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Ein himmelblauer Regenschirm wandert durch die Landschaft. Unendliche Blaulichtkolonnen fahren auf, wenn neue Castoren ins Wendland gebracht werden. Vom blauen Unweg ist die Rede, wie er ins Abseits führt. Von der Farbe der Lügner berichtet eine Erzählung. Über die Wünsche einer Heranwachsenden, ihren Kleidungsstil gibt es einiges zu sagen. Die Sorgen einer Mutter finden sich in diesem Band wieder. Die Erzählungen und Gedichte tangieren allesamt die Farbe Blau, und welche Assoziationen sie auslöst.
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Seitenzahl: 300
Veröffentlichungsjahr: 2019
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Anne Peschlow
Das Bildnis
Andreas Dutz
Die blaue Lagune
Marco Plate
Das Puzzleteil
Heidi Axel
Der blaue Weg
Und über allen ist der Himmel blau!
Der verdammte blaue Dunst
Blauäugigkeit
Ulrike Günther
Sieben Streiche Leben oder Aller Anfang ist blau
Barbara Dittrich
Den Wellen gegenüber
Verena Wagner
Seufzer ins Blaue
Astrid Walter
Die Fahrradtour
Ursula Schwarz
„Die ganze Welt ist himmelblau…“ Glauben Sie?
Dieter Geißler
Das rote Kleid
Elena Zardy
Blauer Holunder
Ilonka Meier
Die Lücke in meinem Herzen
Je mehr…
Liebe dreifach
Blauer Ozean
Dein Gedicht von Pablo Neruda
Für immer und immer
Ozean der Liebe oder… Wie Wellen in deinen Augen
Rumah di selatan
Sehnsucht
Tage am Meer
Sibille Stickl
Blau
Grete Ruile
Leuchtende Plätze
Schillernde Kugeln
Ein Blütenrausch in frischem Grün.
Frühlingsgeflüster
Glücklicher Sommertag
Still - Leben
Klaus J. Rothbarth
Moira und die Farbe Blau
Gabriele Guratzsch
Ins Blaue
Silke Berke
Wasserkunst
Cleo A. Wiertz
Himmel auf Erden?
Lesley Wieland
Voralberger Sage
Vollkommenheit im frechen Rosa
Bubikopf vom Pauspapier
Buntschopf und bittersüße Nachtschatten
Filzmoos
Petra Dobrovolny-Mühlenbach
Die Farben des Lebens
Am blauen See
Blauer Dunst
Der himmelblaue Regenschirm
Was der Pfau dir flüstert
Was der Saphir dir flüstert
Der blaue Mohn
Der Marienmantel
Das blaue Kleid
Chemtrails
Der Heiratsschwindler
Blauer Nagellack
Das Blaulicht
Für alle politischen Gefangenen
Dein blauer Schal
Ekatarina Glowna
Erinnerungen
Deborah Rosen
In Zitronenfarben
Ella von Griener
Der blaue Fliederregen
Die blaue Bank
Das blaue Klavier
Die blaue Prinzessin
Der blaue Wagen
Samira Schogofa
Ach, blaue Blume
Blaulicht
Lieblingsfarbe
Dietrich Krome
Blaue Impressionen
Astrid Schünemann
Blau
Marko Ferst
Bewährte Behausungen
Mädchen in Blau
Wendländische Impressionen
Septemberwärme
Erosion
Carla Fründt
Quelle des Lebens
Auf ins Blaue
Das Pochen
Die Reise heilt
Klaus Berndt
Rondell
Rüdiger Kolb
Blowingblau
Frühlingssee
Werner Hardam
Blauer Sinn
Antje Dreist
Das blaue Schaf
Das blaue Auge
Wolfgang Hügel
Blaues Wunder
Marlene Wieland
Das Erbe
Alfonsburg
Sibirien
Heike Streithoff
Raum aus Blautönen
Emma Pfeffer
Die Farbe der Lügner
Nina Kipke
Aus dem Takt oder Der blaue Wal
Barbara Fröhlich
Der Klang des Nichts
Brigitte Prem
Blau, grünblau, graublau
Gabriele Reiß
Am Fluss
Marko Ferst
Buhnen, Strand und Meeralltag
Jo Po
Fremd
Herta Dietrich
Sommerscherbe
Julia Knöll
Blau – meine Vergangenheit und meine Zukunft
Christiane Reinhardt
Eine blaue Nonsens-Geschichte oder Der Waschzwang
Julia Körnig
Ideal
Autorinnen und Autoren stellen vor
Nur ein kleiner, blauer Schimmer scheint plötzlich im Sprühnebel des Springbrunnens auf und spiegelt sich im See. Mehr sieht sie nicht im gebrochenen Licht der tiefstehenden Herbstsonne. Lea steht nur und schaut, gebannt. Und unmittelbar aus dem blauen Nebel taucht die Szene auf: Celine, damals in Venedig. Ewig lange her.
Lea sieht sie jetzt vor sich, wie sie dort am Strand entlangläuft. Die Enden ihres blaugrauen Seidenschals wehen in der leichten Meeresbrise hinter ihr her, die Zipfel ihrer langen, leuchtend blauen Bluse flattern flügelartig über den engen Jeans, strohblonde Haarsträhnen fliegen im Wind. Plötzlich dreht sie sich um. Und Lea schaut in dieses geliebte, schmale Gesicht, dessen blassrosa Teint in aufregendem Kontrast zum strahlenden Azurblau der Augen steht, vom hellen Haar wie gerahmt. Doch als ihre Blicke sich treffen, verdunkeln sich Celines Augen im verschwimmenden Licht der venezianischen Lagune ins schleierhaft Verträumte, als würde sie langsam versinken wie die Stadt am Meer.
