Der Alchimist kehrt zurück - Antonie Hutter - E-Book

Der Alchimist kehrt zurück E-Book

Antonie Hutter

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Beschreibung

Stephanie, eine spanische Bankkauffrau, hat einen wiederkehrenden Traum: Am Fuß der Tempel von Ägypten liege ein Schatz für sie bereit. Soll sie das Vertraute für möglichen Reichtum aufgeben? War sie nicht zufrieden mit ihrer bescheidenen Existenz? Stephanie ist mutig genug, ihren Traum nicht einfach beiseite zu schieben. Sie wagt sich hinaus und begibt sich auf eine Reise, die sie nicht nur von Dschuba im Südsudan über den Nil, Palmen und Oasen bis nach Ägypten führt, sie findet in der Stille der Wüste auch immer mehr zu sich selbst und erkennt, was das Leben für Schätze bereit hält, die nicht einmal mit Gold aufzuwiegen sind. Verschleierte Frauen und sich bekriegende Beduinenstämme säumen ihren Weg, vor allem aber Menschen die sie ermuntern, die Geheimnisse der Welt zu erkunden: ein Kameltreiber, ein spanischer Hirte und nicht zuletzt ein weiser Alchimist, der der Bruder des Alchimisten aus dem gleichnamigen Buch von 1988 ist. Die Wüste und der Alchimist helfen ihr, bis zu tiefem inneren Glück und völligem Einklang mit der Welt und den Menschen vorzudringen. Stephanie erlebt ein ähnliches Schicksal wie einst der spanische Hirte Santiago. Mit dem Unterschied, dass der Schatz, nach dem sie sucht, für alle auffindbar ist. Dieser Text erzählt, wozu jeder von uns tief im Innersten fähig ist, wenn er auf die Stimme seines Herzens hört: wie die junge Bankkauffrau Stephanie, die es wagt, die gewohnte Umgebung Spaniens zu verlassen und alles aufzugeben nur für einen Traum. Die Geschichte handelt von dem Umgang mit Problemen, wie man aus dem Scheitern lernt, wieder aufsteht und einen Neubeginn schafft.

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Maria Antonie Hutter

Der Alchimist kehrt zurück

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Erster Teil

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Zweiter Teil

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Epilog

Prolog

Der Araber setzte sich ans Nilufer. Er nahm das Buch zur Hand, das sein letzter Schüler dagelassen hatte und begann es zu lesen. Es war ein Buch über die Geschichte der Alchimie.

Da erschienen die Oreaden, die Waldfeen.

„Wer bist Du?“, fragten die Feen neugierig, als sie den Fremden sahen.

„Ein Alchimist.“

„Woher kommst Du?“

„Aus Ägypten.“

„Kennst Du den Alchimisten, aus dem gleichnamigen Buch?“

Der Alte antwortete nicht und vertiefte sich wieder in seine Lektüre.

„Es ist ein bekanntes Buch aus dem Jahr 1988. Du siehst der Beschreibung des Alchimisten aus dem Buch sehr ähnlich“, fuhr die Oreade fort.

„Ich bin der Bruder ebenjenes Alchimisten.“

„Was tust Du hier?“, wollten die Waldfeen wissen.

„Ich bin gekommen, um meine Tochter zu suchen.“

„Was macht ein Alchimist so den ganzen Tag?“, fragte eine der Waldfeen.

„Ein Alchimist ist ein Mensch, der seine Schönheit in den Augen seines Gegenübers sehen kann.“

„Oh, was für eine schöne Vorstellung“, meinte die Oreade.

„Erzähl uns mehr über Dich“, bat eine der Feen.

„Ich bin hier, um das Werk meines Bruders zu vollenden“, war die einzige Antwort des Arabers.

