Denn du bist mein - Gillian White - E-Book
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Denn du bist mein E-Book

Gillian White

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Beschreibung

Unzertrennliche Freundinnen oder gefährliche Feindinnen? Spannung pur: „Denn du bist mein“ von Bestsellerautorin Gillian White als eBook bei dotbooks. Spannung aus England: „Mörderin – als diese wird mich die Gesellschaft in Erinnerung behalten. Und all die kleinen Erfolge, die ich mühsam errungen habe, werden vergessen sein.“ Jennie ist überglücklich, als sie die sympathische Nachbarsfamilie kennenlernt. Nicht nur die Kinder freunden sich schnell untereinander an, sondern auch die beiden Frauen. Jennie bewundert die lebenslustige Martha und weicht bald keinen Schritt mehr von ihrer Seite. Doch dann geht Martha ihr plötzlich aus dem Weg. Jennie ist fassungslos und nicht bereit, kampflos diese Freundschaft aufzugeben. Ein lebensgefährliches Spiel beginnt … Von der Autorin des Bestsellers „Das Ginsterhaus“: „Ein unheimlicher Spannungsroman mit einem geradezu nervenzerreißenden Schluss.“ Booklist Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der Psycho-Thriller „Denn du bist mein“ von Gillian White wird Fans von Joy Fielding und Mary Higgins Clark Gänsehaut bescheren. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 564

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Über dieses Buch:

„Mörderin – als diese wird mich die Gesellschaft in Erinnerung behalten. Und all die kleinen Erfolge, die ich mühsam errungen habe, werden vergessen sein.“

Jennie ist überglücklich, als sie die sympathische Nachbarsfamilie kennenlernt. Nicht nur die Kinder freunden sich schnell untereinander an, sondern auch die beiden Frauen. Jennie bewundert die lebenslustige Martha und weicht bald keinen Schritt mehr von ihrer Seite. Doch dann geht Martha ihr plötzlich aus dem Weg. Jennie ist fassungslos und nicht bereit, kampflos diese Freundschaft aufzugeben. Ein lebensgefährliches Spiel beginnt …

Über die Autorin:

Gillian White wurde 1945 in Liverpool geboren und arbeitete mehrere Jahre als Journalistin, bevor sie sich ganz dem Schreiben von Romanen widmete. Mit ihrem Mann und zwei Hunden lebt sie in Totnes, Devon. Gillian White hat zahlreiche Romane veröffentlicht, darunter vier, die sehr erfolgreich vom britischen Fernsehen verfilmt wurden.

Gillian White veröffentliche bei dotbooks bereits Das Ginsterhaus und Hexenwiege.

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eBook-Neuausgabe März 2024, August 2016

Die englische Originalausgabe erschien erstmals 2003 unter dem Originaltitel »Copycat« bei Bantman Press, Transworld Publishers, London. Die deutsche Erstausgabe erschien 2003 bei Goldmann.

Copyright © der englischen Originalausgabe 2003 Gillian White

Copyright © der deutschen Erstausgabe 2003 Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Copyright © der Neuausgabe 2016 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Walencienne und AdobeStock/Mykhaylo

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (lj)

ISBN 978-3-95824-644-7

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Gillian White

Denn du bist mein

Roman

Aus dem Englischen von Isabella Bruckmaier

dotbooks.

Prolog

Merkwürdig, wie manche Bezeichnungen an einem hängen bleiben und alles andere in den Hintergrund drängen. »Mörderin« – als diese wird die Gesellschaft mich in Erinnerung behalten, wenn ich nicht mehr bin, und all die kleinen Erfolge, die ich mühsam errungen habe, werden vergessen sein. Als hätte es »das brave Mädchen« und die »Ehefrau und Mutter« nie gegeben. Und dabei habe ich mich so danach gesehnt, alles richtig zu machen. »Mörderin« (um wie vieles schlimmer sich das anhört als Mörder) genannt zu werden, lässt alles verblassen, was ich je in meinem Leben erreichte. »Premierministerin« bliebe sicher jedem auf Anhieb in Erinnerung, würde jedoch die tiefere Wahrheit »böse, gestört und rücksichtslos« nur oberflächlich übertünchen.

Hier ruht die Mörderin. Name, Alter, Familienstand, wen würde das schon interessieren?

Geschähe ein Wunder und ich bekäme den Nobelpreis, so stünde das auf meinem Grabstein an zweiter Stelle. Würde vielleicht nicht einmal erwähnt.

Ich sollte dankbar sein, sage ich mir wieder und wieder, wenn ich mein Leben nach positiven Aspekten durchforste – Gedanken an meine Kinder verbiete ich mir, sie sind auf die Dauer zu schmerzhaft. Aber ich sollte dankbar sein, wenn ich an Ruth Ellis denke, die letzte Frau, die in Britannien hingerichtet wurde, und an die wenigen Jahre, die zwischen ihrem Verbrechen und meinem liegen – beides Verbrechen aus Leidenschaft. Und als sie sich von ihrem Kind verabschiedete, wusste sie, dass es ein Abschied für immer war. Mir bleibt zumindest die winzige Hoffnung, dass ich eines Tages wieder mit meinen Kindern vereint sein könnte.

Andere Frauen in dieser offenen Strafanstalt reden von nichts anderem als von ihren Kindern und ihren Männern. Sie haben deren Fotos in ihren Zimmern. (Ja, wir haben Zimmer, keine Zellen, obwohl wir selbstverständlich nachts eingesperrt sind. Die fehlenden Gitterstäbe sind genauso eine Illusion wie die Blumen, die wir pflanzen und die auf ein Leben verweisen, das vorbei ist und nie mehr so sein kann, wie es einmal war.) Über meinem Bett hängt auch ein Foto, doch bis jetzt habe ich es nicht übers Herz gebracht, es anzusehen.

Was mich an den anderen Frauen stört, sind die Männer, die sie sich ausgesucht haben. Die meisten hier haben mit ihrem Mann zugleich ihren Untergang gewählt … doch sie sind wie besessen von diesen Monstern, und was Besessenheit angeht, bin ich eine Expertin. Ich erteile niemandem Ratschläge und will auch keine hören. Aber es tut mir Leid, eine Mörderin zu sein. O ja, glauben Sie mir, ich bereue es jede Sekunde.

Man hat es nicht leicht, wenn man intelligenter ist als die Wärter hier. Sie kriegen es mit und es gefällt ihnen nicht. Deshalb bemühe ich mich meistens darum, ordinär und dumm zu wirken. Hier drinnen muss man sich an die Mehrheit anpassen, und die Mehrheit wird immer jünger, gewalttätiger und aggressiver. Drogen überall und die Messer sitzen locker. Ich versuche mich da rauszuhalten, angepasst und brav zu sein, ohne als feige zu gelten.

Es heißt, das Leben sei ein Traum. Wie schön das wäre. Dann hätte ich niemanden umgebracht, hätte nicht die Zukunft meiner Kinder zerstört, indem ich ihnen die Mutter nahm und sie für immer mit meiner schrecklichen Tat in Verbindung brachte. Angenommen, mein ganzes Leben wäre nur eine Art unruhiger Traum gewesen, meist eher dröge, aber manchmal unruhig bis hin zu richtig albtraumhaften Phasen? Was ich getan habe, scheine ich im Traum getan zu haben, so viel ist sicher. Und die Person, die ich tötete, scheint einem bösen Traum entsprungen.

Die Obsession, die sie und mich erfasste, ist ein eigenartiges Phänomen, ein chemischer Prozess. Die »Liebe« tauchte ganz plötzlich auf wie eine Hexe auf ihrem Besen, eine ganz eigene Macht, eine Bedrohung. Eine solche Anziehung lässt Millionen von Atomen aufeinanderprallen, Lichtfunken im Blutstrom setzen die Nerven, das Herz und das Hirn, den Brustkorb und den Bauch in Brand, jedes Gefühl des Entzückens und der überschäumenden Freude bedeutet gleichzeitig entsetzlichen Schmerz.

Auf den jahrelangen Stress dieser Obsession folgte ein verzweifeltes Verlangen, ein geradezu körperliches Bedürfnis, Erlösung zu finden von dieser Anspannung. Ein Verlangen, das zu heftig war, um es einfach wegzuwischen. Sie schien beinahe unsichtbar zu sein, als ich mich ihr damals im Garten zum letzten, verhängnisvollen Mal näherte. Sie war ich, jedoch seltsam formlos, nicht fassbar. Das Summen der Insekten war laut, und in dieser glühenden Hitze stand die ganze Welt still, als wäre sie verzaubert.

Auf leisen Sohlen trieb mich der Schmerz zu ihr. Sie sah mich kommen, sie sah die Decke, schlug die Augen auf und runzelte die Stirn. Dann blickte sie mich angewidert an und brach in Lachen aus. Statt zu weinen, lacht sie, wenn sie verletzt ist, ich kenne das bei ihr. Sie saß da und sah zu, als ich näher kam, das Gesicht versteinert, die Augen weit aufgerissen. Ihr Vertrauen war unerschütterlich. Ich ertrug ihre Nähe nicht länger.

In diesem Augenblick, als sie sich wegdrehte, konnte ich den Schnitt setzen.

In diesem Augenblick trat Angst in ihren Blick, und in den Sonnensprengseln, die über ihre Schulter fielen, tanzten eine Million Staubpartikel.