Celine trug nur Blau. Aber selten hatte Lea ihre Farben so leuchtend erlebt wie dort in Venedig. Eher kannte sie Celine in Graublau oder in nachtblaues Indigo gekleidet, als läge etwas wie ein Schatten über ihrer Gestalt. Aber vielleicht lag das auch daran, dass Lea sie nur aus geschäftlichen Zusammenhängen, von Buchmessen und Illustratorentreffen kannte, wo sie ihr oft gestresst erschienen war. Und dennoch – als sie sich einmal am Rande der Messe im Café trafen, um über eine mögliche Zusammenarbeit zu reden, hatte Lea blitzartig diese Faszination getroffen.
Damals arbeitete Celine in einem Zeitschriftenverlag und hatte Lea, die es als Malerin nicht gerade leicht hatte, einen Auftrag verschaffen wollen.
„Kannst du mir für einen Artikel über Venedig einige Aquarell-Illustrationen von Stadtansichten anfertigen und möglichst bald schicken?“, schrieb sie.
Mit Eifer machte Lea sich an die Arbeit, hatte sie sich doch nicht nur in Celine verliebt, sondern auch in diese Stadt, deren Zauber sie schon seit ihrem Studium immer wieder wie im Wachtraum gestreift hatte, wenn sie die Venedig-Bilder von Canaletto und Manet im Museum betrachtete. Und auch in den schwebenden Blau- und Gelbtönen Turners konnte sie sich so verlieren, dass sich die Wirklichkeit dieser Stadt in zerfließenden Farben aufzulösen schien. Dann tauchte immer wieder der sehnsüchtige Wunsch auf, diesen traumhaften Ort einmal hautnah zu erleben.
Sie nahm einen der alten Ausstellungskataloge über Venedig in die Hände. Ein Lesezeichen fiel ihr entgegen – ein älteres Porträtfoto von Celine. Sie beachtete es nicht weiter und legte es an die Seite.
Der Kunstkatalog war jetzt für ihren Malauftrag in der Zeitschrift einfach nicht das, was sie brauchte. Hierfür waren realistische Stadtansichten gefragt – keine Bilder, die für den Betrachter im Ungefähren verwischter Farben verschwanden. Also griff sie zu ihren Fotobänden über Venedig. Einige Stadtpanoramen betrachtete sie lange und machte sich dann an die Aquarelle. Malte Kanäle, Brücken und Palazzi im Sonnenlicht der Lagune und die Piazza San Marco im Regen, schickte sie Celine und erwartete gespannt ihre Antwort.
Die fiel kurz aus – offenbar war Celine mal wieder im Redaktionsstress. Aber immerhin schienen ihr zwei Aquarelle für den Artikel brauchbar. Und darüber hinaus schrieb sie: „Übrigens fahre ich in drei Wochen mit einer Freundin nach Venedig, und ich freue mich darauf, deine Aquarellansichten dort aufzusuchen!“
Lea versetzte der Satz einen Stich. Sie fährt mit ihrer Freundin nach Venedig! Warum nicht mit mir ...
Ihr Blick fiel wie in einer zufälligen Bewegung auf das Porträtfoto von Celine, das, etwas unter die verstreuten Zeitungen gerutscht, immer noch auf dem Tisch lag. Sie nahm es in die Hand, und wie in einem Sog wurde sie von dieser Verkörperung zarter Schönheit angezogen und tief berührt. Ein Gesicht von luftiger Ebenmäßigkeit, ein Blick, der von innen her strahlte – wie auf einem entrückten Renaissance-Bildnis, dachte sie.
Sie musste es malen.
Sie nahm das Foto mit ins Atelier, und schon als sie die ersten Farben auftrug, geriet sie in einen Rausch von Blautönen, die sie von dunklem Indigo über leuchtendes Ultramarin bis hin zu hellem Coelinblau, das in lichtes Türkis überging, in immer neuen Mischungen abwandelte. Vor diesem Hintergrundsraum formte ihr Pinsel das zarte Gesicht, als würde er es liebevoll streicheln, vertiefte sich in die schwierige Gestaltung von Lichtreflexen und Schatten auf den schimmernden Haaren und arbeitete lange daran, das Blau der Iris mit den kleinen, sonnigen Einsprengseln als eine Widerspiegelung des umgebenden Raumes erscheinen zu lassen. Stunden um Stunden malte sie, verlor sich im Ablauf der Zeit. Als sie endlich den Pinsel ablegte, zurücktrat und das Bild immer wieder von allen Seiten anschaute, verliebte sie sich augenblicklich in ihr Werk.
Dieses Bildnis von Celine war es, das sie letztlich nach Venedig lockte.
Doch was wollte Lea eigentlich von ihr? Celine fuhr mit ihrer Freundin. Und Lea selber war doch frisch verliebt in diesen Manuel. Dann blitzte eine Idee in ihrem Kopf auf. Warum nicht mit Manuel nach Venedig fahren? In drei Wochen am besten ...
„Wollen wir uns dort kurz treffen?“, schrieb sie jetzt hoffnungsvoll an Celine.
„Ich glaube kaum, dass das klappt“, antwortete Celine, „wir haben dort ein dichtes Programm. Höchstens, wenn du mal abends am Lido bist und es sich irgendwie ergibt ...“
Sehr vage, dachte Lea.
Sie redete mit Manuel, ohne Celine zu erwähnen, und er war gleich einverstanden. „Nach Venedig wollte ich doch auch schon immer! Und mein Studium langweilt mich sowieso gerade, brauch‘ eine Pause ...“
*
Am Bahnhof in Venedig angekommen, steigen sie gleich in die nächste Gondel am Canale Grande. Und es ist wie ein neues Bild, in das sie eintaucht: Ihr gegenüber sitzt Manuel in seiner grün-blau gemusterten Baumwollhose, die sich vom Schwarz der Gondel und dem kräftigen Rot der Sitzpolster kontrastierend abhebt, passend zur Farbe des Wassers, das um den Bug schäumt. Seine zierliche, gleichwohl hoch aufgeschossene Gestalt signalisiert eine sanfte Kraft – und erinnert sie an den Davidknaben des Verocchio, den sie in Florenz gesehen hat. Den abgeschlagenen Goliathkopf, der ihm zu Füßen liegt, blendet sie lieber aus.