„Wo ist Dein Bruder jetzt?“

„An einem Ort, an den ich ihm nicht folgen kann. Wir sind eine sehr große Familie. Daher macht es mir nichts aus.“ Im Grunde sind wir siebeneinhalb Milliarden Personen, dachte der Alchimist, aber er sprach es nicht aus, denn er wollte die Waldfeen nicht beunruhigen. Oreaden glaubten nicht an das Schicksal der Menschen. Sie vertrauten nur den Göttern.

Erster Teil

Kapitel 1

Spanien

Oberhalb von Málaga lag eine alte Burg - die Alhambra, die von den Mauren erbaut worden war. Sie stammte aus dem achtzehnten Jahrhundert. Wer auf ihren Mauern saß, konnte in der Ferne Gibraltar und einen Teil von Afrika sehen.

Amare der Alchimist setzt sich an jenem Abend auf die Burgmauer und spürte die Brise, die vom Meer hinüber kam, auf seinem Gesicht.

Der Alte schaute dem Boot nach, das gerade die Meerenge von Gibraltar überquerte. Er würde die junge Frau nie mehr zu Gesicht bekommen, ebenso wie er seinen Bruder nie mehr gesehen hatte, nachdem sie sich ein einziges Mal bei den Pyramiden begegnet waren, ohne zu wissen, dass sie Geschwister waren.

Das hatte er erst viel später erfahren. Auch mit ihm hatte er über Zeichen gesprochen. Er hatte ihm die Hälfte seines Schatzes abverlangt und es hatte gewirkt. Jener hatte schließlich den Stein der Weisen und das Lebenselixier gefunden und er war über einhundert Jahre alt geworden.

Götter sollten keine Träume haben, zumal sie keinen persönlichen Lebensweg haben, dachte er bei sich. Trotzdem hoffte er insgeheim, dass die junge Frau erfolgreich sein würde auf ihrem Weg. Es war ihm eine Freude, noch einmal in Menschengestalt auf die Erde zu kommen. Er war den Menschen immer gerne behilflich dabei, sich ihren Lebensweg zu erfüllen. Manchmal kamen Götter in Gestalt von Alchimisten auf die Erde. Das war dann eine besondere Freude.

Doch die Götter dürfen keinen bevorzugen. Er seufzte und trank ein paar Schlucke aus der Flasche mit Wein, die er sich gekauft hatte.

„Wie schade, dass sie mich so schnell vergessen wird“, dachte er. „Ich hätte mehr von mir erzählen sollen, von Amare dem Alchimisten.“

Dann blickte er etwas verlegen in den Himmel. „Es ist alles ganz in Ordnung so, wie es ist. Aber auch ein alter Alchimist muss manchmal eitel sein dürfen."

Kapitel 2

Was vorher geschah

Die junge Frau hieß Stephanie. Sie war anders als ihre Kollegen von der Bank. Stephanie arbeitete nicht den ganzen Tag oder ging Beschäftigungen nach, denen man als Bewohnerin Málagas ebenso nachging.

Vor drei Monaten hatte sie das Buch der Alchimist gelesen. Seitdem war es ihr ergangen wie dem Hirten Santiago aus dem Buch. Sie hatte drei Mal von einem Schatz geträumt, der am Fuße der Tempel von Luxor lag.

Sie spürte, dass es noch mehr geben musste im Leben, als ihre Arbeit für die Bank. So beschloss sie ihr Leben grundlegend zu ändern.

„Wieso wollen Sie auf einmal kündigen?“, wollte der Bankdirektor wissen.

„Ich möchte reisen.“

Wieder so eine Spinnerin, dachte der Alte. Was war bloß mit seinen Mitarbeitern los. Es war die dritte Kündigung innerhalb von einer Woche. Erst gestern hatte ihm ein langjähriger Mitarbeiter gekündigt, weil er ein Sabbatjahr einlegen wolle. Angeblich plane er eine Weltreise.

„Ist die Arbeit bei uns denn so uninteressant?“, fragte er laut.

