Der Abend kommt so schnell - Cornelia Naumann - E-Book

Der Abend kommt so schnell E-Book

Cornelia Naumann

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Beschreibung

Für Sonja ist der Frieden zum Greifen nah. Mit Kurt Eisner und anderen Pazifisten will sie im Januar 1918 nach vier entbehrungsreichen Jahren den Krieg beenden. Eisner und sie rufen den Generalstreik aus, doch die Aktivisten werden verhaftet. Ihr Ehemann sagt sich öffentlich von Sonja los. Er will seine berufliche Karriere nicht durch das skandalöse Benehmen seiner Gattin gefährden. Nur Fritzi, eine junge Munitionsarbeiterin, besucht die Gefangene. Sie will das Geheimnis der bewunderten Revolutionärin erfahren. Vor dem Leser enthüllt sich das tragische Leben einer Frau zwischen zwei Welten.

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Cornelia Naumann

Der Abend kommt so schnell

Roman

Impressum

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Königlicher Verrat (2016), Die Portraitmalerin (2014)

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2018 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2018

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Christian Zimmer, Gießen 1909

ISBN 978-3-8392-5594-0

Zitat

In meinem Ende liegt mein Anfang.

Maria Stuart

 

 

 

Nichts ist schwerer und erfordert mehr Charakter, als sich in offenem Gegensatz zu seiner Zeit zu befinden und zu sagen: »Nein!«

Kurt Tucholsky

 

 

Prolog

Der Mann im schwarzen Hemd lauerte im Morgengrauen. Die Moldawanka lag noch dunkel und ruhig, keine Spur von der hektischen Betriebsamkeit, die mit Sonnenaufgang in den kleinen Läden der Tandler und Kesselflicker, den Werkstätten, Schneidereien, Schmieden und Wäschereien begann.

Er hatte sich sein Opfer ausgesucht. Ein hässliches Balg aus einer armen Trödlerfamilie, die sich am Rande der jüdischen Geschäfte der Moldawanka angesiedelt hatte, zwischen zweifelhaften Geschäftemachern, Wettbüros und Hehlern, weit entfernt von den besseren Vierteln oberhalb des Hafens.

In den letzten Tagen hatte er sich an das Kind herangemacht. Wie alle diese Bälger war auch dieses versessen auf süße Kekse, Datteln und Schokolade. Es verschlang seine Mitbringsel in solchen Mengen, dass er schon befürchtete, es würde vorzeitig an einem Magengeschwür verrecken. Schon am zweiten Tag näherte sich ihm das struppige, magere Ding wie einem alten Freund, nannte ihn Onkelchen und packte mit klebrigen Fingern seine Hand. Er bezwang seinen Widerwillen, ließ es gewähren, streichelte das verlauste Haar und fütterte es weiter. Der Haken war, dass sich das Balg nicht weit von seinen Geschwistern entfernte, das Gaunerpack hielt zusammen wie Pech und Schwefel. Er musste es weglocken, und er hatte richtig gerechnet: Die Angst, mit den Geschwistern die Herrlichkeiten des neuen Freundes teilen zu müssen, war stärker als die Angst vor dem Vater, der mit Schlägen drohte, sollte sich eines der Kinder mit Fremden einlassen. In dem Gesindel steckt die Gier von klein auf drin, das sitzt in den Genen, dachte er verächtlich, während er den Hintereingang des Trödelladens beobachtete.

Das Kind interessierte ihn nicht. Er wusste nicht einmal, ob es ein Mädchen oder ein Junge war. Es war noch nicht alt genug, ihn zu durchschauen, es war kein jüdisches Kind, keines von den Schwarzmeerdeutschen, es war nicht griechisch und nicht armenisch, sondern russisch, und es war arm, das allein zählte. Er hatte Order, sich nicht mit der Obrigkeit anzulegen. Um einen Pogrom zu entfachen, brauchte es die Dummheit des armen Volkes, das gern bereit war loszuschlagen, und es sollte losschlagen, gegen die Juden, damit es sich nicht mit der roten Brut verbündete.

Er hatte dem Kind etwas Besonderes versprochen, wenn es vor dem Morgengrauen heimlich herauskäme. Seine Katze habe geworfen, hatte er gelogen, und es dürfe sich ein Junges aussuchen, aber es müsse heimlich vor Sonnenaufgang zu ihm herauskommen, denn später seien die Kätzchen fort, sein Bruder wolle sie ertränken.

Wieder sah er zur schäbigen Eingangstür des niedrigen Hauses. Dünne Holzlatten, abblätternder grauer Lack, mehr Schuppen als Haus. Schnell, du blödes Balg, dachte er, gleich geht der Betrieb hier los, dann wird es heute nichts mehr. Aber da sah er, wie die Klinke vorsichtig heruntergedrückt wurde, ein leises Knarzen, schon huschte es heraus, das Balg, über sein schäbiges Nachtgewand hatte es ein mottenzerfressenes Tuch geworfen, und einen Korb hatte es in der Hand. Es blickte suchend um sich und lächelte zutraulich, als es den neuen Freund auf der gegenüberliegenden Seite erblickte. Die verzogene alte Tür fiel mit einem lang gezogenen lauten Seufzer hinter ihm zu. Der Mann zuckte zusammen und beobachtete scharf die umliegenden Häuser, aber die rissigen hölzernen Läden vor den Fenstern blieben geschlossen.

Er setzte sein Wolfsgrinsen auf und hielt dem Kind einladend die Hand hin. Mit der anderen griff er in die Hosentasche und fühlte das Klappmesser. Er packte die verdreckte Hand des Kindes und führte es fort. In einer Seitengasse der Dalnitzkaja würde er es niedermachen, ausbluten lassen, und dann …

Ob es ein weißes Kätzchen haben könne, fragte das Kind. Er tat, als müsse er überlegen, und zog eine Tüte mit Datteln aus der Tasche. Das Kind schob sich eine nach der anderen in den Mund und ging willig an seiner Hand weiter. Aber plötzlich blieb es stehen. Er zerrte an der Kinderhand, aber wie ein unwilliger Esel hatte der verdammte Bankert die Füße in den plump geschnitzten Holzschuhen in den lehmigen Boden der ungepflasterten Gasse gestemmt und ging keinen Schritt weiter. Ein böser Mann wohne dort, da ginge es nicht hin. Aber die Kätzchen seien genau dort, versuchte er das Kind zu überreden, und er werde es beschützen.

Aber es blieb stehen, störrisch, blickte mit plötzlich erwachtem Argwohn nach ihm und versuchte, die Kinderhand aus seiner zu lösen. Er packte fester zu und zerrte das Kind hinter sich her, murmelte etwas vom weißen Kätzchen, aber es brüllte plötzlich wie am Spieß. Er packte das Balg, schlug ihm auf den Mund und ließ die Hand darauf liegen. Es zappelte und wehrte sich, wie dünn und armselig war sein Widerstand, jeden Knochen hätte er ihm brechen können, aber nun hörte er, wie ein Fensterladen geöffnet wurde. Er sah nach vorn, nach oben, alles blieb ruhig auf der Dalnitzkaja. Das Kind erschlaffte unter seiner Hand, die es wie in einem Schraubstock gepackt hielt. Der Mann drehte sich um und sah direkt in die dunklen Augen einer Frau.

Er erstarrte. Die Augen der Frau leuchteten schwarz vor Zorn aus ihrem weißen Gesicht. Sie sah auf ihn, auf das leblose Kind und wieder auf ihn.

Er pfiff schrill, den ausgemachten Pfiff, viel zu früh, aber vielleicht waren die Kameraden schon in der Nähe und konnten ihm entweder dieses Weib oder das Kind abnehmen. Nichts rührte sich. Unerbittlich fixierte ihn die Frau, Augen wie Kohlen. Sie wusste Bescheid. Sie durchschaute seinen schändlichen Plan. Aber er sah auch, dass sie schwankte: Sollte sie das Kind retten oder ihn angreifen? Blitzschnell zückte er das Messer und hielt es dem Kind an den Hals. Die Frau öffnete den Mund. Wollte sie die gesamte Moldawanka zusammenschreien? Unerbittlich hielt er dem Kind, das sich nicht rührte, das Messer an den Hals und sah der Frau drohend ins Gesicht. Er würde dem verfluchten Balg die Kehle durchschneiden, wenn sie schrie. Die Frau schloss den Mund wieder. Aber es schien nicht nur wegen des Messers zu sein. Sie blickte wie erstarrt an ihm vorbei. Was war geschehen? Waren seine Kameraden gekommen? Aber im Blick der Frau lag keine Angst, sondern ein wilder Triumph. Was zum Henker geschah hinter seinem Rücken? Für den Bruchteil einer Sekunde sah er über die Schulter und lockerte unwillkürlich seinen Griff.

Und auf eben diesen Sekundenbruchteil hatte die Frau spekuliert. Sie stürzte auf ihn wie eine Furie, entriss dem Überraschten erst das Kind, dann wollte sie ihm das Messer entwinden, aber schon hatte er sich gefasst, packte das Kind am Arm und zielte mit dem Messer auf ihre Brust, genau in dem Moment, als ihn der Tritt der Frau zwischen die Beine traf. Verfluchte Hure! Er stöhnte vor Schmerz, ließ das Balg los und stieß ungezielt zu, wild vor Schmerz, die Frau schrie auf. Sie blutete am Arm, noch einmal traf ihn ihr Blick, voller schwarzer Wut. Wollte sie mit ihm kämpfen?