Sie schaut in sein Gesicht – dieses ganz andere Gesicht, von dunkelblonden, verstrubbelten Haaren gerahmt. Seine graugrünen Augen wirken wie versteckt unter Wasseralgen. Ein leichtes Lächeln umspielt seine sinnlichen Lippen, die ein weicher Bart säumt, die Haut ist noch glatt, nicht gefurcht von Gräben der Enttäuschung oder des Schmerzes wie ihre eigene, so viele Jahre ältere. Unausgeprägt die Züge, ein unbeschriebenes Blatt, denkt sie. Beschreibbar, vielleicht? Formbar durch ihre erfahrenen Hände ...
Sie erschrickt ein wenig vor ihren eigenen Gedanken – wie vermessen! Als könnte sie ihn nach Belieben manipulieren ...
Ja – sie ist in ihn verliebt.
Manuels Blick streift jetzt die schmucke, schwarz-weiße Tracht des Gondoliere: „Wenn ich den sehe, fällt mir gleich der Fährmann aus dem Tod in Venedig ein, der die Reisenden über den Acheron in den Hades zu schiffen scheint!“, sagt er.
„Stimmt“, erwidert sie, und denkt weiter: Und Tadzio sitzt mir direkt gegenüber!
Doch gleich darauf schleicht sich das Bild von Celine in ihren Kopf, die zum selben Zeitpunkt irgendwo hier in der Stadt herumstreifen muss. Und die beiden Gesichter schieben sich in ihrer Phantasie zuerst neben-, dann übereinander wie ein Vexierbild.
Dann ziehen die Palazzi mit ihren zierlichen gotischen Säulchen und Spitzbögen, die verschnörkelten, rostigen Balkongitter, der bröckelnde Putz der Fassaden ihre Aufmerksamkeit an, und schnell verfällt sie der Schönheit dieser Stadt, die sich auf so berührende Weise mit einem Hauch von Vergänglichkeit und Verfall paart.
Am Rialto steigen sie aus. Lassen sich im Besucherstrom auf die Brücke schieben, vorbei an den kleinen Läden bis zum mittleren Brückenbogen. Dort weitet sich der Ausblick auf den Canale zu einer zauberhaften Perspektive über Palazzi und Kirchen am Ufer, und während Lea den Blick nach oben richtet, wo sich eine blasse Sonne im Morgendunst zeigt, schaut Manuel hinunter in die tiefen Schatten der schwarzen Gondeln im Wasser, die unter der Bogenbrücke hindurchfahren.
„... wie der Eingang ins Totenreich“, sinniert er schaudernd mit finsterem Blick, „--- uaaahh ... schrecklich!“
„Komm, lass uns weitergehen!“ Immer seine komisch-gruseligen Phantasien!, denkt sie.
Das Menschengewühl schiebt sie hinter der Brücke in eine Seitengasse, an hübschen, kleinen Goldschmiedeläden vorbei. Manuel blickt gedankenverloren einem Bettler hinterher, der sich müde durch die Gasse schleppt. Lea schweift flüchtig über die Schmuckauslagen. Alles zu überladen, zu kitschig-plump.
Aber dann bleibt sie an einem kleinen Ecklädchen hängen. Aus der Mitte der Auslagen blitzt sie der azurblaue Aquamarin an, als hätte ein kleiner Sonnenstrahl ihn gerade erleuchtet. Seine schmale, lange Form ist in der zarten Goldfassung wie in einem Schiffchen geborgen, und sein aufregendes Leuchten lässt ihr Herz hüpfen. Gebannt starrt sie ein paar Minuten auf die Erscheinung, reißt sich dann los, rennt die Gasse entlang und sucht Manuel. Sie findet ihn im Schatten einer Hauswand hingehockt. Sinnierend, wie so oft.
„Wieso bist du weggelaufen?“, fragt sie.
„Hier bin ich doch!“, erwidert er, etwas unwillig, so aus seinen Überlegungen heraus gerissen zu werden, die ihm einen trübsinnigen Ausdruck verleihen. „Aber was ist mit dir los? Bist ja ganz aufgeregt, hat dich was gestochen?!“
„Ja – vielleicht schon, – komm, ich muss dir was zeigen!“ Schnell zieht sie ihn vor das Schaufenster.
„Schau doch mal, hier! Hast du so was Schönes schon mal gesehen?!“
„Der gefällt dir also? Dann kaufen wir ihn!“ Manuel, jetzt plötzlich ganz der großzügige, wunscherfüllende Pragmatiker. Diese Seite hat er also auch, denkt sie.
Als sie den herrlichen Stein in Herzhöhe auf der nackten Haut spürt, ist sie hingerissen. Sie gehen zusammen ans Wasser, und während Manuel am Kai entlang schlendert, blickt sie wieder und wieder auf den Stein und lässt ihn in der Sonne aufblitzen – und aus dem Blau taucht Celines Bild wieder auf.
Plötzlich bemerkt sie, wie Manuel sich langsam entfernt, und sie ruft ihm noch hinterher: „Wir müssen uns verabreden! Wenn wir uns nochmal verlieren, wo sollen wir uns wieder treffen in diesem Straßenlabyrinth?“
„Ja, gute Idee – vielleicht am besten abends gegen sieben am Lido?“, schlägt er vor.
„Okay“, ruft sie, „bis dann.“ Irgendwie ist sie froh, dass sie jetzt allein ist und ihren Gedanken an Celine nachhängen kann. Eine schmerzhafte Sehnsucht nach diesem ätherischen Wesen hat sie ergriffen. Wie ein Alter Ego scheint es ihr, der Roten, Erdigen zu fehlen. War Celine nicht schon immer irgendwie vor ihr geflohen? Hatte sie nicht bei jeder kleinsten Berührung blitzschnell die Fühler eingezogen wie ein aufgeschreckter Schmetterling?