„Im Gegenteil. Sie ist so anstrengend, dass ich mich nach etwas Ruhe und Abwechslung sehne.“

„Ich könnte Ihnen eine Teilzeitstelle anbieten?“

Die junge Frau schüttelte den Kopf. „Sie mögen die Bank nicht“, stellte der Direktor enttäuscht fest.

Daraufhin schwieg die junge Frau eine Weile. Dann sagte sie: „Zwar möchte ich reisen, aber dass ich die Arbeit in der Bank nicht mag, habe ich nicht gesagt. Ich habe viel lernen können in den letzten Jahren. Durch die Arbeit bei der Bank bin ich diejenige geworden, die ich heute bin. Ich möchte nach Ägypten reisen, weil sich jedes Mal, wenn ein Kunde an meinen Schalter kommt, mein Traum vom Reisen in seinen Augen wiederspiegelt." Und weil ich einen wiederkehrenden Traum hatte. Aber sie sprach es nicht aus. Denn die meisten Menschen glauben nicht an solche Dinge.

Am Abend ging die junge Frau ans Meer.

Zum ersten Mal hatte sie einen Job gekündigt ohne an die Konsequenzen zu denken. Dies war ein hohes Risiko: Ihr Erspartes würde nicht ewig reichem. Wenn sie nicht innerhalb von drei Monaten eine neue Möglichkeit fand, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, würde sie womöglich auf der Straße landen.

Die junge Frau versuchte in der Zeitung zu lesen, die sie gekauft hatte, aber sie konnte sich nicht mehr konzentrieren. Sie war unruhig, denn sie wusste, dass das Buch, das sie zuvor gelesen hatte, die Wahrheit sagte. Es gab Zeichen im Leben, denen man folgen musste. Sie hatte denselben Traum mehrmals geträumt. Selbst wenn sie niemals einen Schatz finden sollte, so würde sie zu mindesten Ägypten zu sehen bekommen. Vielleicht konnte sie dort in einem Hotel arbeiten. Wenn sie genug gespart hätte, konnte sie eine Zeit lang reisen und die dortige Kultur kennenlernen.

Sie erinnerte sich an die Worte ihres Vaters: Träume sind wie Lichtmomente, in denen man einen Blick auf das Paradies erhaschen kann. Der große Prüfstein im Leben bestand darin, seine Grenzen zu überwinden, dachte sie, und so weit zu kommen, wie man es sich in seinen kühnsten Träumen nicht hätte ausmalen können.

Kapitel 3

Die junge Frau konnte die ganze Nacht nicht schlafen. Zum vierten Mal innerhalb von einem Monat hatte sie von einem Schatz geträumt, der am Fuße der Tempel von Luxor lag. Ein Hirte hatte ihr den Weg nach Ägypten gezeigt. Doch jedes Mal, wenn sie wissen wollte, wo genau bei den Tempeln sich der Schatz befand, war sie aufgewacht. Alle vier Male. Vielleicht hatte ihr ihr Gedächtnis einen Streich gespielt.

Im Monat zuvor hatte sie zum zweiten Mal die Geschichte des Alchimisten gelesen. Vielleicht war das Buch irgendwie verhext. Schließlich war es schuld daran, dass sie einen wiederkehrenden Traum zu viel Bedeutung beigemessen hatte. So dass sie, von einem Tag auf den anderen, ihren Job gekündigt hatte.

Eine Stunde vor Sonnenaufgang weckte sie ihren Nachbarn, den sie gut kannte. Sie bat ihn, ihr zu zeigen, wo der einzige Priester von Pedregalejo, einem Stadtteil von Málaga wohnte. Jener lebte in einem versteckten Trakt des Klosters, den nur wenige kannten. Die junge Frau wollte dem Geistlichen von ihrem Traum erzählen und seinen Rat einholen. Sie hatte gehört, jener habe selber einmal einen wiederkehrenden Traum gehabt, woraufhin er Priester dieses Ortes geworden war. Er musste sich also mit Träumen auskennen. Außerdem hieß es, er könne, sie deuten.

