Deniz - Yasar Destan - E-Book

Deniz E-Book

Yasar Destan

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Beschreibung

Der 17jährige Deniz Arslan führt mit seiner Familie ein bescheidenes Leben im verschlafenen Nest Govern. In seiner Freizeit hängt er am liebsten mit dem Punk Knorpel am Bahnhof ab. Eines Tages nimmt Knorpel ihn auf eine Party der Fachhochschule mit. Eigentlich wollen sie dort nur Ganja von Tanky kaufen, doch Deniz hat in der Mensa eine schicksalhafte Begegnung mit Raphael. Deniz spürt in sich Gefühle aufkeimen, die er bisher nie zugelassen hat und verliebt sich Hals über Kopf in den rebellischen Querdenker. Ein Umstand, den es mit allen Mitteln zu unterdücken gilt, denn eine über Freundschaft hinausgehende Liebe zwischen zwei Männern ist mit den Idealen seiner Familie und Kultur unvereinbar. Trotzdem beginnt er mit Raphael eine immer leidenschaftlicher werdende Beziehung - natürlich unter strengster Geheimhaltung. Die Ereignisse überschlagen sich, als seine Eltern schließlich doch unerwartet von seinem Schwulsein erfahren. Sie haben ihre ganz eigenen Vorstellungen von der Zukunft ihres Sohnes ...

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Yasar Destan

Deniz

Roman

Himmelstürmer Verlag, Kirchenweg 12, 20099 Hamburg,

Himmelstürmer is part of Production House GmbH

www.himmelstuermer.de

E-mail: [email protected], Februar 2016

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlages

Rechtschreibung nach Duden 24. Auflage

 

Coverfoto: Christoph SchröderUmschlaggestaltung: Olaf Welling, Grafik-Designer AGD, Hamburg. www.olafwelling.de

E-Book-Konvertierung: Satzweiss.com Print Web Software GmbH

 

ISBN print 978-3-86361-488-1ISBN epub 978-3-86361-489-8ISBN pdf: 978-3-86361-490-4

Vorwort

Dies ist die Geschichte von Deniz. Er hat überlebt. Heute wohnt er in Berlin. Doch bis dorthin war es ein langer, schmerzhafter Weg, der 1988 begann und der nicht nur Wunden in seiner Seele hinterlassen hat. Ich schreibe seine Geschichte für ihn nieder, weil sich bis heute kaum etwas in den Köpfen vieler unserer Landsleute geändert hat. Zwar gibt es mittlerweile in den meisten Gegenden Anatoliens Strom und fließend Wasser, aber die Intoleranz Schwulen gegenüber ist leider oftmals immer noch die Gleiche geblieben. Generell herrscht eine weit verbreitete Homophobie im Land und Homosexualität gilt als Tabuthema. Auch heute noch passiert jungen schwulen Türken genau das, womit Deniz zu kämpfen hatte. Meist im Geheimen, abseits der öffentlichen Wahrnehmung. Und vielleicht gibt seine Geschichte all jenen Mut, die sich in einer ähnlichen Lage befinden wie er vor 27 Jahren. Mut, für ihre Freiheit einzustehen und einen Neuanfang zu wagen. Damit auch sie leben können wie er heute: schwul, geoutet und als Türke!

 

 

Yasar Destan

im April 2015

 

Governim Jahre 1988

 

Şarkı söylediğimiz zaman herkes duyar,ah çektiğimiz zaman kimse duymaz.

 

Singen wir, hören es alle,seufzen wir, hört es keiner.

(Türkisches Sprichwort)

Governim Jahre 1988

1

„Niggerboys!“

Und schon krachte das Fenster von Bauer Kümmel wieder zu. Es war äußerst frustrierend, jeden Morgen auf dem Weg zur Schule seine Beleidigungen über sich ergehen lassen zu müssen.

Aber Bauer Kümmel ist nur einer von vielen, dachte Deniz.

Deniz bedeutet das Meer. Ein neutraler Name, der von beiden Geschlechtern getragen werden kann. Unisex sozusagen. Und eigentlich brachte Deniz alles Schöne, was mit dem Meer zu tun hatte, auch mit sich in Verbindung: eine rauschende Brandung, tosende Stürme, donnernde Wellen, gefährliche Strömungen und warme Felsen. Manchmal unberechenbar wie die Flut und manchmal zurückhaltend wie bei Ebbe. Leider kam sein wahres Ich selten zum Vorschein und niemand sah dieses prächtige Meer in all seinen Facetten in ihm.

Ein Rumpeln scheuchte ihn aus der Lethargie und wieder rauschte draußen die vom rauen Winter geprägte Landschaft an ihm vorbei. Weit und breit kein Meer.

Deniz hasste Busfahren. Er kannte die Strecke in- und auswendig, denn es war immer dieselbe. Sobald der klapprige Ziehharmonikabus das 3.000 Seelenkaff Govern und das Industriegebiet mit der Möbelfabrik hinter sich ließ, tauchten auf der linken Seite zuerst die Äcker und Felder, die zerfallene Ruine eines alten Bauernhauses, der zugemüllte Rastplatz und irgendwann die ersten Häuser von Hedershagen auf, einem Städtchen rund 150 Kilometer nördlich von Frankfurt am Main. Dort drückte Deniz Tag für Tag die Schulbank der Zehnten.

Nach einem langen, harten Winter kehrten die Kraniche endlich aus dem Süden zurück und die Natur, die ihm wie ein nicht enden wollender Schwarzweißfilm vorgekommen war, verwandelte sich nun, zum Frühlingsanfang, allmählich in einen schillernden Farbstreifen.

Die Fahrt dauerte nicht länger als zehn Minuten.

Während er aus dem Fenster starrte, hatte er genug Zeit, um über Dinge nachzudenken, über die er nicht gerne nachdachte. Zuweilen glaubte er, die Welt um ihn herum nicht intensiv genug zu erleben, glaubte, er sei nur ein Außenstehender, ein Beobachter, der sein eigenes Leben wie auf Filmrolle gebannt betrachtete. Dabei ging er mit geschärften Sinnen durch die Welt und war stets auf der Suche nach einem Menschen, der so fühlte und dachte wie er.

Er kauerte in der hintersten Sitzreihe, verpaffte seine letzten Krümel Tabakreserven und ging ständig in Deckung, wenn der Busfahrer einen Kontrollblick in den Rückspiegel warf. Der gleiche Fahrer hatte ihn schon ein paar Mal beim Quarzen im Bus erwischt. Die anderen Schüler schrien und juchzten und der Lärmpegel kostete ihn den letzten Nerv.

Bald würde sich alles ändern.

Das nahm er sich fest vor.

Irgendwann würde er die Freiheit finden, nach der er so energisch suchte. Die Weichen für sein Leben waren bereits gestellt und nun sollte er den Gleisen in den Bahnhof der künftigen Familie folgen. So wie Adem es einst getan hatte und den Ismail und Nergis, seine Eltern, stets als gutes Beispiel anführten. Wenn Deniz sich ihren Wünschen beugte, würde in ihm bald nur noch ein totes Meer ohne Brandung existieren.

In Wirklichkeit rangierte er auf einem Abstellgleis.

Der Bus spuckte ihn am Bahnhof von Hedershagen aus. Neben den einzigen beiden Gleisen lag das kleine quadratische Bahnhofsgebäude aus hässlichen Kiesplatten. Ein verwaister, mit Graffitis besprühter Fahrkartenautomat flankierte den Haupteingang. Drinnen gab es nur einen besetzten Schalter und der war lediglich wenige Stunden am Tag geöffnet.

Deniz ging einmal um den Kastenbau herum und sah nach, ob der dicke Knorpel mit seiner Knollennase auf den Sitzbänken herumlungerte. Viele witzelten, er zähle schon zum Inventar des Bahnhofs. Tatsächlich saß er auch heute an diesem außerordentlich kühlen Tag im Schneidersitz auf der verlotterten Holzbank und sprengte gerade mit einem Feuerzeug den Kronkorken einer Bierflasche ab. Neben ihm stand ein verschlissener, olivfarbener Armeerucksack. Er trug, was er eigentlich immer trug, nämlich die ausgefranste Lederjacke mit den stacheligen Nieten und den Aufnähern an den Schulterpartien und eine löchrige Jeans. Unter der Jacke prangte der verwaschene Aufdruck des schwarzen Sex Pistols Shirts. Die Sex Pistols waren seine Lieblingsband und er wünschte sich nichts sehnlicher, als dass sie sich nach ihrer Auflösung 1978 eines Tages wiedervereinigten. Knorpel hatte weder Schuhe noch Socken an. Die trug er nur an klirrend kalten Tagen. So fühlte er sich naturverbundener und geerdeter, wie er immer sagte. In der Fußgängerzone zog er regelmäßig die Aufmerksamkeit spöttischer Blicke auf sich, obwohl er in der Stadt als Paradiesvogel bekannt war. Seinen schlechten Ruf hatte er sich wohl auch wegen seiner mangelhaften Körperpflege eingehandelt. Er müffelte ständig nach Schweiß und das Einzige, was er gewissenhaft zu pflegen schien, war seine schrille Irokesenfrisur. Mit dem schmalen, hochgestellten Haarstreifen sah er aus wie der Anführer der Gremlins. Die Farben wechselte er nach Lust und Laune. Auch Deniz fand Knorpel ganz schön durchgeknallt, aber er mochte ihn. Seinen richtigen Namen kannte er nicht.

Als Knorpel ihn bemerkte, grinste er breit. „Deniz, mein Freund!“

Die Jungs schüttelten aneinander die Hände.

„Haste mal ’ne Mark für mich?“

„Nee, hab ich nicht“, antwortete Deniz. „Bin total abgebrannt.“

„Haste wenigstens ’ne Fluppe?“

Deniz reichte ihm die schrumplige Tabakpackung. „Hier. Der letzte Rest.“

„Haste nichts mehr?“

„Nee, nur noch das.“

„Na, wird reichen. Danke.“

Während Knorpel sich zufrieden eine Kippe drehte, starrte Deniz auf die schmutzigen Schwielen unter seinen Fußsohlen und die wackelnden Zehen.