Trotzdem muss Lea sie jetzt suchen. Vielleicht findet sie sie wirklich am Lido, auch wenn ihre E-Mail sehr vage geblieben war? Die fixe Idee treibt sie an, auch wenn ein kurzer Gedanke an Celines Freundin etwas bremst. Aber das ist jetzt nicht wichtig.
Als sie aufblickt, ist Manuel verschwunden. Das macht es ihr leicht. Sie geht in die entgegengesetzte Richtung, läuft zwischen den kleinen Häusern durch winzige, enge Gassen, über Dutzende von kleinen Brücken, an Kirchen vorbei – weiter, immer weiter. Und landet schließlich auf der Piazza San Marco. Die plötzliche Weite, die sich in Richtung Wasser ins Unendliche zu dehnen scheint, zumal der Dunst hier den Horizont vernebelt, macht sie orientierungslos. Die großen, grauen Steinplatten mit den labyrinthartig dazwischen eingefügten weißen Marmorlinien auf dem Boden, scheinen Richtungen vorzugeben und verwirren doch mehr als sie anzeigen.
Weiter gehen, weiter suchen, denkt sie nur.
Irgendwann, die Sonne steht bereits tief, findet sie sich am Hafen wieder und besteigt gedankenverloren das Boot zum Lido.
Der Nebel ist verschwunden, und als sie in das klare Blau schaut, überfällt sie wieder dieses Gefühl ziehender Melancholie, das sie hier in dieser Stadt, die ihr wie eine Brücke zwischen Himmel und Erde erscheint, ihre Erdenschwere spüren lässt. Und gleichzeitig lockt sie dieses blaue Strahlen, als wollte es ihr Flügel anbieten, die sie nicht benutzen kann.
Sie läuft am Strand entlang, wie besinnungslos. Schneller, immer schneller wird ihr Gang. Dann, plötzlich, in der Ferne etwas Blaues. Sie beginnt zu rennen. Eine königsblaue Bluse, ein blau-grauer Schal, der im Wind weht, daneben eine zweite Frau. Als sie nur noch ein paar Meter hinter ihr ist, dreht Celine sich mit einem plötzlichen Ruck um, wohl spürend, dass sie verfolgt wird.
Und Lea blickt in ihr Gesicht.
„Oh ... hallo Lea! Was für eine Überraschung ... Du hier!“
„Ja ...“, bringt Lea stockend heraus.
„Hm ... tut mir leid, du, aber wir sind gerade im Gespräch!“ Celines Augen verdunkeln sich, als würde sie einen Schleier davor ziehen, der Kopf senkt sich, dreht sich zurück zur Freundin.
„Okay, bis irgendwann ...“ Abrupt wendet Lea sich ab.
Vorbei. Verloren, dieses Bild. Sie kann es nicht halten. Sie bleibt stehen, Celine verschwindet im Blau der Lagune. Ihre Spuren im Sand verwischen die nächsten Wellen.
Lea steht lange und blickt aufs Meer. Ein Schmerz, direkt hinter dem blauen Stein, breitet sich in ihrer Brust aus.
Dann, zuerst wie aus weiter Ferne, schließlich ganz nah, dringt Kinderlachen an ihr Ohr. Und da trifft sie ein Schlag im Rücken. Ein roter Ball rollt direkt vor ihre Füße. Sie ergreift ihn und wirft ihn den Kindern zurück.
Sie macht ein paar Schritte näher zum Wasser, spielt mit den Füßen in den kleinen Schlingerwellen am Rand, wirft schließlich die Kleider von sich und rennt in die sachte Brandung, taucht unter, öffnet unter Wasser die Augen und ergibt sich dem grünblauen, formlosen Element, das sie liebend und ernüchternd zugleich umfängt und die schwarzen Gedanken augenblicklich ins Nichts entschwinden lässt.
Eine Weile schwimmt sie so, als ein dunkelgrüner Algenstrang ihre Brust berührt. Wie eine Wasserschlange, denkt sie, wie die kleine, grüne Schlange, die sie zusammen mit Manuel einmal in einem provençalischen See gesehen hat. Danach hatte Lea ihn manchmal Kleine Wasserschlange genannt, wenn sie zärtlich miteinander waren. Sie ergreift jetzt die Alge, als könnte sie sich daran festhalten. Das bringt sie zurück in ihren Körper, der Luft zum Atmen braucht und auftauchen will – prustend kommt sie an die Oberfläche und schwimmt zurück an Land.
Sie läuft ein paar hundert Meter am Strand entlang. Und, sie kann es kaum glauben, da steht er, Manuel. Fast nackt auch er, in seiner ganzen jugendlichen Pracht. Kein Bildnis, das entschwindet. Fassbar, berührbar, ohne Tabu. Und, wie erlöst von einem magischen Bann, umfängt Lea diese kleine Wasserschlange mit tausend Krakenarmen.
Jetzt nicht reden, denkt sie nur, einfach nur diesen männlichen Körper spüren ...
Doch er wehrt sich: „Wo warst du die ganze Zeit? Ich hab‘ dich überall gesucht! Warum bist du weggelaufen?“ Empörte Verletztheit schwingt in seiner Stimme mit. Dann fasst er fest ihre Unterarme, schiebt sie ein wenig von sich weg und schaut sie diesmal nicht mit dem graugrün verschwebenden Blick an, den sie kennt, sondern ganz klar und fest, aber mit einer dunklen Tiefe darin, die ihr neu ist und aufregend dazu. Irgendwo da ist es, das Gegenüber, das sie in ihm gesucht und bisher nicht gefunden hat.