»Dreckiger Schwarzhunderter!«, zischte sie und wich seinem zweiten, heftig geführten Stoß aus. Aber sie zögerte. Was war ihr wichtiger? Der Kampf? Das Kind? Er spürte, wie sie schwankte. Dann warf sie ihm einen verächtlichen Blick zu, packte das Kind auf ihre Arme, klopfte ihm mit der ermunternden Zärtlichkeit einer energischen Krankenschwester auf den Rücken und rannte davon, nur zwei Sekunden Vorsprung, während seine Kameraden heranstürmten. Er befahl ihnen, sie zu verfolgen, aber er ahnte: Sie war davon. Diese verdammten Juden waren in der Moldawanka zu Hause, sie kannten jeden Winkel, jeden Fluchtweg von Haus zu Haus, von Dach zu Dach, und von Keller zu Keller hatten sie regelrechte Katakomben ausgehoben. Sein schöner Plan war dahin. Aber er sah ihr weißes Gesicht vor sich, den schmalen, entschiedenen Mund, die zornigen Kohleaugen, das wilde schwarze, vor Erregung aufgelöste Haar, das um ihr auffallend blasses Gesicht wehte.

Dein Gesicht erkenne ich wieder, du Hure, dachte er, gekrümmt zusammensinkend, für den Tritt wirst du bezahlen.

I Streik!

In einer ungewöhnlich milden Januarnacht des Jahres 1918 lief eine Frau durch München, um zu ihrem Ehemann zurückzukehren. Sie hieß Sonja Lerch. Dies ist nicht der Beginn ihrer Geschichte, aber ihre Gefangennahme wenige Tage später ist auch nicht das Ende, und ihr Tod war nicht das wirkliche, geplante Ende, wie es sich für ihren Ehemann und ihre Freunde darstellte. Sie jedenfalls, Sonja, die eigentlich Sarah Rabinowitz hieß, hätte dieser Vorstellung von Anfang und Ende ihrer Geschichte entschieden widersprochen.

Der schwere Wintermantel schlug Sonja um die Knie und wollte ihren Lauf hindern. Sie genoss den Widerstand. Als der Wollstoff nachgab und wie eine dunkle Gewitterwolke hinter ihr herschlug, empfand sie wilde Freude. Schwere schwarze Hexenflügel. Sie riss die Mütze vom Kopf und stopfte sie in ihre Manteltasche, ohne innezuhalten. Wie Milch fühlte sich diese Nacht an, klar war der mondlose Himmel, und über dem Sendlinger Tor funkelten Sterne, glitzernde überirdische Hoffnungsträger. Der Föhn, der sanft von den Alpen herunterwehte, hatte der Stadt tagsüber frühlingshafte Wärme beschert, und nun diese milde Nacht, in der es sich herrlich laufen ließ. Laufen in ein neues Leben, in eine neue Zeit, von der dieses München noch nichts ahnte.

Sonja lief durch die Hauptstadt jenes eigenartigen bajuwarischen Volksstammes, der sich vor tausend Jahren im Isartal angesiedelt und die Urbevölkerung vertrieben hatte, die Kraft des wilden Gebirgsbaches ausnutzend zu Gewerken, die vor allem über Zölle Wohlstand brachten. Eine trickreiche Mischung aus religiösem Starrsinn, verbunden mit Widerstand gegen die mächtigen Kirchenvertreter, die sich über sie erheben wollten, hatte das Herrschergeschlecht als Sieger beim Kampf um die Salzrechte hervorgehen lassen, sie erst zu Herzögen gemacht, die viel später von Napoleons Gnaden profitierten und sich zu Königen ernennen ließen. Die starke Veste mitten in der Stadt stand ebenso verlassen wie die wehrhafte Residenz, im Vorgriff auf die Königswürde hatten die Herzöge Schloss Nymphenburg vor den Toren der Stadt nach Versailler Mode erbauen lassen, der König bevorzugte aber derzeit ein klassizistisches Stadtpalais und Bauerngüter im Umland.

Die ehemals gegen die Herrscher aufmüpfigen Patrizier der Hauptstadt waren durch Wohlstand und Pflege dubioser Tätigkeiten, die sie Brauchtum nannten, behäbig geworden, sodass die Zugereisten die Rolle der Aufmüpfigkeit übernommen hatten. Sie siedelten in den neuen Stadtvierteln hinter dem paradiesischen, ›Englisch‹ genannten Park, der nach englischer Mode dem Flussverlauf malerisch folgte, statt Bäume und Sträucher ins Korsett des Barocks zu zwingen. Die behäbigen Bürger, denen ein Charivari an der ledernen Hose mehr zählte als die Schönheit der durch den pfälzischen Gartenarchitekten Skell gezähmten Natur, die nichts Nützliches hervorbrachte, hatten dem seltsamen Treiben des ältlichen, durch Erbfolge zugereisten Potentaten zugesehen und ihn mit Verachtung gestraft. Da sie wenig Neigung verspürten, ihn zu stürzen und davonzujagen, hatten sie das Gedenken an ihn ausgelöscht, Bibliotheken, Museen, Gärten, Plätze, die der Kunstsinnige gestiftet, mit Fantasie benamst, um den Namen des Stifters auszulöschen, dafür im nächsten Jahrhundert ihren ersten König davongejagt, der im Liebeswahn einer Tänzerin verfiel, und in einem plötzlichen Anfall von Romantik den nächsten König zu ihrem Liebling erkoren, einen homosexuellen Verschwender, der ihre Steuergelder für kitschige Bauwerke und schwülstige Musik hinauswarf und zum Helden wurde, weil er nicht schwimmen konnte und im See ertrank.

Bis vor wenigen Jahren hatte dem Land, durch dessen Hauptstadt Sonja lief, ein sanftmütiger Prinzregent vorgestanden, der den Anarchismus mit geistesabwesendem Lächeln besah, die Brettlbühnen mied, auf denen seine Untertanen freche Lieder gegen die Obrigkeit sangen, und die Zensur auf vermeintliche Unanständigkeiten beschränkt, sodass eine Künstlerszene gewachsen und erblüht war, die sich, relativ unbehelligt von Zensur und Behörden, ins neue Jahrhundert dichtete, malte, sang, tanzte und spielte, unterstützt von zugereisten, sogenannten landfremden Elementen, die dem Ruf der Freunde in ein freieres Land als Preußen gern folgten.

Durch diese Stadt also lief Sonja, eine jüdische Russin, oder, wie sie korrigiert hätte, eine russische Jüdin, durch Annektion keine jüdische Polin, und es hätte so schön bleiben können, hätte nicht der ehrgeizige Sohn des sanftmütigen Prinzregenten in der Hoffnung auf blühende Landschaften und Ausweitung seiner Landesgrenzen bis nach Frankreich sich auf einen Krieg eingelassen, der die gutmütigen Untertanen wieder daran erinnert hatte, dass sie starrschädelige Anarchisten und Preußenhasser waren. Seit vier Jahren verdienten westfälische Schlotbarone und preußische Giftgashersteller an diesem Krieg, der von einem ›Spaziergang nach Paris‹ unter den blöden einglasverklebten Augen einer bornierten Generalität zur gewaltigen mörderischen Materialschlacht sich weitete, Blut, Geld, Bauernsöhne verschlingend, trauernde Frauen, Waisen, Krüppel und hungernde Kinder hinterlassend. Trauer und Hunger machen wütend, und so hatte es bereits Hungermärsche, eingeworfene Scheiben, Plünderungen und Streiks gegeben.

Sonja lief. Sie begann ihren Lauf am Kolosseum, einem der Münchner Etablissements, die mit ›Wirtschaft‹ nur unzureichend bezeichnet waren. Die Kolosseums-Bierhalle fasste bequem die Einwohnerzahl eines mittelgroßen Dorfes und gehörte mit regelmäßigen Darbietungen der aufmüpfigen Künstler auf einer gut ausgestatteten Bühne noch zu den kleineren Bierhallen. Andere fassten ohne Weiteres die Einwohnerzahl einer mittleren Kreisstadt, um dem Bedürfnis der Menschen nach Bier, Geselligkeit und Unterhaltung zu dienen. Das Kolosseum lag, von der Brauerei geschickt platziert, zwischen den kleinen Werkstätten der Handwerker, der Gerber, Kutscher und Stellmacher, den schäbigen Arbeiterwohnungen der mittleren Manufakturen und kleineren Industriebetriebe, die sich hier, zwischen den vielen von der Isar abgeleiteten Mühlbächen, mit ihren vielköpfigen Familien angesiedelt hatten.

Sonja verließ das Kolosseum inmitten Hunderter abgezehrter Menschen. Halb verhungerte Jugendliche, Soldaten mit erschreckten Augen, Alte mit hungrigen Blicken, wütende Frauen taumelten, weniger berauscht als betäubt von dünn gebrautem Kriegsbier, hinaus ins Freie, von den Worten der Redner aufgestachelt zur sofortigen Tat.

Morgen würden sie losschlagen, sagte einer von ihnen bedeutungsvoll zu ihr, schob sich die Kappe tiefer über die Augenbrauen und schwang sich auf sein Fahrrad.

Wie gut war die Versammlung verlaufen! Klug hatte Kurt Eisner gesprochen, sachlicher als jeder andere, aber mit derart eigensinnigem Witz, dass er den Volkssängern, die sonst im Kolosseum auftraten, Konkurrenz gemacht hätte. Der überzeugte Sozialist Eisner würde einmal Bayerns erster Ministerpräsident werden, davon war Sonja überzeugt. Er war ein unglaublich kluger Kopf, weniger Politiker als Journalist und Philosoph, sie mochte ihn sehr.

