Scherben des Glücks - Cornelia Naumann - E-Book

Scherben des Glücks E-Book

Cornelia Naumann

0,0

Beschreibung

Das riesige Berliner Stadtschloss, Inbegriff des luxuriösen Hoflebens, wird der preußischen Prinzessin Wilhelmine zum Gefängnis, deren Vater »Soldatenkönig« Friedrich Wilhelm seine Tochter gegen ihren Willen verheiraten will. Um den Bruder, der nach einem Fluchtversuch eingekerkert wurde, aus der Festungshaft zu befreien, gibt die Prinzessin schließlich nach und heiratet den Prinzen von Bayreuth-Brandenburg. Was die trotz aller Entbehrungen verwöhnte Königstochter hier vorfindet, verschlägt ihr die Sprache. Aber da ist ja der charmante Gatte, und vor allem die Musik …

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 802

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Cornelia Naumann

Scherben des Glücks

Das Leben der Wilhelmine von Bayreuth

Impressum

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Der Abend kommt so schnell (2018), Königlicher Verrat (2016),

Die Portraitmalerin (2014)

Immer informiert

Spannung pur – mit unserem Newsletter informieren wir Sie regelmäßig über Wissenswertes aus unserer Bücherwelt.

Gefällt mir!

 

Facebook: @Gmeiner.Verlag

Instagram: @gmeinerverlag

Twitter: @GmeinerVerlag

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

Originalausgabe erschien im Sutton Verlag 2009.

Von uns vollständig überarbeitete Nachauflage.

© 2019 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2019

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung:/E-Book Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Bildes von: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Wilhelmine_von_Preußen_(1711–1763)_Staatsporträt.jpg

Druck: CPI books GmbH, Leck

Printed in Germany

ISBN 978-3-8392-6152-1

Zitat

»Wir geben zu viel Geld für Kriege aus.

Es wäre besser, wenn wir mehr Opern aufführen würden.«

 

Luciano Pavarotti

Prolog. Spiegelscherbe

Ist sie von den Schmerzen erwacht oder vom Mond, der als silberne Scheibe am Himmel steht und eine breite Bahn weißen Lichtes in ihr Schlafzimmer wirft? Benommen starrt sie in dieses Licht, das den weißen Damast ihres Bettes in ein fahles Blau taucht. Ein Leichentuch, denkt sie erschrocken, ich liege bereits unter meinem Leichentuch. Die weißen Nächte bringen den Tod, wer hatte das gesagt? So ein alberner Aberglaube. Es ist doch nur Vollmond.

Sie versucht, sich aufzurichten. Ihre durchlöcherten, mit Wasser gefüllten Lungen wehren sich rasselnd. Aber sie gibt nicht auf, bis sie ihren angeschwollenen Körper mit einer kleinen schmerzhaften Drehung in den Rollstuhl sacken lässt, der neben ihrem Bett steht. Sie bringt die widerspenstigen Räder dazu, sich unter ihren sehnigen, dürr gewordenen Händen zu drehen. Lautlos setzt sich der Rollstuhl in Bewegung. Gestern hatte sie die Lager ölen lassen, sie will niemanden aufwecken, wenn sie in der Nacht durch die Gemächer ihres Schlosses fährt, von Schlaflosigkeit gepeinigt. Der Schmerz bringt sie fast um die Besinnung, aber sie muss in ihr Kabinett, ihr geliebtes chinesisches Spiegelscherbenkabinett, sie spürt, dass etwas geschehen ist.

Ich bin Wilhelmine, denkt sie, Wilhelmine, Prinzessin von Preußen, Königstochter und Markgräfin von einem Misthaufen, der sich Baireuth nennt. Ich gehe in mein fünfzigstes Lebensjahr, und ich werde sterben. In dieser letzten weißen Nacht des Vollmondes werde ich sterben, und vorher muss ich mit meinem Bruder ins Reine kommen. Hochkirch? Wo ist Hochkirch? Er begeht Unrecht, nur ich kann ihn davon abbringen, und Voltaire muss mir helfen. Preußen ist in Gefahr, mutwillig hat es der König in Gefahr gebracht, er muss Frieden schließen. Bevor nicht Frieden ist, darf ich nicht von dieser Welt gehen.

Es knirscht. Sie schreckt zusammen. Sie ist über eine Schnecke gefahren. Nun kriechen diese schleimigen Biester schon bis ins Schloss. Tod und Verwahrlosung überall. Ekel lässt ihren Körper erschaudern.

Die Tür zum Musikzimmer steht offen. Die Instrumente lehnen in ihren Ständern vor den Stühlen, so wie sie es angeordnet hat. Sie will keine schwarzen Särge sehen, sie will die Schönheit der Instrumente sehen, das glänzende Holz in seinen Maserungen bewundern, die Saiten des Cellos berühren, über den geknickten Hals der Laute streichen. Mühsam rollt sie zu ihrem Cembalo. Es steht aufgeschlagen da, das bekommt ihm nicht gut. Aber sie wird sterben, wer soll noch darauf spielen. Zart berührt sie die beiden Manuale. Mon orage pièce, flüstert sie, mein liebes Gewitterteil, funkele für mich.

Als hätte der Mond sie gehört, sendet er seinen Strahl durch die Glastüren und lässt die Einlegearbeit aus Perlmutt silbern aufblitzen. Sie lächelt und berührt das Manual. Ziehen kann sie es nicht mehr. Verächtlich betrachtet sie die bunte Schäferszene auf dem hochgeklappten Flügel, heitere Menschen, die in einer sanft gewellten Landschaft unter Bäumen promenieren. Alles Lüge, alles Illusion, es gibt keine Idylle und keinen Parnass, es gibt nur Untreue, Lüge und Verrat in der Welt, nichts als Verachtung habe ich dafür übrig. Meine Pilgerreise hat mich über diesen Schmutz erhoben, ich bin auf dem Weg zur Wahrheit, und der führt über die Einsamkeit des Herzens.

Sie schließt die Augen und spielt die Cavantine aus ihrer letzten Oper, rasselnd geht ihr Atem, kaum wollen ihr die Hände gehorchen. L’huomo, denkt sie, der Mensch, frei muss er sein von allen diesen schrecklichen Trieben, die unser Leben beherrschen und in grausame Bahnen lenken, diesen Gedanken muss ich noch ausführen.

Sie beginnt, mit dem Thema in Moll zu improvisieren. Ein Einzugsmarsch für meinen Sarg, das geliebte Fis für den schwarzen Marmor, einen zarten Akkord für meinen lächerlichen ausgezehrten Körper, den der Marmor wie eine kalte Grotte einschließen wird. Duster klingt die Tonfolge vom Cembalo.

Notieren Sie, befiehlt sie, notieren Sie, Pfeiffer!

Sie setzt ihr kleines sardonisches Lächeln auf, jene Mischung aus Schurkerei und Intelligenz, für das sie als hochmütig verschrien ist. Meine Opern müssen feiner ausgeführt werden, die Konzerte brauchen einen neuen Schliff, sie sind zu brav, wir müssen alles sortieren, Pfeiffer, und binden lassen, keiner weiß mehr, welche Notenblätter von mir sind. Notieren Sie, Pfeiffer, ich kann meine Zeit nicht mit Sterben verplempern, ich muss Unsterbliches hinterlassen.

Teil IBerlin 1709–1731

1

Am 23. Oktober 1721 wurde Dorothea Freiin von Wittenhorst-Sonsfeld zur Hofmeisterin der kleinen Prinzessin von Preußen ernannt, und heute, zehn Jahre später, am 11. Mai 1731, sollte sie öffentlich an allen Straßenecken Berlins ausgepeitscht werden.

Dorothea von Sonsfeld hatte den Tisch im Vorraum des Gemaches der Prinzessin Wilhelmine im Berliner Stadtschloss vorbereitet. Nach einem kritischen Blick auf die Damasttischdecke und das schwere Silberbesteck setzte sie sich auf einen der zierlichen Hocker und wartete auf das Frühstück. Ihr Blick fiel auf das türhohe Fenster, das in sechzehn große Quadrate gegliedert war, aber dennoch nur die schwarzen Fensterlöcher der gegenüberliegenden Schlossseite zeigte. Kein Stück Himmel war zu sehen.

Das zweite Fensterquadrat von oben hatte einen Sprung. Es war ein alter Sprung. Seit Jahren hätte sie ihn sehen können, doch erst seit die Gemächer zu ihrem Gefängnis geworden waren, hatte sie jeden Tag Zeit, ihn zu betrachten. Ein alter Sprung in einem alten Fenster in einem alten hässlichen Schloss, dachte sie. Die Dienstmägde hatten das Fensterquadrat mit dem Sprung nie richtig geputzt, vielleicht aus Angst, sich zu schneiden, wahrscheinlich aber, weil sie fürchteten, das Fenster zu zerbrechen oder auch nur den Putzlumpen an der scharfen Kante zu zerreißen – selbst Letzteres wäre von dem geizigen Hausherrn unerbittlich bestraft worden. Geizig ist er, dachte sie. Geizig und hartherzig. Ein altes, düsteres Haus, das einem alten, bösen Mann gehört. Wie konnte ein Vater sein Kind monatelang einsperren. Die ungerechte Behandlung ihrer Prinzessin versetzte das Fräulein in Zorn. Sie wusste: Der König spaßte nicht. Niemals.

Es klopfte. Der königliche Kammerdiener Eversmann steckte sein abscheuliches Gesicht durch die Tür. Das charakterlose Faktotum des alten, bösen Mannes, dachte die Hofmeisterin. Was wollte er am Morgen schon vor dem Frühstück?

»Ich wünsche untertänigst einen guten Morgen. Oh, Hochwohlgeboren haben sich umsonst für das Frühstück der Prinzessin bemüht«, sagte Eversmann, während die Blicke aus seinen unangenehmen kleinen Augen den Raum förmlich durchsuchten. Wie ein Wiesel, dachte die Hofmeisterin, nein, schlimmer: wie eine Ratte, die aus ihrem Loch gekrochen ist.

