Der Tote im amerikanischen Sektor - Herbert Beckmann - E-Book
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Der Tote im amerikanischen Sektor E-Book

Herbert Beckmann

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Beschreibung

Spione, Rock ’n’ Roll und Grenzgänger aller Art.

Rock ’n’ Roll in Berlin. Bill Haley spielt 1958 im Sportpalast – und wenig später wird Wulf Herzke, der Starreporter des RIAS, ermordet aufgefunden. Eigentlich kein Fall für Jo Sturm, den Ermittler, den man in die Vermisstenabteilung versetzt hat. Doch als die Tochter einer Bekannten verschwindet und deren Mutter ermordet wird, muss man ihn wohl oder übel hinzuziehen. Denn möglicherweise gab es zwischen der Ermordeten und dem RIAS-Reporter eine Verbindung. Jo Sturm bemerkt bald, dass er zwischen alle Linien gerät ... 

Ein hochbrisanter Fall für einen der ungewöhnlichsten Ermittler der fünfziger Jahre.

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Über das Buch

Während eines Bill-Haley-Konzerts im Berliner Sportpalast stürmen Jugendliche die Bühne. Der Starreporter des RIAS, Wulf Herzke, interviewt anschließend den entnervten Rockstar. Wenig später wird Herzke in einem Waldstück nahe dem Kleinen Wannsee, im Süden des amerikanischen Sektors, erschlagen aufgefunden. Auch für Jo Sturm hat das Bill-Haley-Konzert Folgen, zunächst scheinbar nur privat: Helga, die Tochter von Jo Sturms Vermieterin, sorgt sich um ihre Freundin Grit, mit der zusammen sie das Konzert besucht hat. Seitdem kann sie weder Grit noch deren Mutter Luise Stahns erreichen. Jo findet die Mutter brutal ermordet in ihrer Wohnung, Grit aber bleibt verschwunden. Obwohl sie ihn wegen seiner angeblichen Disziplinlosigkeiten zurück in die Vermisstenstelle versetzt haben, bleibt dem Chef der Mordkommission nichts anderes übrig, als Jo hinzuzuholen. Und bald begreift Jo Sturm, dass es um viel mehr geht als um zwei gewöhnliche Morde.

Über Herbert Beckmann

Herbert Beckmann, Jahrgang 1960, hat zahlreiche Bücher und Hörfunksendungen mit Bezug zu Berlin veröffentlicht, wo er seit 40 Jahren lebt und arbeitet. Mit der Figur »Jo Sturm« wendet er sich den fünfziger Jahren in Berlin zu.

Im Aufbau Taschenbuch liegt bisher sein Kriminalroman »Der Amerikaner« vor.

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Herbert Beckmann

Der Tote im amerikanischen Sektor

Kriminalroman

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Sonntag, 26. Oktober 1958

Dienstag, 28. Oktober 1958

Mittwoch, 29. Oktober 1958

Donnerstag, 30. Oktober 1958

Freitag, 31. Oktober 1958

Samstag, 1. November 1958

Sonntag, 2. November 1958

Montag, 3. November 1958

Dienstag, 4. November 1958

Mittwoch, 5. November 1958

Donnerstag, 6. November 1958

Freitag, 21. November 1958

Epilog

Nachbemerkung

Impressum

Wer von diesem Kriminalroman begeistert ist, liest auch ...

Sonntag, 26. Oktober 1958

Der Stuhl schoss direkt auf ihn zu. Wulf Herzke duckte sich reflexhaft weg. Aus dem Augenwinkel sah er, wie das Geschoss hinter ihm an der riesigen Werbetafel des Schuhhauses Leiser zersplitterte, unmittelbar neben der Konzertbühne. Ein großer schlaksiger Junge in schwarzen Nietenhosen und Lederjacke hatte bereits den nächsten Stuhl in den Händen, um ihn durch die Luft zu schleudern. Sein Gesicht war bleich und wutverzerrt.

»Die Presse – weg von der Bühne! Weg von der Bühne!«, schrien im nächsten Moment wild gestikulierende Polizisten nur ein paar Meter entfernt und versuchten, Herzke und eine Handvoll weiterer Reporter zur Seite zu drängen. Doch beinahe im selben Augenblick wurden die Beamten von einem Pulk aufgebrachter Jugendlicher zur Seite gefegt wie Pappkameraden.

Jetzt würde es kein Halten mehr geben.

Das Chaos brach sich endgültig Bahn. Der Sportpalast explodierte förmlich: Tausende wütende Jugendliche in der riesigen Halle tobten, brüllten wie am Spieß, wollten es nicht hinnehmen, dass ihr Idol sie um ihr Vergnügen betrog.

Auch wenn ihm im Augenblick angst und bange wurde – Wulf Herzke hatte Verständnis dafür. Schließlich hatten diese Jungen und Mädchen für das Konzert bezahlt, zwei Mark fünfzig für diesen Abend. Doch Bill Haley hatte sein ohnehin schon schmales Repertoire an Zweiminutentiteln im Zeitraffertempo durchgepeitscht, so dass er jetzt, nach gut einer halben Stunde, bereits damit fertig war. Keine Zugabe. Nach dem, was ihnen im Vorprogramm geboten worden war, konnten die Fans das nur als Provokation empfinden: Kurt Edelhagen und sein Orchester und ein dicklicher ehemaliger GI namens Bill Ramsey als Sänger.