Albert Winter, erfahrener Sozialdemokrat und Vorstand der Münchner USPD, grau meliert, hatte feinsinnig die Sitzung eingeleitet, nachdem die Polizei sie nicht wie gewöhnlich verboten, sondern völlig unerwartet für öffentlich erklärt hatte. Er habe in diesem Moment erfahren, lächelte Winter, dass die interne Parteiversammlung der Unabhängigen Sozialdemokraten öffentlich sei. Wie schade! Er hätte sie sonst beworben, Kaisers Geburtstag hätten bestimmt viele zum Anlass genommen, zur Versammlung zu kommen, denn Eisners Vortrag über die Friedensverhandlungen hätte Tausende interessiert. Kaisers Geburtstag! Sonja sah Schreinermeister Winter vor sich, schwer, ruhig, konzentriert wie beim Hobeln eines gewichtigen Eichenbalkens, feines Lächeln, das die in Fleisch und Blut übergegangene Bewegung begleitete, mit der er den Bleistift hinters Ohr schob, bevor er sich setzte. Keine Chance hatten die Polizeispitzel gehabt, die sich wie immer betont unauffällig unter die Versammelten gemischt hatten. Wie ironisch Eisner jeden einzelnen von ihnen begrüßt hatte! Die Anordnung werde ihn nicht hindern die Wahrheit zu sagen. Und diese Wahrheit könnten die anwesenden Herren Überwacher ihren Vorgesetzten mitteilen, sie könnten aus seinem Vortrag gewiss manches lernen. Überhaupt und überall, Eisner hatte vergnügt gegrinst, sei die Stunde gekommen, wo man nicht mehr unter vier Augen zu wispern brauche, sondern frei und offen seine Meinung sagen müsse, die sogenannten ›Vaterlandsparteien‹ täten dies ja auch, wenn auch mehr mit Paraden und Uniformkapellen. Und zum Beweis hatte er, Vorstand der USPD, ausgerechnet das Flugblatt der SPD verlesen. Das war nicht verboten.

Sonja lachte, ohne ihren inzwischen rhythmisch sicheren Lauf zu bremsen. Die Forderungen der Sozialdemokraten gingen absolut in Ordnung, nachdem sie ausgerechnet vom konservativen Zentrumsabgeordneten Matthias Erzberger rechts überholt worden waren! Sie forderten freies und geheimes Wahlrecht, Trennung von Kirche und Staat, Abschaffung der Privilegien des Kaisers und des Adels. Hätten die deutschen Sozialdemokraten diese Forderungen vor 1914 durchgesetzt, wäre es vielleicht nicht zum Krieg gekommen, dachte Sonja, nun wurde es höchste Zeit, dem Beispiel der Russen zu folgen.

Sie lief an dem prächtigen Palais vorbei, in dem der russische Botschafter residiert hatte, und sandte mit den Augen einen kleinen ironischen Gruß zu den geschlossenen Läden hinauf, bevor sie in die Barer Straße einbog. Vorbei, Nikolaus II., Kaiser und Autokrat aller Reußen, hatte abgedankt, mit dem schlimmsten aller Despoten war es vorbei. Die Fenster des ›Hotel de Russie‹ waren mit Holzlatten vernagelt, von hier wurde kein Student mehr an die Ochrana ausgeliefert, Wladimir Iljitsch hatte in Russland die Macht. Morgen früh würde Sonja zu den Arbeitern sprechen, zweitausendfünfhundert Menschen erwarteten sie. Es liegt an euch, den Krieg zu beenden, würde sie sagen, wollt ihr weiterhin Waffen herstellen? Keine Waffen bedeutet Frieden. Frieden bedeutet Leben. Leben bedeutet Gleichheit in einer gerechten Gesellschaft. Sie würde vom großen russländischen Reich erzählen, von den Arbeitern, die vor einem Jahr gemeinsam mit den Soldaten das Unrechtssystem des Zaren gestürzt hatten, eines Zaren von hochnäsiger Bigotterie, der sich als Herrscher von Gottes Gnaden für unfehlbar gehalten hatte. So schnell konnte es gehen.

Sonja fühlte, wie der Schweiß ihre Stirn nässte und ein schmaler Faden ihre Wange hinunterrann in den Mantelkragen. Viel zu lange hatte sie in der Stube gehockt wie die Sozis im Parlament von Kaisers Gnaden in ihrem Burgfrieden-Graben, viel zu lange hatte sie gehudelt, getuckt, gehockt, umsorgt. Schluss damit. Morgen würde die Revolution auch hier in München beginnen.

Was hatte Eisner gesagt? »Es geht nicht um Fleisch und Brot, sondern um das Leben!«

250 Menschen waren aufgesprungen und hatten begeistert applaudiert. Dass sie noch so aufspringen konnten! Woher kam die Energie nach dem täglichen Dotschenessen, den erfrorenen Kartoffeln, dem verdorbenen Fleisch? Sonja konnte niemandem übelnehmen, wenn er nur für Fleisch und Brot auf die Gasse ging. Für die Armen bestand das Leben aus dem täglichen Kampf um Brot, von Fleisch gar nicht zu reden. Das gab es dafür in den Offizierskantinen reichlich.

Außerdem würde sie die österreichischen Arbeiter erwähnen, die vorgestern landesweit in den Streik getreten waren, um den Frieden zu erzwingen. Sie würde niemanden auffordern, es ihnen gleichzutun, oh nein! Das fehlte noch, dachte Sonja, dass ich den Polizeispitzeln eine Chance biete, mich in Handschellen abzuführen. Nur einen informativen Vortrag würde sie halten, ihre Zuhörer konnten selbst entscheiden, was zu tun war. Streik! Streik würde die Kriegsherren, die sich allmächtig dünkten, Mores lehren! Streik, in München, in Bayern, dann Generalstreik im gesamten deutschen Reich! Wie eine gewaltige Welle würde das Recht über das Unrecht sich ergießen! Sonja brauchte keine Rede auszuarbeiten. Sie wusste genau, was sie erreichen wollte. Der Krieg musste ein Ende haben, dafür würde sie kämpfen. Viel zu lange hatte sie den Mund gehalten, damit war jetzt Schluss. Aber in dieser Nacht musste sie zu ihm, zu ihrem Liebsten, sie musste sich an ihn schmiegen, ihn lieben, Kraft schöpfen für morgen. Morgen! Morgen wird die Welt anders aussehen, dachte Sonja, umgedreht wie ein alter Mantel.

Sonja lief, und es war still in München an jenem Sonntagabend des 27. Januar 1918. Das Kriegsjahr hatte mit hochtönenden Reden vom Siegfrieden über Russland begonnen und Hoffnungen auf einen Frieden geweckt, den Sonja zutiefst verabscheute und als Lüge entlarvt hatte. Wie konnte ein Sieg Frieden bringen, er brachte stets nur Unterjochung und Versklavung der Besiegten hervor. Siegfried, ein deutscher Name, der Freiheit verherrlichen sollte, aber nur klägliches Heldentum benamste. Seit drei Jahren hatte keine Mutter ihr Kind mehr so genannt.

In lockerem Lauf trabte Sonja am streng gegliederten Klenzebau der Pinakothek vorbei. Einige traurige Gestalten hatten es sich unter den Bäumen unbequem gemacht. Die Zeiten der fröhlichen Zecher und frechen Bettler waren vorbei. Schnapsflaschen kreisten als einziger Trost für das Opfer, das die Männer dem Vaterland geleistet hatten. Krüppel, manche an hölzernen Krücken, Zitterer, Blinde, Wahnsinnige. In der Maxvorstadt, bekannt für freche Brettlbühnen und amüsante Etablissements, war es still. Karl Valentin hatte wegen eines Witzes über den bayerischen König Auftrittsverbot, und die anderen hielten vorsichtshalber ihr Maul. Kathi Kobus hatte ihren ›Simpl‹ geschlossen, nur von der Oper und der Residenz her rollten ein paar Droschken. Die Theater spielten Klassiker, die Kinematografen Rührschnulzen und patriotische Durchhaltefilme. Die Pflichtparade zu Kaisers 59. Geburtstag war am Vormittag an der Feldherrnhalle abgehalten worden, den Bayern war der Preußenkönig mit dem Adler auf dem Kopf und der schnarrenden Redeweise ohnehin verhasst. In den Fabriken der Vorstädte brodelte es, morgen würden sie das Wasser zum Sieden und in spätestens zwei Tagen zum Kochen bringen. Alle würden streiken, da war Sonja sicher. Nach vier Jahren würden sie diesen Krieg von unten beenden, da die Herren Generäle das Wort Frieden nicht mal in den Mund nahmen.

Die Tram rumpelte vorüber. Sonja lief, gelöst und leicht war nun ihr Lauf. Schweiß lief in glänzenden Perlen von der Stirn übers Gesicht, ihr blasses Gesicht hatte sich gerötet, als sie über den Elisabethplatz am geschlossenen Milchhäusl vorbeilief. Vereinsamt, mit Brettern zugenagelt, stand die hölzerne Bude des Inskriptionsbüros mit Plakaten, die seit Beginn des Krieges für die Kriegsanleihen warben. Die Begeisterung hatte nach der siebenten Kriegsanleihe sichtbar nachgelassen.