»Gibt es heute nicht mal Frühstück?«, fragte die Hofmeisterin sarkastisch. Nach all den Widerwärtigkeiten, die man der Prinzessin und ihr in den letzten Monaten vorgesetzt hatte, hätte es sie nicht weiter erstaunt. Gestern hatte es zum Mittagessen verdorbenen Hering gegeben. Ungenießbar, und erst der Gestank!

»Aber ganz im Gegenteil, Durchlauchtigste Hofmeisterin! Ich habe Order vom König, Sie nach vorn in die königlichen Gemächer zu führen …«

Noch im Morgengewand, kam Wilhelmine aus ihrem Schlafzimmer. Offenbar hatte sie sich eilig allein frisiert und Puder aufgelegt. Die Hofmeisterin betrachtete ihren Schützling mit einer Mischung aus Stolz und Besorgnis und lächelte nachsichtig. In Gegenwart des königlichen Kammerdieners hätte sie ihr Morgenhabillée anlegen müssen. Aber sie konnte verstehen, dass die Prinzessin sich dem umständlichen und schmerzhaften Korsett verweigerte. Seit Beginn ihrer Gefangenschaft hatte es auch keinen offiziellen Anlass mehr gegeben, der offizielle Kleidung erfordert hätte. Außerdem sah sie in ihrem cremefarbenen seidenen Morgengewand mit den weit geschnittenen Ärmeln sehr vornehm aus. Das Gewand mit Schleifen an der langgezogenen, spitz zulaufenden Taille erweckte den Eindruck, die Prinzessin sei tatsächlich geschnürt.

Unter dem Gewand aber war sie abgemagert, und unter dem reichlich aufgetragenen Rouge war ihre Haut blass und für ihr Alter zu welk. Es war nicht Wilhelmines Schuld, mit einundzwanzig Jahren noch immer nicht verheiratet zu sein. Zu lange zieht sich das Procedere schon hin, und schuld allein ist das Gezänk der königlichen Eltern, dachte das Fräulein. Die Prinzessin drohte zwischen den Befehlen eines bösen Haustyrannen und einer Mutter, die für ihre angstvollen Intrigen ihre Tochter gegen den Vater ausspielte, zerrissen zu werden.

Eversmann verbeugte sich – nicht tief genug, wie das Fräulein missbilligend feststellte. Vermutlich war er der Meinung, eine gefangene, nicht in der Gunst des Königs stehende Prinzessin habe nur eine halbe Verbeugung verdient.

»Guten Morgen, Königliche Hoheit, wünschen wohl geruht zu haben.«

»Danke, Eversmann. Was gibt es?«, fragte Wilhelmine kurz.

Ihre Haltung ist königlich, frohlockte die Hofmeisterin, schon hat sie ihn für die mangelhafte Verbeugung abgestraft, indem sie ihm keinen guten Morgen wünscht. Wenn sie nur korrekt gekleidet wäre!

»Der König wünscht, dass Sie Ihr Frühstück heute in den königlichen Gemächern an der Vorderseite einnehmen. In Begleitung von Fräulein von Sonsfeld selbstverständlich.«

Die Prinzessin und ihre langjährige Hofmeisterin tauschten einen langen Blick. Was hatte das zu bedeuten? War das Ende der Gefangenschaft zu erhoffen?

»Der König hat Brioches und Schokolade befohlen. Sie möchten die vordere Aussicht zur Allee unter den Linden genießen. Ich bitte untertänigst, mir bitte folgen zu wollen …«

Nein, wollte das Fräulein rufen, die Prinzessin muss für einen solchen Anlass erst angekleidet werden!

Aber Wilhelmine dachte nur: Schokolade! Brioches! Dass es das noch gibt! Der König hat mir verziehen. Mein Vater liebt mich wieder!

In ihrer freudigen Überraschung schenkte sie sogar dem verhassten Eversmann ein Lächeln. Dieser öffnete weit die Tür und prallte auf die Mermann, Wilhelmines Amme, die ihren Säugling nie verlassen hatte und inzwischen an die sechzig Jahre zählte. Anna Mermann, Nachfahrin einer im Dreißigjährigen Krieg von marodierenden Soldaten vergewaltigten Mecklenburger Bauerntochter, die bei ausgeplünderten Brandenburger Bauern eine neue Heimat gefunden und dort nach den ausgestandenen Schrecken ihre Kinder zu Stärke und Selbstbewusstsein großgezogen hatte, stemmte ihre Hände in die füllige Leibesmitte und fragte in unverkennbarem Berlinerisch: »Und wie isse, die Schokolade für meen Prinzesschen?«

Ratlos starrte der Kammerdiener die Amme an, die heimlich gelauscht hatte und daraus keinen Hehl machte. Wilhelmine konnte ein Kichern nicht unterdrücken. Die Hofmeisterin übersetzte süffisant: »Sie müssen die Frage einer besorgten Amme verstehen, Herr Eversmann. Sie möchte wissen, wie die Schokolade zubereitet ist.«

Der Kammerdiener wandte sich an die Amme. »Mit Milch, Frau Mermann, selbstverständlich mit Kuhmilch! Und die Brioches mit guter Butter, alles ganz frisch, wie immer.«

Mit einem letzten unwilligen Blick auf Eversmanns schlechte Haut gab die füllige Amme den Weg frei, ging zu Wilhelmine und tätschelte ihr die Wange. »Siehste, Kleene, nu wird et wieder, der Herr Papa zeigt Güte, wa?«

Die Hofmeisterin blieb skeptisch, aber Wilhelmine, die ihre Amme zärtlich liebte, nickte eifrig. Endlich durfte sie diese Gemächer verlassen, die seit fast einem Jahr ihr Gefängnis waren. Und gleich zum Dejeuner in die königlichen Gemächer, welche Auszeichnung! Ihre Wangen röteten sich, ihre Bewegungen wurden lebhaft, ja, sie verspürte sogar Appetit.

Mit schnellen Schritten ging Eversmann voran. Wilhelmine bemühte sich, ihm zu folgen, und erkundigte sich nach dem Befinden ihres Vaters. Damit brachte sie den Kammerdiener in eine schwierige Situation. Die Etikette erforderte, dass er die Hoheiten ansah, wenn er mit ihnen sprach. Wilhelmine hatte aber in seinen Rücken hinein gesprochen, und so musste er sich umdrehen und antwortete, krampfhaft bemüht, im Rückwärtsgehen seine steife Würde zu bewahren: »Nicht sehr gut, Euer Hoheit. Die Gicht plagte seine Majestät heute Nacht.«

Wilhelmine bat, dem König ihre Genesungswünsche zu bestellen: »Verbinden Sie dies mit der Bitte einer liebenden Tochter, mit meinem geliebten Papa am Samstag wieder gemeinsam das Abendmahl einnehmen zu dürfen, denn ich habe seit Monaten nicht kommuniziert.«

Eversmann, noch immer rückwärts den Weg suchend, versprach, sich für die Bitte zu verwenden, und drehte sich erleichtert wieder um. Wilhelmine grinste ihrer Hofmeisterin zu, ein kurzes schurkisches Lächeln. Für einen Augenblick sah sie ihrem Vater verblüffend ähnlich. Genau dieses Grinsen hatte der knapp vierzehnjährige Friedrich Wilhelm aufgesetzt, nachdem er seinen Pagen die Kellertreppe hinuntergestoßen hatte.

Wilhelmine tänzelte den Gang entlang wie ein Pferd, das nach einem langen Winter hinaus auf die Koppel darf. Gebe Gott, dass ihre Hoffnungen berechtigt sind und der König endlich ein Einsehen hat, dachte die Hofmeisterin, dass er seine Tochter wieder hinaus unter die Menschen lässt, wo sie hingehört.

Missbilligend bemerkte sie, dass Wilhelmine ihr Morgengewand nur mit einer Hand gerafft hatte und die Schleppe hinter ihr Wolken von Staub und Unrat aufwirbelte. Die empfindliche helle Seide war mit Sicherheit ruiniert. Das Fräulein hasste die endlosen Gänge dieses düsteren Stadtschlosses, das sich die Spreepiraten von Brandenburg erbaut hatten, nachdem sie die freie Hansestadt Berlin erobert hatten. »Klotzen, nicht kleckern« war seit Jahrhunderten die Devise, und so hatten die prunkliebenden Kurfürsten an ihren mittelalterlichen Turm, den »grünen Hut«, immer wieder etwas anbauen lassen, einen Damentrakt hier, einen Festsaal dort, einen Lustgartenflügel daneben.

Mit der Erlangung der Königswürde hatte Wilhelmines Großvater, Friedrich I., Prunkportale von gigantischen Ausmaßen vor die Einfahrten setzen lassen; sogar ein Münzturm war begonnen, aber vor seiner Vollendung im märkischen Treibsand umgestürzt. Dann wurde Friedrich Wilhelm König. In seiner soldatischen Sparsamkeit stellte er alle Arbeiten von einem Tag auf den anderen ein. Übrig geblieben war ein riesiges unvollendetes Schloss, außen voll kaltem Prunk, innen verwahrlost noch vor seiner Vollendung, zugig, feucht und nicht zu beheizen. Außen hui, innen pfui, pflegte die Mermann zu sagen, die nicht mit ihrer Ansicht hinterm Berg hielt, dass die beiden Prinzen, Wilhelmines Brüder, ihre ersten Tage nach der Geburt nicht überlebt hatten, weil es zwischen diesen Mauern zu kalt und zu feucht war.

Die verehrungswürdige Königin Charlotte, erste Herrin des Fräuleins von Sonsfeld und Mutter von König Friedrich Wilhelm, hatte den Bau, den ihr Gatte nach der neu erworbenen Königswürde von einer kurfürstlichen Burg in ein pompöses königliches Schloss umwandeln wollte, ebenfalls gehasst. Nach ihren eigenen Entwürfen baute man die heitere, lichtdurchflutete »Lietzenburg«, die später nach ihr »Charlottenburg« genannt wurde. Ach, war das ein Leben dort gewesen, sinnierte das Fräulein wehmütig, und dieser Blick in den prachtvollen Park! Aber hier? Seit der geizige König das Personal um die Hälfte reduziert und Teile des Schlosses geschlossen oder verpachtet hatte, konnte man die heruntergekommenen Flure und die mittlerweile 800 Räume nicht einmal sauber halten. Häuser sind wie ihre Herren, dachte sie.

