Der Amerikaner - Herbert Beckmann - E-Book
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Der Amerikaner E-Book

Herbert Beckmann

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Beschreibung

Ein junger Kommissar im Berlin der Swinging Fifties. 

Im September 1957, kurz nach der Eröffnung der neuen Kongresshalle, wird ein amerikanischer Journalist ermordet. Besonders brisant: Der Ermordete, der in Deutschland geboren ist, hatte auf Einladung der deutschen Regierung an den Feierlichkeiten teilgenommen. Der junge, ungestüme Kommissar Jo Sturm wird auf den Fall angesetzt. Doch leider behindert sein Vorgesetzter seine Arbeit ständig. Und dann scheint sich auch noch die CIA brennend für seine Ermittlungen zu interessieren ... 

Ein packender Kriminalroman in Zeiten des Kalten Krieges.

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Seitenzahl: 493

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Über das Buch

Eigentlich hat Kommissar Jo Sturm in der Mordkommission nichts zu suchen. Er darf die weniger wichtigen Vermisstenfälle bearbeiten, doch als ein bekannter amerikanischer Architekturkritiker nach der feierlichen Eröffnung der Kongresshalle ermordet wird, wird er hinzugezogen, weil er Englisch spricht. Jo Sturm soll den Kontakt zu den amerikanischen Stellen in der Stadt halten, denn der Fall ist hochbrisant: Der Tote hatte deutsche Vorfahren, und am besten soll nichts von dem Mord in die Presse gelangen. Jo Sturm stürzt sich gleich in die Ermittlungen; er liebt die amerikanische Lebensart, den Jazz, und auch die Frauen mögen ihn, was sich bei Recherchen in Bars und Clubs als durchaus vorteilhaft erweist.

Über Herbert Beckmann

Herbert Beckmann, Jahrgang 1960, hat zahlreiche Bücher und Hörfunksendungen mit Bezug zu Berlin veröffentlicht, wo er seit 40 Jahren lebt und arbeitet. Mit der Figur „Jo Sturm“ wendet er sich zum ersten Mal den fünfziger Jahren in Berlin zu.

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Herbert Beckmann

Der Amerikaner

1957 – Tod in Berlin

Kriminalroman

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Freitag, 20. September 1957

Samstag, 21. September 1957

Sonntag, 22. September 1957

Montag, 23. September 1957

Dienstag, 24. September 1957

Mittwoch, 25. September 1957

Donnerstag, 26. September 1957

Freitag, 27. September 1957

Samstag, 28. September 1957

Samstag, 5. Oktober 1957

The Dikes Magazine, Juni 1966

Nachwort

Impressum

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Freitag, 20. September 1957

Er hatte genug gesehen. Noch vor Ende des zweiten Akts verließ er das Auditorium der Kongresshalle, holte seinen Mantel von der Garderobe ab und ging durch das festlich erleuchtete Foyer hinaus.

Es war jetzt kurz vor elf. Er stand am hüfthohen Geländer der weit ausladenden Dachterrasse, beide Hände in den Manteltaschen vergraben, und blickte nach Westen, in Richtung der spärlich beleuchteten Zeltenallee.

Wo blieb Katja?

Sie hatte gesagt, sie wolle ein Taxi bis zur Lutherbrücke nehmen und das kurze Stück bis zur Kongresshalle zu Fuß an der Spree entlanggehen.

Sie hatte recht, sie konnten gar nicht vorsichtig genug sein. Mit dem Taxi direkt vor dem illuminierten Gebäude vorzufahren, wäre geradezu fahrlässig auffallend gewesen.

Sie würde sicher bald kommen.

Er ließ seinen Blick schweifen. Der Himmel über Berlin war schwarz, vom Tiergarten in Front waberten geisterhaft hauchdünne Nebelschwaden herüber. Vor der Reihe dunkler Limousinen am Straßenrand erstrahlten die schaumweißen Bögen der Wasserfontäne im Spiegelbassin. Noch weiter vorn schwamm das Bild der Kongresshalle mit ihren elegant geschwungenen, hell erleuchteten Umrissen. Er konnte verstehen, dass die Berliner Schwangere Auster dazu sagten. Katja dagegen erinnerte das Gebäude eher an ein Ufo: »Überirdisch, viel zu schön, um wahr zu sein«, hatte sie ihm geschrieben.

Er blickte sich erneut um. Noch immer nichts von ihr zu sehen. Seine Unruhe wuchs, er fühlte sich beobachtet, hörte Schritte und Stimmen im Hintergrund. Er wandte sich um, nur eine Handvoll Angestellter, Kellner oder Caterer in dunklen Livrees, die sich bis zum Geländer an der Westseite zurückzogen, um zu rauchen. Ihre frisch angezündeten Zigaretten leuchteten im Halbdunkel auf wie Glühwürmchen.

Er holte die Chesterfield-Packung aus der Innentasche und steckte sich selbst eine an. Mit einem tiefen Lungenzug blickte er nach Osten. Jenseits der Großen Querallee lag der Platz der Republik, wie der ehemalige Königsplatz heute hieß, und dahinter, weithin erkennbar, das wuchtige Reichstagsgebäude. Ein Wunder, dass es überhaupt noch stand. Früher, noch lange nachdem seine Eltern mit ihm Berlin in Richtung Amerika verlassen hatten, hätte man von diesem Standort aus auf den breiten Rücken der Krolloper geschaut, ihre letzten Gebäudereste waren wohl erst vor Kurzem fortgeschafft worden. Und zwischen Krolloper und Reichstag hätten Moltke-Denkmal, Siegessäule und Bismarck-Denkmal auf dem Königsplatz die Sicht auf den Reichstag behindert.

Am Rande des Spiegelbeckens tauchte eine hohe, schlanke Gestalt aus dem Nebelschleier auf. Das war sie. Katja in einem hellgrauen knielangen Mantel und mit einem dunklen Hut auf dem welligen Haar, dessen Krempe ihre Stirn verschattete. In der Rechten trug sie eine flache Handtasche, deren Größe allerdings eher einer Mappe glich.

Sie stieß kleine Atemwolken aus und sah sich unruhig um, ehe sie den Arm hob, um ihm ein Zeichen zu geben.

Er eilte die Freitreppe hinunter zu dem Betonsteg über dem Bassin. An seinem Ende wartete sie auf ihn. Sie küssten sich auf die Wangen, wie sie es immer zur Begrüßung taten, nur flüchtiger als sonst. Ihre hellen Augen flackerten aufgeregt, und sie hängte sich hastig bei ihm ein, als er ihr den Arm bot.

»Lass uns ein paar Schritte die Zelten hinuntergehen und dann den Weg Richtung Straße des 17. Juni«, schlug sie vor. »Ist nicht weit. Dort bekommen wir ebenfalls ein Taxi. Außerdem …«

Sie brach ab, aber er begriff trotzdem.

Sie gingen auf dem Bürgersteig entlang der Reihe parkender Wagen. Er sah sich um, niemand folgte ihnen. Er entspannte sich etwas. Wahrscheinlich war ihre Vorsicht übertrieben. Wenngleich dem Anlass angemessen und der Bedrohung, die daraus entstand.

»Tut es dir nicht leid, dass du den Rest des Programms verpasst?«, fragte sie. Ihre tiefe Stimme sollte vermutlich fest und stark klingen. Tat es aber nicht. Er spürte ihre Unruhe wie ein Vibrieren, das von ihrem ganzen Körper auszugehen schien. Sie wirkte wie elektrisch aufgeladen.

»Ich habe den ersten Einakter von Thornton Wilder gesehen«, antwortete er. »Die restlichen beiden schenke ich mir. Außerdem war die Hauptattraktion Lillian Gish, und die hatte gleich zu Beginn ihren Auftritt.«

»Ah, Lillian Gish«, sagte Katja. »Ich habe sie letztes Jahr im Zoo-Palast gesehen, ›Die Nacht des Jägers‹. Sie wirkte so unerschrocken und tapfer.« Er begriff, dass sie hoffte, ebenso tapfer zu sein: im richtigen Leben, wenn das geschehen würde, was sie sich vorgenommen hatten.

»Lass uns die Seite wechseln«, flüsterte sie, als könnte sie gehört werden, kurz bevor sie den schmalen Weg gegenüber der Querallee erreichten, und sie tauchten ein in die dunkle Röhre, die hier durch halbhohe Bäume und Büsche von beiden Seiten gebildet wurde. Der prachtvolle Park früherer Tage war noch immer ein Schatten seiner selbst, er wuchs, aber man hatte nicht das Gefühl, dass er gedieh.

Es waren nur noch ein paar Steinwürfe bis zur Straße des 17. Juni, deren breites Band den Tiergarten von West nach Ost zerschnitt. Der Abschnitt, den sie am Ende des Wegs erkennen konnten, schimmerte mattgrau herüber.

Er blieb stehen, und sie öffnete instinktiv ihre Tasche.

Plötzlich hatte er das Gefühl, dass sie beobachtet wurden, und beinahe im gleichen Moment hörten sie links im Gebüsch Zweige knacken und Rascheln.

»Vielleicht ein Tier«, sagte er.

»Ich weiß nicht«, flüsterte sie.

»Lass uns weitergehen. Schnell«, sagte er. Denn jetzt waren auch deutlich Schritte im Gebüsch zu hören, jemand kam rasch im Dunkeln auf sie zu. Rechts öffnete sich ein kleiner Pfad, kaum erkennbar, aber sie stolperten hinein.

Nach wenigen Metern stürzte Katja über einen Stein oder einen Ast, es war nicht zu erkennen.

Sie schrie vor Schmerz auf und stieß einen Fluch aus.

»Bist du verletzt?« Er beugte sich panisch über sie und tastete nach ihrer Hand.

In diesem Moment spürte er, dass jemand hinter ihm stand. Keine drei Schritte entfernt. Er vernahm heftiges Keuchen.