„Ich hab‘ mich einen Moment in den blauen Stein verguckt, da warst du verschwunden“, sagt sie leise, „dann hab‘ ich mich total in den Gassen verlaufen ...“
„Ging mir ähnlich. Wie gut, dass wir uns wenigstens hier verabredet hatten!“
Er lässt ihre Arme los und blickt auf‘s Meer.
Ihr Groll löst sich langsam auf. Sie lassen die Strandwellen um ihre Füße spülen und beobachten, wie die Fußspuren verschwinden.
„Lass uns abfahren!“, bricht es plötzlich aus ihr heraus, „irgendwas macht mich fertig – ich muss hier weg!“
„Ich hab‘s auch schon gedacht. Wohin fahren wir?“
Sie muss nur kurz überlegen, da taucht eine Landschaft in erdigem Rot vor ihr auf.
„Provence, Petit Colorado! Das ist es jetzt!“
„Gut, ich kenn‘s nicht, aber ist bestimmt toll.“
Sie fahren einige Stunden in Richtung Westen, und mit zunehmender Distanz löst sich der Bann dieser Zauberstadt. Am nächsten Tag kommen sie in einer abenteuerlichen Provencelandschaft aus Sandsteinfelsen an, die nur erdige Farben von dunklem Umbra über Olivgrün zu tiefem Rot in allen Hell-Dunkel-Tönungen kennt. In diesen Farben ist sie zu Hause, auf der Erde angekommen, hier kann sie eintauchen, ohne sich aufzulösen. Hier braucht sie nichts als diese Farben. Sie legt sich auf den Rücken, streichelt zärtlich die saftgrünen Pflanzen um sich herum und blickt über die roten Felsen hinweg ins tiefe Himmelsblau. Mit der Erde im Rücken, den Pflanzen als Begleitern kann sie das anziehende Blau genießen, ohne sich danach zu verzehren. Kurz fasst sie nach dem blauen Stein auf ihrer Brust, er ist noch da. Celines Bildnis kann irgendwo im fernen Blau verweilen. Und Manuel ist da, ohne dass sie ihn festklammern muss. *
Dreißig Jahre ist das her.
Und jetzt, im Herbst, am Springbrunnen, dessen Wasserstrahlen das Licht in unendlichen Variationen der Regenbogenfarben brechen und tausendfach im Wasser spiegeln, sieht sie diesem Mann ins Gesicht, der neben ihr steht. Manuel.
Seine schütteren Haare sind grau, das Graugrün seiner Augen ist verwässert und in seine Haut hat sich die Geschichte eingegraben.
Ein Mann steht da, mit dem sie gestritten und gelitten hat, mit dem sie durch schwarze Löcher geschwommen, über Inseln im Sumpf gewandert ist – und letztlich hat sie ihn an eine andere Frau verloren, die ihn so nahm, wie er ihr begegnete. Statt ihn irgendwie formen zu wollen. Und ihn vom Baum pflückte wie einen Apfel im Herbst.
Trotzdem stehen sie zusammen hier, und wie gern würde sie ihn jetzt umarmen, wie damals am Lido – noch einmal für einen winzigen Moment glauben können, dass er ihr gehören könnte …
Still versunken lauscht sie der Melodie, die die Wassertropfen auf der Seeoberfläche erzeugen.
Unvermittelt taucht das Bild von Celine auf, damals, bei Leas letztem Besuch. Fast bewegungsunfähig saß sie im Rollstuhl und schaute aus dem Fenster, blickte durch das Blau der vielen unterschiedlichen Gläser und Vasen hindurch, die die Fensterbank in ihrem Zimmer zieren, in den Himmel.
Leas Kuss, ganz vorsichtig auf Celines immer noch zarte Wange haucht, erwiderte sie mit einem leisen Lächeln.
Tagebucheintrag von Baron Ernst von Hesse-Wartegg, Weltreisender.
1. September 1887. Donnerstag und der zweite Tag auf See.
Endlich hat sich das Bordleben nach der Aufregung, die mit jeder Abfahrt verbunden ist, soweit beruhigt, dass ich Zeit habe mein Tagebuch weiterzuführen. Wehe, wenn meine Notizen und all die Objekte, die ich sammeln werde, verloren gehen, dann kann ich mein nächstes Buchprojekt nie korrekt vollenden. Es war schon recht schwer, Benjamin Herder, den Verleger, zu überzeugen, dass ein Reiseführer über die Karibik für ihn ein profitables Geschäft sein würde. Wenn der junge Hermann Herder seinen Vater Benjamin nicht so bedrängt hätte, dann könnte ich mir - ohne deren Verlagsvorschuß - die Reise durch die Karibik und nach Venezuela nur schwer leisten. Das Buch MUSS ein Erfolg werden!
Minnie, meine wunderbare Frau und Operndiva, bekam einen triumphalen Empfang, als wir von Bremen kommend in New York mit dem Ozeandampfer angekommen sind. Sie hat’s jetzt gut. Kann mit dem Impresario und mit der Operntruppe, die sie nach Gutdünken und Laune schikaniert, durch die USA fahren und sich bejubeln lassen – sie singt wohl wieder einhundert mal ihre Erfolgsrolle, die Carmen. In New York habe ich alte Bekanntschaften aufgefrischt und im Deutschen Club einen Vortrag gehalten, über Tunis, was sonst, das ist halt mein Erfolgsthema. Was für eine Fügung war es, dabei Venezuelas Präsident Guzman Blanco zu treffen. Er versuchte, die Amerikaner zur Hilfe zu bewegen, damit sie gegen die Briten intervenieren, die einen Teil seines Landes annektierten. Wir hatten ein vorzügliches Gespräch. Ich werde mir das nun vor Ort ansehen, um Stimmung machen zu können. Dazu hat er mir alle Unterstützung versprochen!