Gemeinsam gingen sie zum Kloster, in dem der Priester wohnte. Zur Belohnung gab die junge Frau dem Nachbarn ein Taschengeld.

Die Frau sprach mit dem Wächter vor dem Kloster. Jener ging in das Gebäude hinein und blieb lange fort. Dann erschien er mit einem Mann der ganz in weiße Gewänder gekleidet war. Es war der Prälat.

„Der Priester ist verreist. Kann ich Ihnen weiterhelfen?"

Die junge Frau zögerte einen Augenblick. Dann beschloss sie, sich dem Prälat anzuvertrauen. Schließlich war er der Vertreter des Priesters. Vielleicht kannte auch er sich mit Träumen aus. Sie erzählte ihm von ihrem Traum. Sie sprach besonders laut, damit der Mann sie auch ja verstand. „Ich hatte einen seltsamen Traum. Ich habe geträumt, dass ich am Fuße der Pyramiden von Gizeh stand, als ein Hirte erschien. Jener nahm er mich an den Händen und führte mich zu den Tempeln von Luxor.“ Die junge Frau machte eine Pause, um die Wirkung ihrer Worte abzuwarten. Aber der Prälat blieb stumm. Da fuhr sie etwas verlegen fort: „Dann, bei den Tempeln angekommen, sagte der Mann: ‚Wenn Du hierherkommst, wirst Du einen Schatz vorfinden. Aber als er mir den genauen Ort zeigen wollte, bin ich aufgewacht. Alle vier Male.“ Sie machte eine Pause, ehe sie fortfuhr. „Dann war da noch eine Zigeunerin in meinem Traum, die mit dem Tod drohte, sollte ich mich nicht aufmachen, nach Luxor zu reisen. Ich weiß, es ist nur ein Traum. Aber ich habe gehört, der Priester kennt sich mit Träumen aus.“

Der Prälat betrachtete sie eine Weile stumm. Dann bat er sie zu warten. Er verschwand hinter den Klostermauern.

Die junge Frau war sich inzwischen nicht mehr sicher, ob es richtig gewesen war, hierher zu kommen. Sie bereute schon, sich dem Prälat anvertraut zu haben, als ein Bediensteter erschien. „Der Prälat bittet Sie noch einen Moment auf ihn zu warten.“

Inzwischen war es früher Morgen geworden. Die Sonne ging hinter den Häusern auf. Händler kamen und gingen. Zahlreiche Einheimische gingen in das Klostergebäude hinein und verließen es wieder. Nach einer halben Stunde kam der Prälat wieder und überreichte der jungen Frau einen Rosenkranz. „Er soll Dich auf deinem Weg beschützen. Den Zeichen Gottes zu folgen, ist nicht immer einfach. Aber Gott beschützt diejenigen, die sich aufmachen, ihren Lebensweg zu gehen. Folge den Zeichen. Das ist der einzige Rat, den ich Dir mitgeben kann.“

Danach ging er fort.

Die junge Frau war erst überrascht, dann enttäuscht. Dafür hätte sie das Kloster nicht aufsuchen müssen. Wie sollte ihr ein Rosenkranz weiter helfen? Sie hatte den Priester sprechen wollen, und auf seinen Rat gehofft.

Enttäuscht wandte sie sich ab. Schließlich bat Stephanie, ihren Nachbarn, der im Schatten eines Baumes auf sie gewartet hatte, sie zum Haus des Bürgermeisters zu führen. Der Bürgermeister hatte früher als Astrologe gearbeitet, wie sie dem Gerede im Dorf entnommen hatte. Da jener umgezogen war und sie nicht wusste, in welchem Haus er wohnte, musste der Nachbar sie dort hinführen. Als sie vor dem Gebäude ankamen, gab sie ihm Geld für ein Frühstück. „Jetzt geh und lass mich allein“, sprach die junge Frau an den Jüngling gewandt. Der Nachbar verschwand. Er war froh, sich etwas Geld zu seiner Arbeit als Supermarktverkäufer dazu verdient zu haben.