Katja schrie wieder auf, nichts als Angst und Entsetzen in ihrer schrillen Stimme.

Er zwang sich, ruhig zu bleiben, richtete sich langsam auf und hob die Hände, in der Hoffnung, dass der andere es in der Dunkelheit wahrnahm.

»Was wollen Sie?«, fragte er auf Deutsch.

Ein entsetzlicher Knall war die Antwort auf Rudy Beringers letzte Frage. Den zweiten, der gleich darauf folgte, hörte er bereits nicht mehr.

Samstag, 21. September 1957

Jo Sturm sah auf die Armbanduhr. Viertel vor acht. Bis zur Dienststelle in der Gothaer brauchte er eine knappe halbe Stunde. Na, wenn schon, es war Samstagmorgen, die sollten sich nicht so haben, wenn er ein paar Minuten zu spät kam. Nach dem Kaffee zum Frühstück, das Frau Küpper, seine Wohnungswirtin, für ihn und Helga, ihre fünfzehnjährige Tochter, gemacht hatte, wollte er noch eine Zigarette in seinem Zimmer rauchen, bevor er losfuhr.

Er ging zum Tisch, zog sich eine filterlose Camel aus der Schachtel und zündete sie an. Aus dem Radio dudelte seichte Tanzmusik, er ging zum Gerät hinüber, das auf dem Sideboard stand, und drehte am Knopf. Duke Ellington und sein Orchester. Auf den AFN war Verlass. Eine Live-Aufnahme vom letztjährigen Open-Air-Festival in Newport an der amerikanischen Ostküste, wie der Moderator mit sonorer Stimme verriet. Der gute alte Swing im fetzenden Rhythmus des Rock ’n’ Roll. Unglaublich. Jo angelte den gläsernen Aschenbecher vom Tisch und tänzelte damit zum Fenster.

Blauer Dunst, drinnen und draußen.

Er wohnte im dritten Stock dieses Altbaus, der den Krieg halbwegs unbeschadet überlebt hatte, aber er musste nicht nach oben schielen, da die Hauslücke gegenüber freien Blick bot. Der Himmel war bedeckt, doch es regnete nicht mehr. Er rauchte die Zigarette zu Ende und lauschte hingerissen, bis das Orchester sein Stück beendet hatte.

An der Garderobe im Flur traf er wieder mit Helga zusammen, die sich für die Schule fertig machte. Sie hatte ein blasses, rundes Gesicht, dunkle melancholische Augen und trug einen Pferdeschwanz nach neuester Rock-’n’-Roll-Mode, der quasi ein Eigenleben führte, weil er ständig in Bewegung war.

»Schönen Tag noch, Herr Sturm.«

»Dir auch, Helga.«

Sie blinzelte ihm zum Abschied zu, ehe sie noch vor ihm durch die Tür verschwand. Seit etwa einem halben Jahr flirtete sie mit ihm. Er nahm es gelassen. Aber hätte ihre Mutter, die vermutlich noch in der Küche hantierte, es gesehen, wäre der Kleinen eine Standpauke sicher gewesen.

Was etwas Komisches hatte, da Frau Mutter sich selbst einen Liebhaber leistete, der offiziell selbstverständlich nur »Werner, mein Bekannter« war. Petra Küpper war Anfang vierzig und Witwe, ihr Mann war im Krieg gefallen, Ostfront. Und Werner Markwort, ihr Bekannter, war der Berlin-Vertreter einer westdeutschen Firma für Herrenschuhe. Eine Ehefrau, zwei Kinder und ein Eigenheim warteten auf ihn in Osnabrück. Häufig die ganze Woche lang, wenn man Markworts Anwesenheit in Petra Küppers Wohnung bedachte. Und er ließ sich ihr gegenüber nicht lumpen, wie es schien: Der neue Herd, die Musiktruhe, der Grundig-Fernseher – Werner Markwort hatte in den letzten Jahren erheblich zu Petra Küppers kleinem Wohnkomfort beigetragen. Als freischaffende Klavierlehrerin konnte sie es sich anscheinend nicht leisten, seine Angebote mit großer Geste abzulehnen.

Jo Sturm war Polizist, kein Moralapostel, das hatte er Frau Küpper bereits zu verstehen gegeben. Sie hatte es mit Erleichterung zur Kenntnis genommen. Wirklich komisch, normalerweise war es umgekehrt zwischen Mieter und Untermieter.

Er zog das Jackett an, streifte sich den Mantel über und verließ die Wohnung.

Im Treppenhaus traf er die kleine Elke. Ihre langen blonden Zöpfe schlugen bei jedem ihrer Schritte wie Trommelstöcke gegen die braune Schultasche auf dem Rücken.

»Morg’n, Herr Sturm.« Es hörte sich an wie das Winseln eines Welpen.

»Morgen, Elke. Alles in Ordnung?«

Sie nickte schwach.

Es war ihr erstes Schuljahr, hatte gerade erst begonnen, und schon waren ihre Augen erloschen. Bis zum Sommer war sie zusammen mit ihrem kleinen Bruder Ralf in den Kindergarten »Rosa Thälmann« gegangen, nur wenige Hundert Meter entfernt und doch einen Sektor weiter. Ralle ging weiterhin zu Rosa Thälmann, Elke hatte ihre Angst vor den bewaffneten Grenzern des »demokratischen Berlin« nun eingetauscht gegen einen Klassenlehrer, der ihr gleich in der ersten Schulwoche den Rohrstock über die kleine Handfläche gezogen hatte. »Quasseln« hieß ihr Vergehen. Jo hatte es von Elkes Mutter erfahren. Sie arbeitete als Kellnerin in der »Goldenen Henne«, der nächsten Eckkneipe, und hatte ihre Kleine damit zu trösten versucht, dass der Lehrer schließlich auch Corinna, die andere kleine Quasselerin, gezüchtigt habe. Das hatte bei Elke endgültig die Lichter zum Erlöschen gebracht.

×

Auf dem Bürgersteig waren kaum Leute um die Uhrzeit, nicht mal ein Auto fuhr die Waldemar entlang. Am Straßenrand stand ein knapper Monatslohn von ihm, sein DKW-Motorroller, das hellblaue Modell Hobby, gebraucht gekauft. Er startete und fuhr los. Oranienstraße, Moritzplatz, nach Süden Richtung Gneisenaustraße, nach Westen und unter den Yorckbrücken hindurch bis zur Potsdamer und gleich darauf im Zickzack in die Grunewaldstraße bis zur Gothaer Straße. Wenn Berlin ein Gebiss wäre, dachte er zwischendurch, dann wäre ein Drittel heil und intakt, ein Drittel aus Gold, also Ersatz, und ein weiteres Drittel faulte oder fehlte ganz. Einerseits die schicken Neubauten des Aufbauprogramms, die sich einzeln oder zeilenweise neben den Vorkriegshäusern hervortaten. Andererseits noch immer und überall im Stadtbild: Lücken, Brachen, Ruinen und kahle Flächen, allesamt so einladend wie der Mond.

Das Präsidium der Kripo befand sich seit einem Jahr in der Gothaer Straße. Ein steinalter Verwaltungsklotz noch aus der Preußenzeit, den die Bombenhagel des Krieges unverständlicherweise verschont hatten. Am neuen Seitenflügel entlang der Grunewaldstraße wurde noch immer gearbeitet, aber das konnte für Jo Sturm den Gesamteindruck nicht mindern, sich in alten, uralten Zeiten zu bewegen. Lange Flure, breit wie Flüsse, grauer Granit und schwarzer Marmor. Flüstern war möglich, aber sinnlos, da es von allen Seiten verstärkt wurde.

Im Foyer begrüßte ihn von seinem Platz aus der alte Hoyer mit stummem Nicken.

»Morgen, Herr Hoyer.«

Wahrscheinlich war Hoyer gar nicht so alt, wie er Jo vorkam, sondern sah nur so aus, nachdem er erst vor ein paar Jahren aus der russischen Gefangenschaft zurückgekehrt war. Anders als Jos Vater, der in der Ukraine offenbar Partisanen in die Hände gefallen war. »Nicht daran denken«, verordnete sich Jos Mutter, die seit einigen Jahren in Weimar bei Sylvia, Jos zwei Jahre älterer Schwester, und ihrem Mann Heinz lebte. »An was willst du nicht denken?«, hatte Jo seine Mutter einmal gefragt. »An das, was die Partisanen mit ihm gemacht haben. Möglicherweise.« »Und willst du auch an das nicht denken, was er getan hat? Möglicherweise?« Sie hatte ihn nur mit großen Augen verständnislos angesehen.

Im Glas des Schalters, hinter dem Hoyer zusammengesunken saß, sah Jo für eine Sekunde sein eigenes verhuschtes Spiegelbild. Seine blonden Haare machten seinem Namen alle Ehre, sie standen buchstäblich Sturm, und er versuchte sie mit beiden Händen zu bändigen, während er wie immer im Laufschritt den Treppenaufgang nahm.

Nach dem Umzug aus der Friesenstraße im letzten Jahr befanden sich in dem Gebäude die Kernbereiche der Kripo, Betrug, Einbruch, Erkennungsdienst, Mord und Sitte. Jo arbeitete in der Abteilung V, Vermisstenfahndung. Das Sekretariat für die Abteilung befand sich gleich neben dem Aufgang, Jos Büro lag ganz am Ende des Gangs. Es war so klein, dass man glauben konnte, es müsse früher eine Abstellkammer gewesen sein. Wenigstens hatte es ein Fenster, wenn auch nur zum Innenhof hinaus. Wenn man sich Schreibtisch und Stuhl, Telefon und Aktenordner weg- und stattdessen eine schmale Pritsche plus Kloschüssel hinzudachte, konnte man sich den Raum bestens als eine Gefängniszelle vorstellen.