Ich werde die Karibik und Südamerika gut beschreiben, so wie ich es in meinen Reiseberichten bisher gemacht habe. Ich kann mir jetzt keine Zweifel erlauben, ob ich auch einen Reiseführer schreiben kann – obwohl das schon zwei Paar Schuhe sind. Im Gegensatz zu einem plaudernden Reisebericht soll ein Reiseführer ja ein objektives Werk sein, der die Touristen informiert und vor Unbill schützt. Und trotzdem soll dieser nun für Venezuela Werbung machen. Hm, ein Spagat, aber Business is Business.
Die wöchentliche Schiffsfahrtsverbindung nach Venezuela fuhr schon zwei Tage nach dem Treffen mit Präsident Blanco ab, mir blieb also kaum Zeit, die Koffer neu zu packen. Der Dampfer „Philadelphia“ legte vom Hafen in New York pünktlich um neun Uhr ab – das sind doch gute deutsche Eigenschaften, die sich hier erhalten haben. In acht Tagen sollten wir Laguayra in Venezuela erreichen. Jetzt bleiben nur mehr sechs – sehr schön! Ich freue mich schon auf das Land, das Freiheit für neue Siedler verspricht. Präsident Blanco modernisiert das Land, bringt die Eisenbahn, lässt Telefonkabel verlegen und Kaffeeplantagen anlegen. Was für ein wunderbares Land, um den menschlichen Unternehmergeist frei laufen zu lassen. Dort kann sich der Kapitalist frei entwickeln. Paradiesisch!
Nachtrag. Abends.
Dunkle Wolken zogen auf, der Wellengang wurde heftig. Eine angespannte Stimmung machte sich unter den Landratten der Passagiere breit. Kapitän Hess beruhigte uns, die Passagiere in der ersten Klasse. Es kann nichts passieren. Beim Diner sagte er zur ängstlichen Señorita Faber: „Liebste Señorita, sehen Sie, auch wenn Sie mir nicht glauben wollen, ein weitgereister Mann wie Baron von Hesse-Wartegg wird bestätigen können, dass unser Schiff selbst im schlimmsten Sturm vertrauenswürdig ist. Nicht wahr?“ Damit brachte er mich in ärgste Verlegenheit, ich kannte weder seinen Dampfer, noch kannte ich den Kapitän persönlich. Nur weil er zufälligerweise einen ähnlichen Namen hat wie ich, glaubte er, dass ich mich auf ihn verlasse? Ich bin schon auf vielen Schiffen gewesen, und jedes kann einmal von einer großen Welle ins Unglück gerissen werden.
Die zarte Señorita Faber! Ihre strahlenden schwarzen Augen und ihre hübsche Nase, die sie mit ihrem Fächer aus schwarzer Spitze zu berühren pflegt, machen sie zum Mittelpunkt jeder fashionablen Soirée. Sie ist die Braut eines venezolanischen Plantagenbesitzers und sie bewies sich schon gestern mit einer Kostprobe ihres aufreizenden Klavierspiels. Sie spielte Chopin, die Etüde Nr. 1 in C-Dur. Ihre zarten Hände verzauberten mich mit dem Wellengang ihrer Bewegungen auf und ab die Tastatur – und das auf dem sich sanft wogendem Schiff! Ekstase von feinen Fingern. Ihr zukünftiger Gatte wurde ihr von einem Oheim vermittelt, einem Kautschuk-Händler in Boston. Wie zur Zeit Maria Theresias kennt sie nur Bilder von ihm. Die Arme – ich hoffe für Sie, dass sie ihrer Schönheit und ihrer edlen Erziehung gemäß ein gutes Heim bekommt.
In der Situation konnte ich sie nicht verunsichern, daher antwortete ich auf die Frage des Kapitäns zuerst mit einem einfachen „Ja!“. Wir kamen in ein anregendes Gespräch. Wie entzückend sie ist! Ich bot ihr an, mich Ernst zu nennen, sie ist Consuela. In Europa wäre das unmöglich gewesen, aber hier ist das Klima heißer.
Nach dem Abendmahl wurde der Wind immer stärker. Jetzt kämpft der Schiffsmotor nur mit Schwierigkeiten gegen die Krängung. Wir rollten andauernd von einer Seite zur anderen. Die meisten Passagiere leiden an der Seekrankheit. In der ersten Klasse komme nur ich zurecht. Consuela hat bei einem Schlag ihr Riechsalz verstreut, sie ist untröstlich.
Zweiter Nachtrag. Nachts.
Der Wind hat nun Orkanstärke. Das Boot schlingert so stark, dass wir uns alle kaum festhalten können. Aus dem Unterdeck der zweiten und dritten Klasse klingen Kirchengesänge zu uns herauf, zumindest in den kurzen Pausen des Lärms des Windes und der auf uns hereinbrechenden Wogen. Kapitän Hess hat seinen Navigator angewiesen, eine rettende Bucht zu finden. Besser einen Tag verlieren, als den ganzen Dampfer, wenn dieser weiter den Kräften des Ozeans ausgeliefert. Ich kann Papier und Stift nicht mehr halten, es wird unleserlich. Ich hoffe, es gibt ein Morgen!
2. September 1887. Freitag. Sonnenaufgang ist schon länger vorbei.
Es gibt ein Morgen und einen Morgen – und das auch für uns! Ja, was für ein Glück! Ich habe Consuela noch nicht auf Deck gesehen, sie muss mit ihrer Magd noch in ihrer Suite sein. Hoffentlich ist sie unverletzt.