Sonja passierte die Markthalle und lief Richtung Hohenzollernplatz. Der Streik war keine Münchner Spontanidee, Eisner hatte ihn in Berlin mit den Genossen der USPD im Geheimen beschlossen. In allen Städten des Reiches würde morgen gestreikt werden, ob sich die Gewerkschaften anschlossen war noch die Frage, gerade der Metallarbeiterverband war sehr traditionell und zögerlich. Sonja schlug verärgert nach einer zudringlichen Fliege. Diese Feiglinge! Schlau hatten die Rüstungskonzerne das eingefädelt, ihre Betriebe hatten sie von der Obersten Heeresleitung zu kriegswichtigen Einrichtungen erheben lassen und die Arbeiter in den gut bezahlten Rang von ›Betriebssoldaten‹. Damit hatten die Arbeiter Privilegien, aber auch Angst: Ein falsches Wort, und sie wurden an die Front geschickt. Und ihre Gewerkschaftsvereine? Die mussten bestochen sein, überlegte Sonja, anders ließ sich nicht erklären, warum sie nicht an der Seite der Pazifisten standen.

Die Frauen waren keine Betriebssoldaten. Aber würden sie streiken? Viele dieser Frauen hatten zum ersten Mal selbst verdientes Geld in der Tasche. Wenn die Männer im Feld standen, war die Fabrikarbeit die einzige Chance, die Familie durchzubringen. Dafür nahmen die Munitionsarbeiterinnen sogar die spöttische Bezeichnung ›Kanari‹ in Kauf, denn die giftigen Stoffe verfärbten Haut und Haare gelb, manchmal sogar grün. Gerade die Kanari muss ich überzeugen, dachte Sonja, im Rüstungswahnsinn lag der Grund, dass der Krieg kein Ende nahm. Die Etappen waren durch die gewissenhafte Arbeit der Frauen stets gut versorgt.

Sonja lief nun in einem ruhigen Trab und spürte beglückt ihren gleichmäßigen Atem. Wie die russische Dampfwalze, dachte sie und musste lachen. Es ging voran, in jeder Hinsicht! Nur noch über den Hohenzollernplatz, dann würde sie in ihrem Schwabinger Nest sein, ihrem Dachjuchhe, warm, geborgen, bei ihm, bei dem Mann, den sie liebte. Henryk. Von der Kaserne drang dumpfes Trommeln herüber.

Sie lief durch die Tengstraße und bog in die Clemens­straße ein. An der Ecke neben der geschlossenen Konditorei stand der Ziegelbrenner und rauchte. Wahrscheinlich rauchte er diesen Knaster aus Kräutern und Brombeerblättern, deren Qualm er seiner Frau unmöglich in der Wohnung zumuten konnte.

Der Ziegelbrenner hieß eigentlich Ret Marut, und er würde einmal unter dem Namen B. Traven Weltkarriere machen, aber das wusste er noch nicht, und Sonja würde es nie erfahren. Sie hatte ihn im Verdacht, dass Marut nicht sein wahrer Name war. Es war ihr gleich, seit ihrer Kindheit war Sonja mit Decknamen vertraut. Vor zwei Jahren war Marut über der Konditorei eingezogen und hatte eine Zeitung namens ›Ziegelbrenner‹ herausgegeben, schräg wie die Wände seiner Dachwohnung, ein dünnes, rot eingebundenes Heft, dessen Untertitel ›Kritik an Zuständen und widerwärtigen Zeitgenossen‹ allein ausgereicht hätte, den Herausgeber nach Stadelheim zu schaffen. Sonja bewunderte, wie frech er die Polizei zu hintergehen wusste. Eines stand fest: Der Ziegelbrenner war Anarchist und Pazifist. Seltsame Ansichten hatte er, Kurzgeschichten und Gedichten folgten bizarre Artikel zur Weltlage, die Sonjas Berliner Ehemann als ›knorke‹ bezeichnete. Der Ziegelbrenner passte nach Schwabing zur Boheme, die Sonja liebte und die sich hier seit der Jahrhundertwende angesiedelt hatte. Hungerwinter? Ringelnatz, Mühsam, Valentin reimten im ›Simpl‹ für ein warmes Abendessen. Die Zenzl Mühsam, die auch jeden Tag beim Bäcker anstand, still und bescheiden mit ländlich aufgeflochtenen Zöpfen, war derart abgemagert, dass Sonja sie vorgestern kaum erkannt hatte.

Sonja nickte dem Ziegelbrenner zu, er nahm zum Gruß die Pfeife aus dem Mund, vollführte eine ironische Verbeugung wie vor einer Granddame und wünschte einen »g’ schissenen Sonntag«.

Sonja lachte und suchte in der Manteltasche nach ihrem Schlüssel.

Die Wohnung war dunkel und kalt. Einen Augenblick stand sie in der geöffneten Tür, zögerte, ihr Zuhause zu betreten. Ein Geruch nach Sauerkraut und angebrannten Linsen schlich der Tür entgegen. Kalte Asche, ungelüftetes Schlafzimmer, klamme Strohmatratzen lagerten darüber. Sonja fröstelte, fühlte Unbehaustsein. Vertrautes war plötzlich unwirtlich, die Wärme des winterlichen Föhns durchdrang nicht die steinernen Mauern. Der schmale Kanonenofen war kalt, Henryk war nicht da. Plötzlich überfiel Sonja ein schlechtes Gewissen. Sie hatte weder eingeheizt noch fürs Abendessen gesorgt, bevor sie ging. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass die Versammlung und die anschließende Vorstandssitzung bis in den Abend dauern würden.

Wo war er? Sonja drehte das Licht an. Auf dem Tisch, der in der winzigen Dachwohnung als Esstisch und Schreibtisch diente, lag das wilde Durcheinander des Homme de Lettres: seine aufgeschlagenen Bücher, Grammatiken, sein Notizheft, seine Schreibmaschine, garniert von einer leeren Teetasse und einem Apfelbutzen. Die Tischdecke war ohne Rücksicht auf Falten zur Seite geschoben, der Krug mit knospenden Kirschzweigen stand gefährlich nah am Rand. Sonja seufzte zärtlich. Es war einem Mann offensichtlich nicht zuzumuten, die Tischdecke erst zusammenzufalten und auf den Stuhl zu legen, bevor er den Tisch in seinen Arbeitstisch verwandelte.

Sie griff nach dem Krug, um ihn auf die Fensterbank zu stellen, stellte entzückt fest, dass sich aus den grünen Knospen schon runde weiße Köpfchen hervorschoben, und dachte, dass der nahende Frühling ein Friedensfrühling würde, und dann würde sie ihm einen Schreibtisch kaufen. Am Krug lehnte ein Zettel. Einen weit aufgerissenen Mund hatte er gezeichnet: ›18.30. Sterbend vor Hunger, schleppe ich mich ins Maxe. Komm nach, Schatz.‹

Sie lächelte. Er hatte es nicht übel genommen, dass sie ihn allein gelassen hatte. Die Uhr zeigte fünf nach acht, also schien er sich im Max-Emanuel-Brauhaus nicht zu langweilen. Und zu essen hatte er auch bekommen. Sie hatte im letzten Kriegsjahr oft gealbert, sie wolle ins Hotel ›Vier Jahreszeiten‹ umziehen, da gäbe es immer was zu essen. Er war mehr fürs ›Adlon‹, und dann stritten sie zum Spaß, wo das Essen besser war, in Münchens oder Berlins Grandhotel.

Sonja stellte die leere Tasse in den Spülstein, warf den Apfelbutzen in den Müllkübel und ging in das winzige Badezimmer. Sie wusch das erhitzte Gesicht mit eiskaltem Wasser, betrachtete sich im Spiegel und war wieder einmal von tiefer Dankbarkeit erfüllt, dass sie in diesem modernen Haus wohnen durfte, komfortabel mit Bad und elektrischem Licht. Weit draußen in Schwabing, klein, unterm Dach – gern für diesen Luxus, von dem sie in Warschau nur hatte träumen können.

Sorgfältig bürstete sie ihre zerzausten dunklen Haare, zog einen Mittelscheitel und steckte sie mit großen Klemmen im Nacken zusammen, wechselte die Bluse, drehte das Licht ab und verließ die Wohnung.

Im Brauhaus war Betrieb. Es roch nach Bratkartoffeln, Bier und Zigarrenqualm. Die Stimmung war auffallend gut.

Sonja entdeckte ihren Ehemann in dem gut gefüllten Wirtssaal sofort, groß, breitschultrig, das blonde Haar etwas schütter, er gestikulierte und lachte. Zärtlich lächelte sie ihn an, Liebe überflutete sie wie eine heiße Welle. Heinrich Eugen Lerch, von Sonja liebevoll mal Henryk, mal Genjuscha benamst, war nicht allein. Am hell gescheuerten Wirtshaustisch saß sein Kollege Klemperer mit seiner Frau Eva, eine schweigsame Musikerin mit diffusem Blick durch starke Brillengläser. Sonja nannte sie bei sich ›die Klimperin‹, da sie stets die Arbeiten ihres Mannes in die Schreibmaschine tippte und sich ihren Etüden nicht widmen konnte.

»Meine Frau kommt von Kaisers Geburtstag! Direkt von der Parade!«, scherzte Lerch, und Klemperer wollte wissen, ob der Anblick von so viel Lametta weihnachtliche Gefühle ausgelöst habe. Sonja lachte. Weniger weihnachtliche als revolutionäre.

Und an Eva gewandt, fügte sie hinzu, die Arbeitermarseillaise habe sich ohne Militärkapellen-Tschingderassabum melodiös und überzeugend angehört.