Deniz deutete auf die Flasche. „Du, da ich den Tabak gespendet hab, krieg ich auch ’nen Schluck?“

„Klar, setz dich.“

„Arschkalt, Mann.“

„Tja, ’nen Ofen kann ich dir leider nicht anbieten.“

Deniz setzte sich neben Knorpel. „Sag mal, haste noch Gras?“

„Ich dachte, hast keine Kohle mehr?“

„Könntest mir ja was abdrücken.“

„Hab nur noch ’ne Notration Punkerplatte.“

„Piece find ich Scheiße.“

„’Nem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul.“

„Bin das letzte Mal davon richtig abgekackt.“ Deniz nahm einen Schluck von dem Bier. „Hab ’nen Trip geschoben.“

„Ich weiß, wo du noch Gras auftreiben kannst.“

„Heute Morgen?“

Knorpel nickte. „Im Verlauf des Vormittags.“

„Wo?“, fragte Deniz neugierig.

„An der FH. Da ist heute so ’ne Art Tag der offenen Tür. Tanky ist dort.“

„Wer ist Tanky?“

„Cool drauf, der Junge. Echt in Ordnung. Verarscht einen nicht. Gute Ware für faire Preise.“

Deniz kratzte sich an der Schläfe. „Weiß nicht genau. Schreib in der zweiten Stunde ’nen Biotest.“

„Haste denn dafür gepaukt?“

„Nee, keinen Bock gehabt.“

„Dann versemmelst du den eh. Kannste auch mit mir zur FH kommen.“

Unterwegs rauchten sie Selbstgedrehte. Knorpel schnorrte sich bei Deniz durch. In Govern konnte er nicht so ungestört in aller Öffentlichkeit rauchen, musste er doch ständig Angst davor haben, von einem heimlichen Verräter an seine Eltern verpfiffen zu werden.

„Weißt du, warum Tanky Tanky heißt?“, fragte Knorpel, kippte den letzten Rest aus seiner Bierflasche mitten auf den Weg und warf sie in einen Abfallkorb.

„Nö, keinen Schimmer. Wieso?“

„Kann viel vertragen. Saufen, tanken, bechern, mein ich. Hat schon Parfüm gesoffen und danach mit ’ner Kettensäge die Bäume im Garten von so ’nem reichen Bankenfuzzi umgenietet.“

„Krass.“

„Hab mich schlapp gelacht, als ich die Story gehört hab.“

Vom Bahnhof bis zum Campus war es kein weiter Fußmarsch. Der Informationstag, der an diesem Freitag von Dozenten und versierten Studenten organisiert wurde, bot Interessierten die Möglichkeit, sich über die hiesigen Studiengebiete schlau zu machen.

Deniz und Knorpel wanderten durch einen wuchtigen, mittelalterlich anmutenden Torbogen. Schülergruppen posierten vor dem Hauptgebäude für Klassenfotos. Einige belagerten Sitzbänke und unterhielten sich.

„Tanky vertickt hier irgendwo sein Zeug“, sagte Knorpel. „Ich werd ihn suchen gehen. Wir treffen uns in einer Dreiviertelstunde wieder hier, okay?“

„Okay.“

Knorpel rotzte ungeniert auf den Boden und schlurfte dann zwischen den Menschenmassen davon. Irgendetwas klimperte laut, sobald er einen Fuß vor den anderen setzte. Deniz sah nur noch den feuerroten Haarkamm, der von einer Clique zur anderen huschte. Knorpel sprach mit Leuten, die Deniz noch nie gesehen hatte oder allenfalls vom Sehen her kannte. Er schaute sich nach einem bekannten Gesicht um. Nach jemandem, mit dem er einen Moment plaudern und die Zeit totschlagen konnte. Einmal war er bereits auf dem Hochschulgelände gewesen, auf einer Sommerparty im vergangenen Jahr – stockbesoffen und total bekifft. Deshalb erinnerte er sich am besten an den Blumenkübel, in den er gekotzt hatte. Jetzt war ihm langweilig und er wünschte sich wieder eine Tüte herbei. Er beschloss, die Gegend zu erkunden. Er streckte die Brust raus und versuchte, seine Schüchternheit zu überspielen. Dann lief er Slalom um die Gruppen und bahnte sich einen Weg ins Foyer des Gebäudes, wo er sich zuerst eine Broschüre besorgte, die Auskunft über Ort und Beginn der zahlreichen Veranstaltungen gab. Sie interessierte ihn nicht wirklich, er wollte nur beschäftigt wirken.

Man gab sich wirklich Mühe. Jeder Studiengang war mit einem Infostand vertreten. Mitarbeiter verteilten allerorts umfangreiches Material zum Mitnehmen. Deniz kämpfte sich durch einen menschenverstopften Korridor zum Hörsaal ZHG 011, was auch immer das bedeutete. In diesem Saal sollte die Veranstaltung zum Thema Landschaftsbau stattfinden. Im überfüllten Saal rempelte ihn versehentlich ein Gleichaltriger an. Deniz fixierte ihn mit bohrendem Blick, der den Jungen derart verschreckte, dass dieser nicht einmal wagte, ein Wort der Entschuldigung auszusprechen. Er zollte Deniz vollen Respekt und wandte sich mit ängstlichem Gesichtsausdruck ab, befürchtete offenbar, sich Kloppe einzufangen.

Was für ein Schlappschwanz.

Der Vortrag über elementare Punkte wie Qualifikationen, Grund- und Hauptstudium und Berufschancen langweilte ihn und irgendwann verließ ihn die Konzentration. Er drängelte sich durch die zuhörende Meute zum Ausgang und forschte draußen auf dem Gang in der Broschüre nach einer Essgelegenheit. Die Zentralmensa hatte geöffnet. Also begab er sich dorthin. Auf der aktuellen Speisekarte standen einige Gerichte zur Auswahl: Schnitzel, Steaks, Gemüsebratlinge und Hähnchenfleisch. Er bestellte Hähnchencrossies mit Currydip, Pommes und Salat. Das Geld dafür konnte er gerade noch so zusammenkratzen. Zum Glück hatte er sich von Knorpel nichts abluchsen lassen.

Mit dem Tablett in der Hand suchte er sich einen Tisch am Rande des Saals aus. Während er sich über das Essen hermachte, überlegte er, warum er die deutsche Küche so öde fand. Dann passierte plötzlich das, was er sich am wenigsten wünschte: Ein ungebetener Knilch setzte sich ohne Aufforderung zu ihm, genau auf den Stuhl gegenüber. Er hatte nicht mal ein Menü dabei. Offensichtlich fand er diese neue Hip-Hop Welle toll, die seit Kurzem von Amerika nach Deutschland herüberschwappte und sich auch hier etablierte. Denn er trug eine dicke Daunenweste und darunter einen braunen Kapuzenpullover, auf dessen Front ein Flugzeugheck abgebildet war. Auf der Seitenflosse befand sich ein Rhombus, in dem Beastie Boys stand. Um seine Beine schlackerte eine breite Jeans. Eine klobige Kette, jedes einzelne Glied so groß wie ein Daumenring, führte von der vorderen Gürtelschlaufe bis zur Gesäßtasche. Damit widersetzte er sich dem vorherrschenden Modetrend. Keiner dieser Hippies mit Stirnbändern, Strassketten, Nietengürteln, roten Karottenjeans und bunten Fönfrisuren nach dem Motto je farbenfroher, desto besser. Auf dem Schulhof hatte Deniz in letzter Zeit häufiger Jungs gesehen, die so herum liefen wie der, der nun vor ihm saß und nicht mal den Rucksack abnahm.

„So viele Mädels, die hier rum laufen, aber keines, das einen vom Hocker reißt, was?“, sagte der Junge und rieb sich an der leicht geröteten Wange unter dem kurz geschnittenen, braunen Haar, das von einem roten Baseballcap im Zaum gehalten wurde. Er trug es verkehrt herum, den Schirm tief in den Nacken gezogen.

„Ja, echt schlimm“, antwortete Deniz gleichgültig und stocherte lustlos mit der Gabel im Salat herum. Das Dressing schmeckte fad. Nergis hätte das um Längen besser hingekriegt.

„Bist du Türke?“

Irritiert sah Deniz zu dem Plagegeist auf und fragte scharf: „Haste ‘n Problem damit?“

„Nein, nein. Rein interessehalber. Bin in der Antifa.“

Deniz blieb stumm und aß.

„Bist kein Freund der großen Worte, oder?“

Deniz fühlte sich belästigt. „Überfällst du immer irgendwelche fremden Leute in der Mensa?“

„Eigentlich nicht.“

„Ausgerechnet heute tust du’s? Mann, hab ich ein Pech.“

„Siehst nicht wie einer aus, der sich überfallen lässt.“

„Laber mich nicht voll.“

Der Kerl wurde nervös. Seine vom Schweiß glänzende Stirn verriet es. Trotzdem hielt ihn irgendwas am Tisch.

„Mir ist aber langweilig“, sagte er.