Egal, so hatte er wenigstens seine Ruhe, um nach Vermissten zu fahnden. Was hieß Ruhe? Auf dem Aktenschrank thronte Peggie, ein kleines, nussbraunes Kofferradio der Firma Akkord, das er wie jeden Morgen einschaltete, noch ehe er den Mantel ausgezogen hatte. Ein Trompetensolo, das sich ganz nach Satchmo, Louis Armstrong, anhörte, genau das, was er jetzt brauchte.

Auf seinem Schreibtisch lag eine Notiz von Lene Spohn, der Sekretärin. Was sie stets machte, wenn sie ihn am Apparat nicht erreichte. Sie mochte ihn, würde es also nicht weitertratschen, dass er mal wieder zu spät zum Dienst erschienen war.

»Stegl. VP: Zern, Katja, 43. Ehem. Max«, stand auf dem Zettel. Lenes erprobtes System, um ihm mitzuteilen, dass ein Max Zern, Ehemann der dreiundvierzigjährigen Katja Zern, seine Frau bei der örtlichen Polizei in Steglitz als vermisst gemeldet hatte.

Jo griff zum Hörer. »Morgen, Lene.«

»Morgen, mein Schatz. Ausgeschlafen?«

Er lachte. »Lene, dein Zettel …«

Sie stöhnte leicht auf. »Ich weiß, die Dame ist schon eine Weile erwachsen und nicht gleich verschüttgegangen, nur weil sie dem Gatten mal eine Nacht das Bett nicht warmgehalten hat.«

»Das meine ich nicht, Lene.«

»Sondern?«

»Die Steglitzer Nummer fehlt.«

Ihre Antwort ließ eine Sekunde auf sich warten. »Ich werde alt. Warte einen Moment, Jo.« Sie brauchte nur wenige Sekunden, um ihm die Nummer des Beamten aus Steglitz durchzugeben, der angerufen hatte, um die Meldung weiterzuleiten. »Und gleich als Zugabe die Nummer des Ehemanns. – Sag mal«, fügte sie irritiert hinzu, »was ist denn das für ein Katzenjammer bei dir im Hintergrund?«

»Man nennt es Trompete. Danke, Lene.«

Er legte auf, schaltete das Radio ab, griff erneut zum Hörer und rief die Nummer der Steglitzer Kollegen an. Ein Diensthabender mit einer jungen Stimme namens Nowak meldete sich. Er war es auch, der die Vermisstenmeldung entgegengenommen und protokolliert hatte.

Jo Sturm redete nicht lange drumherum. »Warum fanden Sie denn die Sache so dringlich, dass Sie uns den Fall gleich übermittelt haben? Die Vermisste ist ja kein Kind mehr.«

»Wissen Sie, der Mann war schrecklich aufgeregt und vollkommen überzeugt, dass seiner Frau etwas passiert sein müsste.«

»Er war persönlich bei Ihnen? In der Dienststelle, meine ich?«

»Ja. Heute um sieben gleich. Er war ganz außer sich.«

»Seit wann genau ist sie denn verschwunden?«

»Seit halb elf gestern Nacht ungefähr, sagt er.«

»Hm, das sind schlappe acht Stunden bis zu seiner Meldung vorhin.«

»Ja, schon, aber der Mann war eben sehr …«

»Aufgeregt, verstehe.«

»Weil es über Nacht war. Das würde sie niemals machen, meinte er.«

»Sonst noch was? Ist Ihnen irgendetwas an dem Mann aufgefallen?«

»Aufgefallen?«

»Ja, an seinen Angaben, seinen Bemerkungen dazu, seinem Verhalten, abgesehen von seiner Aufregung?« Polizeimeister Nowak von der Bezirkspolizei in Steglitz hatte sich mit seiner Meldung schließlich an die Landeskripo gewandt.

Nowak überlegte eine Weile. »Er stank, ich meine, er roch stark nach Alkohol.«

»Alkohol.« Wenn das kein Grund für die Frau gewesen war, die Nacht woanders als in der gemeinsamen Wohnung zu verbringen.

»Ich denke, es war Restalkohol. Der Mann, dieser Ehemann, Zern, er hatte zwar eine Fahne. Aber er redete ganz klar. Nur sehr aufgeregt.«

»Vorschlag, Herr Nowak: Sie rufen den Mann gegen Mittag noch mal an. Falls seine Frau nicht bereits zurück ist, versuchen Sie, ihn zu beruhigen. Er soll uns dann umgehend Bescheid geben, sobald sie sich bei ihm gemeldet hat.«

»Aber das habe ich ihm schon gesagt.«

Schon. Bloß zu dem Zeitpunkt war er noch im Restalkoholrausch.

»Schadet nicht, wenn Sie es ihm noch mal einschärfen, Herr Nowak. Ansonsten warten wir erst ab. Vielleicht meldet sich auch bald ihr Anwalt bei ihm.«

»Ihr Anwalt?«

»Ihr Scheidungsanwalt.«

»Ah.«

»War ein Scherz. Sie halten uns auf dem Laufenden, ja?«

»Mach ich. Klar.«

Jo Sturm legte auf. Und dachte nach. Nicht über den Vermisstenfall an sich. Wenn es denn einer war, die Frau war eine Nacht fortgeblieben, und schon fragte sich ihr noch alkoholisierter Mann, wo sie steckte. Nein, was ihm durch den Kopf ging, war der Name der Frau. Wo hatte er den schon mal gehört? Er hatte ein ganz gutes Namensgedächtnis und war sich ziemlich sicher, dass der Name Katja Zern ihm schon irgendwo begegnet war. Doch er kam nicht drauf.

Er stand auf, um Peggie wieder einzuschalten, als das Telefon klingelte.

»Sturm.«

»Schätzchen, dein Typ wird verlangt.«

»Von wem, Lene?«

»Von oben. Ganz oben sogar. Fünfter Stock.«

»Fünfter Stock kann nicht sein, Lene. Die verdienen ihr Geld mit Mord.«

»Genau die meine ich. Sie wollen dich sehen, und zwar jetzt gleich. Zimmer 502.«

Er ließ sich auf seinem Stuhl zurückfallen. »Was wollen die von mir?« Er konnte sich absolut keinen Reim darauf machen.

»Wirst du dann schon erfahren. Ach, und klopf an, bevor du reingehst. 502 ist das Zimmer von Kettler, du weißt schon, dem Chef dort oben.«

»Kettler?«

Jo war Kettler bisher ein paar Mal im Haus begegnet, Kriminalkommissar Sturm hatte gegrüßt, Kriminalrat Kettler nicht, das übliche Spiel. Was wollte der jetzt von ihm?

Bevor er ging, zündete er sich noch eine Zigarette an und hörte dabei den »Zeitfunk« im RIAS. In Deutschland grassierte die Asiatische Grippe, immer mehr Ansteckungen mit dem Virus, das angeblich aus China kam, immer mehr Todesfälle. Seltsam, im Sommer hatte das noch ganz anders geklungen: nur die Ruhe bewahren, keine ernsthafte Gefahr, Gurgeln hilft. Und im Tiergarten hatte es in der Nacht einen Mordfall gegeben. Das Opfer ein Mann mittleren Alters, Ausländer, möglicherweise ein Raubmord an einem Touristen. Nichts Genaues wusste die Presse nicht, die Polizei hatte den Tatort südlich der Großen Querallee, nur wenige Steinwürfe von der neu eröffneten Kongresshalle entfernt, weiträumig abgeschirmt und gab keinerlei Informationen. Auch die Briten, in deren Sektor der Tiergarten lag, ließen nichts verlauten.

Jo Sturm drückte die Zigarette aus und würgte Peggie ab, noch ehe sie dazu kam, das Wetter zu verkünden.

×

Im Treppenhaus begegnete er Ilse Bonneur von der Weiblichen. An ihrer Seite eine Neue, wie er vermutete, platinblond und breithüftig im Unterschied zur zierlichen, brünetten Ilse.

»Tag, Jo.« Ilse lächelte im Vorbeigehen.

Er sah sie an und schnupperte genüsslich ihr fruchtiges Parfüm, so dass sie es bemerkte und ein wenig rot wurde. Die neue Kollegin lachte und blitzte mit den Augen. Er nickte auch ihr lächelnd zu.

War noch nicht lange her, dass er mit Ilse zusammen in einer Gondel gefahren war. In der Seilbahn entlang der neuen Hochhäuser im Hansaviertel, anlässlich der Interbau. Sie hatten sich die ganze Zeit geküsst, er hatte kaum etwas mitbekommen von den Prunkstücken der internationalen Architekturstars, die Berlin zum Bauen an die Spree gelockt hatte. Anschließend waren sie in einem Gartenlokal noch etwas trinken gewesen. Nett, entspannt. Doch in Ilses schönen braunen Augen, die einen unglaublichen Sog erzeugen konnten, glaubte er, am Ende einen Wunsch aufleuchten zu sehen, der ihn erschreckte: Familie. Wahlweise ersetzbar durch Heirat, Ehe und Kinder. Jo mochte Kinder, aber sich selbst als Vater vorstellen, nein, das brachte er beim besten Willen nicht fertig.

Sie blieb zwei Stufen über ihm stehen, so dass sich ihre Blicke direkt trafen. »Willst du dir nur die Beine vertreten oder zu mir?« Die Kollegin lachte, begriff nicht, dass die Frage ernst gemeint war.

»Ich soll zu Kettler hochkommen.«

»Kettler, der ist doch Mordkommission. Was will er von dir?«

»Tja, wenn ich das wüsste.« Er spürte den tentakelnden Blick der Kollegin und deutete mit dem Kinn zur fünften Etage hoch. »Ich werde dann mal.«

»Viel Glück oben.« Ilses Augen wandten sich rasch von ihm ab. Sie war enttäuscht.

Er besann sich kurz und rief, nachdem sie mit der Kollegin bereits zwei Stufen weiter hinuntergegangen war: »Sehen wir uns mal wieder, Ilse? Kino oder so?«

»Oder so.« Sie ging einfach weiter, ohne zurückzublicken.