Nun ist sie von uns gegangen, und von mir ist auch nicht mehr viel übrig. Hier ein Stück, da ein Stück, so weit verstreut, dass man Zeit braucht, die einzelnen Teile aufzuspüren.

Nun kann mir nichts mehr zustoßen, und darüber bin ich froh.

Kapitel 1 JENNIE

Kann man sie hören?

***

Als ich vorhin durch meinen Garten ging, glaubte ich, Lachen zu hören – nein, ich hörte es wirklich, ich bin ja nicht taub. Kollektiver Hass. Verwünschungen. Disteln und Unkraut ersticken meine Rosen unter diesem klaren blauen Himmelsbogen.

Es ist, wie der Sprecher nicht aufhört, mir zu erklären, genau sechs Uhr, und montags und donnerstags verließ ich mein Haus um sechs Uhr durch die Hintertür, lief zum rückwärtigen Zaun, um in einer Umkehr des ganzen Procedere Marthas Küche aufzusuchen. Dieses Ritual war so tief in mir verwurzelt, dass es schon an Schlafwandeln grenzte. Ich tapste voran wie ein Kind beim Blindekuhspiel, mit ausgestreckten Armen, ein Junkie auf dem Weg, seine Sucht zu befriedigen. Wie unsäglich erbärmlich und dumm.

***

Doch Marthas Küche war warm und so einladend wie selbst gemachte Kekse auf blauweißen Porzellantellern, und ich fand sie so unwiderstehlich wie eine wohlige Erinnerung – an Kindheitserzählungen oder Märchen. Sie hatte ein Händchen für so vieles, wofür mir das Geschick ganz und gar fehlte. Martha pflückte die Blumen büschelweise und steckte sie in braune Krüge, während ich meine langsam und sorgfältig schnitt und so niemals diese spontane Wirkung erzielte. Künstlich und kalt sahen diese Sträuße in meinen Porzellanvasen aus, wie Blumen aus Glas.

Und jetzt, da ich nicht mehr dorthin gehen kann, komme ich mir vor wie verlassen.

Mir bleibt nichts übrig als stillzustehen und zwischen meinen Vorhängen hindurchzulugen, bis meine Augen schmerzen, und das tut so weh, so verdammt weh.

In der Schule erging es mir schon einmal so. Heutzutage gibt es Schulpsychologen, um Derartiges zu verhindern. Doch wenn ich heute auf diese längst verflossenen Zeiten zurückblicke, erscheint es mir nur als böser Traum. Gott steh mir bei, das hier ist die Wirklichkeit.

***

Wie ich mich auf diese Stunden freute, auf sechs Uhr montags und donnerstags. Es ließ sich nicht mit Grahams Rückkehr vergleichen, es war nicht das Signal für hektische Aktivitäten – ich musste nicht nachsehen, ob die Kinder frisch angezogen waren, und schnell das Essen in den Backofen schieben, die Spielsachen vom Wohnzimmerboden einsammeln, damit Graham nicht Gefahr lief, auf ein Stück von Fisher Price zu treten.

Nein, wenn Martha von der Arbeit nach Hause kam, wurde in guter alter Schlampenmanier zuerst die Sherryflasche auf den Tisch gestellt. Die Schuhe flogen in die Ecke und die Ereignisse des Tages wurden durchgekaut, zusammen mit ein paar alten Twiglets, die sie, wenn sie Glück hatte, in ihrer verrosteten alten Dose fand. Und dabei rieb sie sich die ganze Zeit die Blasen an ihren Fersen.

Ich habe nie derartig abgetretene Dr.-Scholl’s-Latschen gesehen wie ihre. Ihre Füße waren an den Sohlen ganz weiß und so rissig wie ein abgenagtes Holzscheit.

»Ich will jetzt meine Ruhe haben, ihr Nervensägen«, brüllte Martha ihre Kinder an, drahtige, braun gebrannte Wesen mit neugierigen Augen, die sich durch die Ausbrüche ihrer Mutter nicht aus der Fassung bringen ließen. Kleine Orang-Utans, nicht annähernd so sensibel wie meine Poppy und mein Josh. »Die alte Mutter Frazer hat den ganzen Tag schwer geschuftet, um Kleinholz ranzuschaffen, und braucht jetzt etwas Zeit, um sich zu erholen.«

Montags und donnerstags. Seit Martha an diesen zwei Tagen in der Woche arbeitete, war ich auf die halbe Stunde am Abend angewiesen. Dann war ich glücklich, denn in diesen ersten Jahren stand mir Martha näher als jeder andere Mensch in meinem Leben.

Sie hatte immer damit gedroht, so bald wie möglich wieder zu arbeiten anzufangen. Aber aus irgendeinem Grund, vielleicht war es Selbstschutz, hatte ich es ihr nie so richtig geglaubt. Wahrscheinlich dachte ich, dass sie unsere gemeinsam verbrachten langsam verstreichenden Tage, die oft so ausgelassen sein konnten, ebenso genoss wie ich und daher genauso abgeneigt war, den Status quo zu ändern.

Wie dumm von mir.

»Ich bin eine Frau ohne Lebensinhalt«, jammerte sie. »Krakeelende Kinder, Katzen, Karotten, Kartoffeln, Klamotten. Das ist mein Leben. Sobald diese Schratzen in den Kindergarten gehen, bin ich hier weg.«

Als stehe ein Unglück bevor. Ich pflegte darauf zu erwidern: »Ja, das wäre nett. Vor allem wegen des Geldes.« Aber das meinte ich nie so. Und außerdem hatten wir Glück, Graham verdiente genug, ohne dass ich etwas dazu beitragen musste.

Martha und Sam nannten ihr Haus Beavers, nach Sams Großvater, einem großen Tier in der Navy. Und niemand machte sich darüber lustig. Graham und mir wäre das nie gelungen.

Die Montage und die Donnerstage.

Aus Martha sprudelte es nur so heraus, sie redete mit beiden Händen zugleich, während ich ihr mit offenem Mund zuhörte wie ein Popcorn essendes Kind im Kino und jedes ihrer Worte einsog. Mit ihrer heiseren, rauchigen Stimme gab sie eine farbige, verführerische Vorstellung und ging die Belanglosigkeiten ihres Tages durch.

Sie kannte natürlich meine Biographie. Mein Leben war völlig uninteressant. Deshalb wunderte mich immer wieder, dass Martha mich zu mögen schien. Einmal fragte ich sie nach dem Grund dafür. Zuerst meinte sie, sie könne es nicht sagen, und dann gab sie zu, es könne sein, dass ich ihr damals, als wir uns kennenlernten, Leid getan habe. Ich hätte so verletzlich und mitleiderregend ausgesehen, als ich mich durch den Krankenhauskorridor schleppte, nachdem ich genäht worden war. So ängstlich und verschreckt. Als ich verzweifelt versuchte, mich nicht von diesen herrischen Schwestern und Hebammen herumkommandieren zu lassen. Von dieser Zeit weiß ich nur noch, dass ich so viel lachen musste, dass meine Narbe schmerzte, und wie schockiert ich war, wie weit Martha ging, um eine Zigarette zu rauchen.

Wer raucht, heißt es, bekommt ein kleines Baby.

»Lieber Gott, wer will schon ein großes Baby?«, war alles, was Martha dazu sagte. »Dicke schwabbelige Dinger wie während des Kriegs. Das kann nicht gesund sein.«

Die Hebamme, mit einem Gesicht wie ein Kartoffelacker, sagte zu Martha: »Sie sind eine ausgesprochen ordinäre und selbstsüchtige junge Frau.« Und das ganze Zimmer brach in lautes Gelächter aus, denn wir waren alle gut drauf.

***

Als sie wieder zu arbeiten anfing, hielt ich ihr den Rücken frei. Waren Scarlet oder Lawrence zu krank, um in die Schule zu gehen, reichte sie sie mir einfach über den Zaun, noch immer bettwarm und im Pyjama, wie eine Kostprobe eines neuen Rezepts.

Gott, wie ich diese Kinder liebte.

Wunderschön, ohne sich dessen bewusst zu sein. Genau wie ihre Mutter.

Ich verachtete mich selbst, weil ich so illoyal gegenüber meinen eigenen Kindern war und mir wünschte, sie wären mehr wie ihre. Pflegeleicht und entspannt. Sie jammerten nicht endlos, wenn sie mal hingefallen waren oder sich gestritten hatten. Sie nölten nicht ständig, um ihre Aufmerksamkeit zu bekommen. Weil sie wussten, dass das ohnehin nur Zeitverschwendung wäre. Dennoch hatten sie nicht den geringsten Zweifel an der Liebe ihrer Mutter.

Widerstrebte mir damals diese Rolle? Sie hielt mir das vor, deshalb habe ich mir diese Frage immer wieder gestellt. Aber die einzige Antwort, die ich darauf geben kann: Falls sie mir widerstrebte, war ich mir dessen nicht bewusst.

Ich sollte ehrlich sein. Was mir missfiel, war, dass Martha wieder arbeiten ging. Auch wenn sie mich gewarnt hatte. War ich Martha nicht genug? Warum nicht? Hatten wir etwa keine gute Zeit? Was vermisste sie? Ich konnte nachfühlen, dass sie Angst hatte, verrückt zu werden, wenn sie zu Hause blieb. So wie Sam mit ihr umsprang. Sie war darauf angewiesen, unabhängiger zu werden, das sah ich ein. Ich passte auf ihre Kinder auf, wenn sie ein Vorstellungsgespräch hatte, obwohl die meisten Jobs ungeeignet für sie waren – Kummerkastentante bei Marie – und insgeheim freute ich mich, wenn sie eine Absage erhielt.