„Dann geh jemand anderem auf den Senkel. Oder such nach Tussen oder guck dich hier um. Deswegen bist du doch hier?“

„Nein.“

„Wieso dann?“

„Hey, lieber einen Tag an der Uni abhängen als in der Schule. Was ist mit dir? Was willst du hier studieren?“

„Nichts.“

„Wieso bist du dann hier?“

„Was geht dich das an? Vielleicht aus demselben Grund wie du?“

„’Tschuldigung. Bist wohl etwas empfindlich. Dabei hätte ich es beinahe geschafft, dich in ein Gespräch zu verwickeln.“

Zähneknirschend hielt Deniz die Gabel hoch. „Siehst du die hier?“

„Ja …“

„Die ramme ich dir in deinen blöden Arsch, wenn du dich nicht gleich aus dem Staub machst.“

Der Junge hob besänftigend die Hände: „Oho, ich will bestimmt keinen Stress machen.“

„Aber du stresst mich gerade ganz gewaltig!“

„Wo ist deine Klasse?“

Deniz seufzte kapitulierend auf und lehnte sich zurück: „Du bist lästig wie ’ne Scheißhausfliege.“

„Wurde mir schon öfter nachgesagt.“

„Pass auf, du Arschloch“, zischte Deniz eindringlich und fragte sich, warum er so lange auf die Nervensäge reagierte. „Ich bin alleine hier. Ohne Klasse. Ich mache heute blau und werde mir eine Entschuldigung schreiben.“

„Biste denn schon 18?“

„Ich hab gelernt, die Unterschrift meiner Mutter zu fälschen.“ Er fälschte ständig ihre Unterschrift, wenn er nicht zum Unterricht wollte. Immer dann, wenn ihm alles zu viel wurde und ihm nicht der Sinn nach stickigen Klassenräumen stand. Da Nergis Analphabetin war, war sie gar nicht in der Lage, eine Entschuldigung zu schreiben. „Ich sage es jetzt zum letzten Mal: Lass mich in Ruhe und verpiss dich, bevor ich dir die Fresse poliere!“

„Ganz schön aggressiv.“

„Hast du ein Problem mit Türken?“

„Ganz und gar nicht. Ich habe ein Problem damit, wenn sich jemand an einen Vier-Personen-Tisch setzt und denkt, er würde ihm ganz allein gehören.“

Das reichte. Deniz ließ das Besteck klimpernd fallen, fasste die Tischkante und stieß den Tisch mit einem Ruck nach vorn, so dass er heftig gegen den Brustkorb des Plagegeists prallte. Während der Junge sich aufschreiend krümmte, sprang Deniz auf und hob drohend die geballte Faust. „Verschwinde, du Wichser!“

Besorgte Jugendliche, wahrscheinlich Mitschüler, kamen herbeigeeilt und zogen den Jungen vom Tisch weg. Durch den Lärm waren die Mensagäste in unmittelbarer Nähe auf den Zwist aufmerksam geworden und starrten mit unbewegten Kiefern Deniz an. Vereinzelte Gespräche versiegten und alles wurde still. Der Moment schien eine Ewigkeit zu dauern. Er ahnte, welches Vorurteil jetzt wahrscheinlich in ihren Köpfen spukte: War ja klar.Der Türke macht wieder Ärger. Dabei war er es, den man gereizt hatte.

Ein Mädchen, das ein bisschen wie Jodie Foster in Taxi Driver aussah, versuchte die Situation zu schlichten, indem sie die Nervkröte am Arm packte und vom Krisenherd fortschleppte.

„Komm mit, Raphael“, sagte sie mütterlich. „Gehen wir lieber, bevor er richtig ausflippt. Alles in Ordnung mit dir?“

„Alles in Ordnung“, erwiderte Raphael, der etwas unter Schock stand. Als er in der schützenden Masse seiner Mitschüler zum Ausgang eskortiert wurde, drehte er sich noch einmal um und feuerte einen stechenden Blick ab, der Deniz einen kalten Schauer über den Rücken jagte.

Ihm war der Appetit vergangen. Er ließ alles stehen und liegen und lief schnurstracks zum Ausgang, aber er wählte einen anderen, als den, den dieser verfickte Raphael benutzt hatte. Einige Leute schüttelten missbilligend die Köpfe.

Es war ein Umstand, den er schon viele Male in ähnlichen Variationen erlebt hatte: Jemand brachte ihn in eine missliche Lage und er wurde am Ende verachtet, bloß weil er sich dagegen zur Wehr setzte. Wie oft hatte er das allein auf dem Pausenhof mitgemacht? Ein Großmaul machte ihn schräg von der Seite an, er flößte ihm Respekt mit der Faust ein und musste dafür zur Strafe nachsitzen oder den Schulkeller aufräumen.

Was ihn jedoch viel mehr an dieser Situation gestört hatte, war der wissende Blick in Raphaels Augen.

 

„In der Mensa soll’s Ärger gegeben haben“, meinte Knorpel, als sie sich draußen im Beisein eines blassen, spindeldürren Burschen wieder trafen.

„Keine Ahnung“, antwortete Deniz. „Hab nichts mitgekriegt.“

Knorpel klopfte dem Kerl neben sich kumpelhaft auf die Schulter. „Das ist Tanky.“

Das sollte also der Typ sein, der mit einer Kettensäge Bäume im Garten eines reichen Bankenfuzzis umnietete.

Tanky hatte ein schmales Gesicht, das besonders durch die breite Hakennase auffiel. Braune Locken kringelten sich unter der cremefarbenen Tweedmütze hervor, deren Schirm ihm knapp über den buschigen Augenbrauen hing. Die Augenränder waren mit dickem Kajalstift hervorgehoben, was Deniz ziemlich tuntig fand. Er steckte in einer Levis 501 und einem gemusterten Wollpullover, an dem eine dünne Lederkrawatte herab baumelte. Tanky fackelte nicht lange und kam gleich zur Sache.

„Was brauchst du?“, fragte er Deniz.

„Gras.“

„Hab im Moment nur Piece.“

„Knorpel hat gesagt, du hättest gutes Gras.“

„Normalerweise ist das auch so. Aber leider nicht heute.“

„In der Not frisst der Teufel Fliegen.“

„Wie viel?“

„Für ’n Zehner.“

Tanky lachte auf. „Ab 50 aufwärts. Darunter läuft nichts.“

Deniz fragte sich, ob es allein der Einsatz von Kajal war, der ihn an Tankys Blick irritierte. Seine Pupillen waren fingernagelgroß. Dauernd leckte er sich über die Lippen und korrigierte den Sitz seiner Krawatte.

„Bin total abgebrannt“, erwiderte Deniz.

„Ware nur gegen Bares.“

Es schmeckte Deniz gar nicht, dass dieser aufgeblasene Troll so arrogant daherkam und sich obendrein auch noch darüber lustig machte, dass er bloß für eine kleine Summe einkaufen wollte.

„Deniz ist okay“, mischte sich Knorpel aufopfernd in das Gespräch ein. „Dem Jungen kannst du vertrauen.“

„Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste“, sagte Tanky zu Knorpel und wandte sich dann wieder an Deniz. „Wir können auch einen anderen Deal machen. Kennst du noch andere, die was brauchen? Ich kann alles besorgen.“

„Nein, ich kümmere mich nur um mich selbst.“

„Das ist schlecht. Dann kommen wir nicht ins Geschäft.“

„Bitte …“, sagte Deniz, ohne es flehend klingen lassen. Er wollte nicht schon wieder Muskatnuss in der Badewanne rauchen. Im Kopf ging er in Windeseile die Optionen durch, die ihm blieben, um an Geld zu kommen. Besonders gute Ideen fielen ihm nicht ein. Seine Eltern und Geschwister würden ihm niemals Geld leihen, weil sie genau wussten, dass er es ihnen nicht zurückgeben konnte.

„Hast du was, was du mir als Pfand geben kannst? Und ich mein damit nicht irgendwelchen wertlosen Krempel. Das muss schon was Besonderes sein.“

Deniz stellte sich vor, zu Hause in der Mitte seines Zimmers zu stehen und sich umzuschauen. Aber da gab es nichts, was Tanky akzeptiert hätte. Da gab es eben nur wertlosen Krempel.

„Pass auf“, sagte Tanky. „Wenn Knorpel sagt, dass du okay bist, dann glaube ich ihm das. Heute Nachmittag hab ich wieder was im Haus. Treib bis dahin Kohle auf und komm mit Knorpel vorbei. Dann sehen wir weiter.“

Knorpel salutierte vor Tanky wie ein Soldat. „Jawohl, Herr General. Ihr Wunsch sei uns Befehl.“

Tanky nickte versöhnlich. „So machen wir’s. Also bis später.“ Er legte die Kuppen seines Zeige- und Mittelfingers an die Schläfe und machte eine schnelle Winkbewegung mit dem Arm. Dann drehte er sich um und verschwand im Menschengewühl.

„Du hast Tanky gehört“, sagte Knorpel, als er Deniz’ ratlosen Blick bemerkte. „Willst du heut’ noch stoned sein, brauchst du schleunigst einen braunen Schein.“

„Soviel Kohle kann ich niemals auf die Schnelle auftreiben“, seufzte Deniz niedergeschlagen. Das Wochenende lag vor der Tür und er hatte sich sehr aufs Kiffen gefreut. Sein einziger Lichtblick war Burak, sein jüngerer Bruder. Vielleicht hatte der ja noch was auf Lager.

Knorpel drückte mit der Faust sanft sein betrübtes Kinn nach oben. Deniz starrte in das feiste, unrasierte Gesicht. Einige Bartstoppeln waren deutlich länger als die anderen.

„Hey“, sagte Knorpel zuversichtlich, „ich weiß, wie wir’s machen.“

2

Während sie über den Hedershagener Marktplatz stromerten, zählte Deniz seine letzten Pfennige. Er hatte noch genau eine Mark 80 in seinem speckigen Portemonnaie. Ganz wohl fühlte er sich hier in der Öffentlichkeit nicht, denn er wollte keinem seiner Pauker zufällig über den Weg laufen.

„Wo sollen wir denn bitte 50 Mark herkriegen?“, fragte er Knorpel.

„Hör endlich auf zu jammern, du Heulsuse“, antwortete Knorpel. „Wir gehen jetzt einkaufen, ohne dafür zu bezahlen. Haste schon mal was mitgehen lassen?“

„Klar, aber nur Kippen.“

Sie ließen die Eingänge und Drehtüren der großen Kaufhäuser links liegen.