Das hatte er dann wohl vergeigt.

×

Kriminalrat Kettler war ein kleiner dünner Mann Anfang sechzig mit schütteren, sandfarbenen Haaren und einem zerknitterten Gesicht. Sein Büro dagegen war gefühlt zehnmal so groß wie Jo Sturms Besenkammer zwei Stockwerke tiefer. Es war stickig und überheizt, gelber Tabakrauch hing in der Luft wie Londoner Nebel. Kettler stand an dem mittleren der drei Fenster zum Hof und rauchte Zigarre, als Jo das Zimmer betrat. Vor Kettlers gigantischem Eichenschreibtisch voller Papiere und Akten saß ein stämmiger Mann mit Augen, die wie sprungbereit unter seinen buschigen schwarzen Brauen lauerten. Granzow, Kriminalhauptkommissar. Jo kannte ihn, ebenso wie Kettler, bislang nur von zufälligen Begegnungen im Haus. Hoyer unten im Foyer hatte mal geraunt, Granzow sei »Kettlers Mann fürs Grobe«. Was auch immer das heißen mochte, Hoyer hatte sich diesbezüglich ausgeschwiegen, doch seine permanent entzündlich geröteten Augen über den enormen Tränensäcken hatten eine deutliche Warnung ausgesprochen.

In einem Sessel an dem dunklen Nierentisch in der Ecke saß mit übereinandergeschlagenen Beinen und Pfeife rauchend ein weiterer Mann. Ihn hatte Jo bislang noch nicht gesehen. Er war um die fünfzig, trug einen eleganten dunklen Zweireiher, eine Krawatte mit Silberspange und eine Brille mit Goldrand.

Jo grüßte und nickte knapp in alle drei Richtungen. Was auch immer diese Männer von ihm wollten, angenehm würde es wohl kaum werden, dachte er, als er in ihre humorlosen Gesichter schaute. Wobei Granzows steinharter Blick unter den nervös zuckenden schwarzen Brauen die beiden anderen noch bei Weitem übertraf.

Keiner der Männer erwiderte seinen Gruß. Kettler deutete mit seiner Zigarre auf den freien Stuhl neben Granzow.

Jo setzte sich, schlug die Beine übereinander und wartete ab.

Kettler kam herüber und ließ sich hinter seinem Schreibtisch nieder. Er musste seinen Stuhl recht hochgeschraubt haben, denn zwei der drei Knöpfe seiner beigen Anzugjacke lugten über die Tischplatte hinweg.

Kettler deutete auf Granzow und den Mann mit der Pfeife. »Sturm, das sind KHK Granzow aus meiner Abteilung, falls Sie ihn noch nicht kennen, und Dr. Curow von der Senatskanzlei. Er ist dort zuständig für die Koordinierung besonderer Aufgaben mit den Alliierten.«

Jo warf Curow einen Blick zu, den dieser mit einem abgründigen Lächeln quittierte.

»Bevor wir in die Details gehen«, fuhr Kettler an Jo gerichtet fort, »bestätigen Sie mir Folgendes: Sie sprechen Englisch? Ich meine gutes, um nicht zu sagen: hervorragendes Englisch.«

Jo nickte. »Yes, Sir.«

»Nun werden Sie mal nicht frech«, fuhr Granzow ihn von der Seite an. »Sie sind hier nicht bei den Amis.«

Aus der Ecke, in der Curow saß, vernahm Jo leises Lachen.

Er beachtete es nicht weiter, sondern richtete seinen Blick ungerührt auf Kettler. »Verzeihung, Herr Kriminalrat. Ist mir so rausgerutscht. Um Ihre Frage zu beantworten, ja, ich spreche Englisch. Fließend, würde ich sagen.«

»Erzählen Sie mal, wo Sie’s gelernt haben.« Curow, immer noch lächelnd, richtete seinen Pfeifenstiel auf Jo.

»In Amerika. Kriegsgefangenschaft. Vierundvierzig bis sechsundvierzig.«

»Wo genau da?« Curow schien ganz gespannt darauf.

Doch Jo war überzeugt, dass er und die anderen beiden es bereits wussten. Es stand in seiner Akte.

»Camp Campbell. War die ganze Zeit dort.«

»Camp Camp Camp. Fängt gleich an zu stottern, wenn er was gefragt wird.« Granzow stieß ein kurzes trockenes Lachen aus.

»Sie meinen sicher Fort Campbell, Sturm«, sagte Kettler mit überlegener Miene.

»So heißt es heute, Herr Kriminalrat. Aber damals hieß es Camp.«

»Camp Campbell, na bitte!« Was auch immer Curow damit sagen wollte, er stand auf, legte seine Pfeife in den Aschenbecher und ging zum Schreibtisch hinüber. Dort baute er sich frontal Jo gegenüber auf, beide Hände in den Hosentaschen. »Wir brauchen Sie, Herr Sturm. In einem äußerst brisanten Fall, einem Mordfall, der sich heute Nacht ereignet hat. Wir brauchen Sie wegen Ihrer Englischkenntnisse und … nun, weil Sie die Amerikaner zu kennen scheinen. Besser als die meisten von uns. Ihr derzeitiger Vorgesetzter von der Vermisstenfahndung, Hauptkommissar … wie heißt er gleich?«

»Wondrasch.«

»Wondrasch, richtig. Er ist bereits informiert worden, dass wir Sie für eine gewisse Zeit aus seiner Abteilung abziehen werden.«

Curow beugte sich vor und bohrte seinen Blick in Sturms Augen. »Seien Sie sich Ihrer Verantwortung bewusst, Herr Sturm. Es handelt sich hier um einen Fall, der internationale Verwicklungen nach sich ziehen könnte. Die beiden Herren werden Ihnen gleich weitere Details nennen. Doch so viel sei Ihnen gesagt: Das Opfer ist Amerikaner. Aber beileibe kein Tourist. Das haben wir fürs Erste nur lanciert. Ein Raubmord wäre für uns, das heißt für Berlin, natürlich wünschenswert. Politisch gesehen. Aber ganz gleich, was genau passiert ist, wenn wir den Fall nicht schnellstens aufklären können, würde das ein äußerst schlechtes, vielleicht sogar katastrophales Licht auf uns werfen. Also, vermasseln Sie es nicht.«

Er nahm die Hände aus den Taschen, rückte seine Brille gerade, ging zu seiner Pfeife zurück, klopfte sie penibel im Aschenbecher aus und verstaute sie sorgfältig in einer grauen ledernen Pfeifentasche, die er in sein Jackett steckte. Ohne Jo Sturm noch zu beachten, wandte er sich zum Gehen, warf nur Kettler und Granzow einen Blick zu, während er mit schnellen Schritten den Raum durchquerte und hinausging.

»Folgendes, Sturm«, nahm Kettler das Gespräch wieder auf und blickte auf ein Blatt handgeschriebener Notizen. »Bei dem Opfer handelt es sich um einen gewissen Rudy Beringer, sechsundvierzig Jahre alt, amerikanischer Staatsbürger.«

»Woher wissen wir das?«, unterbrach ihn Jo.

Kettler hob den kleinen Schildkrötenkopf und sah ihn irritiert an.

»Lassen Sie den Kriminalrat gefälligst ausreden, Herrgott!«, fuhr Granzow ihn wieder an.

Kettler drückte seine Zigarre in einem riesenhaften Ascher aus Kristallglas aus und winkte ab. »Nein, nein, schon in Ordnung, Kurt.« An Jo: »Er hatte seine Brieftasche noch. Mit den Ausweispapieren.«

»Geld?«

Kettler sah Granzow an. »War auch das Geld noch dabei, Kurt?«

»Zweihundert Dollars. Und knapp hundert D-Mark, Scheine und Münzen.«

»Dann darf man Raubmord getrost ausschließen, oder?«

Granzow fuhr ungehalten seinen massigen Schädel herum. »Hören Sie, Sturm«, blaffte er Jo an, »soviel ich weiß, beruhen Ihre praktischen Erfahrungen bislang vor allem auf Vermisstensachen, richtig?«

»Richtig. Aber es ist nicht so, dass man Vermisste nicht auch als Leichen wiederfindet. Besonders in Berlin.«

Granzow starrte ihn ungläubig an. »Wie bitte?«

Kettler hob beschwichtigend eine Hand. »Immer die Ruhe, Kurt. Sturm hat ja recht.« Wieder an Jo gewandt: »Wir ziehen Sie zu dem Fall hinzu, weil Sie als schlauer Bursche gelten, gute Aufklärungsquote, beste Zeugnisse.«

»Vor allem aber, weil er ein bisschen Englisch kann.«

»Ja, ja, Kurt, nun lass es mal gut sein.« Kettler sah wieder auf sein Blatt. »Was diesen Fall so – wie hat Curow gesagt? – so brisant macht, ist zum einen die Tatsache, dass Beringer deutscher Herkunft war. Details wissen wir noch nicht, aber doch so viel, dass er noch vor dreiunddreißig nach Amerika ausgewandert ist. Als ganz junger Mann also.«

»Aus welchen Gründen?«

Kettler zögerte mit seiner Antwort.

»Das dürfen Sie gerne herausbekommen, Sturm«, feixte Granzow, zog Zigarettenschachtel und Feuerzeug aus seiner Jackentasche und zündete sich eine an.

»Wir haben nicht viel Zeit«, mahnte Kettler. »Beringer hatte wie gesagt deutsche Wurzeln, war Architekt in Amerika, dort aber eher als Schriftsteller bekannt, als Architekturkritiker. Aus diesem Grund hat er offensichtlich eine Einladung für die Feierlichkeiten zur Eröffnung der neuen Kongresshalle erhalten.«

»Schwangere Auster«, mäkelte Granzow abfällig zwischen zwei Lungenzügen.

