Not mit Gewalt und autoritärem Zwang, ausnutzt, sondern auf eine wenigstens prinzipielle Zustimmung der Machtausübung gründet. Das ist es, was Böckenförde stark machen will: nicht einfach Bindungskräfte einer Gesellschaft in einem vorausgesetzten Konsens bündeln, sondern jene Bindungskräfte in der Demokratie fördern, die es aushalten können, dass die Gesellschaft selbst nicht homogen, sondern heterogen ist.

Die repräsentative Demokratie setzt die Gesellschaft nicht als einen Raum konsentierter Zustimmung voraus, sondern als einen Raum zum Teil unüberwindlicher Konflikte, der erst die Bedingung der Freiheit ist.

Hier liegt die entscheidende Stärke der repräsentativen Demokratie. Sie setzt die Gesellschaft nicht als einen Raum konsentierter Zustimmung voraus, sondern als einen Raum zum Teil unüberwindlicher Konflikte, der erst die Bedingung jener Freiheit ist, die als Korrelat einer offenen Gesellschaft gelten kann. »Offenheit« ist dabei nicht nur als normatives Prinzip zu verstehen, sondern als empirische Bedingung für Koexistenz in einer komplexen Gesellschaft, die sich schon aus operativen Gründen nicht auf eine vorkonsentierte All-Einheit verlassen kann. Den »Himmel auf die Erde« zu holen, ist die Chiffre einer am Ende doch ängstlichen und deshalb notwendig autoritären Form, die die gesellschaftliche Dynamik als Bedrohung, nicht als Chance begreift.

Das repräsentative Element an der repräsentativen Demokratie hat zwei Funktionen: Zum einen entlastet es die Gesellschaft davon, kollektiv bindende Entscheidungen stets kollektiv und damit noch volatiler zu treffen als ohnehin schon. Zum anderen versorgt es das politische System mit ausreichend Komplexität, Variabilität, Diversität und Konfliktmöglichkeiten, um es mit jener Entscheidungsoffenheit auszustatten, die für eine komplexe Gesellschaft vonnöten ist.

Die chinesische Kritik an der (repräsentativen) Demokratie muss deshalb gar nicht am politischen System ansetzen, sondern an der Gesellschaft: Diese muss als vollständig integriert, als hierarchisch geordnet beschworen werden, um Konflikte nicht als Interessensgegensätze zu markieren.17 Der Umgang mit der Forderung nach Alternativen, mit Entscheidungsunsicherheit, mangelndem Wissen und Lösungskonzepten wird in das politische System selbst hineinverlagert. Das Äquivalent zum Prinzip der demokratischen Repräsentation wird auf eine meritokratische Ebene verschoben, die in der Lage sein soll, sachorientierte Lösungsansätze vollständig politisierbar und konsensfähig zu machen.

Dass auch daraus eine wenigstens wissenschaftlich-technisch und ökonomisch erfolgreiche Gesellschaft werden kann, lässt sich in China beobachten. Dass eine solche Gesellschaft keine Mangel-, sondern eine Konsumgesellschaft sein kann, ebenfalls. Aber ob tatsächlich jene Vielfalt (requisite variety) entstehen kann, die zur Anpassung an Veränderungen in komplexen Systemen nötig ist, darf bezweifelt werden. Jedenfalls ist der Grad an Autokratie und politischem Zwang ein direktes Korrelat der Unfähigkeit, mit Varianz und dem Denken in Alternativen umzugehen. Das ist es, was die repräsentative Demokratie ausmacht. Das Prinzip der Repräsentation reagiert auf die funktionale Notwendigkeit, die Konflikte innerhalb der Gesellschaft als deren innere Pluralität abzubilden, die ja eine Pluralität politischer Programme ist und nicht einfach klar definierter sozialer Gruppen.

Die Demokratie ist ein Legitimationsgenerator für politische Entscheidungen, zugleich aber auch ein Themengenerator für das politische System, in dem Entscheider und Beherrschte sich wechselseitig beobachten.

Ausgeübte Macht trifft auf ein Publikum, das seinerseits in einer Art Gegenbewegung den Mächtigen den Spiegel vorhält. In der repräsentativen Demokratie sind Herrscher und Beherrschte voneinander abhängig, weil Macht sich nur darin manifestieren kann, wenn die Beherrschten, die ja als Quelle der Macht fungieren, ihre Loyalitätsbereitschaft nicht verlieren. Deshalb spielt in der Demokratie die Opposition die logisch entscheidende Rolle. Ihre Integration in das politische System gewährt auch denen Loyalitätschancen, die nicht zu den Befürwortern bestimmter Entscheidungen gehören.18 Die Demokratie ist also ein Legitimationsgenerator für politische Entscheidungen, zugleich aber auch ein Themengenerator für das politische System, denn der doppelte Machtkreislauf lässt Entscheider und Beherrschte sich wechselseitig beobachten.

Diese idealtypische Beschreibung freilich unterschätzt, dass der doppelte Machtkreislauf und damit die politische Partizipation mit beeinflusst wird durch nicht politisch legitimierte Akteure (Experten, pressure groups, ökonomische Akteure etc.). Dieser keineswegs neue Sachverhalt, als »Postdemokratie« 19 diskutiert, setzt aber die Abhängigkeit demokratischer Entscheidungen von einer bestätigenden öffentlichen Kommunikation nicht außer Kraft.20 Letztlich lebt die repräsentative Demokratie nicht nur von der »Abbildung« der gesellschaftlichen/politischen Pluralität, sie erzeugt sie mit.

Parteien domestizieren den politischen Streit

Die Kontrahenten im politischen Prozess sind unterschiedliche Parteien – deshalb heißen Parteien auch Parteien. Eine der ironischsten Figuren der politischen Sprache ist der Begriff der Einheitspartei – ein logisches Oxymoron und ein politischer Offenbarungseid. Er ist ein logisches Oxymoron, weil Partei (lat. pars) nur eine Partei neben einer anderen sein kann. Wenn es nur eine Partei gibt, gibt es keine Parteien. Ein Offenbarungseid ist er, weil er den Mechanismus des Politischen außer Kraft setzt: nämlich nicht schlicht Macht zu exekutieren, sondern diese zum reflexiven Gegenstand ihrer selbst zu machen.

In den klassischen Parteienarrangements spiegelt sich eine Systematik gesellschaftlicher Ordnung wider, die Konflikte in die Form politischer Entscheidbarkeit bringt.