»Bitte sehr, Hoheit. – Meine Damen.« Eversmann wies auf die hohe Tür.

Sie waren endlich in den Gemächern des Königs angekommen, die sich im dritten Stock an der Nordseite befanden. Hier wiesen die türhohen Fenster nicht in den steinernen sonnenlosen Innenhof, sondern auf die Straße. Hier gibt es keinen Sprung im Glas, dachte die Hofmeisterin.

Ein Tisch war in den Alkoven gestellt und mit weißem Damast gedeckt worden. Silbernes Frühstücksgeschirr spiegelte sich in der Maisonne. Stumm standen zwei Diener neben der Tür. Wilhelmine flog förmlich ans Fenster.

»Wie die Sonne scheint! Sieh mal, Sonsine, die Linden sind schon fast grün!«

Die so zärtlich Benannte betrachtete misstrauisch das fürstliche Arrangement. Sie sollten also hinausschauen dürfen. Was für ein Schauspiel wollte der König ihnen bieten?

»Und es gibt noch Menschen in Berlin!«, rief Wilhelmine begeistert aus. »Wie frühlingshaft sie angezogen sind! Es scheint warm zu sein!«

Sonsine hatte sie bereits gesehen, Frauen in Leinenkleidern, mit gestärkten Hauben, Kinder in Holzschuhen, einige vornehme Damen und Herren, die sich in Portchaisen zu ihren Geschäften tragen ließen. Die Mermann, die ihnen schnaufend gefolgt war, sah auf die breite, von Linden gesäumte Prachtstraße, eine Idee des großen Kurfürsten, damit niemand sich verirren konnte. Alle Ausfallstraßen von Berlin waren in Alleen verwandelt worden. Die Mermann sah die Hofmeisterin an und zog eine Augenbraue hoch. Da ist was im Busche, signalisierte ihr Blick.

Für einen gewöhnlichen Werktag war tatsächlich viel Volk unterwegs. Das öffentliche Leben der rasch angewachsenen Stadt bestand oft nur aus Militärparaden und Wachablösungen. Es gab Tage, an denen Berlin nur von Soldaten bevölkert war. Der König höchstselbst beförderte diesen Zustand, indem er mit seinem berühmten Stock, den er stets bei sich trug, die Frauen auf der Straße schlug und sie anherrschte, sie sollten sich von den Gassen scheren und ihrer häuslichen Arbeit nachkommen.

Eversmann klatschte in die Hände. Zwei Diener erschienen mit einem Teewagen. Alles stand darauf, was die Hofmeisterin und Wilhelmine seit Monaten entbehrt hatten. Nicht die übliche Morgensuppe erwartete sie, sondern ein Petitdejeuner nach der neuesten Mode: Knusprige Schrippen und Brioches, Butter, frisches Gebäck nach holländischer Art, duftende Orangenkonfitüre, eine Kanne mit dunkelbrauner Schokolade. Auf einer silbernen Schale lag auf Eis neben hauchdünnen Zitronenscheibchen ein halbes Dutzend geöffnete Austern, Wilhelmines Lieblingsspeise.

Die Mermann sah von dem voll beladenen Wagen auf die korrekt livrierten Diener und knurrte: »Kiek dir det an, und de janze Zeit hamse det Prinzesschen jefüttert wie im Dreißigjährigen Kriege, wa?«

Wilhelmine hob den zierlichen hohen Schokoladenbecher hoch und flüsterte: »Das Lieblingsporzellan der Königin! Wie lange habe ich es nicht gesehen.«

Dann griff sie nach dem Löffel und kleckste sich genüsslich eine große Portion Sahne in ihre Schokolade. Dem Fräulein entging nicht, dass dem Diener, der ihr die Schale reichte, Tränen in die Augen traten. Scharf blickte sie ihn an, aber er wich ihrem Blick aus. Er hatte Angst! Hier stimmte etwas nicht, aber was?

Endlich flohen die Diener. Nur Eversmann machte keine Anstalten, das Zimmer zu verlassen. Schade, dachte Wilhelmine, ohne seine Argusaugen könnte es jetzt richtig komfortabel werden. Sie griff nach einem Brioche und biss mit Genuss in das zarte, duftende Gebäck. Dann langte sie mit dem Silberlöffel in die Orangenkonfitüre und bestrich damit die angebissene Seite des Brioches.

»Greif zu, Sonsine!«, ermunterte sie das Fräulein, das zögernd nach der Schokolade griff.

»Komm, Anna! Du bist doch sonst nicht so schüchtern!« Sie hielt der Amme ein Brioche unter die Nase und murmelte mit vollem Mund: »Du musst endlich mal essen wie in der französischen Kolonie! Das ist savoir – vivre!«

»Ick bedien mir lieba mit ’ner Schrippe«, murmelte die Amme und tauschte einen kurzen Blick mit der Hofmeisterin.

In diesem Moment war von der Straße Trommelwirbel zu hören. Eversmann schlenderte ans Fenster und sagte wie beiläufig: »Euer Hoheit, ich versprach Ihnen ein Schauspiel. Hier ist es.«

Eine Auster schlürfend, sah Wilhelmine zum Fenster hinaus.

Zwei Trommler bogen um die Ecke des Schlosses. Ein Trupp Soldaten in preußischblauen Uniformen mit hohen Blechkappen folgte ihnen. In ihrer Mitte führten sie ein Mädchen von höchstens sechzehn Jahren, das sich kaum auf den Beinen halten konnte. Sie lief barfuß und war an den Händen gefesselt. Ihre offenen braunen Haare hingen wirr um ihr Gesicht, das sicher einmal hübsch gewesen war, nun aber vor Angst und Schmerz dunkel und verzerrt aussah. Ihr einfaches hellblaues Leinenkleid war verschmutzt und zerrissen.

Die Soldaten zerrten das Mädchen zu dem Schandpfahl an der Ecke, zu der die Gaffer schon geströmt waren und nun vor den Soldaten respektvoll eine Gasse bildeten. Diese marschierten hindurch, das Mädchen zwischen sich, und banden sie mit ihren gefesselten Händen an den Eisenring im Pfahl, der hoch über ihrem Kopf angebracht war. Der Offizier entrollte ein Papier und las mit lauter Stimme, er tue allen kund und zu wissen, dass diese schandbare Metze mit dem Namen Dorothea Ritter sich mit dem Kronprinzen eingelassen, ihn verführt und zur Flucht verleitet habe. Wegen Unzucht mit einem Mitglied des Königshauses und gemeingefährlicher Verschwörung werde sie an allen Straßenecken Berlins ausgepeitscht und danach ins Spinnhaus der Festung Spandau verbracht, um zu lernen, womit sich eine achtbare preußische Jungfer zu beschäftigen habe. Damit wolle Seine Majestät der allergnädigste König Friedrich Wilhelm I. ein Zeichen setzen für alle verwerflichen Subjekte, jene Verschwörer, die Sympathie für den Kronprinzen und seine schändliche Fahnenflucht zeigten.

Die Austernschale entfiel Wilhelmines Hand und zersplitterte auf dem Parkett.

»Um des Himmels willen, Prinzessin, kommen Sie weg vom Fenster«, murmelte die Hofmeisterin schaudernd.

Die Soldaten ließen den Henker durch, einen kurzen, aber kräftigen Mann, der eine neunschwänzige Katze hervorzog. Mit kräftigen Schlägen schlug er auf den Rücken des Mädchens ein, während die Soldaten laut die Schläge zählten. Noch bevor der Henker die Zahl zwanzig erreicht hatte, brach die Unglückliche lautlos zusammen. Sie wurde losgebunden, die Soldaten nahmen sie wieder in ihre Mitte und schleiften die Bewusstlose hinter sich her. Der Henker folgte.

Wilhelmine war kreidebleich geworden. »Sonsine! Bring mich weg von hier!«

Voller Verachtung blickte das Fräulein den Kammerdiener an und trug die halb Ohnmächtige mit Hilfe der Mermann zu ihrem Stuhl zurück. Wilhelmine erbrach sich über den Tisch, über das kostbare Frühstück, das sie hatte genießen wollen. Die Amme hielt der Prinzessin den Kopf und strich ihr sanft über die Haare.

»So lauten also die Befehle des Königs?«, fragte die Hofmeisterin, außer sich vor Zorn. »Ein Frühstück mit Henker?«

»Genau so«, erwiderte Eversmann ungerührt, »der König zwang den Kronprinzen, der gerechten Strafe eines Verschwörers zuzusehen …«

»Verschwörer? Der Enthauptung seines besten Freundes Leutnant Katte musste der arme Prinz zusehen!«

»… analog dazu wünscht der König, dass die Prinzessin der Auspeitschung der Mätresse ihres Bruders, einer Mitverschwörerin, zusehe, damit sie begreift, welche Strafe weibliche Verräter und Verschwörerinnen erwartet«, beendete Eversmann seinen Auftrag kalt.