»Aber Martha, du hast gar nicht die Zeit zu arbeiten«, war meine Standardantwort nach jeder Absage, um es ihr leichter zu machen.

»Ich brauche andere Menschen um mich herum. Ohne Anerkennung habe ich das Gefühl, ich geh kaputt. Du hast Glück, Jennie, du bist weitaus genügsamer als ich. Du brauchst niemanden.«

Dabei wusste sie, wie sehr ich sie brauchte, und das war Teil des Problems.

Wir waren ehrlich zueinander. Zwischen uns gab es keine Rivalität.

Allerdings hatte Martha Recht, wenn sie sagte, ich sei mit ein paar engen Beziehungen zufrieden. Lerne ich neue Leute kennen, weiß ich nicht, worüber ich mit ihnen reden soll. Auf Partys bin ich hoffnungslos verloren. Diese bedeutungslosen oberflächlichen Freundschaften, die man nach Lust und Laune aufnimmt und wieder fallen lässt, sind nicht mein Ding. Ich brauche Jahre für eine Freundschaft, und Graham findet, dass ich in der Beziehung nicht ganz normal bin.

Was mich ärgert, vor allem die Art und Weise, wie er es sagt. »Wie kann man es mit der Loyalität übertreiben? Entweder man ist loyal oder nicht, stimmt’s?«

»Aber deshalb muss man doch nicht so ein Aufhebens darum machen.« Dann war ich verletzt, schockiert. Denn wann machte ich schon ein Aufhebens? Außerdem war ich es nicht gewohnt, dass Graham mich kritisierte. Gemeinsam missbilligten wir, wie Sam ständig an Martha herummeckerte und Spitzen gegen sie stichelte. In meinen Augen war sie eine Märtyrerin, weil sie Sam ertrug. Andererseits betete sie ihn an, sie verehrte ihn, und ihre Beziehung hatte definitiv eine starke körperliche Seite.

Manchmal betrachtete ich Sams Hände, ständig in Bewegung, zupackend, nur Muskeln und Knochen, und verglich sie mit Grahams Händen.

Und nun bin ich die Sitzengelassene.

»Ich vergehe«, diese alten Bibelsprüche hätten niemals aus der Mode kommen dürfen. Wehe mir, ich vergehe! Verflucht sei der Tag, an dem ich geboren wurde. Ich vergehe, löse mich auf, werde hinfortgerafft, in tausend Stücke geschnitten wie Weihnachtskarten, die schnipp schnapp in Geschenkanhänger umgewandelt werden.

Es gibt Dinge, die behält man am besten für sich, Geheimnisse, die man nicht einmal aufschreiben sollte. Das Vertrauen eines Freundes zu verraten, um einen kurzen Augenblick im Mittelpunkt zu stehen – und dann, kaum schließt man den Mund, dieses niederdrückende Gefühl des Abscheus vor sich selbst. Man begreift sofort, was man gerade getan hat. Doch wenn man sich selbst betrügt, wird einem das erst viel später klar.

Ich hatte immer gedacht, der schlimmste Betrug sei der eines Mannes, der seine Frau verlässt. Wenn Körperliches ins Spiel kommt, wenn es um Schlafzimmergeheimnisse geht, um dieses Prickeln und Gerangel, wenn die Hüllen und die Hemmungen fallen. Sex.

Doch ich lag falsch.

Bei Martha und mir hatte es etwas mit dem Kopf zu tun, eine Art Seelenverwandtschaft, und das war aufregend und wunderbar. Nicht, als schlüge man einen Akkord an, sondern als komponiere man ein ganzes Konzert. Der einzige Mensch, der den Schmerz, den ich nun empfinde, nachfühlen kann, ist Martha. Martha mit ihrem umwerfenden Lachen.

Die sich weigert, mit mir zu sprechen.

Die den Hörer auflegt, wenn ich anrufe.

Die meine Briefe nicht beantwortet.

Und die mir das Herz bricht.

***

Das Leben scheint sich langsam aus unserem Haus zurückzuziehen, seit Martha nicht mehr hereinweht, einen Hauch von Hysterie um die Schultern, melodramatisch und sprühend vor verrückten Ideen.

Es ist noch schlimmer.

Es fing noch böser an – zusehen zu müssen, wie Poppy und Josh verletzt wurden, zum ersten Mal in ihrem Leben wirklich tief verletzt. Mit acht und zehn Jahren ist man zu jung, ein solches Leid zu ertragen, und ich hatte gedacht, Martha würde über so etwas stehen. Unsere Freundschaft mochte zerbrochen sein, aber wir hätten uns bemühen müssen, unsere Kinder aus unserem Streit herauszuhalten.

»In Katastrophen bist du ganz groß, Jennie, also verzieh dich und genieße.«

Das waren die letzten Worte, die letzte Gemeinheit, die sie zu mir sagte. Eine am Boden zerstörte Aischa … das war ich. Ich hatte das Gefühl, auf einen Schlag um Jahre gealtert zu sein.

Vergeblich versuchte ich genau zu erklären, was geschehen war, aber Martha weigerte sich einfach, mir zuzuhören.

Ich war wie vor den Kopf gestoßen durch diesen Wutausbruch, hinter dem sich Angst verbarg, und suchte verzweifelt nach der Wahrheit.

***

Ein älteres Haus wäre mir lieber gewesen. Martha meinte boshaft, weil es dann mehr zu leiden gäbe. Aber der Mulberry Estate war nicht übel. Der Architekt hatte sich angestrengt, jedes Haus unterschied sich ein bisschen vom anderen, und die Gärten waren keine schmalen Handtücher. In der Anzeige hatte es »exklusive Villen« geheißen, und Graham und ich wurden als die Ersten, die einzogen, mit einem Blumenstrauß und einer Flasche Champagner mit Schleife begrüßt. Die ersten drei Villen waren gerade fertig, als wir unsere bezogen, die Möbel durch den Schlamm der Mulberry Close schleppten. Und wir lebten mit dicken braunen Packpapierstreifen auf einem senffarbenen Teppichboden, die uns die Baufirma zur Verfügung stellte.

Kaufanreize gab es genügend – einen eingebauten Schwedenofen, eine Kühl- und Gefrierschrankkombination, eine Geschirrspülmaschine von Bosch und eine Waschmaschine. Graham und ich hatten an unserem Verlobungstag den Vertrag für das erste Haus unterschrieben, doch da es nicht rechtzeitig fertig wurde, mussten wir anfangs bei Grahams Mum einziehen.

Ein vom zu vielen Mähen arg mitgenommener Rasen. Ein ordentlicher und deprimierend solider Bungalow. An der Wand ein Piratenkopf aus Mallorca, Glasvitrinen, solide Möbel von G-Plan aus den Sechzigerjahren und auf einer stelzbeinigen Blumenbank ein paar Topfpflanzen, ein schüchterner grüner Tupfer in der schalen, trostlosen Atmosphäre.

»Was treibt ihr beiden den ganzen Abend da oben in eurem Schlafzimmer? Das kann doch nicht gemütlich sein. Du liebe Güte, warum kommt ihr nicht runter und setzt euch zu Howard und mir ins Wohnzimmer? Wir beißen euch schon nicht«, beschwerte sich Grahams Mum, Ruth.

Doch Graham und ich lagen im Bett und sahen fern und waren einfach nur glücklich, zusammen zu sein, verheiratet zu sein und der Welt zu zweit gegenüberzustehen.

Graham sagte: »Lass uns in Ruhe, Mum. Wir melden uns schon, wenn wir was brauchen. Uns gefällt es so.«

»Dann entschuldigt bitte die Störung.«

Da ich arbeitete, hatte ich nicht die Zeit, im Haushalt mitzuhelfen, bei der Wäsche, dem Einkauf und was so anfiel. Aber ich wusste, Ruth erwartete mehr von mir, zum Beispiel, dass ich mich abends zu ihr und Howard gesellte. Wir aßen gemeinsam mit Grahams Eltern, obwohl wir deutlich gemacht hatten, dass wir lieber alleine äßen. Alles wurde mit dicker Soße serviert. Als Nachtisch wurde in wässrig grünen Schalen Kompott in allen möglichen Variationen gereicht. An dem Tag, an dem wir einzogen, war abends, als ich nach Hause kam, der Tisch für vier Personen gedeckt.

»Ruth, das hättest du nicht machen müssen«, erklärte ich, »das hätte ich doch tun können.« Aber meine Stimme verlor sich, während ich meinen Regenmantel aufknöpfte und sie sich ihre Schürze umband.

»Du kannst dich um die Kartoffeln kümmern, Schatz, wenn du mir unbedingt helfen willst. Lass Graham und seinen Dad in Ruhe die Nachrichten anschauen.«

Auf eine merkwürdige Weise, als habe sie etwas gegen mich, schien Ruth ihre Arbeit absichtlich in einer Reihenfolge zu erledigen, die es mir unmöglich machte, ihr zur Hand zu gehen. Ich war einfach nicht da, um meine Pflicht zu erfüllen, also hatte sie sich ihre Gereiztheit selbst zuzuschreiben.