Zwei riesige Wellen haben das Schiff kurz vor Erreichen der Bucht so durcheinandergeschüttelt, dass der Kessel ausgefallen und der Behelfsmast abgebrochen ist. Wir ankern in einer Bucht der Insel Eleuthera – ein traumhafter Ausblick ergibt sich von Deck auf die Palmenlandschaft. Die blaue Bucht ist paradiesisch mit schützenden Sanddünen rundherum. Der Himmel strahlt, als ob nie ein Orkan ihn getrübt hätte. Die kleinen weißen Wölkchen in der Ferne lachen uns zu. Der Erste Offizier und der Schiffsmechaniker haben mit der Instandsetzung des Kessels angefangen. Kapitän Hess – unser Optimist – sagt, sie werden es mit eigenen Mitteln schaffen. Nach den Reparaturarbeiten werden wir mit der Flut wieder abfahren können, oder morgen.
Die Neger haben uns sehr freundlich empfangen. Sie kamen in kleinen Booten zur „Philadelphia“ und boten Früchte und Gemüse an. Was für ein Schauspiel für die Passagiere! Für kleine Dollarscheine deckten wir uns mit köstlichem Obst ein, das unser Frühstück ergänzte.
4. September 1887. Sonntag. Zeit der Morgenflut.
36 Stunden, und die Welt ist eine andere für mich. Soll ich? Soll ich nicht? Ich bin mir nicht sicher. Eleuthera heißt „frei“ auf Griechisch, natürlich, und FREI sind sie, die Neger. Was für ein paradiesischer Name, erwählt für dieses schmale Eiland. Die Lagune mit ihrem tiefblauen Wasser, die Lebensquelle für die befreiten Sklaven. Tom, der Sohn des Inselhäuptlings, erzählte mir die Geschichte seines Volkes. Er war es, der mit dem größten Boot an der „Philadelphia“ anlegte. Sein Englisch war gar nicht schlecht, so suchte ich mir ihn aus, um mehr zu erfahren, denn die Seiten des Reiseführers wollen gefüllt werden. Wo wir waren, was es hier gibt – ich brauche all diese Details für mein Buch und so wollte ich den Zufall nützen um Material zu sammeln.
Er nahm mich mit zur Insel. „Wir sind glücklich“, erzählte mir Anthony, Toms Vater, in den wenigen Brocken Englisch, die er konnte. „Fahrt weiter! Wir brauchen euch nicht.“
Tom und seine Gefährtin, Nela, oder Ela genannt, standen neben Anthony. Kirche gibt es keine, ihre Seelen werden nicht gerettet werden. Sie leben in Sünde. Und im Paradies gleichzeitig!
Was für ein anderes Paradies habe ich kennen gelernt, vollkommen anders als das Paradies, das ich für Venezuela erwartet habe.
Toms Großvater wurde vor siebzig Jahren hier von den Briten ausgesetzt. In Freiheit gesetzt, wie ihnen erklärt wurde. Niemand wollte sie, die befreiten Sklaven, als die Briten das Sklavenschiff aufbrachten und dreihundert Männer, Frauen und Kinder vorfanden, die von drei Wochen auf See schwer gezeichnet waren. Wohin mit ihnen? Vor der Sklaverei in den USA waren sie gerettet, aber in das Vereinigte Königreich konnten sie nicht. Ehemalige Sklaven blieben unwürdige Menschen im Reich des Königs von England. Sie wurden auf Eleuthera abgesetzt, wo keine Europäer sesshaft waren.
Schon früher zogen Kolonialisten über den Ozean, um den Zwängen der Heimat zu entfliehen, und versuchten, hier eine neue Freiheit für ihr Leben zu finden. Waren sie entkommene leibeigene Bauern aus dem Zarenreich oder verfolgte Protestanten aus dem katholischen Kaiserreich, ich weiß es nicht, aber sie scheiterten. Nur Sand, einige Palmenbäume, Eleuthera wurde wieder verlassen. Zu schlecht war der salzige Sand für den Ackerbau der vor den Strafgerichten fliehenden Europäern. Freiheit wollten die Auswanderer, aber sie siedelten sich mit Waffengewalt auf dem amerikanischen Kontinent an und schufen dabei erst recht neue Grenzen. Sie bauten neue Strukturen auf, die von neuen Großgrundbesitzern und Plantagenkönigen beherrscht wurden. Die gefundene Freiheit der Ansiedler wurde bitter bezahlt von den verdrängten Indianervölkern und den herangeschifften Sklavenarbeitern. So schuf Freiheitsliebe der Einen die Unfreiheit für Andere.
Die Befreiten blieben auf Eleuthera alleine, in Freiheit, und Freiheit blieb es. Sie lebten nun inmitten des blauen Ozeans auf dem eigenen Schlaraffenland. Keiner machte Gesetze eines Königs geltend, und selbst der Stammeshäuptling hatte nun nicht mehr Besitz als die Anderen. Fische gab es genug in der Lagune, einfach waren sie zu jagen. Man teilte mit dem Nachbarn, Deines ist Meines und umgekehrt. Melonen, Kürbisse, Süßkartoffeln und Zuckerrohr gab es genug für alle und keiner hatte Eigentum. Nicht einmal Piraten störten die Ruhe, da es keinen Hafen gab, der tief genug gewesen wäre. Pinienbäume und Palmen gaben Schutz vor der Sonne und schenkten Holz für die kleinen Hütten.
Nela war nicht beeindruckt von unserem Schiff und unserem Auftreten. Trotz ihrer Fast-Nacktheit – sie war nur mit einem Schurz bekleidet, war sie unbekümmert und frei. Sie lachte, so wie ihre Kinder, die sie umkreisten. So unbekümmert frei muss Mauatua, die Tochter des Stammeshäuptlings auf Tahiti, für Fletcher Christian gewesen sein. Und begehrenswert. Lange schwarze Haare fielen in Locken über Nelas Schultern und hielten meine Augen an ihr gefangen. Glücklich waren sie alle, frei von den Zwängen der Zivilisation. Ich träumte davon, wie herrlich es wäre hierzubleiben, mit Consuela in meinen Armen, und dabei meinen Adelstitel in den Sand zu setzen. Einfachheit als Paradies!