Wilhelmine griff nach der Serviette, wischte sich den Mund ab und fragte ungläubig: »Die Mätresse meines Bruders?«

»Diese Dorothea Ritter, mit der er fliehen wollte.«

Wilhelmine sah ihn sprachlos an, dann geschah etwas Merkwürdiges. Blass, beschmutzt, mit wirren Haaren begann sie zu lachen. Sie lachte ein so schreckliches Lachen, dass alle verstummten, dann hielt sie plötzlich inne und sagte sehr ruhig: »Das arme Mädchen. Arme Doris, sie ist niemals die Mätresse meines Bruders gewesen, und sie wollte auch nie mit ihm fliehen. Das weiß ich am allerbesten, aber der König weiß es auch. Was will er in Wahrheit?«

»Der König befahl mir, im Verlauf des Tages alle Vorbereitungen für Ihre Hochzeit zu treffen, Euer Hoheit. Er schwur bei Tod und Hölle, dass er auch Sie, seine eigene Tochter, in die Festung Spandau sperren wolle, wenn Sie sich seinem Willen nicht unterwerfen.«

Dann wandte er sich an die Hofmeisterin und sagte: »Auch Sie sollten sich auf Befehl des Königs die Auspeitschung genau ansehen, weil Sie die Ursache für den Ungehorsam der Prinzessin seien. Er will Sie davonjagen, aber vorher wird er Sie an allen Straßenecken Berlins auspeitschen lassen, genau wie Demoiselle Ritter.«

Wilhelmine erhob sich von ihrem Stuhl. Sie war leichenblass, verschmutzt und schwankte, als sie die Lehne losließ, aber sie hatte genug Würde, nicht mit Domestiken zu streiten. Sehr bestimmt erklärte sie, in ihre Gemächer zurückkehren zu wollen.

»Aber selbstverständlich, Euer Hoheit.«

Eversmann öffnete die Tür, aber er hatte offenbar genaue Order. Mit raschem Blick überzeugte er sich, ob Wilhelmine ihm zuhörte. Dann sagte er laut und überdeutlich zu dem Fräulein: »Sie tun mir herzlich leid, eine so schimpfliche Verurteilung zu erfahren, und das in Ihrer Position. Aber es ist an der Prinzessin, sie Ihnen zu ersparen.«

Leise zischte er ihr zu: »Wenn das Blut Ihren Rücken hinunterläuft, werden Sie einen schöneren Anblick abgeben als diese gemeine Bürgerdirne! Sicher ist Ihr Rücken schön und weiß, das Blut wird ihn noch blendender hervorheben. Wie verlockend …«

Stumm half das zu Tode erschrockene Fräulein der Amme, die Prinzessin aus dem königlichen Gemach zu tragen. Wie eine Puppe nahmen sie Wilhelmine in ihre Mitte und traten schweigend den Rückweg an. Die Gänge und Treppen des Stadtschlosses erschienen ihnen dabei noch schmutziger, kälter und unendlich lang.

2

»Ne, ne, ne, so kann man doch seine Kinners nich behandeln«, stöhnte die Mermann und wischte sich die Tränen ab. Sie war auf das Höckerchen im Vorzimmer gesunken, das Wilhelmine benutzte, wenn sie sich die Stiefel zuknöpfen ließ.

»Ne, ne, ne, an diese meine Brüste hab ick se jenährt, die Kleene! Mit meine Milch hab ick se kräftig und groß jemacht, und wofür? Damit se der Vata irre macht? Ne, ne, ne, det stimmt nich mit dem König …« Sie sah das Fräulein an und senkte die Stimme: »Seit der Fritze versucht hat zu fliehen, is der König nich janz bei sich, wa?«

Das Fräulein nickte. War der König irre geworden? Aber seine Drohung war völlig klar: Sie, die Hofmeisterin, sollte ausgepeitscht und davongejagt werden, wenn sie Wilhelmine nicht zu dem Ehemann überreden konnte, der dem König passte.

Die Mermann fuhr in ihrem Lamento fort: »Und dabei sone liebe Mama, die Königin, nich wie sonst die Majestäten, ab nach de Jeburt zu de Gouvernanten, ne, jeden Morjen musste ick ihr det Minneken ins Bette bringen, wie se gerade jeboren war, und denn hattse mit ihr jeschmust und jelacht, und hattse jedrückt, und wenn ick ihr wieder jeholt habe, hat die Königin jesagt: So ein kräftiges Kind, was, Mermann? Wie schade, dass sie kein Junge geworden ist. – Thronfolger kommt noch, sage ick, nu bleibense janz ruhig, Majestät, sage ick, det Mächen is ’ne Schönheit, det sieht man ja jetzt schon! Aber die Königin, die hatte ’ne Heidenangst vor dem König, da hattse ihm immer ins Felde geschrieben, der war doch mit Eugen dem edlen Ritter im Felde, die traute sich nicht zu schreiben, det et nur ’n Mädgen is, die schrieb immer: Dem Kinde jeht et jut. Det schrieb die. Dem Kinde jeht et jut. Aba nu hat er ein Thronfolger, und wat macht er damit? Er sperrt den Fritze inne Festung! Herrje, wat soll denn aus dem Jungen werden, glauben Se, Duchlaucht, det kann doch kein juter König mal nich werden, sone Prügel, die hat ja mein Oller unsere Kinners nich jejeben, und det is ’n oller Kommiskopp, und ick sage Ihnen, Durchlaucht, ick wäre sonst mit meine Kinners durchjebrannt, wenn er die anjerührt hätte, ja, det wäre ick! Zurück zu Muttern! Aba die Königin, det arme Mädchen, wohin sollse denn durchbrennen mit ihre janzen Prinzen un Prinzessinnen? Und denn wollte der König sich immer scheiden lassen, hatter jedroht, und hattse der Untreue verdächtigt, die Königin!«

Die Mermann tippte sich an die Stirn und sah die Sonsfeld bedeutungsvoll an. »Die Königin der Untreue! Herrjott noch mal, wer hätte die Traute jehabt, mit Olympia wat anzufangen!«

Die Hofmeisterin hatte sich über dem Gebrabbel der Alten langsam von ihrem Schrecken erholt und kicherte. Der Spitzname der in die Breite gegangenen Königin war zu treffend.

»Sehnse, nu lachense wieder, Durchlaucht!«

Aus den tiefen Falten ihres Gewandes zog die Mermann eine Flasche heraus und nahm einen kräftigen Schluck. Sie bemerkte das Erstaunen des Fräuleins und murmelte: »’tschulligung, Frollein, aba det musste auf den Schrecken mal sein. Wenn Se ooch een wollen …«

Sie hielt der Hofmeisterin die Flasche hin. Die griff zu und nahm einen tiefen Schluck. Hustend reichte sie der Amme die Flasche: »Schmeckt ja grauenhaft!«

»Soll et ja ooch«, meinte die Amme, »is ja zum Abjewöhnen, nich zum Anjewöhnen, wa.«

Sie verkorkte die Flasche sorgfältig und verstaute sie wieder irgendwo an ihrem umfangreichen Körper. Das Fräulein fragte sich, welche Geheimnisse unter diesen Röcken seit langen Jahren lagern mochten. Ächzend erhob sich die Amme.

»Ick muss mir beeilen, Durchlaucht, meine Jüngste kommt heute in die Wehen. Aba vorher wollte ick noch in die Küche, vastehnse?«

»Was wollen Sie in der Küche, Mermann?«

»Na, det Essen jestern, und nu det Deschönee, erst meinem Prinzesschen den Mund wässerig machen, und denn zu schalem Biere hungern lassen, ne, ne, nich mit der Mermann, da kriegense Ärger.«

»Lohnt sich das noch?«, meinte das Fräulein.

Die Mermann beugte sich vor: »Wie meinense denn ditte?«

»Nun, ich werde ausgepeitscht und die Prinzessin wird in die Festung gebracht werden. Da brauchen wir uns doch nicht mehr über das Essen zu beschweren, oder?«

»Jotte doch und bei alle Heiligen!«, rief die Mermann aus. »Frolleinchen, nu sehnse doch nich allet so schwarz! Et wird doch nich allet so heiß jejessen wie et jekocht wird! Kommt doch immer allet lauwarm hier oben an, ooch de Jerüchteküche!«

Fräulein von Sonsfeld lachte. Gegen die Schlagfertigkeit der Amme war kein Kraut gewachsen. In ihrer Gegenwart konnte keiner pessimistisch sein, und genau das hatte sie der kleinen Wilhelmine in den ersten Lebensjahren auf den Weg gegeben. Dann allerdings war die kleine Prinzessin in die Hände der Leti, einer italienischen Erzieherin, geraten. Bei dem geringsten Anlass war sie geschlagen worden, sogar mit Gegenständen hatte diese Furie sie traktiert. Ernsthafte Verletzungen am Kopf waren die Folge. Mit einem scharfen Gesichtswasser hatte sie der Kleinen das Gesicht abgerieben, bis ihre Augen gerötet waren und die Haut entsetzliche Pusteln gezeigt hatte. Hätte die Mermann nicht die Flasche zum Fenster hinausgeworfen, der Teint der kleinen Prinzessin wäre für immer verdorben gewesen, und genau das hatte offenbar in der Absicht dieser Furie gelegen.

Die Prinzessin hatte immer alles klaglos hingenommen. Sonsine hatte nie verstanden, warum sie sich nicht beschwert hatte. Als sie die Bildung der bereits Elfjährigen übernahm, war diese völlig eingeschüchtert. Den Mut, die brutale Erzieherin auszuhalten, hatte sie im wahrsten Sinne des Wortes mit der Muttermilch eingesogen, mit der Milch und dem Mutterwitz dieser aufrechten Anna Mermann.

»Sie kümmern sich ums Essen, ich kümmere mich um den König«, sagte das Fräulein entschlossen. »Ich werde zum König nach Potsdam fahren, so geht das hier nicht weiter.«

Die Mermann war schon der Tür. »Tapfere Durchlaucht! Ick wünsche Ihnen Glück!«

Damit ging sie.

Im August, nachdem der Kronprinz geflohen war, hatte das Fräulein die rasende Wut des Königs erlebt. Der Prinz hatte die harte Behandlung und die ständigen Demütigungen durch seinen Vater satt, die er seit seinem dreizehnten Lebensjahr erdulden musste. Mit seinem Pagen Keith und seinem Freund Katte hatte er fliehen wollen, war aber verraten und eingefangen worden.

Ohnmächtig war Wilhelmine in ihre Arme gesunken, als der König in die Gemächer der Königin gestürmt war und gebrüllt hatte, ihr Sohn, der Schurke von einem Fritz, sei tot. Sie hatte Wilhelmine wieder zu Bewusstsein gebracht, voller Angst, der König hätte seinen eigenen Sohn umgebracht. Aber Wilhelmine war kaum wieder bei Besinnung, wollte den König begrüßen und demütig seine Hand küssen, da lief er vor Wut schwarz an, seine Augen funkelten und Schaum trat ihm aus dem Munde hervor.