»Streifen auf den Tellern gibt es bei uns nicht«, erklärte sie mir. Mit gerunzelter Stirn meinte sie: »In diesem Haushalt, Jennie, wird das Geschirr immer mit einem Handtuch poliert.« Anschließend beobachtete sie mich mit Argusaugen beim Geschirrabtrocknen. »Bitte immer schön einen Teller nach dem anderen, Schatz. Diese Teller habe ich bereits seit zwanzig Jahren und ich möchte nicht, dass sie jetzt angeschlagen werden.«

Betont diskret lagen jede Woche saubere Bettlaken ordentlich zusammengelegt am Bettende, als vermute sie, unsere wiesen Flecken auf. Jeden Freitag wurde das Bett frisch bezogen. Ich sagte stets: »Es ist doch nicht nötig, den Bettbezug zu bügeln, Ruth. Mach dir doch nicht so viel Arbeit.«

Und Ruth lächelte stur.

Ich glaube nicht, dass Ruth mich nicht mochte. Vielleicht wollte sie mir nur etwas über die Ehe klarmachen, was ich in ihren Augen noch nicht wusste. Graham und ich waren jetzt verheiratet und das hieß Schluss mit der Romantik. Für eine Ehefrau kam an erster Stelle Aufopferungsbereitschaft, und das hier war eine sanfte Hinführung.

Worauf ich Graham stets vorwurfsvolle Blicke zuwarf und ihm nichts übrig blieb, als die Achseln zu zucken.

Wenn wir Wein tranken, dann heimlich, und morgens musste Graham die in Zeitungen gewickelten Flaschen in seiner Aktentasche aus dem Haus schmuggeln.

Ein anderes Paar hätte sich gegen eine solche Bevormundung aufgelehnt, doch nicht Graham und ich. Wir hassten Streit, wir verabscheuten Szenen und wir waren so dankbar, einander gefunden zu haben. Keiner von uns beiden hatte sich vorstellen können, ein anderer könne sich in ihn verlieben. Wir hatten beide keinen Busenfreund oder Busenfreundin gehabt, in der Hinsicht waren wir uns so ähnlich, absolut durchschnittlich, fünfzehnter in einer Klasse von dreißig Schülern, sechster in einem Team von zwölf, mit allen befreundet, aber für niemanden die Nummer eins.

Ziemlich mittelmäßig. Könnte besser sein.

Mit am besten am Verheiratetsein gefiel mir, mit jemand anderem den Namen zu teilen. Man fühlte sich so stark, wenn man zu jemandem gehörte. Ein Name war wie ein stabiler Holzzaun, durch dessen Latten man gemeinsam in die Welt lugen konnte. Und Gordon war ein guter, ein starker Name, weiter vorn im Alphabet als mein Mädchenname, Young, der mich im Leben immer hatte zurückstehen lassen.

In diesem ersten Sommer liefen wir jeden Tag zu unserem Haus und sahen zu, wie es wuchs. Gingen darin herum und stellten uns vor, wie unsere neuen Möbel darin wirken würden. Ich stieg die Treppe hinauf und hinunter, fühlte das glatte Holzgeländer unter meinen Händen. Graham plante den Garten. Anfangs war ich mir wegen des Hauses nicht sicher gewesen, doch allmählich lernte ich es zu lieben. Das ganze Haus war ein verheißungsvolles Freiheitsversprechen, und ich flüsterte ihm zu: »Beeil dich bitte, Haus.«

***

Himmlisch. Wir konnten wieder frei atmen. Zum ersten Mal waren wir wirklich zusammen, und er trug mich über die Schwelle. Verständlicherweise fühlten wir uns in unserem Besitzerstolz verantwortlich und musterten die Paare argwöhnisch, die zur Besichtigung des Musterhauses kamen. Es war das erste fertig gestellte Haus in der bratpfannenartig angelegten Anlage.

Wir waren keinen Monat eingezogen, da hing das rote »Verkauft«-Schild an Haus Nummer zwei, drei und vier, obwohl drinnen noch die Handwerker zugange waren. Wir hielten das für ein gutes Zeichen. Wir würden das Haus schnell verkaufen können, wenn Graham auf der Karriereleiter nach oben kletterte. Ich war bereits schwanger. Poppy sollte im Frühjahr kommen, und ich hatte bei der Bank aufgehört. Der Job hatte mich nie wirklich interessiert.

»Den kenn ich«, sagte Graham, der, ohne sich im Geringsten zu schämen, das Pärchen musterte, das, den Schlüssel in der Hand, den Weg zum Haus nebenan entlangschritt.

»Ach ja?« Also starrte ich genauso unverhohlen wie er zum Fenster hinaus, fasziniert von der kugelrunden Frau mit der wilden Mähne, so schwanger, wie ich noch nie jemanden gesehen hatte. Sie war riesig und eingehüllt in einen smaragdgrünen Vorhang. Schamlos. Watschelte wie ein Pinguin in riesigen Jesuslatschen den Weg entlang, während sie sich mit den Händen den Rücken massierte, als könne das Baby jeden Augenblick kommen, ihr schallendes Gelächter tat mir in den Ohren weh. Schließlich war sie neu hier. Ich lebte bereits hier, ich und Graham und ein paar kümmerliche Schösslinge.

»Sam Frazer, er hat seine eigene Marketingfirma und geht mittags immer in die Painted Lady. Ich hab ihn dort mit seinen Freunden gesehen.«

»Wie ist er so?« Ohne zu wissen, warum, hatte ich ein komisches Gefühl.

»Scheint ein netter Kerl zu sein.«

»Vielleicht sollten wir ihnen eine Tasse Tee anbieten … und hinübergehen … uns vorstellen … du weißt schon.«

Graham spürte meine Anspannung und nahm meine Hand. Nervös standen wir nebeneinander in unserem brandneuen Haus und atmeten den Geruch von Sägespänen, Terpentin, Farbe und Kitt ein. »Jennie, wir müssen überhaupt nichts mehr. Das ist unser Haus, wir tun nichts, was wir nicht wollen, und wir können so unfreundlich sein, wie es uns Spaß macht.«

Martha wäre die Erste gewesen, die ihm zugestimmt hätte. Vielleicht hätte sie sogar ein fleckiges Glas gehoben und ihm zugeprostet, hätte sie ihn gehört.

***

Lieber Gott, ich wünschte, ich hätte sie nie kennengelernt.

Kapitel 2 MARTHA

Lieber Gott, ich wünschte, ich hätte sie nie kennengelernt.

***

Da waren wir also in unserer exklusiven Villa. Ich muss sagen, ich hätte nie gedacht, einmal in einer halb fertigen Siedlung in Essex, in der Provinz, zu landen.

Andererseits hatte ich auch nie damit gerechnet, je zu heiraten oder ein Kind zu kriegen. Noch hätte ich mir vorstellen können, einmal zwanzig zu werden, einen Busen zu bekommen oder die Periode, meinen schwarzen Lederrock wegzuwerfen, zu sterben oder aufzuhören, mir jede Folge von Neighbours anzusehen.

Unser Haus war nicht so aufgeräumt und stilvoll eingerichtet wie das unserer Nachbarn. Bei uns ging es drunter und drüber, und nichts passte zusammen. Das Sofa war übersät mit Decken und Kissen, die Stühle bunt zusammengewürfelt, die Kissen darauf ebenso. Die Lampen und noch einiges andere aus knorriger Eiche, weil wir ursprünglich geplant hatten, ein altes Cottage drüben in Hertfordshire zu kaufen. Piglet’s Patch war mein Traumhaus. Geißblatt, Reetdach und Rosen.

Als ich im achten Monat schwanger war, gaben wir auf. Wir hatten unsere Wohnungen verkauft und brauchten ein Zuhause. Lange genug hatten wir improvisiert. Also kauften wir das Haus hier mit dem löwenzahnübersäten Rasen in einer Art Torschlusspanik. Wir hatten nicht vorgehabt, lange hierzubleiben, doch das Leben steckt stets voller kleiner Überraschungen.

Ich hatte nicht geplant, hier Wurzeln zu schlagen, neben einem altersschwachen Maulbeerbaum. Aber lieber Gott im Himmel, weitaus bizarrer war es, von der Frau umgebracht zu werden, die ich für meine Freundin hielt.

***

Es war ein nasser und windiger Märztag, als Jennie und ich mit der dunklen Welt der Fortpflanzung Bekanntschaft machten.

Die ganze Nacht hindurch wurden die Frauen in unserem Zimmer von den mitleiderregenden Schreien der Frauen in dem Kreißsaal nebenan wach gehalten.

Sam fuhr mich nach St. Margaret’s, als die Wehen in Abständen von fünf Minuten kamen. Nach einer Stunde wurde Scarlet geboren.

Die Natur ist schrecklich.

Die Natur tut verdammt weh.

Dieser viehische Gestank, das Blut, die Binden und die Blumensträuße der Besucher.

Sam war bei der Geburt dabei, und danach schlugen wir uns den Bauch voll mit den Hühnchensandwiches, hielten abwechselnd Scarlet im Arm und begannen uns an die Worte »unsere Tochter« zu gewöhnen. Es war so wunderbar! Sie auf ihre schwarzen, noch blutigen Haare zu küssen. Ich brauchte eine halbe Schachtel Papiertücher, um Sams stolze Tränen wegzuwischen.

Perverserweise hatte ich eine absolut unkomplizierte Geburt, während Jennie eine Zangengeburt über sich ergehen lassen musste. Ich erkannte sie wieder, als man sie am nächsten Morgen mit dem Tee in das Zimmer schob, schlapp wie ein nasser Waschlappen. Ich hatte sie schon einmal gesehen, am Vortag, als wir eingezogen waren. Ich hatte gerade die Sandwiches gemacht, damit wir nicht verhungerten. Dass wir keine Zeit haben würden, sie zu essen, hatten wir zu dem Zeitpunkt nicht geahnt.