Doch die Jugendlichen wollten keinen pomadigen Clown in einem karierten Sakko, sondern ihren Bill, den einzig wahren Bill Haley and his Comets. Sie brüllten, trommelten und pfiffen die Edelhagen-Kapelle nieder, waren aufgesprungen, hatten Teile der Bestuhlung herausgerissen, waren damit zur Bühne gerannt und hatten sechzehn entsetzte Musiker mitsamt ihrem »gepflegten Sound« aus dem Saal getrieben.

Die Wut war so groß, dass nicht einmal die zahlreichen Polizisten, die rund um die Bühne postiert waren, den Aufruhr im Saal und den Angriff auf das Edelhagen-Orchester hatten verhindern können.

Umso erstaunlicher, dass das Konzert nicht abgebrochen worden war. Stattdessen waren Haley und seine Kometen offenbar vorzeitig aus dem Hotel am Zoo geholt worden, um die Krawallstimmung unter den »Halbstarken« schnellstmöglich einzufangen. Kurioserweise unterschied sich der etwas füllig gewordene Bill Haley in seinem gestreiften Sakko äußerlich nur unwesentlich von seinem Landsmann, dem Sängerclown Bill Ramsey.

Den Unterschied hatte natürlich die Musik gemacht, vom ersten Ton an. Der elektrisierende, pulsierende Haley-Sound hatte die Gesichter der Jugendlichen aufleuchten lassen, war ihnen wie Stromschläge in die Hüften gefahren, hatte sie aufspringen, kreischen, jubeln und tanzen lassen.

Vor gerade mal fünfzehn Jahren war Goebbels an gleicher Stelle für seinen »totalen Krieg« hysterisch bejubelt worden. Damals war niemand eingeschritten, im Gegenteil. Heute versuchten die Polizisten im Saal, Jugendliche im Zaum zu halten, die lediglich ihren Spaß haben wollten.

Ohne Erfolg, Wut und Enttäuschung waren einfach zu groß.

Mit gesenktem Kopf und ausgefahrenen Ellbogen erkämpfte sich Herzke eine Gasse durch kreischende Jugendliche, durch Polizisten, die Befehle brüllten, auf die niemand hörte, und an versprengten Reporterkollegen vorbei, bis er wieder freien Blick auf die Bühne hatte: Die Musiker hatten bereits ihre Instrumente abgelegt, die Angst vor dem eigenen Publikum stand ihnen ins Gesicht geschrieben. Bill Haley machte sich als Erster aus dem Staub, seine Comets folgten ihm im Laufschritt, geschützt durch einen Kordon aus Polizisten und Sicherheitsleuten des Veranstalters. Der Star des Abends überließ seinen Fans die Bühne. Und massenhaft kaperten die Jugendlichen sie wie Piraten eine heiß begehrte Fregatte, bewaffnet mit Stuhlbeinen und Armlehnen und anderen Resten des Saalmobiliars, das sie zuvor in Stücke zerlegt hatten.

Herzke atmete durch, während er die Szene in sich aufnahm.

Er hatte das Chaos kommen sehen.

Schon im März des Jahres hatte es bei einem Konzert von Johnny Ray Tumulte gegeben, so wie bei vielen anderen Rock ’n’ Rollern. Und Bill Haleys »Rock around the clock« war nicht zufällig der Titelsong von Filmen wie »Saat der Gewalt« und vor allem »Außer Rand und Band«, dessen Aufführungen regelmäßig in Krawallen endeten.

Aber Rübsamen hatte eine Live-Reportage des Haley-Konzerts aus dem Sportpalast ja kategorisch abgelehnt. »Wenn Sie von dem Auftritt dieser amerikanischen Schmalzlocke unbedingt berichten wollen, Herzke, nur zu!«, hatte der Wellenchef ihm höhnisch auf seinen Vorschlag geantwortet. »Schreiben Sie mir einen knackigen Text dazu, nicht zu lang, und wir nehmen ihn mit rein in Ihre Sendung am Montag.«

Simples Texten, das war nicht seine Sache. Und Rübsamen wusste das. Aber in diesem Fall sollte der quallige Wellenchef sich täuschen!

Im Pulk mit einer Handvoll Kollegen von der Tagespresse, die sich ebenfalls durchgekämpft hatten, fand Herzke einen Weg an dem sich auflösenden Kordon der Polizisten vorbei, um Bill Haley hinter die Bühne zu folgen. Der flüchtende Star war bereits vollständig umringt von Sicherheitspersonal, das ihn schützte. Doch plötzlich geschah etwas Unerwartetes. Bill Haley blieb abrupt stehen, als sei ihm gerade in diesem Augenblick etwas ungeheuer Wichtiges eingefallen. Er wirbelte um die eigene Achse, als befände er sich noch auf der Bühne, und rief Herzke und den anderen Reportern mit kalkbleichem Gesicht und zitternder Stimme zu: »Was hier geschehen ist, heute Abend, das ist … es ist eine Schande. – It’s a shame!«, wiederholte er wütend, wandte sich wieder um und ließ sich von seinen Leibwächtern in Sicherheit bringen.