»Infame Canaille!«, rief er. »Sie wagt es, vor mir zu erscheinen? Fort mit Ihr. Sie mag Ihrem Schurken von Bruder Gesellschaft leisten.«

Mit diesen Worten packte er sie bei der Hand und versetzte ihr, bevor ihn jemand hindern konnte, einige Faustschläge ins Gesicht, von denen sie einer so heftig an der Schläfe traf, dass sie gegen den Kamin stürzte. Bewusstlos blieb Wilhelmine liegen, aber der Zorn des Königs war nicht besänftigt. Er wollte sie weiterhin schlagen und sogar treten, wenn nicht die Königin und ihre Hofdamen ihn daran gehindert hätten. Schnell hoben die Hofdamen von Sonsfeld und Frau von Kamecke Wilhelmine auf und trugen sie zu einem Stuhl in der Fensternische.

Die Gemächer der Königin lagen im Erdgeschoss, es war warm und die Fenster waren geöffnet. Vor den Fenstern drängte sich das Volk. Einige, die das Geschehen gesehen oder gehört hatten, schrien auf in dem Glauben, der König habe in seiner hitzigen Wut die eigene Tochter erschlagen.

Die Königin dachte, ihr Sohn sei tot. Sie schrie und lief wie eine Wahnsinnige im Zimmer herum. Die Szene hätte einen Stein erweicht, nicht aber den König. Der Zorn hatte seine Züge entsetzlich entstellt. Der jüngste Prinz, August Wilhelm, der erst vier Jahre alt war, umklammerte seine Knie und weinte. Das Fräulein hielt den Kopf Wilhelmines, der von den Schlägen wund und verschwollen war, und versuchte, sie mit Hilfe ihres Riechfläschchens wieder zu beleben.

Inzwischen hatte der König einen anderen Ton angeschlagen, vielleicht hatten ihn die Tränen seines Jüngsten, den er zärtlich »Hulla« nannte, gerührt. Der Kronprinz sei am Leben, erklärte er etwas ruhiger, aber er werde diesen Schurken von einem Fritz hinrichten lassen wegen Majestätsverbrechen, und die infame Wilhelmine werde er als Mitwisserin zeit ihres Lebens zwischen vier Mauern einsperren. Er beschuldigte sie, an der Verschwörung beteiligt zu sein, sie habe ebenfalls fliehen wollen, weil sie eine Affaire mit dem Leutnant Katte habe. Dabei redete der König sich erneut in einen unsinnigen Zorn hinein, der in der Beschimpfung gipfelte, Wilhelmine habe heimlich ein uneheliches Kind von Katte. Hier konnte die Hofmeisterin nicht länger an sich halten, hier ging es auch um ihre Ehre. Sie trat vor, räusperte sich, bemühte sich, trotz ihrer Furcht laut und ruhig zu sprechen, und erklärte: »Majestät, das ist eine Lüge, und wer Eurer Majestät solche Dinge hinterbrachte, hat gelogen.«

Der König hatte ihr keine Antwort gegeben. Er hielt im Schimpfen und Fluchen nicht inne, war aber inzwischen kurz vor einem Herzanfall. Mittlerweile war Wilhelmine wieder zu sich gekommen und schrie laut, sie wolle den Herzog von Weißenfels heiraten oder wen auch immer der König befehle, wenn er ihr bitte nur das Leben ihres Bruders schenke. Die Prinzessin hatte viele französische Tragödien und Romane gelesen, in der solch edle Regungen vorkamen. Sie hatte vergessen, dass Tragödien tödlich endeten. In seinem lärmenden Zorn hatte sie der König glücklicherweise nicht gehört, und bevor Wilhelmine ihre Stimme ein zweites Mal erheben konnte, hatte das Fräulein ihr ein Taschentuch fest vor den Mund gedrückt. Der König hätte Wilhelmines edles Angebot nur als Schuldgeständnis angesehen und sie sofort arretiert. Außerdem hätte Wilhelmine sich den Zorn der Königin zugezogen, die trotz aller königlichen Drohungen an ihrer Heiratspolitik festhielt, und die sah eine Verbindung vor mit ihrem Neffen, dem künftigen König von England. Der Herzog von Weißenfels! Mit diesem Hungerleider aus dem Anhaltinischen wäre nicht einmal das Fräulein, immerhin eine Freiin von Wittenhorst-Sonsfeld, eine standesgemäße Verbindung eingegangen.

In jenem Moment wurde Leutnant Katte, bleich und gebrochen, über den Schlosshof zum Verhör geführt. Der König brüllte, er werde den Schurken von Fritz und die infame Wilhelmine köpfen lassen, das peinliche Verhör von Katte werde ihm ausreichend Beweise bringen. Damit stürzte er zur Tür. In diesem Augenblick richtete sich Frau von Kamecke auf und stellte sich dem König in den Weg.

Da stand sie, klein, weißhaarig, zart, aber voller Energie. Die alte Hofdame der Königinmutter sprach zum König, als wäre er noch immer der Kronprinz, der seine Lektion nicht gelernt hatte: »Majestät! Sie haben sich bisher für einen gerechten und gottesfürchtigen König gehalten und Gott hat Sie dafür mit Segnungen überhäuft.«

Der König blieb überrascht stehen und sah sie an.

»Wehe Ihnen, wenn Sie seine Gebote übertreten«, fuhr sie fort, »fürchten Sie die göttliche Vergeltung. Sie hat zwei Herrscher heimgesucht, die das Blut des eigenen Sohnes vergossen: Philipp II. von Spanien und Zar Peter sind ohne männliche Erben dahingegangen. Ihre Staaten fielen Kriegen zum Opfer, und beide Monarchen wurden zu Schreckgestalten der Menschheit. Gehen Sie in sich, Majestät! Ihre ersten Zornesregungen sind noch entschuldbar, aber sie werden verbrecherisch, wenn Sie nicht versuchen, sie zu überwinden.«

Der König hatte sie nicht unterbrochen. Eine Weile blickte er sie an, dann brach er sein Schweigen.

»Sie sind sehr kühn, mir gegenüber solche Worte zu wagen«, sagte er, »doch verarge ich es Ihnen nicht. Ihre Absichten sind gut, und Sie reden offen zu mir. Gehen Sie, die Königin zu beruhigen.«

Das Fräulein hatte Frau von Kamecke zutiefst bewundert und die erstaunliche Veränderung wahrgenommen, die der Mut der zarten alten Hofdame auf den König ausübte.

Vielleicht musste man auf diese Art mit dem König reden? Nach Potsdam, dachte sie, was habe ich schon zu verlieren.

3

Im Potsdamer Schloss ließ sich das Fräulein beim König melden. Nach den vielen besorgniserregenden Krankheiten der Prinzessin bestand die Absprache, dass Wilhelmines Hofmeisterin jederzeit vorgelassen wurde. Das arme Kind hatte bereits mit zwölf Jahren alle Krankheiten gehabt, die ein Kind nur bekommen konnte, die Ruhr, gefolgt von Gelbsucht, ein Geschwür im Kopf, das ihr entsetzliche Schmerzen bereitet hatte, schließlich hatte sie die Blattern überstanden, aber ein empfindlicher Magen, Fieberanfälle und eine übergroße Nervosität waren geblieben.

»Was ist geschehen«, fragte Friedrich Wilhelm sie ohne große Vorreden, »ist das Mädgen krank?«

Da fragte ein besorgter Vater, kein zorniger König. Hatte er vergessen, was er heute Morgen befohlen hatte? Er trug seine abgewetzte blaue Uniform, die über dem umfangreichen Bauch spannte, rauchte seine lange holländische Pfeife aus weißem Ton, war offenbar schmerzfrei und daher entspannt. Er saß nicht in seinem Rollstuhl, sondern hinter seinem großen Schreibtisch auf einem gewöhnlichen Kontorstuhl. Regierungsgeschäfte erledigte der König schlicht.

Wie sollte sie nur beginnen? Sie konnte ihn doch nicht wegen des grässlichen Ereignisses von heute Morgen beschimpfen. Sie begann, von Wilhelmines Fortschritten zu berichten, von ihrer raschen Auffassungsgabe, ihrer Intelligenz.

Der König ließ seine Pfeife sinken und unterbrach sie mit umwölkter Stirn. »Minneken ist kein Schulkind mehr. Sie ist längst im heiratsfähigen Alter, aber sie weigert sich, zu heiraten. Ich werde sie in die Festung schicken müssen.«

»Ich glaube nicht, dass das der richtige Ort für Wilhelmine wäre«, sagte das Fräulein, ohne die Ironie ihrer Antwort zu spüren. »Außerdem will die Prinzessin ja heiraten, Majestät.«

»Sehe schon«, knurrte er, zog die Schreibtischschublade auf und wühlte in einigen Papieren. Er reichte ihr einen Zettel mit dem Befehl: »Lese Sie!« An den steilen Schriftzügen erkannte sie Wilhelmines Schrift.

»Zu meiner Verzweiflung erfahre ich also, dass mein lieber Papa mich verheiraten will, denn ich habe stets aus mancherlei Gründen eine furchtbare Abneigung gegen alles gehegt, was Ehe heißt, und hege sie noch … Majestät«, unterbrach die Hofmeisterin ihre Lesung, »dieser Brief ist vom 30. Januar des vergangenen Jahres!«

»Wankelmütig, ihr Weiber«, knurrte er.

»Damals ging es um die Verheiratung Wilhelmines mit dem Markgrafen von Schwedt oder dem Herzog von Weißenfels«, fuhr sie tapfer fort.

»Mutige, hochdekorierte Leute wie ihr Vater, Sonsfeld!«, fuhr er auf.