Die Klimperin lächelte wie immer etwas zerstreut, Klemperer wollte sofort wissen, welchen Text sie eigentlich auf »Allons enfants de la patrie« sangen, und Sonja musste gestehen, dass »Marsch, marsch, marsch, marsch« den Refrain einleitete. Der Spott war ihr sicher. Klemperer und Lerch hatten bei ihrem verehrten Professor Vossler in der Romanistik habilitiert und verstanden sich auf der Ebene geistreicher Bonmots bestens. Sonja hatte gedacht, sie seien befreundet, bis Henryk sie einmal aufklärte: Er sei stets auf der Hut, müsse herausfinden, was Klemperer plane, damit sie sich nicht für denselben Lehrstuhl bewerben würden. Obacht, hatte er gesagt, Freund oder Feind, er hört mit. Klemperer sprach, so hatte Sonja einmal zufällig gehört, vom ›Verkehr‹ mit seinem Kollegen, als ob es zu einer wirklichen Freundschaft nicht reiche. Ihr gegenüber war Klemperer aber stets der gleichberechtigte Gelehrte, er respektierte sie als promovierte Nationalökonomin, und das war keine Selbstverständlichkeit. Viele Dozenten der Universität verachteten studierte Frauen. Hinter ihrer Verachtung verbargen sie die Furcht, dass die Frauen sie von ihren Lehrstühlen vertrieben, während sie im Feld standen.

»Allons, enfants! Was trinkst du?«

Sonja entschied sich für ein Dunkles. Die Männer scherzten, lachten und diskutierten über die Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk, die, so meinte Klemperer, gut vorankämen. Sonja widersprach ihm. Die russische Delegation werde über den Tisch gezogen.

»Aber es ist doch nichts dagegen einzuwenden, Polen endlich die Unabhängigkeit zu geben«, meinte Klemperer, fast 200 Jahre russische Besatzung seien genug. Lerch stimmte ihm zu, wenn schon kein Siegfrieden zu erreichen sei, warum nicht ein Frieden, der Russland nicht wehtun würde.

»Du bist doch die Erste, die gejubelt hat, dass das Zarenreich bluten muss«, meinte er zu seiner Frau.

»Aber es ist nicht mehr das Zarenreich«, entgegnete Sonja erbost, »die Sowjets müssen jetzt für etwas bluten, was sie nicht zu verantworten haben.«

Lerch hob die Hand wie auf dem Katheder und zitierte Nietzsche, irgendwas über die Unvermeidlichkeit der Nachfolge. Sonja sah in Henryks geliebtes Gesicht und wusste nicht, was sie erwidern sollte. Hatte sie nicht gerade im Kolosseum vor den Massen heftig agitiert, diskutiert, Zwischenrufe gut pariert, Menschen mit guten Argumenten überzeugt? Wenn sie ihm gegenübersaß, fühlte Sonja sich mattgesetzt. Was sollte sie sagen, die nationale Frage, Mehring, Kautsky, Lenin fielen ihr ein. Die nationale Unabhängigkeit hing nicht so innig mit den Klasseninteressen des kämpfenden Proletariats zusammen, dass sie bedingungslos, unter allen Umständen anzustreben wäre. Außerdem war die Oberste Heeresleitung am Frieden mit Russland nur interessiert, um alle Soldaten von der Ost- an die Westfront zu schicken. Während die armen Kerle und ihre Familien hofften, durch den Separatfrieden kämen sie nach Hause, waren sie längst als Kanonenfutter geplant, um den Erbfeind Frankreich zu besiegen. Aber diesen Zusammenhang verstanden die wenigsten, und wenn sie ihn öffentlich anprangerte, würde sie wegen Defätismus verhaftet.

»Sogar Erzberger nennt den Siegfrieden inzwischen Verständigungsfrieden«, argumentierte sie unlustig. Welche Debatte sollte hier im Wirtshaus geführt werden, sie entbehrte jeder Heiterkeit.

»Ein Separatfrieden kann kein demokratischer Frieden sein. Die Kurländer werden nicht unabhängig, sondern preußisch sein. Außerdem ist es jüdisches Land«, sagte Sonja und blickte zu Klemperer, Rabbinerkind wie sie, er musste doch verstehen, worum es ging. Die Provinzen, die die Oberste Heeresleitung forderte, waren sogenannte ›Ansiedlungsrayons‹. Die antisemitische Herrschaft des Zaren hatte jüdische Ghettos geschaffen, der Westen des riesigen russländischen Reiches bestand zu 50 bis 70 Prozent aus jüdischer Bevölkerung, raffiniert hatten Generationen von Zaren die Juden im polnischen Widerstandsgebiet angesiedelt. Nationalismus, Pogrome und Vertreibungen würden die Folge sein, aber Sonja stand auf verlorenem Posten: Entweder ahnten die verhandelnden Delegationen das nicht oder es war ihnen gleichgültig.

Klemperer verstand ebenfalls nicht, oder wollte er nicht verstehen? Auf alles Jüdische reagierte er als Konvertit. Und Henryk war so arglos wie alle, die nur den heiß ersehnten Frieden sahen und nicht begriffen, warum Sonja sich heftig dagegen wehrte.

»Du schreist doch seit vier Jahren nach Frieden«, meinte Lerch. Der Biergenuss machte ihn laut und eine Spur überheblich.

»Ein erpresster Frieden ist nichts als eine Niederlage«, sagte sie leise.

»Du bist hier die Sozialistin, dann nimm deinen Trotzki an die Leine!«

Die USPD hatte tatsächlich an Trotzki appelliert, die Friedensverhandlungen so lange hinauszuzögern, bis auch in Deutschland die Revolution den Kaiser vertrieben und man einen annexionsfreien Frieden schließen könne – oder, wie Sonja sich ausdrückte, die Soldaten sich einfach in die Arme fallen würden. Von Eisner selbst war der verwegene Vorschlag gekommen, die russische Delegation zu besuchen. Sonja kannte Trotzki und hätte dolmetschen können. Das wäre natürlich Hochverrat gewesen, vermutlich wäre sie verhaftet worden, bevor sie die Reise auch nur angetreten hätte. Ein geheimer Brief hatte ausreichen müssen, daraufhin verzögerte die russische Delegation die Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk immer wieder. Das aber konnte Sonja nicht sagen. Ihr Mann hatte keinen Schimmer, dass seine Ehefrau, die ihm täglich das Essen kochte und die Wohnung versorgte, einen Einfluss auf die Verhandlungen der russischen Delegation hatte. Er wusste auch nicht, dass sie an der Übersetzung von Trotzkis Flugblatt mitgewirkt hatte, das seit Dezember heimlich in der Universität und auf den Straßen von Hand zu Hand ging.

Sonja entschied sich für einen Scherz: »Ja, du hast recht, Henryk. Morgen kaufe ich eine Leine!«

Gelächter. Aber etwas stimmte nicht, wieder einmal war ihr ein Scherz missglückt.

Wütend sah Henryk sie an. »Ja, und vergiss nicht, auch einen Maulkorb zu kaufen – für dich!«

Sonja erstarrte. Sie hatte vergessen, dass sie über seine Witze lachen durfte. Sie war sein Publikum, nicht er ihres. Für geistreiche Scherze war allein Henryk zuständig, in der Ehe und beruflich. Seine Studenten und seine Frau durften darüber lachen. Wehe, wer sich in witzigen Bemerkungen versuchte: Er nahm sie stets als gegen sich gerichtet. Schnell, Sonja, Gesicht in Bierkrug tauchen, verstecken, wegducken.

Klemperer meinte versöhnlich, sie kämpften alle gegen den Krieg, man könne ja nicht einmal mehr arbeiten: »Meine Astrée kommt nicht voran. Ich kann kaum einen klaren Gedanken fassen!«

»Ja, es ist ein Elend, wie der Krieg einem die Zeit stiehlt!«

»Woran arbeitest du gerade, Heinz?«

»Woran ich arbeite? Willst du das wirklich wissen?«

»Selbstverständlich«, erklärte Klemperer erstaunt.

»Ich studiere Erlasse über Woll-, Web- und Strickwaren, berechne den voraussichtlichen Bedarf unseres Heeres, ich kämpfe einen heroischen Kampf mit der Reichsbekleidungsstelle um Anerkenntnis unserer Behörde als ›gemeinnützige Kleinhändler‹ und Ausstellung eines ›Hauptbezugsscheins‹, was besagte Reichsbekleidungsstelle bisher abgelehnt hat, weil sie von unserer Stelle offenbar nicht die leiseste Idee eines Schimmers von einem Dunst hat …«

Klemperer lachte schallend, die Frauen blickten einander verständnisvoll an, und Lerch fuhr, befeuert wie ein Schauspieler von Applaus, fort: »… und ich versuche, Futterstoffe zu kaufen, die nicht mehr vorhanden sind. Letztens forderte ich vorgeschossene Marschgebührnisse wieder an, wobei ich für eine veranlagte Mark 50 Pfennige wiederbekomme und der Kasse der Krankentransportabteilung der sechsten Armee ausführlich nachweisen muss, dass sie einen falschen Paragrafen der Marschgebührnisvorschrift, gleich Dienstvorschrift Nr. 88, angewandt hat, während in Wirklichkeit Tabelle XII einschlägig ist … So schrieb ich eine Stunde, um 50 Pfennig einzutreiben. Hier …« Lerch griff in die Tasche und legte vor seinem inzwischen hemmungslos wiehernden Publikum mit dramatischer Geste eine Münze auf den Tisch: »Es wäre einfacher, sie aus meiner Börse zu bezahlen, aber das geht natürlich unter keinen Umständen. Ihre Astrée, Herr Collega? Ha! Gerade habe ich einen lächerlichen kleinen Versuch über Flauberts Novelle ›Novembre‹ verfasst, während ich mit Argusaugen darüber wachte, dass entlassene Mannschaften ihre Uniformen wieder einliefern, wobei es sich ereignet, dass sie in derselben erscheinen, sodass ich ihnen die Hosen nicht gut vom Leibe ziehen kann …«