„Hier mein Plan“, sagte Knorpel. „Siehst du den Drogeriemarkt dort drüben?“ Er zeigte auf die Stuckfassade mit dem blauen Schriftzug vom Care-Markt. In den rechtwinkligen grell beleuchteten Schaufenstern hingen Banner, auf denen theatralisch grinsende Gesichter mit Zahnpastalächeln abgebildet waren.

Deniz nickte. „Ja.“

„Also. Wir haben jetzt kurz nach eins. Um eins fängt bei denen die Mittagspause an. Dann sind bloß zwei Verkäuferinnen im Laden. Eine sitzt vorn an der Kasse und die andere geistert hinten herum und passt auf. Meistens ist das die Marktleiterin. Einen Ladendetektiv haben die nicht.“

„Woher weißt du das?“

„Hat mir mal ’ne Freundin erzählt, die da nach der Schule ausgeholfen hat. Die sind zu geizig, um dauerhaft einen einzustellen. Und wenn mal einer da ist, dann sieht man das am Klopapier.“

„Am Klopapier?“

„Ja. Das Büro bei denen hat ein offenes Fenster. Dieses Fenster steht immer frei, außer es ist ein Detektiv im Laden. Dann stellt der Sack das Fenster mit Klopapier voll und lässt sich ein kleines Guckloch, durch das er dann mit seinem Fernglas in die Spiegel guckt. Also: kein Klopapier, kein Ladendetektiv. Ich gehe zuerst rein und sehe nach, ob die Luft rein ist. Wenn ich nach fünf Minuten immer noch da drin bin, kommst du nach und kaufst Kippen.“

„Ich hab nicht genug Kohle für Kippen.“

„Du sollst auch nur so tun, als ob. Du wartest, bis die Kassiererin den Preis eingetippt hat und dann wühlst du in deinem Geldbeutel rum und tust so, als hättest du nicht gewusst, dass du nicht mehr genug Kapital dabei hast. Du sagst, dass du die Schachtel doch nicht kaufen willst. Dann ruft die Kassiererin die Marktleiterin, weil sie die Stornierung bestätigen muss. Während sie vorn beschäftigt ist, kümmere ich mich hinten um alles Weitere. Versuch, sie in ein Gespräch zu verwickeln und die Geschichte etwas hinaus zu zögern.“

„Die haben da drin spanische Spiegel“, warnte Deniz.

„Na und? Es ist niemand da, der hinter ihnen Wache schiebt.“

Deniz grinste boshaft in sich hinein. „Verstehe. Ganz schön clever. Könnte funktionieren.“

„Das hat bis jetzt immer funktioniert.“

„Wie oft hast du die Scheiße denn schon durchgezogen?“

„Drei oder vier Mal. Ich wollt’s nicht übertreiben. Nachher hätten die noch Lunte gerochen.“ Knorpel schaute ihn ernst an. „Traust du dir das zu?“

„Kein Problem.“

Gesagt, getan.

Deniz setzte sich auf eine Bank und beobachtete Knorpel, der gemächlich in den Laden spazierte und wie üblich die Blicke einiger Passanten auf sich zog. Blicke, nach denen er süchtig zu sein schien. Dann schielte Deniz hinauf zur großen Kirchenuhr und wartete. Als Knorpel nach fünf Minuten noch nicht herausgekommen war, deutete er das als Zeichen für seinen eigenen Einsatz und marschierte zielstrebig durch die Tür. Große Angst hatte er nicht, weil er die ganze Zeit nur an das verheißungsvolle Ergebnis dachte. Knorpels dornige Haare hüpften weiter hinten zwischen den Regalreihen in der Kosmetikabteilung auf und ab. Mehr sah man von ihm nicht. Obschon das Bürofenster nicht mit Klopapier zugemauert war, überkamen Deniz plötzlich Zweifel an dem Vorhaben. Vielleicht war es doch keine gute Idee. Wahrscheinlich wunderte es die Marktleiterin, was so eine auffällige Gestalt wie Knorpel ausgerechnet in der Kosmetikabteilung zu suchen hatte. Der wirkte schließlich nicht wie jemand, der sich für Rouge und Lippenstift begeisterte.

Aber kneifen war jetzt nicht mehr drin. Knorpel verließ sich auf ihn. Deniz griff eine Schachtel Zigaretten aus der Stellage neben dem Kassierbereich, legte sie der Kassiererin hin, pulte alle seine Pfennige aus dem Fach und guckte mehrere Male überrascht in das Scheinfach seines Portemonnaies. Dann gestand er der geduldigen Frau, dass sein Geld nicht reichte. Die tat wiederum, was Knorpel prophezeit hatte und rief die Marktleiterin, in dem sie drei Mal auf eine Klingel unter der Kassenlade drückte. Deniz war mit seinen Schauspielkünsten sehr zufrieden.

„Du sprichst sehr gut Deutsch“, lobte ihn die Kassiererin.

„Danke“, antwortete Deniz. „Sie aber auch.“

Für einen Moment dachte er darüber nach, wie er reagieren würde, wenn man Knorpel doch bei seinen Schandtaten erwischte. Würde er zu ihm stehen oder einfach abhauen? Er konnte sich diese Frage nicht beantworten. Und musste es auch nicht, denn zehn Minuten später fanden sie sich in einem Schlupfwinkel hinter der Kirche zusammen und inspizierten ihre Beute, die Knorpel in seinem Rucksack präsentierte. Er grunzte schadenfroh, als wollte er sich im Nachhinein über die stümperhaften Sicherheitsmaßnahmen des Care-Marktes lustig machen. Deniz starrte auf einen wild zusammengewürfelten Haufen Parfümverpackungen.

„Was soll Tanky denn mit soviel Parfüm?“, fragte er verwirrt. „Will er sich damit besaufen?“

„Mann, denk doch mal weiter, als bis zur nächsten Hausecke“, moserte Knorpel. „Wir gehen jetzt zu Jutta und tauschen das Zeug ein.“

„Wer ist Jutta?“

3

Wie sich herausstellte, war Jutta eine von diesen spirituellen Ökotussis. Sie wohnte in einem alten Fachwerkhaus etwas außerhalb vom Stadtkern. Bevor das Gebäude nach und nach von modernen Neubausiedlungen umzingelt wurde, war es ein pittoreskes Domizil allein auf weiter Flur gewesen.

Laut Knorpel war Jutta vor einigen Jahren nach dem plötzlichen Krebstod ihres Mannes auf Pilzen hängen geblieben und glaubte nun, mit den Toten reden zu können. Sie nannte das transzendente Kommunikation mit interdimensionalen Geistwesen. Nicht nur aufgrund dieser göttlichen Gabe, sondern auch wegen ihres schrulligen Lebensstils bestand das Primärziel ihrer Nachbarschaft darin, sie aus der Gemeinschaft zu isolieren.

Jutta hatte ein schmales, faltiges Gesicht und langes, lockiges Haar. Ihr Körper war dünn und ausgemergelt und wenn sie ging, musste Deniz unfreiwillig an eine Marionette denken. Sie trug ein orangefarbenes Batik-Shirt mit abstraktem Linienmuster. Über ihren ausgelatschten Sandalen kräuselten sich die Säume einer weiten Leinenhose.

„Wen hast du denn da mitgebracht?“, fragte sie freudestrahlend, als sie ihnen die Tür öffnete.

Knorpel stellte die beiden einander vor. Jutta hatte einen laschen, kühlen Händedruck. Sie führte die Jungs über knarrende Bohlen durch einen dunklen Flur in ein großes Wohnzimmer. Die Türen waren so niedrig, dass Knorpel sich unter den Zargen bücken musste, damit er nicht mit den Haaren hängen blieb. Es roch ziemlich eigentümlich nach Räucherstäbchen. Tatsächlich glimmte eines in einem Halter aus poliertem Speckstein. Es stand neben einem Schälchen mit Duftöl auf einem rustikalen Holztisch. Der ganze Raum war von künstlichem Vanillegeruch verseucht.

Deniz und Knorpel setzten sich auf ein braunes, geblümtes Ohrensofa, das mit weißen Katzenhaaren übersät war. Die Federung ächzte rebellierend unter ihren Gesäßen. Neugierig schaute Deniz sich um. Auf der Fensterbank brannten Teelichter. An der Wand hingen afrikanische Masken und gerahmte Poster. Eines zeigte Buddha. Ein anderes einen Mann, dessen Schädeldecke aufgeklappt war. Goldenes Licht strahlte aus seinem Gehirn. Unter der Zimmerdecke waren bemalte Ying Yang Laken und Traumfänger mit Reißzwecken befestigt. An dem mit Kerzen bestückten Kronleuchter hatte sich ein imposantes Geflecht aus Spinnweben entfaltet. Deniz fühlte sich ein wenig an ein Hexenhaus erinnert. Für ihn hatte diese ominöse Jutta eindeutig einen Sprung in der Schüssel, aber sie schien ganz nett zu sein. Wie er erfuhr, betrieb sie einen privaten Flohmarkt, mit dem sie in verschiedene Städte reiste und ihren Lebensunterhalt verdiente. Sie war ständig auf der Suche nach altem Plunder, den eigentlich niemand mehr brauchte. Den Reichen gab sie dafür etwas Geld und den Kiffern Süßigkeiten.

„Auch wenn man sein Herz nicht an materielle Dinge hängen soll, wie Friedrich Schiller einst so schön formulierte, denke ich doch, dass alte Gegenstände einen ganz besonderen Reiz besitzen“, sagte sie gerade. „Möchtet ihr Tee? Ich habe frischen Ingwertee im Haus.“

Deniz und Knorpel lehnten dankend ab. Die ganze Wohnung war irgendwie schmuddelig und Deniz mochte nicht aus einer Tasse trinken, die sich in einem ähnlichen Zustand befand wie der fleckige Teppich unter seinen Füßen. Er pflückte Katzenhaare von seinen Hosenbeinen und schnippte sie unter den Tisch.