»Verstehen Sie, Sturm, das macht diesen Fall so kitzlig: Berlin lädt einen Deutsch-Amerikaner hochoffiziell ein zu den Feierlichkeiten für das Symbolobjekt der deutsch-amerikanischen Freundschaft et cetera pp. – und dann wird der Mann keine fünfhundert Meter von diesem Symbol entfernt im Tiergarten ermordet.«

»Wie genau?«

»Bitte?«

»Wie wurde der Mann ermordet?« Die Frage lag doch nun wirklich nahe, fand Jo.

»Er wurde erschossen«, antwortete Granzow an Kettlers Stelle. »Kleinkaliber, wie es aussieht. Aber aus nächster Nähe. Zwei Treffer, einer davon ein Blattschuss, mitten ins Herz.«

»Das heißt frontal, von vorn?«

»Von vorn, ja.« Granzow stieß eine Menge blauen Dunst aus seinem massigen Körper heraus und schob sein Gesicht nah an Sturm heran. »Diese kriminalistischen Feinheiten müssen Sie im Grunde gar nicht kennen, Sturm. Darum kümmern wir uns, ich und die Kollegen Gerber und Schuchardt.« Er fuhr herum und drückte mit seinem gewaltigen Daumen die halb gerauchte Filterlose in Kettlers Ascher aus.

»Das heißt, Sie bleiben so lange an dem Fall dran, bis die Hintergründe aufgeklärt sind«, ergänzte Kettler etwas fahrig, jedoch um einen sachlichen Ton bemüht.

»Okay.«

»Okay, Coca-Cola, Rock ’n’ Roll!«, stöhnte Granzow. »Gleich fängt er noch an, Kaugummi zu kauen.«

Jo Sturm sah ihn nur an. Männer wie Granzow konnten ihn mal. Solche wie der hatten ihm, einem Achtzehnjährigen, im Krieg befohlen, Elsässer Männer zu erschießen, die über die Grenze in die Schweiz flüchten wollten, um sich der Zwangsrekrutierung durch die Deutschen zu entziehen. Aber warum hätte er das tun sollen, auf Elsässer schießen? Wäre er einer von ihnen gewesen, dann hätte er das Gleiche versucht, nichts wie weg über die Schweizer Grenze. Leider war ihm auch selbst dieser Weg versperrt gewesen, sonst hätten ihn seine eigenen Kameraden erschossen. Also hatte er sich unauffällig Richtung Süden davongemacht, dorthin, wo der sogenannte Feind stand. Zu den Amerikanern. Denen er sich dann unbewaffnet und mit hoch erhobenen Händen – und einer verfluchten Angst, sie könnten ihn dennoch abknallen wie einen Hasen – ergeben hatte. Drei Wochen später war er als Kriegsgefangener im Camp Campbell, Kentucky, gelandet. Seit Jahren hatte er sich nicht mehr so satt essen können wie dort. Und sie hörten andauernd diese Musik, Louis Armstrong, Benny Goodman, Billie Holiday. Besonders Billies Texte wollte er verstehen, lernte Englisch wie ein Besessener. Und die Amerikaner halfen ihm dabei, gaben ihm Lehrbücher, und nach einem halben Jahr erlaubten sie ihm – nein, sie ermutigten ihn, via Fernstudium an einem College ihre Sprache noch besser kennenzulernen.

Granzow und Kettler dagegen waren graue, grantige Vorgesetzte, die in einem nur den Befehlsempfänger sahen.

Er schrak aus seinen Gedanken auf, als das Telefon klingelte. Kettler warf ihm einen auffordernden Blick zu. Jo stand auf, nickte Kettler und Granzow noch einmal zu und ging hinaus.

Wenige Sekunden später folgte auch Granzow und preschte hinter ihm her.

»He, Mann! Wo rennen Sie denn hin? Nach drüben? Die zahlen nur Spielgeld.« Er baute sich vor Jo auf und tippte ihm mit dem tabakbraunen Nagel seines Zeigefingers gegen die Brust. »Sie sprechen mit Hoyer unten und sagen ihm, dass Sie zeitweise zu uns umziehen. Er soll einen Schreibtisch zusätzlich ins Zimmer 504 bringen lassen. Und zwar subito.«

Jo sah ihn nachdenklich an. »Sagen Sie, Herr Granzow, wo hat Beringer eigentlich gewohnt?«

»Wo er gewohnt hat? In New York, soweit wir bisher wissen. Das sollen Sie ja gerade herausfinden mit Ihrem sagenhaften Englisch.«

»Ich meinte, wo hat Beringer hier in Berlin gewohnt? In einem Hotel, nehme ich doch an?«

»Im Savoy. Kantstraße. Nein, Fasanenstraße, natürlich.«

»Aha.« Eine noble Adresse.

»Ich habe Gerber und Schuchardt hingeschickt, damit sie sich dort mal umsehen. Das Savoy muss Sie also gar nicht weiter beschäftigen.«

Tut es aber. Dachte Jo Sturm.

»Und der Tatort?«

»Herrgott, was soll damit sein? Die Schupo passt auf, dass dort kein Unfug geschieht. Die Spurensicherung hat den Tatort selbstverständlich untersucht. Und wieder geräumt.«

»So schnell?«

»Was heißt, so schnell? Hätten die Kollegen warten sollen, bis ihnen die Politiker den Kopf abreißen? Die Herren wollen kein Aufsehen, ist doch klar. Denken Sie doch mal nach: Wir haben die Interbau in nächster Nähe des Tatorts, die Kongresshalle, gerade eröffnet, Tausende Touristen, die sich dort momentan umtun. Von der Presse ganz zu schweigen. Glauben Sie, wir können es uns leisten, den Fundort der Leiche noch eine Weile zu pflegen wie das Grab vom Alten Fritz?«

Jo lachte. Und diesmal zog selbst Granzow einen Mundwinkel nach oben.

»Lassen Sie sich von Gundula, unserer Sekretärin, den Namen des momentan zuständigen Verbindungsoffiziers der Amis geben. Stellen Sie so schnell wie möglich Kontakt zu dem Mann her, damit man uns von der Seite nichts nachsagen kann.«

»Was ist mit den Briten?«

»Was soll mit denen sein?«

»Der Tatort liegt in ihrem Sektor.«

Granzow winkte ab. »Die Tommys haben doch nicht ihr Personal abgebaut und sind jottwehdeh bis hinaus nach Westend gezogen, nur um sich um solchen Hühnerkram wie einen Tatort im Tiergarten zu kümmern? Die Engländer wollen Bescheid wissen, das ist alles, ansonsten lassen sie uns freie Hand. Kümmern Sie sich nicht darum, ich tu’s auch nicht, ist Kesslers Aufgabe.«

»Okay.«

Granzow hob die Hände und sah Sekunden lang so aus, als wollte er sie um Sturms Hals legen.

×

Gundula Krauß, Sekretärin in der Abteilung Mord, erschrak, als Jo Sturm plötzlich neben ihr stand. Sie tippte hochkonzentriert ein Schreiben, sein Klopfen an der Tür hatte sie unter dem Lärm der Anschläge ihrer Schreibmaschine überhört. Ihr kleiner Schreibtisch war ein Muster der Ordnung: das monströse stahlgraue Schreibgerät in der Mitte, links daneben ihr Stenoblock, von dem sie abschrieb, rechts davon eine neue Ausgabe der »Constanze«, das »die teuersten Mädchen der Welt« im Innenteil der Zeitschrift versprach. Das Titelfoto zeigte eine strahlende Mittzwanzigerin mit einer weizenblonden Dauerwellenfrisur und perlweißen Zähnen. Sie hielt eine Perserkatze vor die Linse, als wollte sie das Tier zum Kauf anbieten. Dabei ging es vermutlich jedoch eher um das fliederfarbene Kleid, das sie trug, oder den korallenroten Lippenstift, der ihre Zahnperlen rahmte und erst so richtig aufblitzen ließ.

Gundula Krauß hatte mit diesem Traumbild in den knallbunten Farben des Magazins nicht das Geringste zu tun. Sie war eine ultramollige Mittvierzigerin, hatte nackenkurzes, pechschwarz gefärbtes Haar und eine ebenso schwarze Brille. Sie schwitzte, obwohl es kühl war in dem Zimmer; unter den ausladenden Achseln ihres rostfarbenen Pullis hatten sich dunkle Flecken gebildet. Ihre Finger aber, fiel Jo auf, die beim Tippen so ein enormes Tempo vorlegten, waren grazil und langgliedrig.

Nach dem ersten Schrecken schob sie ihre Brille auf der breiten Nase vor und zurück, um Jo zu mustern. »Und Sie sind, bitte schön?«

Jo setzte sein Sonntagslächeln auf. »Jo Sturm. Ich arbeite normalerweise in der Vermisstenfahndung unten, dritter Stock, aber …«

Sie hob ihre rechte Hand, um ihn zu unterbrechen. »Weiß Bescheid. Herr Kriminalrat hat mich schon vorbereitet, dass Sie vorbeikommen.«

»Ah ja?«

»Sie arbeiten an dem neuen Fall, stimmt’s? Der Amerikaner im Tiergarten?«

»Sieht so aus.« Wenngleich ihm ganz und gar nicht klar war, worin genau seine Aufgabe bestand und vor allem: wie weit sie reichte. »Ich will zunächst mal mit dem Headquarter sprechen. Wenn Sie mir die Nummer …?«

»Mit dem was wollen Sie sprechen?«

»Dem Head… mit den Amerikanern, dem Hauptquartier.«

»Ach, Sie meinen Clayallee.« Sie fegte den Schwenkarm mit dem schwarzen Telefon zur Seite, stand ächzend auf und watschelte zwei Schritte zu einem kleinen Eichentisch hinüber, auf dem sich neben einem Stapel leinengebundener Kladden eine Registratur in einer länglichen Holzbox befand. Sie zog eine Karte daraus hervor, ächzte zu ihrem Schreibtisch zurück, riss eine Seite aus ihrem Stenoblock, angelte einen Bleistift aus der Schublade und forderte Jo mit einem Blick auf, sich Nummer und Adresse abzuschreiben.