Sie klingelte am Haus des Bürgermeisters. Aber der Bürgermeister war nicht da. Ein Nachbar teilte ihr mit, dass jener nach Madrid gereist war.

Enttäuscht wandte sich die junge Frau ab. Vielleicht war Málaga verflucht. Mit einem Mal überfiel sie der dringende Wunsch Spanien zu verlassen.

Am Nachmittag ging die junge Frau noch ein letztes Mal in die Bank, um ihre persönlichen Sachen abzuholen. Danach machte sie einen Umweg durch die Stadt. Sie setzte sich in ein Café und beobachtete die Leute, die nach Dienstschluss durch die Stadt eilten. Zum ersten Mal seit langen hatte sie die Zeit dafür.

Abends setzte sie sich ans Meer, um in dem Buch über Traumdeutung zu lesen, das sie gekauft hatte. Aber sie konnte sich nicht mehr konzentrieren. Immerzu musste sie an ihren Traum denken.

Sie sah gen Westen und schätzte, dass es bald achtzehn Uhr war. Ihre Kollegen würden in zwei Stunden zum Essen kommen. Wie an jedem Freitag. Trotz der Kündigung.

Die junge Frau ging nach Hause und begann, die Paella vorzubereiten. Sie blickte durch das Küchenfenster auf den Fluss, der vor ihr lag. Plötzlich musste sie an eine Unterhaltung mit ihrem Vater aus ihrer Kindheit denken. Jener hatte ihr einmal erklärt, dass das Glück immer in der Gegenwart zu finden sei: „Du kannst nur den Augenblick verändern, sonst nichts.“ Dann hatte er ihr seinen Segen für die Banklehre gegeben.

In seinen Augen hatte sie den Wunsch lesen können, selber noch einmal jung zu sein und einen Beruf zu erlernen. Er war Hafenarbeiter gewesen. Doch es hatte ihm wenig Freude bereitet. Wenige Tage später war er gestorben.

Danach hatte sie ihre Banklehre gemacht und drei Jahre für die größte Bank in Pedregalejo gearbeitet. In der Zeit bei der Bank, war sie nie glücklich geworden. Es war immer schon ihr Traum gewesen, einmal ins Ausland zu gehen. Doch sie hatte sich nicht getraut, ihn zu verwirklichen.

Später hatte sie versucht, den Traum vom Reisen über die Arbeit und einen festen Wohnort zu vergessen. Doch es war ihr nie gelungen.

Sie sah aus dem Fenster.

Ein großer Vogel flog über das Meer. Er sah aus wie ein Adler. Dabei gab es in Málaga keine Adler. Als sie genauer hinsah, bemerkte sie, dass es ein Falke war. Wie seltsam, sie hatte noch nie einen Falken in Málaga gesehen.

Heute wollte sie den Kollegen erzählen, dass sie Spanien verlassen würde.

„Erst die Möglichkeit, sich seine Träume zu verwirklichen, macht das Leben lebenswert“, dachte sie. Obwohl das nicht immer einfach war. Ihr Nachbar wollte schon immer Pianist werden. Doch er hatte nie die Ausdauer gehabt, viele Jahre das Klavierspiel zu studieren und sein Können auf höchstem Niveau zu verfeinern. Er hatte nicht an sich geglaubt und schon nach wenigen Monaten aufgegeben.

Aber wenn man sich erst einmal dazu entschied, sich seinen Traum zu erfüllen, dann unterstützt einen Gott immer dabei. Das stand beim Alchimist geschrieben. Und dasselbe hatte der Prälat gesagt.