Wenn das Leben nur leichter wäre, und die Entscheidungen leichter zu fällen wären! Hätte mir eine Plus- und Minus-Liste geholfen, um meine Emotionen zu rationalisieren? Ich entschied ich mich für den bequemen Weg und bin zurück auf die „Philadelphia“ gekommen. Auf nach Venezuela in die Zivilisation! Ich denke, ich habe das Richtige gemacht. Die Unsicherheit war zu groß – Freiheit alleine ist doch nicht alles! Und ohne Consuela wäre ich zu einsam gewesen.
Nachtrag. Spätabends.
Habe meine Notizen, Skizzen und die Photographien – ach, die teuren Glasplatten! – die ich für den Reiseführer gemacht hatte, dem Ozean übergeben. Ich zweifelte, ich war verzweifelt, sollte ich von Eleuthera berichten? Und wenn ich über dieses Paradies der Freiheit in meinem Reiseführer geschrieben hätte, was hätte ich erzählen sollen? Eleuthera und ihrer Bewohner Geschichte und Unabhängigkeit und Freiheit? Das wäre ein gute Seite Text für den Reiseführer gewesen. Aber dann wären Touristen gekommen, um sich das Paradies der Freiheit anzusehen, immer mehr und dann noch mehr. Die Freiheit wäre verloren gewesen! Ja, es war das Richtige, Neptun meine physischen Erinnerungen anzuvertrauen – mögen diese für immer im Nass begraben bleiben. Sollen Tom und Nela glücklich und frei bleiben!
Wie jedes Jahr in den Sommerferien war wieder maritime Festwoche in Bremerhaven! Die sorgfältig entlang der Kaimauer des Alten Hafens aneinander gereihten Buden boten alles, was das Touristenherz begehrte: Buddelschiffe, Seefahrerartikel, Imbissbuden, Fischräuchereien und singende Chantychöre auf kleinen Freilichtbühnen. Dazwischen durften natürlich Karussells und Süßigkeiten für die Kleinen nicht fehlen.
Bei hochsommerlichen Temperaturen drängelten sich meine kleine Tochter Sophia und ich durch die Menschenmassen.
„Darf ich eine Zuckerwatte, bitte Papa“, bettelte sie.
„Ok, unter einer Bedingung“, stellte ich klar.
„Und die wäre?“, meinte sie schon etwas genervt.
„Du gehst mit mir noch ohne zu nörgeln auf den Trödelmarkt am Ende des Festplatzes“, schlug ich ihr vor.
Da sie sofort einwilligte, bekam sie auch ihre geliebte rosa Zuckerwatte, und anschließend schlenderten wir zusammen über den großen Flohmarkt. An einem Stand mit Gesellschaftsspielen sahen wir zwei Puzzles liegen. Beide gehörten zu der gleichen Serie mit schönen maritimen Motiven. Meine Tochter und ich hatten in den letzten Monaten bereits einige Puzzles zusammen komplettiert. Am Anfang waren es nur Sophias einfache Kinderpuzzles mit den großen Teilen, bis ich plötzlich meine Leidenschaft für diese Art von Zeitvertreib wiederentdeckt und meine Tochter damit angesteckt hatte. Mittlerweile waren wir in unserer Auswahl bei Puzzles mit 1.000 Teilen angekommen und auch ein wenig stolz darauf. Dies war genau die Anzahl, mit der auch auf den beiden Kartons geworben wurde, die wir uns gerade anschauten. Die Händlerin fragte uns freundlich, ob sie uns behilflich sein könne und bestätigte auf meine Nachfrage hin, dass sie sich bezüglich der Vollständigkeit beider Puzzles sicher sei. Aber falls wirklich etwas fehlen sollte, meinte sie, könnten wir auch jederzeit wiederkommen. Sie sei an dieser Stelle auch nach der Festwoche fast jedes Wochenende mit ihrem Stand hier.
Ich erwähnte, dass wir nur einige Straßen entfernt wohnten. Sophia hatte sich sofort in das Bild mit dem springenden Delfin verguckt. Obwohl mir eigentlich das andere Motiv mit dem majestätisch wirkenden Kreuzliner „Norway“ noch besser gefiel, konnte ich mich auch mit Sophias Wunschbild anfreunden. Das Puzzle ging anschließend zu einem sehr fairen Preis in unseren Besitz über, ohne dass wir groß verhandeln mussten. Da wir sowieso bereits fast alle Flohmarktstände gesehen hatten, beschlossen wir direkt nach Hause zu gehen und sofort mit dem Puzzeln zu beginnen.
Dort angekommen öffneten wir gespannt den Karton und schauten uns neugierig die Besonderheiten des Motivs an. Einen hohen Schwierigkeitsgrad hatte vor allem das Meer um den Delfin herum. Dieses bestand zwar aus verschiedenen Farbnuancen und Schattierungen, die Untiefen und Wellen darstellten, aber mindestens zu einem Drittel aus blauen Einzelteilen, die den springenden Delfin in der Mitte richtig zur Geltung brachten.
Zuerst begannen wir damit, alle blauen Teile aus der Packung zu sortieren, und legten dabei alle Randstücke auf einen separaten Haufen. Dabei stach eins sofort hervor, denn es hatte auf der Rückseite anstatt des üblichen Punkteaufdrucks eine schraffierte Fläche.
„Das ist ja lustig!“, meinte ich verwundert. „Normalerweise besteht ja die Gefahr bei gebrauchten Sachen vom Trödelmarkt, dass irgendetwas fehlt. Aber hier haben wir anscheinend ein fremdes Teil zusätzlich im Karton“, analysierte ich.
„Aber dafür fehlt das Teil doch jetzt in einem anderen Karton!“, bemerkte meine Tochter scharfsinnig. „Wir müssen sofort zum Flohmarkt zurück, bevor jemand das Puzzle mit dem fehlenden blauen Teil kauft“, meinte sie, wie immer besorgt um andere.