»Genau«, rief Klemperer, der sich vor Lachen nicht mehr halten konnte, »was mir mit meiner prunkvollen bayerischen Uniformhose geschehen ist! Ich hatte keine andere, es gab in der Kleiderkammer nichts, also behielt ich sie an. Ihr kennt das Ding mit den Streifen. Ich sitze also im Zug nach Berlin, der nächste preußische Soldat steht vor mir stramm, weil er meine bayerische Kürassieruniform für die eines Offiziers hält …«

»Victor, beim nächsten Mal kommst du zu mir in die Kleiderkammer, dann staffiere ich dich aus, dass der nächste dich für einen General hält!«

Nun lachte auch die zurückhaltende Klimperin rundheraus, und Lerch, nach einem tiefen Zug aus seinem Krug, setzte neu an: »Gestern schickte die Kolonne der alten Kunststadt Bayreuth 0,02 Mark in bar zurück, hübsch säuberlich eingewickelt – Unkosten etwa 4 Pfennig Porto! –, da hieß es nachforschen: Hatte ich 0,02 Mark zu viel angewiesen? Oder hatte die Pfälzische Bank 0,02 Mark zu viel ausbezahlt? Gott sei Dank war es die Pfälzische Bank, der die Summe wiederzuzustellen ich mich beeilte …«

»Hübsch säuberlich eingewickelt!«, lachte Eva und wischte sich Tränen aus den Augen.

Auch Sonja lachte jetzt. Wie geistreich Henryk war! Mit welchem Witz er die geisttötende Arbeit wegsteckte, er, Dozent der Romanistik, der ehrgeizig an der Münchner Uni seine Karriere betrieb, um einmal einen eigenen Lehrstuhl zu bekommen. Er konnte wahrlich nichts dafür, dass der Krieg ihn ins Kleiderlager des Roten Kreuzes schickte. Wäre Frieden, er wäre längst ordentlicher Professor, seine Arbeit war vor vier Jahren mit summa cum laude ausgezeichnet worden. Voller Liebe lachte sie ihren Gatten an. Vergessen war der Seitenhieb mit dem Maulkorb.

»So leben wir, so leben wir alle Tage«, schloss Lerch, und er konnte es nicht lassen, die Zeile des alten preußischen Marsches zu singen, leise zwar, aber im Wirtshaus waren inzwischen einige Gäste auf die fröhliche Runde aufmerksam geworden.

Ein Mann kam an den Tisch, seinen Bierseidel in der Hand. Er täte gern mit, wenn die Preußen den Geburtstag ihres Kaisers feierten, sagte er finster. Es ginge ja fidel zu im Wirtshaus, während da draußen an der Westfront die Soldaten erschossen, vergiftet, vergast würden.

Klemperer und Lerch sahen einander geniert an. Sein Kollege habe es nicht so gemeint, beschwichtigte Klemperer. Der Mann musterte erst ihn, dann Lerch mit der Gründlichkeit des Angetrunkenen, bis er entschied: »Doch. Was gesagt ist, ist gesagt.«

Und er fuhr fort: »Bayerns Söhne lassen zu Hunderttausenden ihr Leben für euch Preußen! Wer hat uns in den Sumpf des Verderbens geführt? Seien wir ehrlich! Nicht eingebildete Feinde! Nicht die Engländer und Franzosen! Die Schuldigen sind einzig und allein die Preußen! Die Behauptung, dass die gegnerischen Länder den Krieg gegen uns begonnen haben, ist ein Schwindel! Der jetzige Krieg geht nicht um die Interessen Bayerns, sondern um die Macht des Polizei- und Junkerstaates Preußen!«

Er sei nicht satisfaktionsfähig, murmelte Lerch. Es sollte ein Witz sein, aber er kam übel an. Der Mann schlug mit der Faust auf den Tisch: »Raufen will er, der Saupreiß! Sperr deine Ohrwascheln auf: Wir Bayern stehen in keinerlei Interessensgegensätzen zu den Völkern, mit denen wir Krieg führen. Im Gegenteil, wir verdanken zum Beispiel Frankreich im Laufe der Geschichte große Förderung unseres Landes und Volkes. Von den gegen uns im Kriege stehenden Regierungen hat noch keine die Unterdrückung Bayerns als Kriegsziel hingestellt. Wohl aber richtet sich der Krieg – und das mit Recht, meine Herren! – gegen Preußen, das neben dem früheren Russland der korrumpierteste Großstaat Europas ist!«

Wenn er nicht leiser spricht, kommt gleich ein Polizeispitzel und verhaftet ihn, dachte Sonja, die durchaus Sympathie für manches empfand, was der Mann sagte. Jedenfalls war er keiner dieser Bayern, die Fontane als verbiert und verdummt bezeichnet hatte. Verstohlen sah sie sich um. Der kräftige Wirt am Tresen sah bereits aufmerksam zu ihnen herüber, während er Krug um Krug mit Kriegsdünnbier füllte. Klemperer hob die Hand, um zu beschwichtigen, aber sie wurde gepackt: »Magst auch raufen?«

Oje, bloß keine Wirtshausschlägerei, dachte Sonja, der schmächtige Klemperer und ihr Henryk, zwar groß, aber im Kämpfen völlig ungeschult, das konnte nicht gutgehen.

Sie erhob sich, sie musste dem aufgebrachten Menschen zusprechen und ihn zu seinem Platz zurückführen. Sie wusste, wie unruhige Schüler zu beruhigen waren. Der Mann sah die Bewegung, erkannte Sonja, riss die Augen auf und sagte respektvoll: »Ah, Frau Ranowska, entschuldigen’S bittschön, ich wusste ja nicht … Ich mein nicht Sie, die Herren, nicht Sie persönlich, ich mein ja nur den König von Preußen. Entschuldigen’S, Frau Doktor.«

Und weil er den Zeigefinger sah, den sie vor die Lippen hielt, flüsterte er noch: »I bin ja nur ein um sein Land besorgter Bayer. Die Frau Doktor ist viel klüger, die kann euch besser erzählen, wie des alles zusammen passt. Fragt sie, meine preußischen Freunde, wo die fünf Milliarden nach dem Siebziger Krieg hingekommen sind! Habe die Ehre!«

Er verbeugte sich, wobei er etwas Bier vergoss, küsste Sonja die Hand und ging leicht schwankend fort.

Der Nachhauseweg verlief schweigend.

Lerch verbarg seine kalte Wut unter erlesener Höflichkeit. Er bot Sonja den Arm, und sie hielt unglücklich seinen Schritt, während sie fühlte, wie ein Eisberg zwischen ihr und ihm mit jedem Schritt wuchs. Sie schloss die Haustür auf, dieser ließ sie los und stürmte voran, zwei Stufen ein Schritt. Er schloss die Wohnungstür auf, pfefferte seinen Hut auf die Ablage, dass er sofort wieder herunterfiel, eroberte mit drei Schritten das Wohnzimmer und knallte den Schlüssel auf den Tisch.

»Wie lange willst du diese Komödie noch treiben?«

Der Eisberg krachte zusammen. Sonja hob, heiß vor Scham, Henryks Hut auf, glättete ihn und legte ihn auf die Ablage.

»Wie soll ich Klemperer antworten, wenn er mich nach ›Frau Ranowska‹ fragt? Für mich ist es keine Komödie mehr, sondern eine saudumme Farce, nicht einmal einer Tragödie würdig.«

Sonja entgegnete leise, sie habe ihr Pseudonym nur gewählt, um ihn zu schützen. Es sei ihr klar, dass es seiner Karriere schade, wenn sie sich unter seinem Namen bei den Sozialdemokraten engagiere.

»Bei den Sozialdemokraten? Das ginge ja noch an, aber du musstest diese Spalter wählen, die sich Unabhängige nennen und durch besondere Radikalität hervortun!«

»Wir wollen nur den Krieg beenden, unter dem du auch leidest.«

»Schön! Gut! Sonja, es wird dir einleuchten, dass dies nicht länger unter dem albernen Pseudonym ›Ranowski‹ gehen kann …«

»Ranowska«, verbesserte sie pedantisch, »und es tut mir leid, wenn du den Namen meiner Urgroßmutter albern findest.« Wütend funkelten ihre Augen ihn an.

»Pardon, Ihre Großfürstin zu Ranowskaja!« Henryk vollführte einen bühnenreifen Kratzfuß. »Ich bin bereit, darüber hinwegzusehen, wenn der Spuk mit der heutigen Parteiversammlung ein Ende hat!«

Sie sah ihn fassungslos an. »Ein Ende? Der Streik beginnt doch morgen erst!«

»Ach was! Und wie lange soll er gehen?«

»Bis alle Räder stillstehen!«, sagte sie feurig.

Lerch betrachtete seine Frau. Er liebte ihre Leidenschaft, und es störte ihn, dass sie nicht ihm galt.