‚Das Problem der meisten Menschen ist, dass sie nicht wissen, wie sie ihr Leben gestalten sollen. Sie bemerken gar nicht, wie die Jahre vergehen und die Jahreszeiten wechseln, weil sie so sehr damit beschäftig sind, Geld zu verdienen und ihre Karriere voranzutreiben. So das sie alles, was um sie herum geschieht, vergessen“, dachte die Bankkauffrau. „Im Prinzip ergeht es mir genauso. Auch ich denke an nichts anderes mehr, als an meinen Traum.“

Plötzlich hörte sie ein Geräusch hinter sich. Jemand packte sie und schlug ihr mit einem harten Gegenstand auf den Kopf. Bevor sie sich umdrehen konnte, spürte sie ein Messer an ihrer Kehle.

„Halts Maul oder ich töte dich“, rief die Gestalt mit ausländischem Akzent. Der jungen Frau hatte es vor Schreck die Sprache verschlagen.

„Geld her“, brüllte der Fremde. „Ich bin auf der Flucht. Ich brauche Schmuck, Geld. Alles!“

„Ich halte nichts versteckt.“

Die junge Frau fürchtete um ihr Leben.Das Gesicht des Mannes war von einer Maske verhüllt. So dass sie nur seine Augen erkennen konnte.

Der Mann hielt sie fest und durchsuchte ihre Taschen. Er fand einen zweihundert Euro Schein in ihrer Tasche.

„Wozu das viele Geld?“ Die Küchen Lampe beleuchtete das Gesicht des Mannes. In dessen Augen las sie den Tod. „Sicher hast Du im Haus noch mehr versteckt.“

Es klingelte an der Tür. Das mussten ihre Kollegen sein.

„Sei still oder ich steche dich ab“, zischte der Mann und hielt das Messer an ihre Kehle.

Er zwang die junge Frau das Haus zu durchsuchen. Aber es kam nichts zum Vorschein. Dann verprügelte er sie so lange, bis sie beinahe ohnmächtig wurde. Ihre Kleidung war zerfetzt und sie fühlte sich dem Tod nahe.

„Was nützt mir der Familienschmuck, wenn ich sowieso sterbe?“, dachte sie. Und sie gab dem Mann den Schmuck ihrer Mutter, den sie in einer Kommode im Hausflur versteckt hatte.

„Was hältst Du sonst noch versteckt?“

„Nichts“, rief die junge Frau.

Der Mann packte und schlug ihr ins Gesicht.

„Ich habe mein ganzes Geld auf der Bank. Ich plane zu verreisen“, gestand sie endlich. Und mit zerschundenen und geschwollenen Lippen erzählte sie dem Mann, dass sie vorhatte, nach Afrika zu reisen. Und dass sie ihr ganzes Bargeld erst heute Morgen auf ihr Konto gebracht hatte.

Der Mann ließ sie los. Die junge Frau fiel mit dem Gesicht auf den Küchenboden. An die junge Frau gewandt, sagte er: „Du wirst nicht sterben, um zu erkennen, dass man nicht so blöd sein darf. Auch ich wollte einst nach Afrika. Ich träumte, dass ich dort die Frau meines Lebens finden würde. Aber ich bin doch nicht so dumm, nur wegen eines Traumes, das Mittelmeer zu überqueren.“

Dann zog er ab.

Die junge Frau erhob sich mit Mühe. Nun wusste sie, dass sie nach Ägypten musste.

Kapitel 4

Die junge Frau rief die Polizei. Die Beamten kamen mit der Spurensicherung. Nachdem die Polizisten gegangen waren, fuhr die junge Frau ins Krankenhaus und ließ sich ihre Wunden behandeln.

Am nächsten Morgen verabschiedete sie sich von ihren Kollegen.

Das Buch ‚Der Alchimist‘ muss irgendwie verhext sein. Seitdem sie es gelesen hatte, waren nur noch seltsame Dinge geschehen. Erst der wiederkehrende Traum. Dann der Einbruch.

Das einzige Bedürfnis, dass sie bis vor ein paar Wochen gekannt hatte, war es, zu essen und zu trinken und ein Dach über dem Kopf zu haben. Solange sie genug Geld zum Leben gehabt hatte, war sie recht zufrieden gewesen.