„Ich muss dich enttäuschen, Jutta“, sagte Knorpel. „Ich hab heute leider nur unnötigen Konsumscheiß für dich.“ Er stellte seinen Rucksack auf den Knien ab, entknotete die Kordel, holte die Ausbeute heraus und reihte sie vor sich an der Tischkante auf. „Das ist Originalware.“

„Wo hast du die her?“ fragte Jutta und winkte im selben Moment ab. „Ach, ich will’s gar nicht wissen.“

„Es werden nur die Reichen beklaut“, antwortete Knorpel und aus seinem Mund klang es selbstverständlich und legitim.

Jutta nahm ein beliebiges Parfüm, drehte es in den Händen und starrte begutachtend durch ihre Lesebrille. „Die werde ich ohne Schwierigkeiten los. Ich gebe dir 150 Mark für alles.“

„150 Mark für alles?“, protestierte Knorpel. „Das Zeug kostet im Laden über 250 Mark!“

„Aber da das Zeug jetzt nicht mehr Teil der legalen Marktwirtschaft ist und ich es verschachern werde, diktiere ich den Markt“, entgegnete Jutta taff. „Akzeptiere mein Angebot oder zieh Leine.“

„Stur wie immer“, sagte Knorpel zähneknirschend.

„Schätzchen, du kennst mich. Ich muss bei diesem Geschäft auch meinen Gewinn machen. Und wenn du nicht verzweifelt Geld brauchen würdest, würdest du nicht freiwillig bei einer alten Spinatwachtel wie mir sitzen, oder?“

„Würde mich interessieren, was dein Mann dazu sagt.“

Jutta schaute zum Fenster und schwieg einige Sekunden, bevor sie meinte: „Er sagt, ich soll mich von dir kleinem Schlitzohr nicht über den Tisch ziehen lassen.“

Deniz folgte ihrem Blick, aber am Fenster stand natürlich niemand. Einerseits fühlte er sich unwohl und wollte schnell von hier fort. Andererseits war er froh über die Erkenntnis, dass es Menschen gab, die verrückter waren als er selbst.

Jutta verschwand aus dem Wohnzimmer und sie hörten ihre Schritte in einen anderen Raum gehen. Kurze Zeit später kam sie zurück und wedelte mit drei Geldscheinen in der Hand. Sie reichte sie Knorpel. „Richte Tanky schöne Grüße aus. Ich nehme an, die Kohle wird bei ihm landen.“

Deniz gaffte auf die Scheine, die Knorpel sich in seine Jackentasche stopfte. Jutta hatte ihm tatsächlich drei Fünfziger gegeben. Irre! Er hätte nicht damit gerechnet, dass es so einfach war, so schnell an Zaster zu kommen.

„Jetzt muss ich euch leider rausschmeißen. Es sei denn, ihr möchtet, dass ich für euch in meine Tarotkarten schaue.“

„Danke nein“, sagte Knorpel. „Ich will nicht wissen, wie dunkel meine Zukunft wird. Aber haste vielleicht noch ein bisschen was zu Kiffen für uns?“

Jutta presste die Lippen aufeinander und schüttelte mit geweiteten Augen den Kopf. „Nein, aber ich kann euch Zauberpilze geben, wenn ihr wollt. Wollt ihr?“ Sie ging zum Fenster und fuchtelte mit den Händen in der Luft herum, als versuchte sie, eine imaginäre Person zu ertasten.

Knorpel wandte sich an Deniz. „Wie ist’s mit dir, Kumpel?“

Deniz nickte, obwohl er Angst davor hatte, Pilze zu schlucken. Natürlich war er neugierig und wollte es gern mal ausprobieren. Allerdings hatte er auf dem Schulhof unschöne Geschichten über Magic Mushrooms gehört. Dort war die Rede von panischen Angstzuständen und üblen Horrortrips gewesen (ein paar übertriebene Schilderungen waren sicher auch darunter), von denen man sich nur mit viel Gras wieder runter bringen konnte. Und letztendlich war auch Jutta ein gutes Beispiel dafür, die Dinger besser nicht anzurühren. Er wollte nicht drauf hängen bleiben und mit den Toten reden. Die Lebenden machten ihm schon Stress genug.

Jutta schlurfte in ihren Sandalen abermals aus dem Raum. Jedes Mal, wenn die Sohlen an die Fersen schlugen, hörte man schmatzende Geräusche. Nebenan rasselte ein Perlenvorhang und eine widerspenstige Schublade wurde fluchend aufgezogen, gefolgt von leisem Rascheln.

„Wir wollen dir nichts abluchsen!“, rief Knorpel und wartete lauschend auf die Antwort.

„Das wäre das erste Mal!“

Einige Minuten später hielt Jutta ihm ein transparentes Tütchen unter die Nase. Es war mit bräunlichen, kelchartigen Gebilden und gewundenen Stängeln gefüllt, die ein wenig wie getrocknete Würmer aussahen.

„Jutta, du bist die Beste“, bedankte sich Knorpel.

Deniz beobachtete, wie er sich das Tütchen in die Innentasche seiner Jacke stopfte. Zum Glück kam er nicht auf die Idee, dass Zeug gleich an Ort und Stelle zu testen.

4

Tanky entpuppte sich als ein absoluter Musikfan, besonders von den Misfits. Der Crimson Ghost, eine totenkopfähnliche Gespensterfratze, die das Markenzeichen der Band war, lachte Deniz von Zimmer- und Schrankwänden an. Das Zimmer roch stark nach abgestandenem, kaltem Rauch, woran der überquellende Aschenbecher auf dem Tisch und die nikotinvergilbten Deckenpaneelen wohl nicht ganz unbeteiligt waren. Der Tisch glich einer Müllhalde, war übersät mit Krümeltabakresten, Zigarettenschachteln, leeren Bierflaschen und schmutzigem Geschirr. Tankys riesiges Regal mit alphabetisch sortierten Schallplatten, die er passenderweise auf einem tollen Plattenspieler abspielen konnte, imponierte da schon mehr. Die nebenstehende HiFi-Anlage sah sündhaft teuer aus. Deniz kannte sich nicht so gut mit den Preisen aus, weil er sich so was eh nicht leisten konnte, aber allein der CD-Player musste mehrere 100 Mark wert sein.

„Was hast du für den hingeblättert?“, fragte er begeistert.

„3.000 Mark“, antwortete Tanky stolz. „Das gute Stück wiegt 18 Kilo.“

Knorpel wischte sich mit dem Handrücken Rotz von der Knollennase. „Willst du dir jetzt alle Platten als CD neu kaufen?“

„Ja sicher“, sagte Tanky und rupfte sich die Mütze vom Lockenkopf. „CDs sind die Zukunft.“ Er ging zum großen Kleiderschrank, öffnete ihn und pfefferte die Mütze lieblos hinein. Dann lockerte er die Krawatte, zog die Schlaufe über den Kopf ab, fummelte den Knoten auseinander und hängte sie sorgsam an einen Bügel. Deniz erhaschte einen Blick in den Schrank, der von oben bis unten mit kunterbunten Klamotten vollgestopft war. Anschließend wühlte Tanky in seiner Bettwäsche herum. Deniz und Knorpel standen mitten im Raum und sahen ihm ratlos dabei zu. Irgendwann wurde Deniz klar, dass er etwas suchte. Schließlich wurde er in der Ritze zwischen Bettkante und Wand fündig und hielt ein langes Ding mit Tasten in der Hand. „Hier ist sie ja!“ Er richtete die Fernbedienung auf den Fernseher, der neben dem Fenster auf einem kleinen Tisch stand und schaltete ihn ein. Es war ein Markengerät, das ein gutes Farbbild lieferte.

Zuhause hatten sie bloß einen alten Schwarz-Weiß-Transistor-Fernsehapparat, bei dem man jedes Mal aufstehen musste, wenn man das Programm wechseln wollte. Selten hatte das Bild eine störfreie Qualität. Wie Deniz feststellte, besaß Tanky auch einen Videorecorder. Zwar hatte Burak auch einen, aber nicht so ein edles Teil wie dieses.

„Ich empfange sogar die privaten Sender“, sagte er stolz und fuhr sich mit der Hand durchs Wuschelhaar.

Knorpel hatte erzählt, dass Tanky noch zur Schule ging und seine Eltern möchtegernreiche Prahler waren. Wie konnte er sich also all die moderne Technik leisten?

Deniz stellte sich vor das Regal, fischte wahllos hier und da eine Platte heraus und studierte Titel und Künstler: Joy Division, The Cure, David Bowie, The Sisters Of Mercy. Wenn Burak nicht da war, hörte er abends oft Musik, die aus einem ausgedienten Radio dudelte. Er hatte viele Lieblingslieder, die er gern häufiger hören würde, aber er wusste oft nicht einmal, wie sie hießen oder welche Interpreten sie sangen.

„Wie kannst du dir das leisten?“, sprach er seinen Gedanken laut aus.

„Ach“, meinte Tanky, „ich hatte keine Lust mehr, ständig meine Alten wegen Kohle anzubetteln, die sie mir sowieso nicht gegeben haben. Also habe ich selbst die Initiative ergriffen und nach einem Weg gesucht, um mir meine Träume zu erfüllen.“

„Du bist ein Genie.“

Tanky schüttelte erhaben den Kopf. „Ich bin vielleicht etwas schlauer als andere, aber ein Genie bin ich ganz bestimmt nicht.“ Er rieb sich die Hände und deutete auf die durchgesessene, fleckige Couch. „Schluss mit dem Geplänkel. Hockt euch hin und lasst uns zum Geschäftlichen kommen. Habt ihr die Kohle organisiert?“

Knorpel popelte in der Nase. „Na logo.“

Tanky rollte einen ramponierten Schreibtischstuhl an die Couch heran. Eines der Räder eierte und quietschte. Der Stuhl wackelte, als er sich setzte. Kaufmännisch ließ er die Daumenkuppe über Zeige- und Mittelfinger kreisen. „Sehr schön. Dann lasst mal rüberwachsen.“

Knorpel angelte die Scheine aus seiner Jackentasche und als Tanky sie auseinanderpflückte, sah Deniz, dass er ihm bloß zwei Fünfziger gegeben hatte.