»Ich kenn Sie doch? Sind wir nicht Nachbarn?«

Jennies Hausschuhe, die auf ihr Nachthemd abgestimmt waren, standen neben ihrem Bett auf dem Boden. Mit weißen Rosenknospen, die für Unschuld standen. In so viel Weiß hatte sie was von einer Elfe. Sie hob den Kopf vom Kissen und sah mich an, ihr war nicht ganz klar, wo sie war und wie sie sich verhalten sollte.

Ich warf einen Blick in das Plastikbettchen neben ihr. »Super, ein Mädchen. Wir wohnen nebeneinander und werden sicher Busenfreundinnen.«

Jennie stöhnte.

»Lassen Sie Mrs. Gordon in Ruhe«, sagte die Schwester. »Sie hat einiges durchgemacht und ist völlig erschöpft.«

Natürlich ärgerte mich das. Ich ließ mich nun mal nicht gerne wie ein Kind behandeln, aber ich schaffte es, mich darüber hinwegzusetzen. Schließlich hatte ich nur ein Anliegen, so schnell wie möglich aufs Klo zu kommen, um meine Morgenzigarette zu paffen.

Als ich an Jennies Bett vorbeiging, die Zigarettenschachtel tief in Sams Morgenmantel vergraben, flüsterte sie mir mit geschlossenen Augen zu: »Das war’s. Nie wieder.«

***

Eine der ersten Geschichten, die mir Jennie erzählte, war, wie die anderen Mädchen sie in der Schule fertigmachten. Ich denke, das hatte sie tief verletzt und ihr Verhalten stark geprägt.

Wir waren damals in ihrem Haus, in ihrem Schlafzimmer. Ich saß auf Grahams Betthälfte, während sie, ein Handtuch um ihre nassen Haare geschlungen, neben mir Poppy die Flasche gab, die sie zuvor sorgfältig sterilisiert hatte. Mit dem Handtuch um den Kopf sah Jennie nicht mehr ganz so aus wie eine Klosterschwester, ganz im Gegenteil, sie hatte etwas Neckisches. Mit ihrem zarten Knochenbau und der Himmelfahrtsnase erinnerte sie mich an einen Kobold.

»Warum suchten sie sich ausgerechnet mich aus?«, fragte sie mich. Diese Frage beschäftigte sie nach all den Jahren noch immer. »Ich war nicht anders als die anderen. Ich war weder dick, noch hatte ich Pickel oder Körpergeruch. Ich schielte nicht und hatte keine Hasenscharte. Diese Mädchen hatte ich zu meiner Geburtstagsparty eingeladen, und sie machten sich lustig über meine Mutter.«

»Was war denn mit deiner Mutter?« Ich strich um meine klebrige Brustwarze, an der Scarlet gierig sog. Ich war immer lange vor Jennie fertig, weil es absolut wichtig war, dass Poppy das ganze Fläschchen trank, zwischendurch mindestens sechsmal Bäuerchen machen musste und am Schluss, wenn diese Tortur vorüber war, waren Jennies Lippen mindestens so wund wie meine Brüste. Sie biss sich ständig auf die Lippen. In der Tasche ihrer Babyfutterschürze hatte sie stets Lippenbalsam stecken. Sie wechselte wöchentlich die Marke, versuchte es sogar mit Ziegenmilch, als Poppy einmal längere Zeit unter Koliken litt.

»Nichts war mit meiner Mutter«, fuhr sie mich an. »Deshalb traf es mich umso mehr. Meine Mutter gab sich wirklich Mühe. Sie strengte sich so an, alles richtig zu machen. Mein Gott, wie ich Geburtstagspartys hasste, aber man musste feiern und auf die Partys der anderen gehen, wenn man eingeladen war. Gibt es Kinder, denen das wirklich Spaß macht?«

»Mir machte es Spaß.«

»Wirklich?«

»Ich war wie ein Schwein. Verfressen und gierig. Ich ging gern hin, weil ich scharf auf das Essen und auf die Geschenke war.«

Jennie legte sich Poppy bäuchlings auf den Arm, und die Kleine machte Bäuerchen und spuckte dabei. Jennie sah besorgt drein. »Verdammt, verdammt, verdammt.« Es war ansteckend, wie sie sich aufregte. »Heute Nacht bekomme ich wieder keinen Schlaf.«

»Stell ihre Wiege doch nach unten, wo du sie nicht hörst. Das schadet ihr nicht, jedenfalls weniger als eine müde Mutter.«

Natürlich hörte sie nicht auf mich, warum auch? Jennie hielt sich stur an ihre Ratgeberbücher. Jennie glaubte an Gott, wog ihre Zutaten ab, wie das Rezept es befahl, und testete ihre Haare, bevor sie sie färbte. Sich zwanghaft an Regeln zu halten war einer ihrer grundlegenden Wesenszüge.

»Meine Mutter hatte Krampfadern an den Beinen.«

Ich warf einen Blick auf meine. »Willkommen im Club.«

»Nein, Martha, keine solchen Äderchen. Richtige dicke Krampfadern. Sie redete immer davon, sie sich wegmachen zu lassen. Sie musste Stützstrümpfe tragen. Mit den Krampfadern fing dieses Getuschel an. Es waren Barbara Middleton und Judith Mort.«

Sogar an ihre Namen konnte sie sich noch erinnern. »Kinder können so fies sein.«

»Mit Kreide kritzelten sie dünne rote und blaue Linien an die Tafel. Niemand außer mir wusste, was das bedeuten sollte. Und darunter schrieben sie in Lila: Traumbeine. Doch damit war es nicht genug. Es ging immer weiter.«

»Nur weil du nichts dagegen getan hast.«

»Was meinst du damit?«

»Du hättest dich wehren, ihre Bücher ins Klo werfen müssen.«

»Und andere Kinder fingen an mitzumachen. Kinder, die ich für meine Freunde gehalten hatte.«

»Auf jemand anderem herumzuhacken ist eine gute Möglichkeit, um nicht selbst das Opfer zu werden.«

»Ich weiß, ich weiß.« Endlich hatte Poppy dieses verdammte Fläschchen ausgetrunken. Erschöpft versuchte Jennie zu lächeln. Sie begann ihren Wickelkorb aufzuräumen, eine knallrosa Angelegenheit aus wasserdichtem Baumwollstoff, in dem sie ihre Ölfläschchen und Cremedöschen, ihre halb geöffneten Päckchen von diesem und jenem, ihre ganze zeremonielle Habschaft aufbewahrte. »Heute ist das alles leicht zu durchschauen, damals nicht. Nachts quälte ich mich mit dem Gedanken, wie tief es Mum verletzte, wenn sie davon erführe. Ständig fragte sie mich, was los sei. Sie fragte so nett, so fürsorglich. Wie hätte ich es ihr sagen können?«

***

Dieser erste Frühling in Mulberry Close war so nass, dass die Erde nach Meer roch. Es regnete ohne Unterlass. Einen Schritt vor die Tür zu setzen hieß metertief im Schlamm zu stehen. Das herzförmige Laub des Maulbeerbaums, der auf der Wiese in der Mitte der Siedlung stand, war mit Teer und Zement bedeckt. Sam konnte den neuen Garten nicht anlegen. Der Boden war zu schwer zum Schaufeln, also blieben die Steinplatten für die Terrasse, der Sand und der Zement im hinteren Teil der Garage verstaut, und als die Rosen in ihren kleinen braunen Säckchen geliefert wurden, stellten wir sie in den Schuppen, wo wir sie vergaßen.

Ich wurde immer fetter, schlapper und depressiver, während Jennie nebenan mit einem strahlenden Lächeln und geradezu unheimliches Selbstbewusstsein versprühend durch ihr aufgeräumtes Haus schwebte, das eine Aura von Frieden und Freundlichkeit vermitteln sollte.

An den wenigen trockenen Tagen, die wir hatten, hing ihre Wäsche schon um halb neun auf der Leine.

Ich war die Einzige, der sie es gestattete, einen Blick hinter diese Fassade fröhlichen Mutterglücks zu werfen. Und das nur, weil ich keine Konkurrenz darstellte mit meiner Plastiktüte vom Supermarkt, vollgepackt mit Pamperswindeln, meinen schmutzigen Lätzchen und den klebrigen Schnullern.

Bei Jennie musste alles perfekt sein.

Bekam Poppy die Windpocken, wurde das ganze Haus desinfiziert, was mich verrückt machte.

Die Handtücher in ihrem Bad passten zu den Waschlappen.

In ihrem Spülbecken stapelte sich kein Geschirr, und ihre Fenster blinkten.

Sie wollte ständig hören, was für eine wunderbare Mutter sie sei. Auch wenn es sie teuer zu stehen kam. Sie leistete Übermenschliches: pürierte Poppys Essen, wog die Kleine wöchentlich, kochte ihre schneeweißen Stoffwindeln aus, desinfizierte die Rasseln, und wenn ihr Baby schlief, schlich sie durchs Haus und sprach nur mit gedämpfter Stimme. Dabei gingen ihre Lebenslust und ihre Vitalität verloren.

Alles wurde strikt nach Vorschrift erledigt, nichts war je spontan.