Sie sprach halblaut mit. »76 43 15. Clayallee 170. Gut.« Sie sah zu ihm auf, während er den Zettel einsteckte. »Kommt Ihnen vielleicht kleinkariert vor, wenn ich kontrolliere, aber Sie ahnen nicht, wie viele Fehler beim Abschreiben passieren. Besonders den Herren der Schöpfung. Und hinterher zeigen alle auf mich.«

Sie ließ, als er schon gehen wollte, die Augen hinter ihren Brillengläsern noch einmal an ihm hoch- und niedergleiten. »Sie tanzen wahrscheinlich gerne, was?«

»Wie kommen Sie darauf?«

»Schlank, wie Sie sind.«

»Ich schau lieber zu.«

»Na, da haben wir was gemeinsam.« Sie wandte sich wieder ihrer Schreibmaschine zu. »Wenn noch was ist, immer melden.«

Sein Dank ging bereits wieder in dem Hämmern der Anschläge unter, mit denen sie in Sekundenschnelle die Blattzeilen füllte.

×

In seinem Zimmer rief er zunächst Hoyer unten im Foyer an, um ihm Granzows Order bezüglich eines weiteren Schreibtischs in 504 mitzuteilen. Dann wählte er die Nummer des US-Headquarters in der Clayallee.

Eine männliche Stimme meldete sich und fragte in einem Südstaatendialekt, bei dem aus jedem scharfen S ein Zischlaut wurde, worum es sich handele.

Jo erklärte ihm auf Englisch, wer er sei und dass er den für gemeinsame kriminalpolizeiliche Aufgaben der Army zuständigen Offizier suche.

»Okay, Sir, wait a minute, please.«

Er wurde durchgestellt und hatte es jetzt mit einem Captain Penrose von der Military Police zu tun. Jo erklärte auch ihm den Sachverhalt, wurde aber sogleich unterbrochen, als er seine Behörde, die Mordkommission, und den Namen des Mordopfers im Tiergarten nannte.

»Mister Beringer, yes«, sagte Penrose. Der arme Teufel, er wisse Bescheid. Ihm liege per Fernschreiber eine Nachricht des Berliner Senats vor und das Okay der Briten, dass das Headquarter tätig werden könne, um den Mord an ihrem Landsmann aufzuklären.

Curow von der Senatskanzlei hatte anscheinend nicht zu viel versprochen und entsprechend vorgearbeitet.

»Well, Sir, Warrant Officer Frank Stewart bekommt den Auftrag, Sie zu unterstützen«, klärte Penrose ihn auf.

Aus seiner Kriegsgefangenenzeit war Jo hin und wieder sogenannten Warrant Officers begegnet. Sie waren spezielle Offiziere in der Army, ohne Befehlsgewalt, aber mit einem besonderen Auftrag. Er hatte Warrant Officers als technische oder medizinische Experten kennengelernt, schlaue Köpfe, jeder von ihnen hatte mindestens einen Bachelor-, die meisten einen Masterabschluss in der Tasche. Dass sie auch kriminalistische Aufgaben übernahmen, war ihm neu. Aber damals war er ja auch selbst noch kein Ermittler gewesen. Im Gegenteil, aus amerikanischer Sicht hatte er als Deutscher zu dem Volk der Täter gehört. Eine Sicht, deren Wahrheitsgehalt er in ihrem vollen Ausmaß erst nach und nach hatte begreifen können.

»Okay, Captain«, sagte Jo, »dann würde ich Officer Stewart gerne sprechen.«

Eine Pause entstand. Er hörte sein Gegenüber hüsteln, vielleicht sogar lachen. Das sei grundsätzlich möglich, antwortete Captain Penrose stockend. Er wisse nur nicht, wo genau sich Officer Stewart im Augenblick befinde. Er sei ausgegangen.

»Ausgegangen?«

»Ja, Sir. Es wäre eigentlich sein freier Tag heute. Deshalb …«

»Ja?«

»Seine Kameraden sagen, dass er gestern Abend nach Dienstschluss fortgegangen ist, in die Stadt. Und auch heute Nacht nicht zurückgekommen ist.«

»Aber Sie wissen, wo er sich befindet, nehme ich doch an.«

»In der Stadt, wie gesagt.«

»Und … wo genau finde ich Officer Stewart in unserer schönen City, Captain?«

»Seine Kameraden sagen, in der Badewanne.«

»In der … Badewanne?« Jo konnte ein herzhaftes Lachen nicht unterdrücken. »In welcher Badewanne?«

»Nurnberger Straße, Sir. Aber erst heute Abend, sagen seine Kameraden.«

Jetzt auf einmal begriff Jo. »Sie meinen den Nachtclub ›Badewanne‹?«

»Kennen Sie ihn?«

»Yes, Sir.« Diese »Badewanne« kannte er bestens!

»Brilliant. Dann wissen Sie ja, wo Sie Officer Stewart eventuell treffen können. Oder Sie warten bis morgen, Sir. Es eilt ja nicht. Ihre Behörde, die Berliner Kripo, hat uns mitgeteilt, dass sie selbst alles übernimmt, was schnell gehen muss, die Tatortuntersuchung, Spurensicherung und so weiter. Officer Stewart soll Ihnen dagegen nur bei der Aufklärung der Hintergründe von Mister Beringer in den Staaten behilflich sein. Da kommt es ja auf einen Tag nicht an. Right?«

Jo bedankte sich bei dem Amerikaner und legte auf.

Er begriff soeben, dass seine Vorgesetzten Curows offizielle Bitte an die Amerikaner um Unterstützung praktisch unterliefen. Er vermutete vor allem Granzow dahinter. Der aber vielleicht auch in Kettlers Sinne arbeitete. In die konkrete Ermittlungsarbeit wollte man sich von außen möglichst nicht hineinreden lassen. Oder war das Ganze ein abgekartetes Spiel? Um den »Raubmord« abzuliefern, der politisch erwünscht war?

Jos Ermittlungen zu den amerikanischen Hintergründen des Opfers schienen aus diesem Blickwinkel reine Formsache zu sein, der Amerikaner wegen. Das aber bitte »subito«.

Die sollten ihn kennenlernen im fünften Stock.

Sein Standort in der Fasanenstraße, auf der Seite der Städtischen Oper, war perfekt. Im Rückspiegel seines Mercedes zeichnete sich die Häuserfront bis zur Kantstraße ab. Und der Eingangsbereich des Savoy war durch das Seitenfenster bestens einzusehen.

Seit Stunden hatte er alles im Blick. Zwei Kriminale waren in aller Herrgottsfrühe erschienen, blasse Typen in schlecht sitzenden Anzügen, mit grauen Gesichtern unter ihren Schlapphüten, die sich nicht mal eine Nacht in der Nobeladresse leisten könnten. Andererseits, das Künstlergesocks, von dem das Savoy regelmäßig heimgesucht wurde, war wohl auch kaum als »nobel« zu bezeichnen, junge Nestbeschmutzer wie dieser Böll aus Köln, Perverse wie Miller oder Newton. Oder eben Beringer.

Schon eine halbe Stunde später – nach geschlagenen dreißig Minuten! – hatten die zwei Armleuchter das Hotel wieder verlassen. Im Schlepptau Beringers Koffer. Er kannte den banalen Inhalt: Wäsche, Hemden, Hosen, Anzüge. Mit anderen Worten: Sie hatten nichts. Dafür hatte Kropp gesorgt.

Der jetzt allerdings nicht zum Dienst erschien. Was kein gutes Zeichen war. Wenn Kropp auch weiterhin nicht auftauchte …

Ein junger Spund mit wehendem Blondschopf bog von der Kant- in die Fasanenstraße ein und parkte seine blaue DKW auf dem Bürgersteig. Direkt vor dem Hotel-Eingang.

Er zündete sich eine Zigarette an und begann zu zählen. Einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwan… Na bitte, Richthofen erschien auf der Bildfläche. Der Portier in seiner affigen grünen Livree. Der Blondschopf lächelte ihn an: ein richtiges Filmlächeln, reif für Hollywood. So wie seine Kleidung. Der helle Gabardinemantel nach der neusten Ami-Mode eng geschnitten, zerknittert und auf halb acht. Der Bursche zog in aller Ruhe etwas aus der Manteltasche und hielt es Richthofen vor das Gesicht. Seine Dienstmarke? Noch ein Kriminaler, nachdem die beiden anderen sich längst verzogen hatten? Was hatte das zu bedeuten?

Der Portier war ein großer, massiger Mann in einer grasgrünen Livree mit matt glänzenden Messingknöpfen. Unter seiner gleichfalls grünen Uniformmütze stahlen sich aschgraue Strähnen hervor, die leicht im Straßenwind zitterten.

Wie ein Baum stand der Mann vor ihm und deutete mit schwacher Geste auf den Roller, von dem Jo eben erst abgestiegen war.

»Es tut mir leid, mein Herr, aber Ihr Motorrad kann hier nicht abgestellt werden. Nicht auf dem Bürgersteig, nicht vor unserem Entree. Bedaure.«

Die Stimme des Portiers klang rau, seine Gesichtsfarbe wirkte ungesund rot, und seine Aussprache war feucht. Jo musste unwillkürlich an die neuartige Grippe denken, von der im RIAS die Rede gewesen war.

Er schenkte dem Portier ein Lächeln, zog seine Dienstmarke aus der Manteltasche und hielt sie ihm ohne Hast vor das Gesicht.