»Ja, Majestät. Für eine verarmte Freifrau wie mich wären beide Herren eine gute Partie gewesen. Zumal sie in meinem Alter sind. Aber für Ihre Tochter?«

»Zu alt, meint Sie?«, knurrte er, seine Pfeife frisch ansteckend. »Hätte die Tochter sagen können, statt sich hinter Ausreden zu verschanzen.«

»Majestät«, sagte das Fräulein entschlossen, »Sie machten mich im vergangenen Jahr zur Botin dieses Befehls, aber ich konnte der Prinzessin zu keinem der Bewerber raten. Dieser Brief ist eine weibliche Ausflucht, zu der ich, ich gestehe es, Ihrer Tochter geraten habe …«

»Sie, Sonsfeld?«, fragte er überrascht. »Warum?«

»Weil es nicht angeht, dass eine Königstochter an einen Duodezfürsten verschwendet wird. Vor einem Jahr war die englische Sache noch nicht entschieden, und ich …«

Sein Brüllen ließ das Fräulein zusammenfahren. Er schlug mit der Faust auf den Tisch. »Die englische Sache!«, brüllte er. »Dieser hannöversche Dünkel, dieses Getue, dieses Waschweibergetratsch! Ich kann meine Tochter verheiraten, wie es mir passt!«

Das konnte er natürlich nicht, entschied das Fräulein. Der König selbst hatte ein Gesetz erlassen, dass Mädchen nicht gegen ihren Willen verheiratet werden durften. Ihn in diesem Moment daran zu erinnern, schien ihr aber wenig diplomatisch.

»Ja, Majestät, das können Sie«, sagte sie ruhig, »Sie sind der königliche Vater, und als solcher sind Sie gehalten, weise und umsichtig zum Besten Ihrer erlauchten Kinder zu handeln.«

Noch gerötet vor verrauchtem Zorn, sah er dem Fräulein in die Augen. Das Direkte lag ihm, höfische Schmeicheleien konnte er nicht ausstehen – kein Wunder, dass er mit seiner Gattin nicht zurechtkam. Deren ständiges Schwanken zwischen Unterwürfigkeit und Arroganz produzierte ein Missverständnis nach dem anderen und brachte ihn zur Weißglut.

»Die Ausbildung der königlichen Kinder zeugt von Weisheit und Umsicht«, fuhr die Hofmeisterin in lautem, direktem Ton fort, »Wilhelmine ist dank ihres Lehrers La Croze zur Regentin ausgebildet, sie spricht drei Sprachen, hat profunde Kenntnisse in Geschichte, Geografie, Philosophie …«

»Nicht einmal das Vaterunser konnte sie hersagen«, grollte er, »und da zählte sie schon neun Lenze.«

»Majestät, Ihre Tochter ist gottesfürchtig und sehr religiös«, log das Fräulein, »wahrscheinlich hat sie der gestrenge Vater beim Abfragen durcheinandergebracht. Sie war sehr eingeschüchtert, als ich sie kennenlernte.«

Das stimmte. Die Schläge der Leti hatten Wilhelmine so verängstigt, dass sie nicht einmal laut zu sprechen wagte. Zum Leidwesen des Vaters waren aber weder Fritz noch Wilhelmine religiös – im Gegenteil. Wie oft hatte sie scharf eingreifen müssen, wenn die beiden sich über den Pietismus des Vaters und seines Hofpredigers Francke lustig machten. Sie waren Freidenker, statt der Bibel lasen sie Racine, und Religion wollten sie durch das ersetzen, was sie unter Vernunft verstanden.

Prüfend betrachtete der König das Fräulein. »Was will Sie eigentlich von mir?«

»Majestät, Sie zwangen uns heute, einem Geschehen beizuwohnen, das der Prinzessin unzuträglich war. Sie ist ernsthaft erkrankt, ich fürchte um ihr Gemüt. Und was meine bescheidene Person angeht, kann ich mir nicht denken, was Majestät damit bezwecken will, mich öffentlich auspeitschen zu lassen.«

»Meine Tochter kann ich nicht auspeitschen lassen. Also muss dieses Schauspiel sie zur Vernunft bringen. Heulen und Zähneklappern!«

»Was verlangen Sie von Ihrer Tochter?«

»Dass sie endlich heiratet!«, schrie er und warf seine Pfeife gegen die Wand. »Sie soll sich den Prinzen von Wales aus dem Kopf schlagen! Sie wird so lange gefangen bleiben, bis sie den Erbprinzen von Baireuth geehelicht hat, oder sie landet in der Spandauer Festung.«

»Spandau? Die Prinzessin?«, fragte das Fräulein erschrocken. Er nickte, mit einer kleinen bösen Falte zwischen den Augen, und pochte mit seiner Feder auf den Tisch.

»Spandau, jawohl. Ihr glaubt alle, ich mache nicht Ernst, nur weil ich bei meinem Sohn Gnade vor Recht ergehen ließ. Ich ließ ihn am Leben. Aber noch sitzt er in der Festung Küstrin, warum soll seine Schwester nicht in Spandau residieren?«

Er lehnte sich vor, fixierte sie scharf und sagte übergangslos: »Sie hat Angst, nicht wahr, Sonsfeld? Nach Ihrer Auspeitschung kann Sie betteln gehen. Als Hofmeisterin ist Sie überflüssig, meine Tochter braucht in Spandau keine mehr, und als Hofdame ist Sie kompromittiert. Ich hätte noch einen Platz im Spinnhaus für Sie.«

Nun war es genug. Als Hofdame hatte das Fräulein Diplomatie, Beherrschung und formvollendete Manieren von früher Jugend an gelernt, aber mit dieser Drohung setzte er sie den Huren gleich, die er in seinen neu gegründeten Spinnhäusern bis zum Umfallen schuften ließ, um billigen Uniformstoff für seine stetig anwachsende Armee zu produzieren. Sie spürte, wie ihr schweres westfälisches Blut in Wallung geriet, und sprang auf.

»Ins Spinnhaus!«, schrie sie fassungslos. »Das wagen Sie einer Sonsfeld zu sagen! Mein Vater diente schon Ihrem Großvater treu. Als die Franzosen einfielen und sein Schloss in Brand steckten, konnte er es nicht verteidigen, und warum? Weil er an der Seite seines Königs in Schlesien kämpfte! Ja, Majestät, stecken Sie die Tochter eines Erbdrosten ins Spinnhaus, Sie werden sehen, wie sie dort das Leinen für ihr Leichentuch spinnt.«

Voller Scham wollte die Hofmeisterin hinausstürzen. Bei der Erwähnung des Vaters waren ihr die Tränen gekommen, er war der Mutter zu schnell gefolgt und hatte sie mit neun Geschwistern als Waisen zurückgelassen.

»Halt!«, brüllte der König. Das Fräulein blieb stehen, wischte schnell die Tränen fort, drehte sich herum und sah ihn an. Er sollte nicht denken, dass sie Angst vor ihm hatte.

»Sie ist die Tochter eines tapferen Generals, doch schlägt Sie mich mit den Waffen der Weiber«, sagte der König grimmig, aber er schien bewegt. »Sie soll sie einsetzen, um meine Tochter zur Vernunft zu bringen. Gegen den Erbprinzen von Baireuth kann meine Willminne nichts einwenden, er ist so jung wie sie, gebildet und ein galanter Mensch. Er parliert sogar französisch.«

Sie wollte etwas sagen, aber eine Handbewegung von ihm ließ sie verstummen.

»Sie weiß, Sonsfeld, dass die englische Heirat nicht mehr möglich ist. Lasse Sie sich von der Königin nichts einreden, Sie ist doch eine vernünftige Person und kennt die politische Entwicklung. Wenn Sie dem Minneken gut zuredet, soll es Ihr Schaden nicht sein. Ich weiß, dass Sie nicht auf Rosen gebettet ist, eine unversorgte Hofdame mit einer verwachsenen Schwester. Ich ernenne Sie zur Äbtissin vom Stift Wolmirstedt, das ist nicht weit von hier, bei Magdeburg, da wird Sie ein ruhiges Leben führen und versorgt sein, wenn meine Tochter Ihre Dienste nicht mehr benötigt.«

Fräulein von Sonsfeld war wie vor den Kopf geschlagen. Jetzt musste sie sich auch noch bedanken? Sie hatte bewirken wollen, dass er die Gefangenschaft seiner Tochter aufhob und sie wieder freundlich ansah. Nun war sie Äbtissin und hatte für die Prinzessin nichts erreicht.

Der König wühlte in seinen Papieren und machte eine ungeduldige Handbewegung, die sie entließ. Sie dachte an Frau von Kamecke und nahm ihren ganzen Mut zusammen.

»Majestät, ich danke für Ihre Gnade«, sagte sie, »bitte schenken Sie mir noch zwei Minuten Gehör. Ich bin nicht um meiner selbst willen gekommen, sondern wegen Ihrer Tochter, für die ich mich mit Freuden öffentlich auspeitschen ließe, wenn es ihr hülfe.«

Er sah von seinen Papieren auf.

»So ergeben ist sie dem Minneken? Diesem kleinen blatternarbigen Luder?«

Dem Fräulein verschlug es die Sprache. Vor zwei Jahren wäre die Prinzessin fast an den Pocken gestorben. Wochenlang hatte sie mit der Mermann und ihr in Quarantäne gelebt. Aus Angst vor Ansteckung hatte sich wochenlang keiner blicken lassen, außer dem Kronprinzen, der die Pocken bereits durchlitten hatte. Wie durch ein Wunder genas sie. Ihre Haut trocknete, heilte, und als ob eine gütige, mitleidsvolle Fee sie gestreichelt hätte, war sie zarter als zuvor und weiß wie Porzellan. Gut, Wilhelmine war keine Schönheit, dazu fehlte ihr eine gehörige Portion Sanftmut, aber blatternarbig war sie wirklich nicht, und wenn, war es die Schuld des Königs von Preußen, der zu geizig gewesen war, seine Kinder impfen zu lassen. Und jetzt machte er seiner Tochter aus ihrer Krankheit auch noch einen Vorwurf! Er war wirklich herzlos.