»Ist das nicht wunderbar?«, schien sie ständig zu fragen. »Seht nur – ich habe alles im Griff und bin die geborene Mutter.«

Aber sie hatte nicht alles im Griff. Ganz und gar nicht.

***

Die schrecklichen Krampfadern ihrer Mutter fielen mir ein, und ich fragte mich, wie sie die bekommen hatte. Denn so wie Jennie programmiert war, schadete sie sich selbst.

Ermutigte ich sie, es etwas lockerer anzugehen, wand sie sich, so unangenehm war ihr das. »Gib doch Graham mehr zu tun«, schlug ich ihr vor. »Er ist einer von diesen neuen Männern. Das solltest du ausnutzen. Wenn du mit Sam verheiratet wärst, könnte ich verstehen, dass du mit den Nerven am Ende bist.«

»Wieso mit den Nerven am Ende?«, begehrte sie auf und biss sich auf die bebende Lippe.

Das Ganze endete damit, dass ich sie aufforderte, sich zu setzen. Schließlich war sie kurz davor zusammenzubrechen.

»Ich kann nichts trinken«, schniefte sie, als ich ihr ein Glas Wein anbot, und hielt dabei den Blick gesenkt wie ein eingeschnapptes Kind. »Ich muss Poppy noch füttern.«

»Blödsinn«, sagte ich. »Trink das und leg die Beine auf diesen Stuhl.«

»Du weißt nicht, wie das ist«, stöhnte sie. »Dir fällt es so leicht, Mutter zu sein. Es ist ja eigentlich auch nicht viel dabei. Aber Scarlet ist ein so liebes Baby, sie ist nachts noch nie öfters als zweimal aufgewacht.«

»Ich finde es wahnsinnig schwer, mit ihr fertig zu werden«, erzählte ich Jennie wahrheitsgemäß.

In einem plötzlichen Anflug von Schwäche vertraute sie mir ihr schreckliches Geheimnis an. »Was würdest du sagen, wenn ich dir erzählte, dass ich Poppy manchmal so sehr hasse, dass ich Angst habe, ich könnte sie umbringen?«

»Ich würde sagen, du bist normal«, antwortete ich, verblüfft darüber, wie fremd ihr dieser Gedanke war.

»Graham würde das nie verstehen. Er hielte mich für ein Monster.«

»Wenn du nur damit aufhören würdest, ständig Theater zu spielen«, sagte ich.

Und ich begann mich zu fragen, bei welchen Gelegenheiten Graham und Jennie noch Theater spielten. Und aus welchem Grund.

Ich brachte sie dazu hinauszugehen, Briefmarken in der Post zu holen. Sie hatte das Haus seit der Geburt nicht mehr verlassen. »Geh zu Fuß, nimm dir Zeit, lass das Auto zu Hause stehen.« Ein solch kleiner Schritt. Ich brachte sie dazu, Poppy bei mir zu lassen.

Als sie zurückkam, war sie glücklicher, hatte aber zugleich Angst vor der eigenen Courage.

Der nächste Schritt war, sich bei Aerobics anzumelden.

***

Sam sagte: »Warum sitzt dieses blöde Weib immer hier rum, wenn ich nach Hause komme? Und schaut dabei so schuldbewusst drein, als hätte sie gerade etwas angestellt. Ich weiß nicht, wie ich mit ihr umgehen soll. Sie kommt mir so schüchtern vor, als fühle sie sich in meiner Gegenwart nicht wohl.«

»Das kommt daher, weil du so grob bist«, antwortete ich. »Nicht jeder teilt deinen seltsamen Humor. Sei einfach netter zu ihr. Vielleicht sollten wir die beiden auch mal zum Abendessen einladen.«

»O nein …«

»Fang nicht damit an. Wir könnten die Fords auch dazubitten. Ich glaube, Jennie ist einsam. Geht auf dem Zahnfleisch. Ich meine, sie bricht in Tränen aus, wenn ihr ein Kuchen nicht gelingt, und sie hat außer mir niemanden, mit dem sie reden kann.«

»Man sollte sich nicht in die Angelegenheiten anderer Leute einmischen«, erwiderte Sam wie erwartet. »Außerdem kann ein zu enges Verhältnis zu den Nachbarn auf die Dauer unangenehm werden.«

»Es wäre das erste Mal seit der Geburt Poppys, dass die arme Jennie abends ihr Haus verlässt. Ich werde ihr vorschlagen, einen Babysitter zu engagieren.«

»Martha, ich ertrag das nicht. Sie wird diesen Fratzen mitbringen.«

***

So fing das vor zehn Jahren an.

Das Leben mit Jennie war nie einfach, aber die unheilvollen Risse traten erst später auf.

Als Mrs. Forest mich anrief, konnte ich nicht glauben, was ich hörte.

Ich war wie vor den Kopf gestoßen. »Aber Jennie Gordon ist eine gute Freundin, sie lebt direkt nebenan. Wenn diese Probleme schon so lange andauern, warum zum Teufel hat sie nichts davon erwähnt?«

»Sie sagt, sie hätte es Ihnen gegenüber erwähnt, aber Sie seien einfach darüber hinweggegangen«, entgegnete die Lehrerin. »Ich kann nur so viel sagen: Poppy fürchtet sich seit Beginn des Schuljahres davor, in die Schule zu kommen. Gestern Nachmittag fehlte sie.«

»Wegen Scarlet?« Lachhaft!

Das Telefon vibrierte vor Spannung. Es musste sich um ein Missverständnis handeln. Scarlet und Poppy waren seit frühester Kindheit unzertrennlich. Im letzten Schuljahr wurden sie auseinander gesetzt, weil sie ununterbrochen geschwatzt hatten. Sie öffneten ihre Weihnachtsgeschenke nur gemeinsam. Sie bestanden auf derselben Frisur. Sie mochten aussehen wie Schneeweißchen und Rosenrot, doch irgendwie schafften sie es, sich ähnlich zu sehen.

»Ich denke, wir beide sollten uns einmal darüber unterhalten«, erklärte Mrs. Forest freundlich. »Kommen Sie doch einfach in der Schule vorbei und holen Sie Scarlet früher ab.«

Äußerst merkwürdig. Als ich losfuhr, nahm ich eine Bewegung hinter den Vorhängen von Haus Nummer eins wahr. Jennie war nervös. Wieder wurde sie verfolgt, wieder war sie das Opfer. Ich begann mich zu fragen, ob es genetisch bedingt war, dass man ein Opfer wurde, oder an einer bislang noch nicht identifizierten chemischen Substanz lag.

***

Und ich denke, sie hat nie gelernt zu lieben.

Kapitel 3 JENNIE

Und ich denke, sie hat nie gelernt zu lieben.

***

Durch eine Art geheimnisvolle Osmose scharten die Frazers ihre Nachbarn um sich wie Jesus seine Jünger.

Kommet her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken.

Keine schlechte Sache, wenn einem das gegeben ist. Meine Eifersucht allerdings wuchs ins Unermessliche, da ich, wie Martha es später ausdrückte, das Leid brauchte, um zu existieren.

Doch der Beliebtheit der Frazers und Marthas Schlampigkeit verdankten wir, dass in unserer Straße nicht dieser sonst übliche Druck herrschte, mit den Nachbarn in allem gleichzuziehen. Die Frazers fuhren einen teuren Cherokee-Jeep, den sie nie wuschen, weder innen, noch außen. Statt einen Zweitwagen zu kaufen, chauffierte Martha Sam jeden Morgen zur Arbeit, eine Fahrt, die keine zehn Minuten dauerte, doch während dieser Zeit ereignete sich zu Hause ständig ein Missgeschick – der Waschmaschinenschlauch platzte und der Fußboden wurde überschwemmt oder auf dem Herd kochte etwas über. Statt eines teuren Fertigspielhauses mit Tür und Plastikgartenblumen bekamen ihre Kinder eine Hütte mit einem Wellblechdach, die Sam aus ein paar Brettern zusammengenagelt hatte. Martha wollte auch auf keinen Fall eine Putzfrau. Wo hätte die Ärmste auch anfangen sollen? Die Frazers besaßen einen Traktorrasenmäher, doch der verlor Benzin und funktionierte so gut wie nie.

Worauf ihre Anziehungskraft beruhte, war mir ein Rätsel. Sie hatten nichts Glamouröses. Doch auf eine gewisse Weise waren sie bezaubernd, worum ich sie beneidete. Ich hatte das bereits früher kennengelernt, in meiner Kinderzeit. In der Nähe solcher Menschen fühlte man sich wie ausgewechselt. War man ausgeschlossen, kam man sich wie tot vor.

Die Sache mit der grünen Tür.

Die Tür bestand aus verschlagenem Getuschel.

Die Tür war verschlossen durch wissende Blicke.

Kein Entkommen war möglich ohne das Losungswort.

Nicht dass die Frazers protzten, aber sie ließen es gerne krachen. Sam arbeitete in der Werbebranche, und der Name seiner Firma tauchte bei ITV öfters im Abspann auf. Trotzdem zog sich Martha wie eine Zigeunerin an, sie kaufte die merkwürdigsten Stoffe und nähte sich ihre weiten, fließenden Kleider selbst, knallige Teile, so geschmackvoll wie selbst gemachte, angebrannte Süßigkeiten. Ihre Kinder wuchsen in geflickten Latzhosen, weiten Pullovern und bunten Gummistiefeln auf.

Sie lässt sich nichts vorschreiben, dachte ich und wusste zugleich, dass ich nie so würde leben können.