Der Portier kräuselte die Stirn. »Was denn? Schon wieder Polizei?« Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Sie sind doch, Ihre Kollegen, meine ich, waren schon längst …«

»Das weiß ich. Aber hier geht es um einen ausländischen Gast. Um einen Amerikaner. Und er hat in Ihrem Hotel gewohnt. Das wirft natürlich Fragen auf. Zum weiteren Hintergrund des Opfers, jenseits des konkreten Falls.« Als ob sich das trennen ließe. Doch er spielte das Spiel nur nach den Regeln, die ihm selbst diktiert worden waren. »Und für diese Fragen bin ich zuständig.«

Der Portier blieb abweisend. »Zu irgendwelchen Hintergründen des Gasts könnte Ihnen allenfalls Herr Grütters Auskünfte erteilen. Er ist unser Geschäftsführer, momentan aber leider nicht anwesend. Mir ist auch nicht bekannt, wann er …«

»Das macht nichts. Ich will mir nur ein erstes Bild von Mister Beringers letztem Aufenthalt bei Ihnen machen.« Das war die lautere Wahrheit. »Wenn ich bei Ihnen anfangen darf: Ihr Name ist bitte?«

Der Portier sah ihn überrascht an. »Richthofen. Karl Richthofen.« Es war wie so oft, besonders ältere Zeugen nahmen ihn erst dann als Polizisten ernst, wenn er sich wie einer verhielt. Oder so, wie sie sich einen Polizisten vorstellten: fordernd und humorlos.

»Und wie nennen Ihre Gäste Sie, Herr Richthofen, beim Vor- oder Nachnamen?«

»Kommt darauf an, Herr … Kommissar. Langjährige Gäste sagen Karl zu mir.«

»Und Beringer?«

»Ebenfalls Karl.«

»Beringer war also ein alter Bekannter in Ihrem Hotel? Häufiger Gast?«

»Häufig, nein, das würde ich nicht sagen. Aber Herr Beringer kommt seit vielen Jahren zu uns. Allerdings unregelmäßig, nicht in jedem Jahr.«

Jo Sturm deutete ein Nicken an, und sie gingen hinein, der Portier voran.

Durch das gläserne, goldgerahmte Portal betraten sie die Hotelhalle. Schwarz-Weiß gestreifte Marmorfliesen, mit dunklem Holz verkleidete Wände, gedämpftes Licht und sehr viel Rot bestimmten das Foyer: bordeauxrote Teppiche mit dezenten Mustern, weinrot und golden gestreifte Tapeten, Schwarz-Weiß-Fotografien mit alten Berlinmotiven in mahagonifarbenen Holzrahmen an den Wänden, kirschrote Sessel an niedrigen, quadratischen Tischen aus rötlich schimmerndem Tropenholz. Im Vergleich zu den lichtdurchfluteten Hotelneubauten, die Jo im Rahmen seiner Arbeit gelegentlich schon betreten hatte, wirkte das Savoy eindeutig aus der Zeit gefallen. Und das war es ja auch, eines der wenigen Gebäude in Berlin, das den Krieg fast unbeschadet überstanden hatte. Ein Geruch wie von Zimt und Kamille, gewürzt mit Tabakrauch, der in der Luft hing, passte dazu.

Es herrschte reges Treiben, Hotelgäste kamen aus angrenzenden Räumen oder die teppichbelegte Treppenflucht herunter, warteten an der Rezeption oder durchquerten das Foyer, im Schlepptau schwarz livrierte Pagen, die beflissen ihr Gepäck trugen.

Jo blieb stehen und suchte den Blick des Portiers. »Ich würde gern sein Zimmer sehen, Herr Richthofen. Das von Mister Beringer.«

Der Portier sah Jo ausdruckslos an. »Einen Moment, bitte.« Er ging zum Schlüsselbord hinter der doppelt besetzten Rezeption, vor der sich zwei junge Frauen in Pepitamänteln wie in heimlicher Freundschaft eng aneinanderdrückten, und nahm den Schlüssel für Zimmer 204 vom Bord. Wie alle Schlüssel war er an einem Zapfen aus poliertem Eichenholz befestigt. Der Portier hielt ihn ehrfurchtsvoll wie ein Fabergé-Ei.

Ohne weitere Verständigung ging Richthofen offenbar davon aus, dass Jo ihm folgen würde, wo auch immer er hinging. Jo ließ ihn in den Fahrstuhl einsteigen und nahm selbst den Treppenaufgang in den zweiten Stock. Der warmherzig festliche Eindruck von Zimt und Mahagoni aus dem Parterre verflüchtigte sich schnell, der Aufgang war kühl, hell gestrichen und schmucklos, abgesehen von ein paar blassen mittelalterlichen Panoramen europäischer Städte.

Im Flur der zweiten Etage herrschte wiederum der gleiche rotgoldene Glanz an den Wänden vor wie im Foyer. Ein Zimmermädchen in weißem Kittel schob einen Wagen mit Wechselwäsche über den weinroten Teppich und verschwand damit in einem Zimmer, dessen Tür weit offen stand.

Nahezu zeitgleich mit Jo trat der Portier aus dem Fahrstuhl. Richthofen blickte ihn irritiert an, verkniff sich aber den Kommentar, der ihm offenbar auf den Lippen lag. Ein Profi, dachte Jo, der sich seine Zurückhaltung im jahrzehntelangen Umgang mit den Gästen antrainiert hatte.

Zimmer 204 lag beinahe am Ende des Flurs, Richthofen steckte den Schlüssel ins Schloss und öffnete die Tür so lautlos wie ein nächtlicher Einbrecher. Durch einen kleinen Flur gelangten sie in das Wohnzimmer der Suite. Auf dem Mobiliar lag die Patina einer untergegangenen Bürgerlichkeit. Keine Tütenlampen, kein Nierentisch, keine Schalensessel auf dünnen Stelzen, sondern eine Sitzkombination mit kleinem rundem Tisch, ein schmaler Schreibtisch mit dezenter Intarsienarbeit, darauf eine grüne Schirmlampe, an der Wand darüber ein Spiegel in dunklem Holzrahmen. All das erinnerte eher an den Stil der zwanziger Jahre.

Jo ließ den Blick schweifen. Das Zimmer wirkte sauber und aufgeräumt.

»War das Zimmermädchen bereits da?«, fragte er den Portier.

»Selbstverständlich. Nachdem Ihre Kollegen alles auf den Ko… alles untersucht hatten. Auch Herrn Beringers Sachen, seinen Koffer und so weiter, haben sie mitgenommen. Aber das wissen Sie natürlich.«

Jetzt schon, dachte Jo und nickte schwach. Er würde Gerber und Schuchardt später danach fragen.

Er ging zum Schreibtisch. Auf der Intarsienfläche zwei umgestülpte Weingläser auf einer weißen Serviette, daneben ein Korkenzieher mit Elfenbeingriff, ein schmaler Schreibblock mit diagonal darauf platziertem Bleistift und ein aktueller Stadtplan, Berlin 1957. Jo faltete ihn auseinander, konnte jedoch keine Markierung einer Straße oder Adresse entdecken und legte ihn zurück an seinen Platz.

Er öffnete nun die Türen und Schubladen des Schreibtischs. Nichts. Gähnende Leere.

»Wie gesagt, Herr Kommissar, Ihre Kollegen …«

Ja, die Kollegen. Nur musste er sich selbst ein Bild machen, ehe er mit den Amis sprach. Doch das ging den Portier nichts an.

Die Tür zum Nebenzimmer war nur angelehnt. Jo ging hinüber und öffnete sie ganz. Das Schlafzimmer, länglich und überraschend eng. Ein großflächiger, randloser Spiegel sollte diesen Eindruck vermutlich verhindern. Das Bett schien selbst für eine Person zu schmal.

Jo wandte sich durch die offene Tür an den Portier, der im Zimmer geblieben war. »Ich nehme an, Beringer hatte nicht gerade die Figur eines Max Schmeling, richtig?«

»Er war ein sehr schlanker Mann, wenn Sie das meinen. Und groß.«

Das Bett war offensichtlich erst vorhin mit blütenweißer Bettwäsche bezogen worden. Der Geruch von frisch gestärktem Leinen hing noch in der Luft. Auf dem Nachttisch stand eine Flasche Kölnischwasser, kaum oder gar nicht benutzt, wie es aussah.

Jo deutete mit dem Finger darauf und sah den Portier wieder fragend an. »Von Beringer?«

»Nein, wir stellen es routinemäßig für unsere Gäste bereit. Wird gerne angenommen, von Damen wie Herren.«

»Gerne mitgenommen, meinen Sie?« Jo warf ihm ein Lächeln zu, das ins Leere fiel, Richthofen überhörte die Bemerkung mit steifer Ablehnung.

Eine weitere Tür führte ins Bad, das bis auf Schulterhöhe weiß gekachelt und blitzblank geputzt war. Badmöbel und Waschbecken hatten eigenwillig leicht wirkende Formen, Bauhaus-Stil vielleicht, Neue Sachlichkeit, jedenfalls nichts, was unter den Nazis propagiert worden wäre. Wer diese Suite mietete, dessen Herz schlug weder für das biedere bis klotzige Inventar des Dritten Reichs noch für die, wie Jo es sah, manchmal erzwungen wirkende Luftigkeit des aktuellen Designs.

Jo ging zurück in das Zimmer. Aufrecht wie eine Tanne und ebenso grün stand der Portier mitten im Raum. Jo zog seinen Notizblock mit dem daran festgeklemmten Kugelschreiber aus der Brusttasche seines Jacketts und sah ihn an. »Wann hat Herr Beringer die Suite bezogen?«

»Am Sonntag dieser Woche, wenn ich das recht erinnere. Doch, ja, ich bin sicher, es war der Sonntag.«

»Und gestern, Herr Richthofen, wann hat er da das Hotel verlassen?«

»Das habe ich bereits Ihren Kollegen gesagt, Herr Kommissar: Ich weiß es nicht. Fragen Sie Militsch, den Nachtportier. Aber ich wette, dabei wird nichts herauskommen.«

»Warum denken Sie das?«

»Militsch ist nicht der Typ, der sich solche Dinge merkt.«

»Ach, nein?«

»Nein.« Die Geringschätzung in seiner Stimme gegenüber dem Kollegen von der Nachtschicht war kaum zu überhören.