»Ihr seid ja wahnsinnig! Du wirst enden wie Rosa Luxemburg, sie kommt seit zwei Jahren nicht aus dem Gefängnis frei!«

»Ich werde nicht enden wie Rosa, im Gegenteil. Was wir in München tun, wird auch zu Rosas Befreiung führen, in einer Republik mit einer demokratischen Verfassung.«

»Bist du völlig irre? Willst du den gewaltsamen Umsturz?«

»Streik ist das friedlichste Mittel, das ich kenne«, erklärte Sonja, »und gleichzeitig das wirkungsvollste. – Genjuscha«, beschwor sie ihn zärtlich und ergriff seine Hand, »ich bin doch keine dumme Gans, ich hab das alles schon mal gemacht, und …«

»Und bist schon mal gescheitert!«

»Ich habe daraus gelernt. Und ich habe jahrelang stillgehalten, nur für dich. Jetzt agiere ich, für alle Menschen, und wieder für dich. Wollen wir nicht alle Frieden?«

»Ja, aber nicht um den Preis eines Umsturzes!«

»Welchen Preis setzt du ein? Abwarten?«

»Ich brauche Ruhe zum Arbeiten.«

»Die Ruhe des Soldatenfriedhofs? Oder die des Roten Kreuzes, die du seit drei Jahren genießt?«

»Unsinn! Ich denke genauso pazifistisch wie du, aber man kann doch nicht so unüberlegt losschlagen.«

»Dieser Streik ist alles andere als unüberlegt. Er soll zunächst nur eine Woche dauern, ein Warnstreik.«

»Habt ihr die Gewerkschaften hinter euch?«

Sonja schob verächtlich die Unterlippe vor.

»Die SPD wenigstens?«

»Gleich wirst du mich fragen, ob wir die Oberste Heeresleitung hinter uns haben.«

»Sieh dir diesen Eisner an! Niemals kann der einen bayerischen Arbeiter zum Streik bewegen, dieses Berliner Männeken aus der Journalistenbranche! Er spricht doch eine ganz andere Sprache!«

Sonja dachte an die letzte Versammlung, an Eisners beißende Ironie, an seine feinen Witze über die Obrigkeit, die die Arbeiter zu Lachstürmen und schlagfertigen Zwischenrufen hingerissen hatten, und dachte, fröhlich muss die Revolution sein. Aber dann fiel ihr Jakuw ein, der dies gesagt hatte, und ihr Herz krampfte sich zusammen. Fröhlich muss der Sozialismus sein. Das war in einem anderen Leben gewesen, vor tausend Jahren. Ach Odessa, dort wehen schon Europas Düfte, dort streut der Süden Glanz und Düfte … Plötzlich fühlte sie sich wie ein schweres, gepanzertes Tier aus einer untergegangenen Epoche.

»Wie auch immer, es geht mich nichts an, was Eisner tut, aber du musst dich entscheiden«, befahl Lerch.

Entscheiden? Sonja blickte erschreckt.

»Du bist meine Frau, und du wirst nicht rote Fahnen schwingend durch München ziehen«, erklärte Lerch im Haushaltsvorstandston. Er stutzte plötzlich, eilte zum Tisch und schrieb eine Notiz auf ein Blatt Papier.

»Ich schwenke keine rote Fahne.«

»Du willst mich nicht verstehen, nicht wahr? Dann werde ich deutlich: Ich will eine Ehefrau an meiner Seite, keine Pétroleuse, die unter einem Decknamen vor Arbeitern durch die Straßen Münchens zieht.«

»Dann müssen wir uns scheiden lassen«, sagte Sonja kampfeslustig.

Lerch stutzte.

»Ich kann ja in die Pension Berg ziehen«, schlug Sonja vor.

Ihm traten die Tränen in die Augen.

»So wichtig ist dir deine Politik«, murmelte er.

»Henryk, Genjuscha, Liebling!«, rief sie beschwörend. »Wir hatten eine Abmachung bei unserer Hochzeit! Als modernes gleichberechtigtes Paar wollten wir leben. Ich habe dir versprochen, mich zunächst nicht politisch und beruflich zu betätigen, du weißt, wie ich denke und welche Ziele ich im Leben habe. Ich habe mich zurückgehalten, damit du in Ruhe deine Habilitation schreiben kannst. Jeden Stein habe ich dir aus dem Weg geräumt …«

»Nicht eine Seite hast du getippt«, beschwerte er sich.

»Hast du eine einzige Seite meiner Diss getippt?«

»Also wirklich!« Er sah empört aus. »Das ist doch was völlig anderes.«

Sie lachte plötzlich schallend. ­»Oh Magnifizenz, Steine wegräumen oder Seiten tippen, das ist hier die Frage! Ich habe weder Lust noch Zeit für eine Frauenrechtsdebatte. Die können wir führen, sobald ich mir das Wahlrecht erfochten habe. – Darf ich dich daran erinnern, dass wir beide Studenten waren? Warum nicht einander die Promotionsarbeiten tippen. Einigen wir uns darauf, dass ich nichts von französischer Syntax und du nichts vom russischen Wirtschaftssystem verstehst.«

Einigen! Lerchs Gesicht wurde grau. Die angetrunkene Hochphase wich einer säuerlichen Gekränktheit, die ihn stets befiel, wenn er sich in eine ernsthafte rhetorische Auseinandersetzung mit Sonja einließ. Studierte Frauen waren von hinreißender Erotik, konnten aber sehr anstrengend sein. Das Eheleben hatte seine Reputation an der Alma Mater erhöhen sollen, zu gegebener Zeit auch Kinder, warum nicht. Eine promovierte, gescheite Gattin, modern, vielseitig interessiert, kein Heimchen. Dieser Krieg hatte alles durcheinandergebracht. Aber er ahnte, dass Sonja auch nach dem Krieg kaum gepflegte Nachmittage mit den Professorengattinnen der Philosophischen Fakultät im Café Luitpold verbringen würde. Diese ordneten sie eher unter die Kategorie ›Flintenweiber‹ ein. Eine Ehefrau mit einem politischen Kampfnamen. Russische Steppenfurie, hatte die Munckerin getuschelt. Er wurde gesellschaftlich unmöglich, Vossler würde ihn fallen lassen. Womöglich musste er als Lehrer in einer Schule Französisch unterrichten … Schweiß trat Lerch auf die Stirn.

Sonja war ernst geworden. Henryks Stimmungsumschwung war ihr nicht entgangen. Sie war gewohnt, sich auf ihn einzustellen, und hatte dies immer als Seelenverwandtschaft verstanden. Zum ersten Mal regte sich Widerstand in ihr. Einmal musste die heilige Alma Mater Rücksicht auf ihre Politik nehmen. Es war absurd, dass die Professoren in einem monarchischen Unrechtssystem in Ruhe forschen konnten, sich aber für die Freiheit von Forschung und Lehre nicht erwärmen konnten.

»Komm doch mit«, sagte sie versuchsweise.

»Du verstehst nichts! Ich habe ein Stipendium vom bayerischen Staat …«

»Von der privaten Stiftung eines vermögenden jüdischen Intellektuellen«, korrigierte sie.

Lerch sprang auf, als wolle er sie packen. Er besann sich anders, fiel wieder auf seinen Stuhl zurück und sagte: »Ich will in den bayerischen Staatsdienst! Ich tu das auch für dich, Sonja! Sollen wir ewig in dieser Boheme unterm Dach leben? Wollen wir nicht ein bisschen Wohlstand und ein paar Kinder?«

»Nicht in Knechtschaft«, erklärte Sonja entschieden. »Meine Kinder sollen in einer freien Republik aufwachsen. – Ich bin müde, und morgen muss ich früh raus«, sagte sie abschließend. »Kannst du mich heute Nacht ein letztes Mal ertragen? Morgen ziehe ich dann in die Pension Berg.«

Sie erhob sich, küsste ihn sanft auf die Stirn und ging ins Schlafzimmer, ohne seine Antwort abzuwarten.

Lerch saß eine Weile schweigend. Dann drehte er das Licht aus und folgte ihr.

»Komm«, flüsterte er an ihr Ohr, als er sich zu ihr gelegt hatte, »du willst dich scheiden lassen, aber wir lieben uns, nicht wahr?«

Sie schlang heftig die Arme um ihn, und sie liebten sich leidenschaftlich wie am ersten Tag, immer wieder, als müssten sie sich beweisen, dass sie füreinander geschaffen waren und nichts sie trennen konnte.

Aber noch in der Nacht, als Sonja in Henryks Achsel liebesfeucht in einen traumlosen Schlaf sank, nahm der Albtraum seinen Lauf.

Es war drei Uhr nachts, als ein Polizeispitzel aus Berlin nach München telegrafierte: ›Generalstreik soll Montagmorgen beginnen. Erste Verständigung von Berlin aus mittels verabredetem Telegramm. Vertrauensleute in den Kriegswirtschaftsbetrieben besonders Munitionsfabriken sollen zur Arbeitsniederlegung auffordern. Demonstrationszüge mit Ansprachen geplant, Frauen und Kinder sollen sich beteiligen. Lenin und Trotzki haben Kenntnis und deshalb Wiederbeginn der Verhandlungen auf 29.1. verschoben.‹

Das königliche bayerische Innenministerium war informiert.

Und während Sonja am nächsten Morgen mit der Tram durch München fuhr und vor allen Werktoren der Kriegsindustrie geschickt hinter den Rücken der Polizeispitzel Flugblätter verteilte, die zum Generalstreik aufriefen, ging ihr Ehemann in die Kanzlei eines Scheidungsanwaltes.

***

Am Montag, dem 28. Januar, sprach Sonja. Sie erinnerte sich an die Rede von Rosa Luxemburg, die hellsichtig vor Kriegsbeginn im riesigen Saal des Kindlbräu den Frieden beschworen hatte. Mehr als 2.000 Menschen hatten Rosa zugehört, und Sonja setzte sich zum Ziel, vor 1.000 Menschen so mitreißend und überzeugend wie die verehrte Genossin zu sprechen. Es musste gelingen, den allgemeinen Streik auszurufen und einen Arbeiterrat zu wählen. Friede konnte nur mit dem Sturz des Kaiserreiches erreicht werden, das musste klar gemeint, aber rhetorisch nur angedeutet werden, sonst hatte sie keine Chance, zu Ende zu sprechen, ohne dass die Polizei eingriff.