Sie ging nur einmal im Jahr zum Friseur, um sich ihre schwarzen Locken kurz schneiden zu lassen.

Wie schnell sie sich langweilte.

Aber in Gesellschaft blühte sie auf.

Sie sammelte Katzen, und ihr gemütliches Haus roch dementsprechend.

Wenn mich Martha in ihre chaotischen Pläne einbezog, lief mir ein freudiger Schauer über den Rücken, doch gegen das elende Gefühl, das mich überkam, wenn die Frazers von meinen mit mir rivalisierenden Nachbarn abends eingeladen wurden, war ich machtlos.

Ja, es stimmt, und ich muss es zugeben, für mich waren sie seit Beginn meiner Freundschaft mit Martha Konkurrenten.

Die lächerlichsten Kleinigkeiten machten mir schwer zu schaffen.

Unfähig, meinen Kummer für mich zu behalten, klagte ich Graham mein Leid. »Warum, verdammt noch mal, gehen sie schon wieder zu den Wainwrights, wenn Martha ständig beteuert, wie wenig sie diese Leute ausstehen kann? Er, sagt sie, sei sicher Exhibitionist, weil er immer mit einem Regenmantel rumrennt.«

Und:

»Stell dir vor, Christine lädt Scarlet zu Jodys sechstem Geburtstag ein. Scarlet ist doch noch ein Baby …«

Oder:

»Martha sagt, Tina tue ihr so Leid. Deshalb geht sie so oft auf einen Kaffee zu ihr. Das ist das Problem mit Martha, jeder will sie sehen, weil sie alle zum Lachen bringt.«

Graham widersprach, die weißen Gräten seines Frühstücksfischs vor sich. »Ist das so wichtig? Was kümmert dich das? Warum machst du dir ständig Gedanken um Martha Frazer? Du verbringst ohnehin den Großteil deiner Zeit drüben und klatschst mit ihr. Ich dachte, du wärst froh, mal ein bisschen Zeit für deine Arbeit zu haben.«

»Was meinst du mit ›Zeit für deine Arbeit‹?« Das war stets ein wunder Punkt. Ich lag nie im Rückstand mit meiner Hausarbeit. Bei mir war es tipptopp, genau wie bei Ruth, seiner Mutter, und Stella, meiner Mutter.

»Übrigens, so wie du jeden Schritt Marthas kontrollierst, könnte man denken, du seist eifersüchtig.«

Dieser Vorwurf saß. »Das ist absurd. Natürlich bin ich nicht eifersüchtig.«

»Dann hör auf, dir Gedanken um sie zu machen. Was geht es dich an, wenn es in Marthas Garten vor Kindern wimmelt? Du möchtest sie doch gar nicht hier haben. Wenn sie sich durch das Tohuwabohu nicht gestört fühlt, wunderbar. Sie ist eben verrückt.«

Graham hätte der Schlag getroffen, würde unser Garten so verschandelt wie der ihre. Der Sand aus Scarlets kleinem Sandkasten war inzwischen – teils von den Kindern, teils von den Katzen – über die ganze Terrasse verteilt. Gepunktete Bälle, Sandkuchenformen und Plastikgießkannen, die meisten davon zerbrochen und mit einem Häufchen Schlamm bedeckt, verrotteten überall im Garten vor sich hin. Die Rasensoden, die Sam verlegt hatte, waren nicht richtig angewachsen, weshalb der Rasen der Frazers bucklig war und nicht wie unserer eben wie ein Billardtisch. Graham war nämlich so vernünftig gewesen, Grassamen zu säen und den jungen Rasen wochenlang zu walzen.

»Wenn man sich schon die Mühe macht, kann man es gleich richtig machen«, war einer seiner Lieblingssprüche.

An den wenigen Tagen, an denen es warm genug war, um Poppy draußen spielen zu lassen, achtete ich darauf, dass sie auf der Terrasse blieb, Grahams Werk zuliebe.

Zusammen gaben wir ein ernst zu nehmendes Paar ab, Graham und ich. Wir waren so stolz auf unser Haus, aber Martha hatte einen nicht zu unterschätzenden Einfluss. Ihr so unbekümmertes Verhältnis zu ihrem Haus. Daneben wirkten wir richtig spießig und zwanghaft, geradezu materialistisch, mit unseren sauberen Vorhängen und Türmatten. Und ich vermute, Martha amüsierte sich insgeheim über meinen Toilettendeckel Überzug. Aber so waren wir nicht – nicht wirklich.

Irgendetwas jedoch machten wir mit Sicherheit falsch, denn die Atmosphäre in ihrem Haus war viel unbekümmerter, während es in unserem immer noch nach der neuen Farbe roch, ganz gleich, wie oft ich lüftete.

Selbst abends, wenn die Kinder im Bett waren und wir auf ein schnell improvisiertes Essen an Marthas schiefem und mit Farbspuren besprenkelten Tisch in ihre chaotische Küche rübergingen, strahlte diese mit den halb heruntergebrannten Kerzen, dem abgeschlagenen Geschirr, den Holzmöbeln, den bauschigen Kissen, den knallgelb gestrichenen Wänden und den Katzen auf dem Ofen eine Atmosphäre aus, die wir mit unseren auf unser beiges Esszimmer abgestimmten Kerzen niemals erreichen konnten.

***

Mein kleiner Triumph.

Entgegen jeder Wahrscheinlichkeit waren meine Kinder größer und schwerer als ihre. Was wohl daran lag, dass sie regelmäßig zu essen bekamen und nicht mit ein paar Happen zwischendurch aus dem Kühlschrank abgespeist wurden, wann es Martha gerade in den Kram passte. Außerdem hatten sie meiner Meinung nach durch die Flasche einen besseren Start.

»Ich dachte, meine würden Riesen wie ich«, meinte Martha leicht niedergeschlagen. »Keine solchen klapperdürren Knochengestelle, als seien sie den Illustrationen eines Dickensromans entsprungen.«

»Martha übertreibt es manchmal mit ihrer Lässigkeit«, erzählte ich an diesem Abend voller Genugtuung Graham. »Ist ja gut und schön, wenn sie mir ständig erzählt, ich solle es ruhiger angehen lassen. Ich mache zu viel und ich mache mir zu viele Sorgen. Aber da siehst du, am Ende zahlt es sich aus.«

»Martha ist eine Schlampe«, sagte Graham.

»Aber total nett«, entgegnete ich.

»Ja, eine sehr nette Schlampe«, gab er mir Recht.

»Wünschst du dir manchmal, ich wäre etwas mehr wie Martha?«

»Herr im Himmel, nein! Warum sollte ich? Sie ist melodramatisch, laut und faul. Sie würde mich in den Wahnsinn treiben. Ich könnte keine Sekunde mit ihr leben, und du könntest nicht mit Sam leben.«

Ob er wohl gern mit Martha ins Bett ginge?

Die Männer sahen Martha nach, sie gefiel ihnen trotz der Haare in den Achselhöhlen.

Ich war zu steif. Daran gab es nichts zu rütteln. Verglichen mit der üppigen Martha, die offen zugab, sie habe am liebsten Sex in der Küche, fühlte ich mich wie eine alte Jungfer, obwohl ich noch keine dreißig war. Ich wurde als arrogant bezeichnet, weil man meine Schüchternheit als Hochnäsigkeit auslegte. Woran auch meine Himmelfahrtsnase schuld ist. »Doch da wir gemeinsam in Urlaub fahren«, bemerkte Graham düster, »sollten wir uns besser bemühen, miteinander auszukommen.«

Während ein Monat nach dem anderen verflog, sahen wir stolzen Mütter zu, wie unsere beiden Mädchen ihren ersten Zahn bekamen, das erste Wort brabbelten und ihre ersten Meter krabbelten. Das war unsere beste Zeit.

***

Doch acht Jahre später sah es anders aus.

Die Schikanen hatten schon wochenlang angedauert, bevor ich es merkte.

Im Nachhinein betrachtet war Poppy stiller gewesen, sicher, aber sie hatte auch mehr Hausaufgaben zu erledigen, nachdem das erste Schuljahr zu Ende ging und ich wusste, sie hatte Angst davor, in die Gesamtschule zu wechseln.

Ich war fassungslos, als ich entdeckte, dass sie die Schule schwänzte. Gott sei Dank fand ich sie rechtzeitig und schaffte es, sie davon abzuhalten, bevor eine gefährliche Angewohnheit daraus wurde. Ich stieß auf sie in der Fußgängerzone in der Innenstadt, sie saß inmitten einer Schar alter Weiber auf einer Bank vor Marks and Spencer.

Anfangs konnte ich es gar nicht glauben. Ich nahm an, es handle sich um einen Schulausflug. Ich lächelte ihr sogar zu, weil ich mich freute, sie zu sehen. »Poppy? Was macht ihr hier? Ich wusste gar nicht, dass ihr heute einen Ausflug unternehmt.«

Aber wo steckten die anderen? Und warum war sie so blass?

Sie sah mir nicht in die Augen, wusste nicht, was sie sagen sollte. Und dann fing sie an zu weinen.

»Was ist denn los?« Ich zog ein Papiertaschentuch heraus. »Poppy, schau mich an! Was ist los? Was machst du hier?«

Sie blickte mich todunglücklich an, eine Haarsträhne im Mund.

»Bist du allein? Wo ist Scarlet?«

Wie schrecklich, was hätte alles passieren können? Ein Kind in ihrem Alter. Ich wurde plötzlich furchtbar wütend.