Tanky nickte zufrieden und meinte anerkennend: „Nicht schlecht, Herr Specht.“ Mit den Füßen gab er Anschwung und schlingerte auf dem Stuhl zum massiven, holzwurmdurchlöcherten Schreibtisch, der aussah, als sei er schon 100 Jahre alt. Er öffnete die linke Tür und warf das Geld in eine deckellose Pappschachtel. Gleich daneben stand ein Schuhkarton, aus dem der Geruch stieg, wegen dem Deniz die Schule geschwänzt, die Kassiererin verarscht und die schrullige Jutta kennengelernt hatte. Das Ziel der ganzen Mühen und Anstrengungen und Zeitaufwendungen. Der Karton war randvoll gefüllt mit abgepackten Grastütchen, einige mit mehr, andere mit weniger grünem Inhalt. Sie schienen nach Füllmenge sortiert zu sein. Deniz bekam ungläubige Stielaugen. So viel Marihuana hatte er noch nie auf einmal gesehen.

Tanky nahm ein Päckchen heraus und schmiss es Knorpel zu. Offenbar fühlte der sich hier wie zuhause, denn er riss es auf, schüttete das Gras auf den Tisch, teilte es in zwei gleich große Haufen auf, nahm dann eine leere Zigarettenschachtel, entfernte das Zellophanpapier, hielt es mit der Öffnung nach oben an die Tischkante und wischte mit dem Finger einen der Haufen hinein. Mit einer Federwaage, die einfach so auf dem Tisch herum lag, überprüfte er das Gewicht. Er hielt Deniz die Waage vors Gesicht und der bestätigte mit einem Nicken, dass er einverstanden war.

„Ich will die Ware testen“, sagte Deniz.

„Hey, mach nicht so einen Aufstand“, antwortete Knorpel.

„Ich mach keinen Aufstand. Ich will mir nicht wieder irgendein gestrecktes Zeug andrehen lassen. Das letzte Mal hatte ich Sand in der Tüte.“

„Bei wem hast du das letzte Mal gekauft?“, fragte Tanky.

„Verrat ich nicht. Geht keinen was an.“

„Ich weiß nicht, bei wem du sonst gekauft hast, aber bei mir passiert das nicht“, entgegnete Tanky ruhig. „Ich haue niemanden übers Ohr. Hat sich auch noch nie jemand beschwert. Gibt nur beste Ware. Die da“, er deutete auf das Zellophantütchen in Deniz‘ Hand, „kommt frisch vom Hamburger Hafen.“

„Darf ich also testen?“

Tanky seufzte und nickte Richtung Tisch. „Kleiner Skeptiker, was? Tu dir keinen Zwang an.“

Während Deniz sich die Utensilien zusammensuchte und aus den üblichen drei Blättchen und einem Filtertip den Joint drehte, schwärmte Knorpel von Tankys pyramidablem Gras, als wolle er einen Werbespot für ihn und seine Geschäftsphilosophie drehen. „Am Ende konnte ich mit einer Gießkanne quatschen!“

Deniz leckte an der Klebefläche des Papers entlang und rang sich ein gezwungenes Lächeln ab. Er mochte es nicht, wenn Leute ihre Drogentrips glorifizierten oder mit ihnen prahlten.

Der Joint war fertig.

„Wer baut, der haut“, sagte Knorpel.

Solange der Joint die Runde machte, unterhielten sich die drei über dieses und jenes, über vergangene Partys, über kommende Partys oder bescheuerte Pauker, doch als die Wirkung einsetzte, versank jeder still und schweigsam in seiner eigenen Welt. Knorpel schlief sogar kurz ein. Tanky schüttelte ihn ruppig an der Schulter und bekundete, dass er auf keinen Fall wollte, dass er bei ihm auf dem Sofa pofte. Deniz lachte, weil er die beiden aus irgendwelchen Gründen urkomisch fand. Sein Blick schweifte durch das Zimmer und er versuchte zu begreifen, wer hier wohnte. Inmitten des Misfits-Bombardements hatten sich auch andere Poster an Tankys Wände verirrt. Auf einem blauen Plakat mit einem orangefarbenen Blatt in der Mitte stand New Order True Faith, wahrscheinlich auch eine Band. Gleich daneben hing eines, das ihn plötzlich an den peinlichen Vorfall in der Mensa heute Morgen erinnerte. Auf dem Poster war das Flugzeugheck mit der Beastie Boys Raute abgebildet. Es war das gleiche Motiv wie auf dem Pullover von diesem Kerl, der ihn schräg angemacht hatte. Wie hieß der noch gleich? Raphael?

Das Gras machte Deniz melancholisch und er fragte sich in einem kurzen Augenblick, in dem er sich selbst gegenüber ehrlich war, warum er die Situation in der Mensa nicht charmant hatte ausklingen lassen. Vielleicht war es eine Chance gewesen, die er nicht genutzt hatte.

Egal.

Vergangen, vergessen.

„Ich geh mal pissen“, sagte Knorpel.

„Aber pinkel nicht wieder neben die Schüssel, wie beim letzten Mal“, mahnte Tanky ihn. „Ich krieg Ärger mit meiner Mutter. Die würde mich sowieso am liebsten auf die Straße setzen.“

„Vielleicht solltest du sie Einen rauchen lassen. Damit sie lockerer wird.“

„Nee, nachher pinkelt sie auch noch im Stehen.“

Als Knorpel aus dem Zimmer verschwand, knirschte und klimperte seine Kleidung mit jedem Schritt. Tanky schaute ihm nach und fast hätte Deniz seiner Mimik entnommen, er habe auf diese Gelegenheit hoffnungsvoll gewartet. Tanky knipste den Fernseher aus und begab sich zum Schallplattenspieler. Eine Platte lag bereits auf dem Teller. Er startete den Motor, schwenkte den Tonarm über die Platte und senkte die Nadel. Leises Knistern floss aus den Holzlautsprechern in den Zimmerecken, gefolgt von einem stampfenden Bass gepaart mit einer sonoren, zurückhaltenden Männerstimme. Danach steckte Tanky sich eine Filterkippe an, setzte sich auf die Couch und rückte ganz nah an Deniz heran. Er hielt ihm die geöffnete Schachtel hin und Deniz klaubte dankend eine Zigarette heraus. Tanky reichte ihm Feuer und meinte beiläufig: „Bist also oft blank.“

„Ja“, antwortete Deniz, der nicht wusste, was er von ihm wollte.

„Hast du Lust, mal mitzukommen?“

„Wohin?“

„In diesem Kaff kannst du richtig Kohle scheffeln. Dann musst du auch nicht mehr mit Knorpel abhängen.“

„Hab nichts gegen ihn.“

„Knorpel ist ein guter Kerl, aber er ist auch ein Verlierer und Bettelbruder. Der wird’s nie im Leben zu was bringen, weil er ständig besoffen am Bahnhof rumlungert. Wie die Penner. Aber du gefällst mir.“

„Ich gefalle dir?“

„Ich glaube, du bist jemand, auf den man zählen kann.“ Tanky stierte ihn mit seinen kajalgeschminkten Augen und winzigen Pupillen an.

„Klar.“

„Verlässliche Leute sind selten. Ich könnte dir jemanden vorstellen, der dir zu sehr viel Geld verhelfen kann.“

„Hm.“

„Mehr als du je in einem beschissenen Beruf verdienen wirst, den du eh nie lernen wolltest. Die wollen dich heutzutage dazu bringen, was zu lernen, was du gar nicht machen willst. Dann arbeitest du dein Leben lang und kannst dir trotzdem nichts leisten. Die wollen dich zum Knecht des Systems machen.“ Tanky legte die Hand auf seine Schulter und Deniz starrte sie an, als sei dort ein lästiges Insekt gelandet. Tanky verstand seinen abfälligen Blick als Drohung und nahm die Hand sofort wieder weg.

„Kenne nicht viele, denen ich was verkaufen könnte“, sagte Deniz und versuchte, sich seine unterschwellige Neugierde nicht anmerken zu lassen. Er wollte sein Leben selber meistern und niemandem etwas schuldig sein. Er wollte nicht irgendwann den Satz hören Wenn ich dir nicht die Kontakte verschafft hätte, dann wärst du jetzt ein armer Schlucker …

„Die wirst du kennenlernen, wenn sich erstmal herumgesprochen hat, dass man exzellente Ware bei dir bekommt. In dieser Stadt gibt es nur wenige Anbieter und meine Wenigkeit ist einer davon.“

„Von wem beziehst du?“

„Das erfährst du, wenn du mit einsteigst. Du hast mich doch vorhin gefragt, wie ich mir den ganzen Schnickschnack hier leisten kann … Jetzt weißt du es. Es ist so einfach. Du musst gar nicht viel dafür tun. Und die Bullen in diesem Nest sind die reinsten Nieten. Die raffen gar nichts. Und Goldlöckchen steckt tief mit drin.“

„Goldlöckchen?“

„Der hiesige Drogenfahnder. Jeder aus der Szene kennt ihn. Man nennt ihn so wegen seinen fettigen, blonden Locken. Er schnupft Koks und erpresst meinen Arbeitgeber. Goldlöckchen lässt ihn und seine Partner ungehindert Geschäfte machen, solange er den Stoff kostenlos von ihm beziehen kann.“

„Ich soll also ins Grasgeschäft einsteigen …“, sagte Deniz, der allmählich Blut leckte.