»Sie hat keine Narben, Majestät. Sie ist die Tochter eines großen Königs, und daher prädestiniert, einen König zu heiraten. Wenn ich als mein bescheidenes Verdienst hinzufügen darf: Sie ist auch gebildet und bewandert in allen Fragen der Etikette.«

»Etikette! Dieses französische Getue!«, rief er ungeduldig aus.

»Ich meine die europäische Diplomatie, ohne die wir nicht auskommen, wenn wir die Länder befrieden und nicht ständig Kriege austragen wollen.«

Das wollte er nicht, das wusste sie. Man verspottete ihn wegen seiner Vorliebe zu seinen »langen Kerls« zwar als »Soldatenkönig«, am wirtschaftlichen Aufschwung seiner »Streusandbüchse« aber lag ihm mehr als an kostspieligen Eroberungsfeldzügen. Krieg hatte er bisher vermieden.

»Treiben die Weiber jetzt Politik?«, herrschte er sie an.

»Nein, Majestät, Politik ist Männersache«, sagte das Fräulein gehorsam, »aber Sie wissen, wie viel eine Nation mit einer klugen Königin gewinnt. Denken Sie an Ihre Frau Mutter.«

Er furchte die Stirn. »Meine Mutter war eine große Königin, aber eine schlechte Christin.«

Jeden Einwand mit einer Geste seiner dicken Hand abwehrend, fuhr er fort: »Sonsfeld, meine Tochter wird ihre Fähigkeiten nicht am Prinzen von Wales erproben, dies ist endgültig vorbei. Ich hätte diese Verbindung nicht ungern gesehen, wenn ich auch nicht so versessen darauf war wie die Königin, deren Heiratspolitik ständig meine Bündnispolitik durchkreuzt. Der König von England hätte mein Minneken haben können, er hat nicht gewollt.«

Nach dem königlichen Fußtritt in den englischen Diplomatenhintern vor einem Jahr sah die in der Etikette Bewanderte dies anders, aber sie schwieg.

»Meine Tochter wird ihre Fähigkeiten als Regentin der Markgrafschaft Baireuth erproben können, die wir als Bollwerk gegen die Habsburger dringend brauchen.«

Er sah das Fräulein Luft holen, hob wieder die Hand und fuhr fort: »Die Sache ist beschlossen. Die Kommission hat Befehl, heute Abend nach Berlin zu fahren und der Kronprinzessin die Kabinettsorder vorzulegen. Meine Tochter kann mir ihre Unterwürfigkeit beweisen, indem sie unterschreibt. Dann werde ich sie in Gnaden wieder in die Familie aufnehmen …« Er lehnte sich über den Schreibtisch und fixierte das Fräulein mit stechendem Blick: »… und ihren Bruder auch.«

Die letzten Worte hatte er sehr bedeutsam angefügt. Das Fräulein verneigte sich.

»Willminne hat das Schicksal ihres Bruders in der Hand, lasse Sie, Sonsfeld, daran keinen Zweifel. Sie weiß, was sie zu tun hat, Äbtissin.«

Er lachte auf und fügte hinzu: »Schade, dass Sie als Reformierte für Ihre Verdienste an meiner Tochter nicht heiliggesprochen werden kann!«

4

Wie ich diesen Eversmann hasse, dachte Wilhelmine. Sie hatte die Augen aufgeschlagen und empfand die Ruhe als wohltuend nach dem morgendlichen Schock. Nun kann ich wenigstens erahnen, wie Fritz sich gefühlt hat, als sein Freund Katte vor seinen Augen enthauptet wurde. Enthaupten, dachte sie, was für ein edles Wort für diese schimpfliche Ermordung.

Sie legte sich eine Wolldecke um die Schultern und ging ins Ankleidezimmer. Die Amme hatte das Kleid für sie zurecht gelegt. Mühsam schlüpfte sie hinein. Sie war es nicht gewohnt, sich allein anzukleiden, aber die einzige Dienerin, die der König ihr zugestanden hatte, war im Entresol mit der Wäsche beschäftigt.

Doris Ritter eine Mätresse von Fedéric, dachte sie bitter, während sie ihre Laute aus dem Schrank nahm. Wer das denkt, weiß nichts über meinen Bruder. Armer Fritz, sensibel, naturwissenschaftlich begabt und liebte die Musik. Der König ließ nur das Soldatische gelten, alles andere verachtete er als weibisch, es war wie ein Naturgesetz, dass der Vater seinen Sohn haßte. Sonsine hatte ihr erzählt, wie der Vater bereits als Kronprinz mit vierzehn Jahren exerziert hatte. Nicht einmal der eigenen Mutter, der klugen Charlotte Sophie, war es gelungen, ihren Sohn für die Seele des Lebens zu erwärmen. Sie war zu früh gestorben, ihre Großmutter hätte Wilhelmine gern kennen gelernt.

Je härter der Drill wurde, desto sehnlicher suchte Fritz ein warmes Zuhause: bei der Familie des Kantors Ritter hatte er es gefunden. Er hatte ihr erzählt, wie formlos und gemütlich es in dem kleinen Haus zuging, wie die fünfköpfige Familie jeden Abend gemeinsam musizierte, obwohl sie so arm waren, dass Doris nicht einmal ein Seidenkleid besaß. Heimlich hatte er sich zur Familie Ritter geschlichen und war mit seiner neuen Traversflöte freundlich aufgenommen worden.

Zart schlug Wilhelmine die Saiten, horchte, stimmte und begann eine Sonate von Corelli zu spielen, möglichst leise, damit die Wachsoldaten sie nicht hörten. Oh, sie hätten nicht gewagt, in die Gemächer der ältesten Prinzessin zu kommen und ihr das Instrument zu nehmen, aber Meldung bei ihrem Vorgesetzten würden sie machen, und der würde wieder Meldung bei seinem Vorgesetzten machen, und der … das preussische Militär funktionierte tadellos. Wilhelmine seufzte. Es war ja auch das einzige, was funktionieren musste. Alles andere, das ihrer Mutter, den Hofdamen und ihr Freude machte, hatte der König abgeschafft. Der Hofprediger Francke, diese Laus im Pelz des religiösen Königs, hatte durchgesetzt, dass die Redouten und der Karneval eingeschränkt wurden, und der Vater, bemüht, die Schulden zu tilgen, die der Großvater in seiner verschwenderischen Lust am königlichen Prunk gemacht hatte, hatte alles entlassen,geschlossen oder verboten, was interessant war: Architekten, das Orchester, die Oper, französische Komödien. Die Akademie der Wissenschaften, von Großmutter Charlotte ins Leben gerufen, ließ er schließen und ihren Präsidenten, Professor Jakob von Gundling, degradierte er zum Hofnarren an seiner Trink- und Tabakrunde. Gundling, vom König verspottet und immer wieder üblen Peinigungen ausgesetzt, war inzwischen nach einigen Fluchtversuchen der Trunksucht verfallen. Dumm geblieben wäre ich ohne meinen Lehrer La Croze, dachte sie. Wenn er seinen Benediktinern nicht entflohen wäre und bei Hofe freundliche Aufnahme gefunden hätte, wäre schwerlich ein angemessener Lehrer für mich verfügbar gewesen.

Erstaunt merkte sie, dass sie sich beim Räsonieren von den Noten gelöst hatte. Sie hat mich entführt, die Musik, wie schön die Welt sein kann! Sie freute sich und verband ihr kleines Motiv mit dem von Corelli zu einem Capriccio. Wie fröhlich und kräftig die Tonfolge in Dur klang. Dabei war sie so niedergeschlagen gewesen. Aus der Einsamkeit kommt die Kraft, dachte sie, aus der Trauer entsteht die Hoffnung, aus der Sehnsucht die Musik.

Sie wühlte in ihrem Sekretär nach Notenpapier. Nichts. Die Wut des Königs hatte wirklich vor nichts haltgemacht, nicht einmal Notenpapier durfte gekauft werden.

Stirnrunzelnd malte sie sich ein Notensystem, besorgt, über diesem stupiden Tun ihren kleinen Einfall zu vergessen. Dann notierte sie, wiederholte das Stück und war recht zufrieden. Die unfreiwillige Zurückgezogenheit hatte ihre Vorzüge.

Sie wurde eifrig, ihre Wangen röteten sich, während sie spielte und einem Einfall den nächsten hinzufügte. Es ist wie eine Mathematikaufgabe von La Croze, dachte sie. Zur Lösung fehlt ein kleiner Kniff, die winzige logische Ermittlung – und die Aufgabe ist gelöst. Wenn doch der Bruder da wäre! Fedéric hätte jetzt das Motiv mit seiner Flöte aufgenommen, und sie hätten zusammen musiziert. Tränen liefen ihr die Wangen hinunter, während sie das Motiv verwandelte und als Flötenstimme hinzufügte. Ein Flötenkonzert würde sie schreiben, für den Bruder!

Keinen Menschen vermisste sie so wie ihn, der so herrlich spotten konnte, mit dem man so wundervoll über die ahnungslosen Hofschranzen lästern konnte. Sie hatten Scarrons Roman »Komödianten« gelesen und sich an Stellen vor Lachen gekugelt, die sich anhörten, als wäre Scarron Hofnarr am preußischen Hof und würde beschreiben, was er dort sah.

Den kaiserlichen Gesandten Seckendorff, der ihnen von allen am widerwärtigsten erschien, hatten sie nach Scarron »den Plünderer« genannt, der allgegenwärtige Minister Grumbkow, dieser Intrigant, der, wie sie vermutete, ein kaiserlicher Spion war, war Rancune. Ständig hatten sie gekichert über diese Geheimnamen, sogar die Königin hatte davon erfahren und mit ihren Kindern gelacht. Sie hatten ihr allerdings verschwiegen, dass sie nicht einmal den König verschont hatten und ihn als »dicken Brummer« titulierten. Meine Mutter hat Geist und Humor, dachte Wilhelmine, und dennoch lebt sie in ständiger Angst vor ihrem Gatten, der Wissenschaftler und Künstler beschimpft und Musik bestenfalls als Truppenermunterung duldet.