»Warum nicht?«

Der Portier machte eine rasche Bewegung mit der Hand, als würde er sich ein Schnapsglas hinter die Binde kippen. »Aber das muss unter uns bleiben.«

In diesem Moment hörten sie ein Klopfen an der Tür zum Flur und eine junge weibliche Stimme: »Herr Richthofen?«

Sie wandten die Köpfe. »Ja, herein!«, rief der Portier.

Die Tür wurde geöffnet, und eine junge Frau erschien, eher noch eine Jugendliche, Jo schätzte sie kaum ein Jahr älter als Helga, die Tochter seiner Vermieterin. Das Mädchen in dem hellen Kleid, das eintrat und durch den Flur auf Richthofen zuging, war blond und groß und stark geschminkt, ihre Schmetterlingsbrille trug sie in der einen Hand, in der anderen einen Notizzettel. Sie warf Jo einen kurzen Blick aus aufblitzenden graublauen Augen zu und wandte sich dann an den Portier.

»Tschuldigung, Herr Richthofen, ein Herr …« Sie setzte ihren Schmetterling auf und las die Notiz: »Herr Stahnke von der Agentur Büsing und Klopp hat angerufen.«

Richthofen kniff irritiert die Brauen zusammen.

»Wegen der Haarspange von Romy Schneider.« Sie sprach den Namen von Deutschlands Film-Sissi so beiläufig aus, als handelte es sich um eine Schulkameradin.

»Was denn für eine Haarspange, Silke? Was habe ich damit zu tun?«

»Na, die Spange war ihr doch abhandengekommen, in Zimmer 218, wo sie immer ist.«

»Weiß ich, weiß ich doch, Silke.«

»Und Herr Büsing, Quatsch: Herr Stahnke sagt, sie, also Romy Schneider, lässt fragen, ob sich die Spange nicht doch wiedergefunden hat. Sie würde so an ihr hängen.«

Vor Jos Augen entstand gerade ein absurdes Bild von Romy Schneider, die an einer riesenhaften Spange hing wie an dem Kiefer einer Monsterspinne.

»Ich habe keine Ahnung von dieser Spange«, sagte Richthofen genervt. »Warum fragst du nicht Pasewalk? Er ist der Hausdetektiv, nicht ich! Wenn einer wissen muss, ob diese Spange, die Frau Schneider angeblich in ihrem Zimmer verloren hat …«

»In 218.«

»Ja, wo sonst. Also, wenn einer weiß, ob die Spange wieder aufgetaucht ist, dann doch wohl Pasewalk.«

»Herr Pasewalk ist aber nicht da. Obwohl er laut Dienstplan da sein müsste. Gerade am Wochenende, Sie wissen ja …«

»Vielleicht ist er krank geworden.«

»Er hat sich aber nicht krankgemeldet. Und gestern war er noch im Dienst, sah auch kein bisschen krank aus.«

Der Portier rollte mit den Augen. »Was bist du jetzt, Silke – Arzt?«

Das Mädchen wurde rot.

Richthofen stieß einen Seufzer aus. »Sag diesem Herrn Büsing …«

»Stahnke.«

»Stahnke, meinetwegen. Sag ihm, wir kümmern uns um die Sache. Herr Pasewalk würde sich bei ihm melden, sobald es etwas Neues gibt. Damit machst du nichts falsch.«

Das Mädchen schürzte die Lippen und schien damit zufrieden. »Danke, Herr Richthofen. Ist ja im Moment keiner da, den ich sonst …«

Richthofens Miene war eine interessante Mischung aus Stolz, ein gefragter Mann zu sein, und dem gespielten Leiden, wegen allem und jedem gefragt zu werden.

Das brachte Jo auf einen Gedanken. Das Mädchen nickte ihm noch einmal zu und eilte hinaus. Jo schaute ihr nach, bis sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, dann wandte er sich wieder an den Portier. »Sie sind ein gefragter Mann, Herr Richthofen.«

»Ein Ruf, den man sich erwerben muss, Herr Kommissar.«

Jo machte einen halben Schritt auf ihn zu. »Sicher auch bei Gästen, oder?«

»Besonders bei Gästen. Ist wie in der Ehe, mit der Zeit lernt man sich kennen.«

»Weiß um die kleinen Geheimnisse und Wünsche, meinen Sie?«

Der Portier zog vielsagend die Brauen hoch.

»Wie war das mit Beringer? Sie kannten ihn seit vielen Jahren.«

Richthofen setzte eine empörte Miene auf. »Wenn Sie denken, dass ich Ihnen mit der schmutzigen Wäsche unserer Gäste diene, haben Sie sich getäuscht. Das habe ich bereits Ihren Kollegen gesagt.«

Anscheinend hatten sich Gerber und Schuchardt damit abgefunden. Das war ihre Sache.

»Ich rede nicht von schmutziger Wäsche, Herr Richthofen«, sagte Jo, indem er jedes Wort betonte. »Sondern von Informationen. Über einen ausländischen Gast, der letzte Nacht ermordet wurde, nachdem er das Savoy, Ihr Hotel, verlassen hat.« Jo sah den Portier direkt an.

Richthofen stieß demonstrativ einen Schnaufer durch die lange Nase. Und gab nach. »Ja, es gab da etwas, das der Gast, Herr Beringer, mir gewissermaßen anvertraut hat.«

»Gewissermaßen?«

»Es war mehr eine Frage, die er an mich richtete. Ein Anliegen. Mit der unmissverständlichen Bitte um Verschwiegenheit.«

Jo nickte ihm auffordernd zu.

»Herr Beringer suchte nach einer bestimmten … Dame. Er hätte durch Zufall von ihr erfahren und würde sie gerne treffen. Ob ich ihm behilflich sein könnte, Adresse und Telefonnummer der Dame für ihn herauszusuchen. Ihr Name sei Louise Müller. Er sprach den Namen mit seinem amerikanischen Akzent, aber ich habe ihn natürlich verstanden.«

Jo legte den Kopf ein wenig schief. »Eine Dame, Herr Richthofen? Wir reden hier vom professionellen Gewerbe, richtig?«

»Ja. Das war mir natürlich sofort klar. Zumal mir eine Dame mit diesem Namen durchaus bekannt war. Sie wohnt auch nicht weit vom Hotel entfernt, in der Kantstraße, und wird daher von einigen unserer Gäste gern zu Hause besucht. Jedenfalls nehme ich an, dass diese Treffen bei ihr zu Hause stattfinden«, stellte er rasch klar. »Es gab nie Klagen seitens der Herren, die Dame ist anscheinend sehr diskret und nennt sich Louise. Französisch, nicht wahr?«

»Französisch, verstehe.« Jo verzog keine Miene und registrierte auch im Gesicht des Portiers nur ein winziges Zucken der Augenlider. »Solche Adressen stehen für gewöhnlich nicht offen erkennbar im Fernsprechbuch, Herr Richthofen.«

»Nein. Aber ich gehe davon aus, dass die Dame behördlich angemeldet ist.« Er riss plötzlich die Augen auf. »Um das klarzustellen, Herr Kommissar: Ich erteile solche Auskünfte nur, wenn ich gefragt werde. Und verdiene keinen Pfennig daran. Ich bin weder an den Geschäften dieser Louise noch irgendeiner anderen aus dem Gewerbe beteiligt.«

»Natürlich nicht, Herr Richthofen.« Jo tippte ganz leicht mit dem Notizblock auf den Arm des Portiers, um ihn in diesem Punkt zu beruhigen. »Wissen Sie noch, an welchem Tag Sie Herrn Beringer Louise Müllers Adresse gegeben haben?«

Er dachte kurz nach. »Am Dienstag, oder nein, sogar schon am Montagvormittag könnte das gewesen sein. Ich bin nicht ganz sicher.«

»Und haben Sie eine Ahnung, wann genau er Louise besucht hat?«

»Ich weiß nicht einmal, ob er sie besucht hat, Herr Kommissar. Er hat mir nicht davon berichtet. Und Sie werden nicht von mir erwarten, dass ich so indiskret bin, einen Gast danach zu fragen.«

»Okay.«

»Wie bitte?«

»Würden Sie mir dann bitte Adresse und Telefonnummer dieser Louise geben?«

Richthofen sah ihn mit reichlich gespieltem Erstaunen an. Jo überlegte kurz, ob der Mann ihn provozieren wollte. »Es erspart mir die Suche«, erklärte er etwas widerwillig.

Richthofen fuhr mit seiner großen Hand in die Brusttasche seiner Livree und zog mit undurchdringlicher Miene ein ganzes Bündel kleiner weißer Zettel heraus. Er ging sie rasch durch und diktierte: »Kantstraße 129, Rufnummer 329 036.«

Jo notierte es, tippte mit dem Stift auf seinen Block und überlegte, ob er Richthofen noch zu weiteren Details befragen sollte. Doch das sollten die Kollegen bereits getan haben. Er entschied sich mehr für eine pauschale Strategie. »Da Sie Beringer so lange und vertraulich kannten, Herr Richthofen, ist Ihnen diesmal, während seines jetzigen Aufenthalts im Hotel etwas an ihm aufgefallen? An seinem Verhalten, seinem Auftreten, seinem Aussehen, wie auch immer?«

Richthofen ließ sich Zeit mit seiner Antwort. »Nein. Er schien mir wie immer.«

»Das heißt?«

»Freundlich und … ernst. Ja, er war ein ernster Mann, würde ich sagen.«

»Verstehe.« Jo klappte bereits sein Notizbuch zu, als ihm das Mädchen aus dem Büro wieder einfiel. »Was ist das übrigens für eine Sache mit Ihrem Hausdetektiv, Herr Richthofen?«, fragte er wie beiläufig.