Der Saal der Schwabinger Brauerei war grau von Zigarettenrauch. Eisners Ansprache hatte Begeisterung hervorgerufen. Minutenlang hatten die Arbeiter der Kruppwerke frenetisch applaudiert – was sollte sie noch sagen? Nach Eisner zu sprechen war eigentlich unmöglich.

»Jetzt du, Sarah!«, sagte Eisner, »jetzt muss eine Frau sprechen!«

»Was soll ich sagen?«, flüsterte sie nervös. »Du hast schon alles gesagt!«

»Ja! Und du sagst alles noch mal, aus deinem Blickwinkel, mit deiner Meinung, aus …«

»… aus der weiblichen Perspektive!«, spottete sie.

Eisner grinste nur: »Aus der russisch- femininen Revolutionsperspektive, wenn ich bitten darf, Genossin Ranowska!«

Der Lärm verebbte, als sie ans Podium trat. Ihr Pseu­donym war vermutlich nicht mehr lange zu halten. Direkt vor sich sah sie einen jungen Mann, der eifrig die Rede Eisners mitstenografiert hatte, eindeutig kein Journalist, sondern ein Polizeispitzel. Sie holte tief Luft und begann: »Genossinnen! Genossen!«

Der Applaus der Frauen war ihr sicher. Nicht einmal die Genossen redeten sie an, obwohl viele Frauen gekommen waren, und deswegen begrüßte Sonja sie und würde sie immer wieder gezielt ansprechen.

»Wir haben gute Nachrichten. Soeben hat das österreichisch-ungarische Proletariat ein mächtiges Wort gesprochen. Genosse Eisner hat euch berichtet, dass die Arbeiter in den Wiener Betrieben die Arbeit niedergelegt haben. Sie wollten nicht mehr Geld, sie kämpften nicht für den Achtstundentag, obwohl sie alles Recht der Welt dazu gehabt hätten …«

Beifall unterbrach sie.

»Diese gerechte Forderung wurde durch den Krieg unterhöhlt. Seid gewiss, ihr werdet euch den Achtstundentag noch erkämpfen! Aber die Arbeiter in Österreich streiken für nichts Geringeres als für ihre Freiheit. Sie fordern Aufhebung des Belagerungszustandes! Aufhebung der Zensur! Aufhebung der Militarisierung der Betriebe! Aufhebung aller Einschränkungen der Versammlungsfreiheit! Das gilt auch für Streikkomitees, Vereine und … nun ja, eben für alle Parteien, auch für die, die keinen Gebrauch davon machen!«

Gelächter.

»Und nicht zuletzt: Freilassung aller politischen Gefangenen!«

Tosender Applaus antwortete ihr. Sonja hob die Hände, es wurde still.

»Wie haben nun die österreichischen Arbeiter ihre Forderungen durchgesetzt? Sie sind nicht nur in den Streik getreten, sie haben auch den öffentlichen Verkehr eingestellt, und es erschien keine einzige Zeitung, die gegen ihre Handlungen gehetzt hätte. Ja, in Wien hielten die Arbeiter sogar die Brücken besetzt, eine kluge Maßnahme, denn so konnte die Polizei nicht in die Arbeiterviertel eindringen und dort unschuldige Frauen und Kinder gefangen nehmen, um Druck auf die Arbeiter auszuüben!

Genossinnen und Genossen! Damit nicht genug: Die Wiener Arbeiter wählten aus ihrer Mitte einen Arbeiterrat. Sie wählten ihn wie die Genossen in Russland, wohl wissend, dass der Regierung nichts anderes übrig bleiben würde, als mit ihnen zu verhandeln. Und die österreichische Regierung schlottert vor Angst vor der drohenden Revolution, wie der Zar im vergangenen Jahr schlotterte! Sie war gezwungen, den österreichischen Arbeiterrat anzuerkennen! Die österreichische Regierung verhandelt mit den Delegierten!«

Wieder brach Beifall aus, Jubel, Hochrufe auf die Österreicher. »Nieder mit dem Krieg!«, riefen einige.

»Die Wiener Arbeiter wurden von ihren Gewerkschaften und ihrer sozialdemokratischen Partei schmählich im Stich gelassen! Sie konnten sich nur auf sich selbst, auf ihre gewählten Vertrauensleute und den aus diesen Vertrauensleuten gewählten Arbeiterrat verlassen, und es gelang!«

Wieder Applaus. Sonja blickte kurz zu Eisner hinüber. War sie verständlich? Nicht zu kompliziert? Eisner lächelte ihr aufmunternd zu. Gut, dachte Sonja, dann geht’s jetzt aufs Ganze. Wenn ich mich ständig verstelle, wird aus diesem Flämmchen kein Flächenbrand werden.

»Arbeiterinnen und Arbeiter! Die Forderungen der österreichischen Arbeiter müssen auch die unserigen sein! Es sind Mindestforderungen! Wir wollen viel mehr! Wir wollen die Macht übernehmen in Deutschland und Frieden schließen. Der Frieden lässt sich nicht durch Separatfrieden herbeiführen. Ja, wir sollen und wollen uns mit unseren russischen Schwestern und Brüdern verbünden, aber zu demokratischen Bedingungen, unter Freunden! Ein Separatfrieden führt nicht zum Ende des Krieges, sondern zu nichts anderem als zu einer weiteren Entfachung!«

Wieder Applaus, auch Zwischenrufe. Der Spitzel blickte irritiert. Eisner machte ihr Zeichen, die sie nicht verstand. Sie hatte sich warmgesprochen, sie konnte die Menschen überzeugen, sie spürte es, und so sprach sie, befeuert von der Zustimmung, weiter: »Nur durch Streik kann diese kriegslüsterne Regierung vertrieben werden! Jeder Betrieb wähle aus seiner Mitte einen Vertrauensmann. Alle Vertrauensmänner und -Frauen konstituieren sich als Arbeiterrat, wie in Russland. Nur mit der Fackel der Revolution, nur im offenen Kampf um die politische Macht könnt ihr, das Proletariat, Volksherrschaft und eine deutsche Republik erkämpfen! Der parlamentarische Weg hat sich als Phrasendrescherei erwiesen: Die Sozialdemokraten, die euch, dem Proletariat, ihre Sitze im Reichstag verdanken, haben euch im Stich gelassen! Seit vier Jahren bewilligen sie einen Kredit nach dem anderen, Kriegsanleihen, die jeden Einzelnen von uns noch teuer zu stehen kommen werden. Beenden wir endlich außerhalb des Parlaments dieses mörderische Spiel! Wählt jetzt eure Vertreter, die hundertprozentig hinter den Streikforderungen stehen, denn: ›Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will!‹«

Sie sangen die Bundeshymne. Eisner sah besorgt aus, als sie vom Podium stieg.

»Sonja, du warst großartig. Aber zu stark, befürchte ich. Für eine Verhaftung ist es schon ausreichend, wenn die Worte Revolution und Republik vorkommen.«

»Ich weiß. Aber ich kann nicht ständig die Schere im Kopf haben. Wenn wir jetzt um den heißen Brei herumreden, wird die Revolution in eben diesem Brei ersticken.«

»Du hast recht. Wenn wir es jetzt nicht schaffen, wann dann? Aber sei übermorgen bei der Versammlung der Rapp-Leute etwas zurückhaltender. Das sind Bayern, bayerische Motorenwerke, weißt du, die sind nicht per se sozialistisch gesinnt wie die Kruppschen.«

***

Zwei Tage später lief Sonja wieder durch München, wieder kam sie von der Kolosseumsbierhalle im Glockenbachviertel, aber dieses Mal ging sie langsam und mit gesenktem Kopf. Neben ihr gingen Kurt Eisner, Fritz Schröder vom Verband der Angestellten und Theobald Michler vom Buchdruckerverband. Gemeinsam hatten sie die Versammlung des Buchdruckerverbandes besucht. Am Vormittag waren sie beim Schusterwirt in der Neulerchenfeldstraße gewesen, bei der Versammlung der BMW-Arbeiter, die sich gegen den Streik entschieden hatten.

»Dem dümmsten russischen Bauern kann ich eher klarmachen, dass er sich befreien muss, als einem Münchner Gewerkschaftsbeamten«, sagte Sonja zornig, »das Leben hier ist tausendmal schlechter als in Russland unter dem Zaren.«

»Ah geh her«, widersprach Michler erschöpft. Schröder lachte.

»Ich schwöre!«, beharrte Sonja. »In Russland kam der Feind von außen, aber ich hatte Kameraden, auf die ich mich verlassen konnte.«

»Du kannst dich auf uns verlassen, Sonja.« Eisner legte ihr aufmunternd eine Hand auf die Schulter.

»Wir sind zu wenige! Kurt, du bist erst später in diese Versammlung gekommen. Du hättest hören sollen, wie sie zögerten, sehen, wie sie sich wanden, riechen, wie ihnen der Angstschweiß austrat! Hier ist der Feind der Freiheit das Volk selbst, das deutsche Proletariat. Schau, ich arbeite seit Monaten mit euch an der Spitze der Unabhängigen, und angeblich kommen in meine Versammlungen mehr Leute als in die der Landtagsabgeordneten, und das, obwohl wir alle geheim organisieren mussten, weil sie stets verboten wurden. Aber wo waren sie gestern? Wo heute? Brav über ihre Arbeit gebeugt. Zu Taten kann man diese Leute nicht aufwecken, das sind ja keine Menschen mehr! Das sind arbeitende Maschinen, ohne Gefühl, ohne Ehre!«