„Gras wird nicht reichen. Mit chemischen Drogen machst du den ganz großen Reibach. Amphetamine, LSD, Ecstasy.“

„Was zur Hölle ist Ecstasy?“

„Das ist die Droge überhaupt. In den Staaten gibt es sie schon eine Weile und in England ist sie seit kurzem der absolute Renner. Schmeißen sich hauptsächlich Raver und Freaks, die auf Acid House abfahren. Willste mal sehen?“

„Meinetwegen.“

Tanky drückte den glimmenden Stummel zwischen den abgebrannten Artgenossen im Aschenbecher aus, ging erneut zur linken Schreibtischtür und kam mit einem prall gefüllten Tütchen voller bunter Pillen zurück. „Möchtest du eine ausprobieren?“

„Was kostet die?“

„Die gibt’s gratis. Weil du es bist. Nimm am Anfang lieber nur ’ne halbe.“ Er fummelte den Druckverschluss des Tütchens auseinander und pulte eine rosafarbene Pille heraus, die er Deniz in die Handfläche legte. Nebenan hörte man das Rauschen der Toilettenspülung und ein leises Kichern.

„Willst du mein Partner werden?“

Deniz kaute nachdenklich auf der Zunge und sah auf die Pille in seiner Hand herab. „Mein Vater schlägt mich tot, wenn er das rausfindet.“

„Hast also kein Interesse?“

Deniz schüttelte den Kopf. „Nee. Kaufen würd ich gern bei dir. Verkaufen läuft nicht.“ Er war hin und her gerissen und froh, dass Knorpel ihn rechtzeitig vor einer unüberlegten Entscheidung bewahrte.

„Ich kann die Musik sehen!“, rief er, lachte sich schief und presste die Hände gegen den Bauch. „Ich kann die Musik sehen!“ Er hob die Arme über den Kopf und tänzelte spöttisch zum Rhythmus durch den Raum. „Ich mag diesen New Wave Mist nicht.“ Grinsend warf er sich neben Tanky aufs Sofa. Das Päckchen in Tankys Hand schien eine magische Anziehungskraft auf ihn zu haben, denn er ging mit dem Kopf ganz nah heran, als wolle er es auf der Stelle verschlingen. „Ist es das, was ich denke?“

„Es ist das, was du denkst“, antwortete Tanky ein bisschen missmutig. „Es sind Kopfschmerztabletten.“

„Glaub ich dir nicht. Das sind Glückspillen. Krieg ich eine?“

Tanky hielt ihm die andere Hand offen hin.

„Hey“, protestierte Knorpel. „Du weißt, dass ich immer pleite bin!“

„Und du weißt, dass ich nicht die Wohlfahrt bin.“

Deniz schwieg und ärgerte sich über Knorpels Dreistigkeit. Der alberne Schnorrer hatte zuerst von Jutta Pilze erbettelt, dann einen 50er klammheimlich einkassiert und jetzt schmarotzte er auch noch Tanky an. Aber Deniz hielt sich zurück. Er beobachtete seine Sitznachbarn bei ihrem psychologischen Kleinkrieg, aus dem Knorpel mit seinem fachmännischen Selbstmitleidsgetue als eindeutiger Sieger hervorging. Ganz ungeschlagen wollte sich Tanky zum Schluss jedoch nicht geben und verpasste ihm noch einen Hieb: „Verdammt, Knorpel, zieh dir das nächste Mal wenigstens Socken an! Deine Füße stinken widerlich!“

 

„Hat er dich gefragt?“, wollte Knorpel wissen, als sie wenig später draußen über den Gehsteig schlenderten. Die Sonne stand schon tief am Himmel und Deniz hoffte, dass er noch rechtzeitig den letzten Bus am Bahnhof erwischte.

„Was gefragt?“

„Ob er dich dem großen Meister vorstellen soll?“

Deniz zögerte. „Ja, hat er.“

Knorpel war plötzlich nicht mehr so lustig, wie noch vor wenigen Minuten in Tankys Zimmer.

„Mach’s nicht“, sagte er. „Irgendwann überkommt dich die große Gier und dann weißt du nicht mehr, wann Schluss ist.“

5

Hinter dem Fenster wurde es bereits dunkel. Auf der rechten Seite tauchten wieder der verlotterte Rastplatz, die Bauernhausruine, Äcker und Felder und kurz vor dem Governer Ortsschild die Möbelfabrik auf. Deniz hatte den Bus noch auf den letzten Drücker erreicht, aber er hatte rennen müssen. Manche Busfahrer fuhren knallhart los, auch, wenn sie einen Zuspätkommenden noch im Rückspiegel anlaufen sahen. Manchmal spielte auch die Nationalität bei der Barmherzigkeit des Busfahrers eine Rolle, was zumindest Deniz’ Eindruck war. Heute Abend war er der Einzige im Bus und er traute sich deshalb nicht zu rauchen. Der Fahrer, der gerade hinter dem Steuer saß, war Störenfrieden gegenüber besonders mies eingestellt. Der brachte es fertig, ihn auf halber Strecke aus dem Bus zu werfen.

Deniz hatte von Knorpel am Bahnhof seinen ihm zustehenden Beuteanteil eingefordert und – nach widerspenstigem Aufmucken – auch eingestrichen. Von dem Geld wollte er sich Tabak kaufen, da es aber schon weit nach 18 Uhr war, hatten die Geschäfte längst geschlossen und somit musste er gezwungenermaßen für fünf Mark auf Automatenkippen ausweichen. Es würde ein vielversprechender Abend werden, denn er hatte ungefähr fünf Gramm Marihuana in der Tasche. Er brauchte ein gutes Versteck und wollte sich nicht ausmalen, was passierte, wenn sein Vater es irgendwo zufällig entdeckte. Den ganzen Tag hatte er nur wegen der Beschaffung verplempert. Aber was hätte er eigentlich stattdessen gemacht?

Govern war jetzt sein Wohnort, seine Heimat – und doch nicht ganz.

Der Verlust von Heimatgefühl.

Den verspürte auch Deniz. Wo er sich auch aufhielt, er wurde stets als Ausländer betrachtet. In der Türkei, seiner Zweitheimat, war er ein Besucher, ein Ausländer und in Deutschland, der gefühlten wahren Heimat, war er ebenfalls Ausländer. Immer schwang in seiner Empfindung zu seiner eigenen Person ein Hauch von Andersartigkeit mit. Dabei war das ländlich geprägte Weltbild hier in Deutschland nicht wesentlich anders als im tiefen Anatolien. Lediglich die Dimensionen unterschieden sich.

Seine Eltern stammten aus einem Dorf nahe Erzincan, einer Stadt und gleichnamigen Provinz im Osten der Türkei. Sie liegt am Nordufer des Flusses Karasu und hat eine ereignisreiche Vergangenheit. Viele historische Schlachten hatten dort stattgefunden. 1939 wurde sie durch ein verheerendes Erdbeben verwüstet. Eingebettet in einer fruchtbaren Ebene, erlangte sie vor allem durch ihre malerischen Obstgärten und Weinberge sowie der traditionellen Bronzebearbeitung regionalen Bekanntheitsgrad.

Ismail und Nergis kannten sich kaum, als sie 1958 heirateten. In den goldenen 60er Jahren, während des wirtschaftlichen Aufschwungs und als sich Arbeitgeber noch um Arbeitnehmer rissen, siedelte Ismail als sogenannter Gastarbeiter nach Deutschland über, um hier das Geld für seine Familie zu verdienen. Deniz erinnerte sich, dass Ismail bei Familienessen oft über die harte Zeit von damals erzählt hatte und er in den ersten Jahren in Deutschland unter unmenschlichen Bedingungen hauste. So wurde er in einem Heim untergebracht, in dem er sich eine Toilette mit 15 anderen Männern teilen musste. Integrationsarbeit seitens der deutschen Regierung wurde kaum geleistet, da man annahm, die türkischen Arbeiter würden nach wenigen Jahren wieder abreisen. Aber Mitte der 70er Jahre, kurz nach der letzten Gastarbeiterwelle, begannen sie, ihre Familien nach Deutschland zu holen. Deniz war damals noch sehr klein gewesen und Aylin, seine Schwester, noch nicht einmal geboren.

Seitdem hatte sich alles verändert. Inzwischen waren die meisten Türken immigrierte Mitbürger. Genau wie die Familie Arslan, die mit sieben Personen auf engstem Raum in einem maroden Reihenhaus aus dem zweiten Weltkrieg im Albusweg lebte. Es handelte sich dabei um alles andere als eine komfortable Unterkunft. Es war keine Fernwärmeheizung integriert. Gekocht wurde auf einem nostalgischen Holzofen oder mit einem Tauchsieder. Aus den Hähnen floss nicht ein Tropfen Warmwasser. Ein heißes Bad war nur möglich, wenn der nebenstehende Kupferkessel ausreichend befeuert wurde. Er war an den Kamin angeschlossen, damit der Rauch abziehen konnte. Nergis hatte drei Badetage in der Woche festgelegt, um warmes Wasser zu sparen. Als Kinder wurden Deniz und Burak häufig zusammen in die Wanne gesteckt. Wer als Letzter dran kam, hatte das Vergnügen, in abgekühltem Wasser zu baden. Adem, Deniz’ älterer Bruder, konnte ein Lied davon singen.

Die brüchige Wand im Wohnzimmer schien nur noch von den fünf Tapetenlagen zusammengehalten zu werden. Täglich hörte man Lehm abbröckeln. Im Laufe der Zeit hatte sich soviel Schutt hinter der Tapete angesammelt, dass sie sich inzwischen eindrucksvoll nach außen wölbte und Tag für Tag weiter anschwoll. Adem und Burak nannten sie scherzhaft die schwangere Wand.

Nergis machte ihrem Unbehagen darüber Luft, in dem sie ständig erwähnte, sie fühle sich wie ein Tier, das man in einen Käfig pferchte. Doch am meisten versetzte sie der Schweinestall von Bauer Kümmel in Rage. Der grenzte nämlich direkt an die hintere Hauswand. Die Wände waren so schlecht gedämmt, dass man das Schweinegegrunze durch sie hindurch hörte. Der permanente Dunggestank, der in alle Stoffe kroch, gehörte schon zum Alltag.