Und laut. »Und niemand weiß davon? Niemand in deiner Schule weiß, dass du hier bist?«

Poppy schüttelte niedergeschlagen den Kopf. Sie wickelte eines ihrer dünnen Beinchen um das andere.

»Du kommst auf der Stelle mit mir nach Hause, und wir reden darüber, bis ich weiß, was hier los ist. Der Gedanke, Poppy, lieber Gott im Himmel, der Gedanke, dass du ganz allein unterwegs bist…«

»Ich bin sicher hier, Mum.«

Meine Magengrube fühlte sich plötzlich eiskalt an. »Was? Was sagst du da? Dass du das schon öfters gemacht hast, dass es nicht das erste Mal ist?« Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Wir hatten ein enges Verhältnis. Ich hatte aufrichtig geglaubt, wir hätten keine Geheimnisse voreinander und jetzt das – mein Gott.

»Das ist das erste Mal. Ich konnte nicht anders. Ich hielt es nicht länger aus, es tut mir so Leid.«

»Das sollte es auch. Und mir ebenfalls. Daddy wird es Leid tun. Mrs. Forest wird es Leid tun …«

»Bitte erzähl es ihnen nicht«, flehte sie mich an. »Bitte sag Mrs. Forest nichts.« Und wieder flossen die Tränen.

Ich beugte mich zu ihr hinunter und hielt sie an den Armen. »Hör mir zu, Poppy«, begann ich, entschlossen, sie zu beruhigen, »niemand wird dich anbrüllen oder böse mit dir sein. Es ist nur wichtig, dass wir darüber reden, um genau zu verstehen, was hier los ist.«

»Aber ich kann es dir nicht sagen …«, heulte sie auf.

Ich sah sie streng an. Sie war genauso stur wie Graham.

»Was kannst du mir denn nicht sagen, Schatz?«

»Ich kann dir nicht sagen, was los ist. Ich kann dir nicht sagen, was du von mir wissen willst.«

Ich bemühte mich, einen möglichst sanften Ton anzuschlagen. »Warum nicht, Poppy? Nichts ist so schrecklich, dass du es mir nicht sagen kannst. Oder Daddy, wenn dir das lieber ist. Oder Martha? Hast du das Gefühl, du könntest mit Martha darüber sprechen?«

»Das würde alles nur schlimmer machen«, stieß sie hervor. Zu allem Überfluss bekam sie auch noch einen Schluckauf.

Angstvoll ließ ich die Augen über die Arkade schweifen, über die hässlichen Menschen, presste die Hände an die Schläfen. »Schlimmer? Schlimmer als hier herumzulungern, sich hierher zu flüchten, an diesen grauenvollen Ort? Das kann doch unmöglich schlimmer sein, Poppy? Wenn ich nur daran denke, was dir alles hätte zustoßen können. Und was du in der Schule versäumst? Ich kann mir nicht vorstellen, dass dein Fehlen unbemerkt blieb.«

»Ich gehe nie mehr dahin zurück, Mum.« Sie rieb sich ihre rot verschwollenen Augen. Beim Anblick meines todunglücklichen Kindes brach mir das Herz. »Du kannst tun was du willst und du kannst reden mit wem du willst, aber ich gehe nie wieder in die Schule zurück.«

***

Als Erstes lief ich hinüber zu Martha, auch wenn sie das im Nachhinein abstritt.

»Es ist Scarlet«, hatte Poppy verzweifelt erklärt, »Scarlet und Harriet Birch.«

Das wollte ich ihr klar machen, und dass es zum Teil ihre Schuld war.

Sie schob den Brie und die Knetmasse zur Seite, stellte mir eine Tasse Kaffee hin. Dann zündete sie sich eine ihrer stinkenden Zigaretten an, Samson. Sie drehte sich ihre Zigaretten selbst, schnell und gierig, weil sie glaubte, so wären sie nicht so schädlich. Doch ihr Husten war eher schlimmer geworden.

Sie sah mich verständnislos an und sagte: »Ich wollte nichts sagen, aber anscheinend hat Poppy etwas gegen Scarlets Freundschaft mit Harriet, und es ist für alle drei nicht einfach.«

Oh nein, damit gab ich mich nicht zufrieden. Das war zu einfach. Eine Verdrehung der Tatsachen. »Sie waren absichtlich gemein zu Poppy«, erklärte ich, »und das läuft schon eine ganze Weile. Sie sagt, sie beobachten sie ständig und, mein Gott, Martha, sie leidet stumm …«

»Jennie, ich möchte nicht unvernünftig klingen, aber das ist nicht die Version, die ich gehört habe.«

»Ich kann es nicht glauben. Du weißt davon? Du sagst, du weißt davon und hast mir nichts erzählt?«

»Jennie«, seufzte sie und lehnte sich zurück, ohne darauf zu achten, wohin die Asche ihrer krummen Zigarette fiel. »Ich wollte nicht, dass du glaubst, ich hätte den Eindruck, Poppy habe ein Problem.«

»Wie bitte?« Ich stellte klirrend meine Tasse ab, sprachlos ob dieser Ungerechtigkeit. »Ein Problem? Poppy?«

»Und ich möchte dir nicht unterstellen, dass du sie zu sehr bemutterst.«

Dann besaß sie die Frechheit zu lächeln.

Was für eine Unverschämtheit! »Selbst wenn dem so wäre, selbst wenn ich sie zu sehr bemutterte, musst du zugeben, dass das für Poppy nicht einfach ist. Sie und Scarlet sind die besten Freundinnen, seit sie laufen können. Und jetzt kommt Harriet Birch daher und plötzlich wird Poppy in die Ecke gestellt wie ein alter Besen.«

Martha beugte sich vor und sagte leise: »Pass mal auf, Jennie, du kannst dich hier nicht rausreden.«

»Wenn du weißt, was der entscheidende Punkt ist, dann klär mich bitte darüber auf.«

»Der entscheidende Punkt ist, dass Poppy seit Jahren wie eine Klette an Scarlet hängt und meine Tochter das allmählich satt hat.«

Gott im Himmel! Ich konnte es nicht fassen. Martha, berüchtigt für ihre unverblümte Art, hatte mich so tief getroffen, dass es mir den Atem verschlug. Ich senkte den Kopf, als hätte ich soeben eine Ohrfeige bekommen, knallrot vor Empörung. Zwar wusste ich in meinem Innersten, was sie meinte, aber ich ertrug nicht, wie sie es ausgedrückt hatte. Wir sprachen hier über mein Kind, meine verletzliche, verängstigte, unglückliche Tochter, und ich hatte mehr von Martha erwartet. Schuldbewusst dachte ich an all die Zeiten zurück, in denen wir gesagt hatten:

»Geh mit Scarlet, Poppy, sie kümmert sich um dich …«

»Pass auf Poppy auf, sie hat Angst vor Hunden …«

»Sag es Scarlet, wenn diese Kinder dich nicht in Ruhe lassen. Sie gibt ihnen schon Saures …«

Uns war beiden klar gewesen, dass Scarlet, als Marthas Kind, mehr Selbstvertrauen hatte als meines und die Rolle der Anführerin womöglich sogar genoss.

Und Scarlet hatte sich nie beschwert. Bis jetzt nicht.

Im Gegenteil, es schien ihr sogar zu gefallen, Schwache zu verteidigen, sie fand sich ganz natürlich in ihre Rolle ein. Niemand zwang sie oder setzte sie unter Druck.

Dann sagte Martha: »Ich fürchte, wir haben Scarlet in letzter Zeit etwas zu viel zugemutet. Die Prüfungen stehen kurz bevor und anschließend der Schulwechsel. Sie ist schließlich erst zehn.«

Das war unerhört. Ich blinzelte. »Bei Poppy ist es nicht anders. Und ich stelle fest, dass du gar nicht genau wissen willst, was vorgefallen ist. Es war ziemlich fies, so viel sei gesagt.«

Wieder seufzte meine beste Freundin nur. »So sind Kinder nun mal, fürchte ich. Scheiße, das musst gerade du doch am besten wissen, Jennie.« Das war nun der Gipfel an Illoyalität.

Ich sagte es ihr trotzdem, ob sie es nun hören wollte oder nicht. »Sie haben sich gegen sie verschworen, auf sie eingehackt. Ihre Bücher versteckt und mit Äpfeln nach ihr geworfen. Sie haben dafür gesorgt, dass sie als Letzte in die Mannschaft gewählt wurde, auf dem Spielplatz getuschelt und ich habe gehört, es fehlte Geld …«

»Ja«, sagte Martha. »Darüber weiß ich Bescheid. Poppy beschuldigte Scarlet, es gestohlen zu haben. Sie schlich zu Mrs. Forest und sagte ihr, sie habe gesehen, wie Scarlet und Harriet im Umkleideraum das Geld aus einem Turnbeutel genommen hätten. Was sich als Lügenmärchen entpuppte.«

Inzwischen zitterte ich vor Wut. Das war zu viel. Ich hatte Harriet Birch noch nie ausstehen können, ein hinterfotziges Kind. Es tat so weh. Ich fühlte mich hintergangen. »Poppy hat gesehen, wie sie das Geld nahmen.« Am widerlichsten fand ich, dass Martha sich darüber zu freuen schien, dass nun alles offen zur Sprache kam.

Kühl meinte sie: »Und du nimmst ihr das einfach so ab?«