Wenn ihr zukünftiger Mann auch so wäre? Wenn er ihr die Freude am Musizieren verderben, die Wissenschaften verbieten würde? Keinerlei Zerstreuungen, keine Redouten, nicht mal Maskenbälle an Karneval? Sie hatte von Höfen gehört, an denen calvinistische Prediger die Fürsten beherrschten und ihnen das ewige Fegefeuer androhten, wenn sie nicht gottesfürchtig lebten. Und sie allein bestimmten, was gottesfürchtig war und was nicht.

Mit der Laute im Arm trat Wilhelmine ans Fenster. Der Innenhof des Schlosses sah schmutzig und vernachlässigt aus, wie immer, wenn der König in Potsdam war. Er wollte sie also zwingen, zu heiraten. Hatte er einen neuen Kandidaten gefunden? Sie wusste, dass der König der Mutter befohlen hatte, eine Liste mit geeigneten Bewerbern zu erstellen. Die Königin zögerte das aber ständig hinaus und wartete verzweifelt auf Antwort aus England.

England, dachte Wilhelmine, ausgeträumt der Traum. Nicht wegen des Fußtritts, den der König dem englischen Gesandten Chevalier Hotham verpasst hatte, auch nicht wegen der Mutter, deren Starrsinn die Politik des Vaters und damit Preußens ignorierte. Nein. Die Wahrheit war einfach und schmeckte bitter: Die hatten sie nie gewollt. Keiner will mich, dachte Wilhelmine bitter, wer will schon eine hässliche Prinzessin? Schon bei meiner Geburt bin ich äußerst ungnädig empfangen worden, alle wünschten leidenschaftlich einen Prinzen.

Gerade elf Jahre alt war sie gewesen, als die widerwärtigen Hofdamen aus Hannover angerückt waren, um sie in Augenschein zu nehmen. Eine nach der anderen kam, eine hochnäsiger als die nächste, die Heiratsware für ihren König zu prüfen. Sie schlug einen schrillen Ton auf der Laute an, schrill, wie die erste der Hofdamen gesagt hatte: »Mein Gott, wie sieht die Prinzessin aus! Welche Figur! Wie ungraziös!«

Und ihre Mutter, die geistvolle, energische Königin mit dem hoheitsvollen Auftreten der Welfin, sie wurde regelrecht verlegen! Entschuldigend entgegnete sie: »Indeed, she could look much better. Aber an ihrer Taille ist nichts auszusetzen, sie ist nur noch nicht entwickelt. Wenn Sie aber mit ihr Konversation machen, werden Sie sehen, was in ihr steckt.«

»Tatsächlich?«, hatte die erste Hofdame gezweifelt. »Sagen Sie mir, Prinzessin, was ergibt zwei und zwei?«

Die behandelte sie wie ein Kleinkind! Wilhelmine sagte sehr höflich, denn von frühester Kindheit an hatte sie gelernt, die Etikette zu wahren: »Das ist sehr unterschiedlich, Madame. So wie wir hier stehen, sind wir vier. Sehen Sie her!«

Mit diesen Worten hatte sie der Dame einen kräftigen Schubs versetzt, so dass diese das Gleichgewicht verlor. Sie fuhr fort: »Wenn auf einen Körper die Kraft eines anderen Körpers wirkt, dann ist die actio gegengleich reactio. Sie potenziert sich; wenn auf zwei Körper die Kraft zweier anderer Körper wirkt, so etwa …«

Nach diesen Worten gab sie der nächsten aufgetakelten Dame einen kräftigen Schubs, so dass sie genau auf jene fiel, die sich eben mühsam erhob.

»Sehen Sie! So entspricht unserer Kraft bereits sechs oder acht … Ich müsste es noch genauer ausrechnen. Vor allem müssen wir die Gravitation berücksichtigen, die Sie am Boden hält.«

Die Empörung war groß. Die Kenntnis von Newtons neuesten physikalischen Gesetzen hatte Wilhelmine kein Lob, sondern nichts als bittere Verweise eingebracht. Außerdem galt sie nun als hochnäsig und bösartig. Und die Konversation! Eine dieser Bestien ließ sie fünfzig albern verschnörkelte Namen auswendig lernen, nur weil die Königin gewettet hatte, ihre älteste Tochter könne hundertfünfzig Verse in einer Stunde lernen und hersagen. Sie bestand auch diese Prüfung, aber es half nichts. Die dritte Hofdame nahm die Königin beiseite und flüsterte: »Dorothea, unter Schwestern sollte man offener sprechen.«

»Unbedingt, meine Liebe«, erwiderte die Königin verunsichert.

»Alle Welt weiß, dass Ihre Tochter verwachsen und zum Erschrecken hässlich ist.«

Bevor die Königin Luft holen konnte, fiel die umgestoßene Hofdame beleidigt ein: »Ihr Charakter steht im besten Einklang mit ihrem Äußeren. Diese Kronprinzessin ist hochmütig, boshaft und so jähzornig, dass sie aus reiner Wut offenbar mehrmals täglich von der fallenden Sucht ergriffen wird. Mit einem Wort: ein kleines Monstrum, das besser nie das Licht der Welt erblickt hätte.«

Bevor die Königin ihrer Empörung Ausdruck verleihen konnte, sagte Hofdame Nummer drei scheinbar versöhnlich zu Wilhelmine: »Die neue Mode steht Ihnen, mein Kind. Mit dieser neuen Contouche hat man eine große Stofffülle im Rücken, die Verwachsungen gut überspielt.«

Die Königin bekam einen roten Kopf vor unterdrückter Wut. Leise befahl sie der Tochter, sich entkleiden zu lassen.

Allein stand Wilhelmine einer Reihe von Feindinnen gegenüber, blickte in grinsende, geschminkte Fratzen unter lächerlich aufgetakelten, weiß gepuderten Coiffuren.

»Nein! Vor diesen Harpyien – niemals!«

Sie hatte geweint und sich gewehrt. Aber eine Hofdame hielt sie fest, während die beiden anderen sie auf einen Wink der Königin hin auszogen. Da stand sie, klein, blass, abgemagert durch lange schwere Krankheiten, auf dünnen Kinderbeinen und schrie: »Da! Seht her! Glotzt mich alle an! Ich bin von allen Krankheiten geschwächt, die man bekommen kann. Ich bin schwarz im Gesicht, weil meine Mutter mich so entsetzlich schnüren lässt, dass ich keine Luft mehr holen kann. Zierlicher soll ich aussehen. Ich bin ein wandelndes Skelett, aber essen? Soll ich mir noch einmal die Ruhr holen? Ihr behandelt mich wie ein Kind, aber ihr schnürt mich wie eine Frau. Ich habe keinen Atem mehr, aber ich habe keinen Buckel! Verwachsen, hässlich und hochmütig, Minneken das Monstrum. So eine soll den Prinzen von Wales heiraten, vielleicht mal Königin von England werden? Ich habe gerade noch Luft genug, euch zu verspotten, seht in den Spiegel, ihr Vogelscheuchen, ihr Jammergestalten, was seht ihr? Aufgetakelte Trugbilder, Perücken, Kopfputz, wie würdet ihr wohl entblößt aussehen? Ich bin eine Königstochter, aber vom Morgen bis zum Abend werde ich malträtiert. Zu allem, was ich tue, bemerkt die Königin: Das sind Manieren, welche meinem Neffen nicht gefallen werden. Sie müssen sich von nun an nach seinem Geschmack richten. Wohl zwanzigmal am Tag werden mir diese Verweise erteilt. Bin ich nicht so viel wert wie ein Prinz? Ich bin eine Prinzessin. Es ist keine sonderliche Ehre für mich, den englischen Prinzen zu heiraten. Wer weiß, ob er mir gefallen wird und ob ich glücklich mit ihm werde. Ich kenne ihn nicht, doch wenn ich schon vor der Hochzeit so unter seiner Fuchtel stehe, will ich ihn gar nicht heiraten! Als seine Frau hält er mich wahrscheinlich wie eine Sklavin. Keiner denkt an meine Gefühle, aber ich soll mich nach den seinen richten, die ich nicht einmal kenne.«

Hatte sie das alles geschrien? War danach tödliche Stille gewesen? Oder war sie stumm geblieben? Hatte sie geweint? Getobt? Hatte die Leti sie danach im Auftrag der Königin durchgeprügelt? Sie wusste es nicht mehr. Sie wollte sich nicht erinnern. Es war eine furchtbare Demütigung gewesen. Die aufgetakelten englischen Fregatten hatten an ihr keinen Gefallen gefunden. Das war der wahre Grund, weshalb die englische Heirat nicht zustande kam. Sie allein war daran schuld, denn sie war hässlich, hässlich, hässlich …

Es nutzte nichts, intelligent zu sein, hübsch das Cembalo zu spielen und die Laute zu schlagen, so hübsch, dass selbst die Musiker gern mit ihr Konzerte in Monbijou gaben, es nutzte auch nichts, sich mit den neuesten epochemachenden Theorien des großen Isaac Newton zu beschäftigen oder mit den genialen Tragödien des Jean Racine. Niemand mochte hässliche Prinzessinnen. Aus all diesen Intrigen und Erniedrigungen schloss sie: Der Prinz von Wales, ihr Cousin, musste ihr von Angesicht zu Angesicht gegenübertreten. Wenn er sie erst kennengelernt hatte, würde er ihren Geist schätzen, ihren Charme lieben lernen, und er würde sehen, dass sie keinen Buckel hatte. Diese widerwärtige Heiratspolitik, die nur aus Vermittlern bestand, die den bösartigen Unsinn erlogen, musste ein für allemal aufhören. Aber es gab keine Möglichkeit, den Prinzen einzuladen oder sich einladen zu lassen. Also hatte sie mit Fedéric, der in die geplante und immer wieder verschobene Doppelhochzeit einwilligte, einen tollkühnen Plan entwickelt: Sie wollten ihre eigenen Brautwerber sein und zur Tante nach England fahren.