Die Nachbarschaft bestand hauptsächlich aus Italienern, Portugiesen und Türken, mit denen sie gelegentlich Grillfeste veranstalteten. Die Arslans verstanden sich prima mit ihnen, weil sie in vielen Punkten dieselben Lebenserfahrungen teilten. Kontakte zu Deutschen waren seltener, weshalb am Sonntagsstammtisch in der Dorfkneipe auch höhnisch vom Governer Ghetto oder Kleinistanbul gesprochen wurde. Bauer Kümmel, einer der wenigen unliebsamen Nachbarn, verbreitete die Gerüchte, im Haus der Arslans wimmele es vor Ungeziefer und alles sei schimmelig. Natürlich war er nie innerhalb ihrer Mauern gewesen. Die weniger kontaktscheuen Leute wussten natürlich, dass es sich dabei lediglich um Ressentiments handelte und insbesondere Nergis die Wohnung stets sauber hielt, auch, wenn es eine Bruchbude war. Ihre Kinder hatten mit einer Standpauke zu rechnen, falls sie vergaßen, sich die Schuhe im Flur auszuziehen.

Ismail weigerte sich, in die Grundsanierung des Gebäudes zu investieren, da Adem Nachwuchs erwartete und das endgültig ein guter Grund zu sein schien, eine bessere Immobilie im Ort zu kaufen. Außerdem wollte Nergis endlich einen größeren Gemüsegarten bewirtschaften als den erdigen Fleck, mit dem sie sich bisher begnügen musste. Als Ismail die Entscheidung bekannt gab, sich in den nächsten Monaten nach einem neuen Eigenheim umzusehen, war sie sofort Feuer und Flamme.

Deniz ging über den aufgeplatzten Hof zur Haustür und klingelte. Seine Mutter öffnete sofort, als habe sie hinter dem Fenster auf seine Ankunft gelauert. Er nahm sanft ihre Hand, führte sie bei sich an Kinn und Stirn und küsste sie anschließend links und rechts an die Wange, wobei seine Lippen nicht ihre Haut berührten. „Selamun Aleykum“, begrüßte er sie und hoffte, dass sie nicht den Nikotingeruch an ihm witterte.

„Wo bist du gewesen?“, fragte sie. Ihr Deutsch war so brüchig, dass man es nur schwer verstand. Manchmal machten sich Deniz und Burak heimlich über ihre schlechte Aussprache lustig.

Deniz fungierte bei Einkäufen häufig als Dolmetscher. Er hatte Deutsch fehlerfrei in der Schule gelernt, und das besser, als manch einer seiner deutschen Mitschüler. Wenn Nergis ihn am Ende eines Tages ausquetschte, fühlte er sich immer wie bei einem Polizeiverhör. Er streifte die Schuhe auf der abgewetzten Fußmatte ab und flitzte ohne eine Antwort an ihr vorbei in sein winziges Zimmer, das er sich mit Burak teilte. Dort schleuderte er den Rucksack in die Ecke und warf sich mit dem Bauch auf das Bett. Die Matratze krächzte geräuschvoll und für einen Augenblick hoffte er, dass eine alte Stahlfeder den Stoff durchstieß und sich direkt in sein Herz bohrte. Er vergrub weinend den Kopf im Kissen und verkrallte die Finger im Laken. Er kannte den Grund, der ihn so traurig machte, sehr gut, aber er wollte unter keinen Umständen an ihn denken. Seine Zukunft war eine quälende Illusion, ein zur Leere verpuffender Traum. Sein Leben war bereits verplant. Viele Möglichkeiten zur freien Entfaltung blieben ihm da nicht mehr. Sie sprachen ihn zwar noch nicht offen darauf an, aber er hatte miterlebt, wie es bei seinen Cousins und Cousinen lief. Früher oder später würden Ismail und Nergis mit ihm über Heirat und den Beruf in der ortsansässigen, international renommierten Möbelfabrik reden. Ismail und Adem arbeiteten dort, er sollte dort arbeiten und auch Burak würde es eines Tages tun.

Wenn der Marihuanarausch nachließ, überwältigten ihn oft diese Ängste.

Irgendwann schlief er ein, bis seine Mutter ihn zum Abendessen rief. Deniz lehnte ab. Er hatte keinen Appetit. Trotzdem fühlte er sich etwas besser.

„Sen kahvaltıdan sonra birşeyler yedinmi?“, fragte Nergis. Hast du seit dem Frühstück überhaupt schon was gegessen?

„Evet!“ Ja.

„Ne?“ Was?

Er wechselte ins Deutsche, weil er wusste, dass es sie ärgerte, wenn sie ihn nicht lückenlos verstand. „Ist doch scheißegal.“ Seine Stimme klang dumpf im Kissen.

„Ne?“ Sie konnte sehr hartnäckig sein.

„Ist doch egal.“

„Neden benimle doğru düzgün konuşmiyorsun?“ Warum sprichst du nicht vernünftig mit mir?

„Ich spreche vernünftig. Ich habe bei Selver gegessen.“

Nergis war zwar nicht zufrieden mit der Antwort, wusste aber wohl, dass aus ihm gerade ihre vererbte Sturheit sprach. Sie legte den Kopf schief. „Bütün gün neredeydin? Merakettim!“ Wo bist du den ganzen Tag gewesen? Ich habe mir Sorgen gemacht!

„Ich habe mit Selver für eine Klassenarbeit geübt.“

Selver war sein Kumpel oder besser gesagt ein Mitschüler, der ihm Freundschaft vorheuchelte und dafür morgens vor dem Unterricht die Hausaufgaben abschreiben wollte, wenn Deniz sie denn selbst gemacht hatte. Deniz duldete das. Er fand geheuchelte Gesellschaft erträglicher als gar keine.

„Neden aramadın?“ Warum hast du nicht angerufen?

„War grad keine Telefonzelle in der Nähe.“

Wenn sie seine Antworten nicht verstand, übersetzte er sie nachträglich auf Türkisch. Sie ließ nicht locker und fragte, wo sich Burak herumtrieb.

„Woher soll ich das wissen?“, erwiderte Deniz genervt. „Hab ihn seit heute morgen nicht gesehen.“

„Anlamadım.“ Das habe ich nicht verstanden.

„Dein Problem.“

„Neden bana böyle davraniyorsun?“ Warum behandelst du mich so?

Deniz drehte den Kopf zur Seite. „Defol!“ Verschwinde!

Nergis ging ein paar Schritte auf ihn zu und machte eine verwirrte Miene, als habe sie eine Entdeckung skeptisch gemacht. „Sen ağladinmi?“ Hast du geweint?

„Defol! Lass mich in Ruhe!“

In Nergis’ Augen wütete ein innerer Konflikt. Entweder ließ sie ihn jetzt allein oder sie bohrte so lange nach, bis er richtig ausfallend wurde und sie ihn mit einer Ohrfeige zur Räson brachte. Aber sie ließ sich nicht provozieren, verließ das Zimmer und schlug verärgert die Tür hinter sich zu.

Später trottete Deniz ins Wohnzimmer, weil er seinen Eltern gute Nacht wünschen wollte. Er setzte sich auf das Sofa und schaute ein paar Minuten mit ihnen fern. Auf diese Weise ging er auf Nummer sicher, dass sie ihn nicht mehr überraschend auf dem Zimmer belästigten. Ismail schwieg die ganze Zeit über, was kein gutes Zeichen war. In den Spätnachrichten wurde über eine blutige Flugzeugentführung mit vielen Toten und Verletzten in Russland berichtet. Programmauswahl hatten sie kaum, gerade drei Sender empfingen sie mit ihrer einfachen Antenne. Im Ort gab es lediglich eine Familie, die einen speziellen Receiver besaß, mit dem man auch türkische Programme empfing.

Die Meldungen des Tages rauschten an Deniz vorbei. Er wartete, bis Ismail und Nergis ins Bett gegangen waren, schlich dann aufs Zimmer und schloss leise die Tür hinter sich zu. Das letzte bisschen Privatsphäre, die ihm und Burak vergönnt war.

Aus der klapprigen Kommode, die zwischen den Kopfenden der beiden Betten stand und deren Rückwand sich nur noch an zwei Nägeln festkrallte, kramte er ein rundes, abgewetztes Schneidebrett, ein Wiegemesser und eine Glasbong hervor. Auf der Innenwand hatte sich im Lauf der Zeit ein brauner Schmierfilm aus THC-Rückständen gebildet. Ein kleines Häufchen, ein Gemisch aus Piece und Tabak, lag noch vorbereitet auf dem Brett. Dort lag es schon länger, denn es hatten sich bereits Staubpartikel darauf abgesetzt. Wahrscheinlich war Burak eingeschlafen, bevor er dazu kam, alles wegzurauchen.

Deniz bereitete mit dem Wiegemesser eine neue Mischung aus seinem eigenen Gras zu, das er aus dem Zellophantütchen kippte. Den Tabak entnahm er einer aufgerissenen Filterkippe. Anschließend schraubte er den Kopf vom Chillum, einem kleinen Rohr, das sich schräg außerhalb der Bong befand, klopfte die Asche heraus und kratzte ihn mit einem abgekauten Bleistift sauber. Dann steckte er ihn wieder auf das Chillum und befüllte ihn mit der frischen Mischung. Das Wasser im Innenraum roch schon leicht faulig, aber er wagte nicht, es jetzt im Badezimmer auszuwechseln oder Wasser in einem Glas aus der Küche zu holen. Er öffnete behutsam das Fenster. Von draußen wehte kalter Wind herein, aber der Rauch musste unbedingt abziehen. Er hasste die frostigen, dunklen Wintermonate mit ihren endlos langen Nächten. Zum Glück war es schon Mitte März und die Tage wurden allmählich länger. Deniz roch in der Luft, dass bald alles aus dem Winterschlaf erwachen würde.