Selbst wenn ein Tag dem anderen glich, mit eintönigen Stunden, die sich zwischen Sonnenauf- und Untergang dahinschleppten, so hatte sie bisher doch recht gut gelebt. Ihre Eltern hatten sich immer gewünscht, dass sie einmal Bankkauffrau wurde, worauf eine einfache Familie Grund hatte, stolz zu sein. So hatte sie eine Banklehre gemacht. Und schließlich eine Anstellung bei der größten Bank im Vorort Málagas gefunden.

Die junge Frau beneidete jene Frauen und Männer, die ständig auf Reisen waren, ob als Händler oder Seefahrer. Sie merkte, dass sie dasselbe tun konnte. Niemand würde sie daran hindern, wenn sie morgen Spanien verlassen würde. Nichts hielt sie zurück außer ihrer Angst. Dann dachte sie daran, was ihre Kollegen gesagt hatten, als sie gehört hatten, dass sie bereit war, alles aufzugeben, nur wegen eines Traumes. Sie hatten sie ausgelacht. Genau wie der Einbrecher.

Noch in derselben Nacht packte die junge Frau ihren Rucksack. Sie wollte so bald wie möglich nach Ägypten. Sie würde alleine reisen. Mit den Büchern an ihrer Seite, würde ihr sicher nicht so schnell langweilig werden.

Die junge Frau schaute zum Meer hinüber. Sie hatte den Eindruck, dass das Meer alles verstand, was sie dachte. Es war als ob eine geheimnisvolle Verbindung sie verband.

Das Buch über Alchimie, mit dem zerrissenen Einband, welches sie gekauft hatte, musste sie weglegen. Denn sie konnte sich nicht mehr konzentrieren. Mit einem Mal überfiel sie eine bleierne Müdigkeit. In dieser Nacht träumte die junge Frau wieder von den Tempeln.

Am nächsten Tag ging sie aufs Präsidium, um eine Täterbeschreibung abzugeben und Anzeige gegen Unbekannt zu erstatten. Danach kaufte sie sich das Flugticket nach Kairo.

Am Abend setzte sie sich ans Meer. Es herrschte starker Wind. Die Wellen waren voller Schaumkronen.

In drei Tagen ging ihr Flug. Von Kairo aus würde sie den Bus nach Luxor nehmen. Das war günstiger als einen Direktflug nach Luxor zu nehmen.

Es war Vollmond. Die junge Frau blieb den Rest des Abends auf dem Felsen sitzen, blickte über das Meer und lauschte seinem Rauschen und das Meer lauschte ihrer Angst. Beide sprachen sie dieselbe Sprache.

Von hier oben hatte sie einen guten Überblick über Málaga und die Meeresenge von Gibraltar in der Ferne. Da bemerkte sie den Falken, der über ihrem Kopf seine Runden zog.

Kapitel 5

Ein paar Meter weiter südlich am Meer saß der Araber. Er hatte ein Pferd dabei. Er betrachtete den Vollmond. Wie gerne hätte er nach dem Elixier des ewigen und glücklichen Lebens gesucht. Doch die Zeichen sagten ihm, es sei noch zu früh dafür. Erst musste er seine Aufgaben erledigen.

Er überlegte, warum die Menschen sich so schwer damit taten, den Zeichen zu folgen. Doch er kam zu keinem zufriedenstellenden Ergebnis. Vielleicht hatten sie es verlernt, auf ihre Intuition zu hören. Dann beschloss er sich wieder auf die praktischen Dinge zu konzentrieren.

Er wusste, dass er in diesen Tagen auf eine Frau treffen würde, der er einen Teil seiner Geheimnisse anvertrauen sollte. Die Zeichen hatten es ihm bereits vorausgesagt. Er kannte diese Frau zwar noch nicht, doch seine erfahrenen Augen würde sie sogleich erkennen, wenn er sie zu Gesicht bekam. Er hoffte, dass sie auch eine so gelehrige Schülerin sein würde, wie sein letzter Schüler.