Sinnlos, dem davoneilenden Star weiter zu folgen, entschied Herzke und wandte sich enttäuscht um. Auf der Bühne zerlegten die aufgebrachten Jugendlichen inzwischen Lautsprecher, Mikrofone und verbliebene Instrumente in ihre Bestandteile. Eine kleine Gruppe junger Typen in schwarzen Lederjacken schaffte es mit vereinten Kräften und apokalyptischem Vergnügen, das Klavier zu hieven und mit infernalisch rauschendem Klang auf den Rücken krachen zu lassen. Jetzt sah das Instrument aus wie ein riesiger schwarzer Käfer, vor Schreck erstarrt, die Beine steif zum Himmel hochgestreckt.

Doch inmitten des sich immer noch steigernden Lärms und der entfesselten Randale neben und auf der Bühne spürte Herzke etwas, das ihn plötzlich erstarren ließ. Es war das seltsame und im Grunde absurde Gefühl, beobachtet zu werden – mit tentakelndem Blick von irgendwem inmitten der flammenden Wut so vieler Menschen.

Er sah sich weiter um, suchte Augenpaare im weiten dunklen Rund des Sportpalasts: Augen, von denen er fühlte oder glaubte, dass sie ihn fixierten. Aber er fand sie nicht. Und im nächsten Moment wurde er von einem jungen Paar heftig zur Seite gestoßen, das mit einem Heidenspaß, in der eigenen Parfumwolke schwitzend und stampfend, vor einem Polizisten davontanzte, der es sich offenbar zur Aufgabe gemacht hatte, genau diese beiden Rock ’n’ Roller zu fassen und keine anderen.

Vielleicht, schoss es Herzke durch den Kopf, nachdem er sich mit Mühe hatte fangen und aufrecht halten können, sollte er die Szene als eine Art Räuber-und-Gendarm-Geschichte in seiner Sendung am Montag präsentieren.

Zu diesem Zeitpunkt wusste Wulf Herzke noch nicht, dass es der letzte Bericht sein sollte, den er für seinen Sender schreiben würde. Der letzte Text überhaupt in seinem Leben.

Dienstag, 28. Oktober 1958

Jo Sturm fuhr mit seiner DKW an der Nordseite des Zoologischen Gartens den Landwehrkanal entlang und hielt auf den von den Kollegen abgesperrten Bereich zu. Ein Funkwagen stand quer auf dem Weg, dahinter ein Einsatzwagen der Kriminaltechniker. Er stoppte, stellte das Motorrad ab und ging die letzten Meter zu Fuß.

Dünne Nebelschwaden trieben über die unbewegte dunkle Wasserfläche des Kanals, trüb beleuchtet von den Weglaternen des Tiergartens und dem ersten zaghaften Licht des Tages. Vom Zoogelände drangen tierische Laute herüber, Esel oder Zebras, die um Futter bettelten, wie er vermutete, doch es klang, als wollten sie die Tote beklagen, die ganz in ihrer Nähe aus dem Kanal geborgen worden war.

Zwischen dem halben Dutzend Uniformierter und Kollegen in Zivil glaubte Jo bereits Schuchardt zu erkennen und beschleunigte noch den Schritt, als sich ihm ein Schupo breitbeinig in den Weg stellte.

»Immer langsam, junger Mann.« Der Kollege in blauer Uniform, ein Mann Mitte vierzig, hob die schwarze Lederhand. »Hier ist momentan gesperrt. Aber …«, er deutete nachlässig mit dem Daumen auf das gegenüberliegende Ufer des Landwehrkanals, »Umwege erhöhen bekanntlich die Ortskenntnisse.«

Jo zwang sich ein müdes Lächeln ab. »Wir sind Kollegen.« Er fingerte in der Innentasche seines Regenmantels nach seinem Dienstausweis, fand ihn jedoch nicht. »Ich wurde angerufen. Vermisstenstelle Gothaer Straße. Kommissar Sturm.«

»Vermisstenstelle. Und gleich Kommissar.« Der Schupo zog eine Braue hoch. »So sehen Sie gerade aus, Mann.« Sein misstrauischer Blick glitt von Jos in alle Richtungen abstehenden weizenblonden Haaren über seinen nebelfeuchten Regenmantel bis hinunter zu den hellbraunen italienischen Schuhen, die er sich zu Hause in aller Eile angezogen hatte. »Ich muss schon sagen, ihr Jungs von der Presse lasst euch immer wieder was Neues einfallen, um eine frische Leiche aus der Nähe vor die Linse zu bekommen.« Er sah Jo herausfordernd an. »Wo steckt Ihr Fotograf? Versucht es von der anderen Seite, der Kollege, was? Hab mich schon gewundert, dass noch keiner von euch aufgetaucht ist. Ihr seid doch angeblich so ein ausgeschlafener Menschenschlag. Von welchem Blatt sind wir denn: BZ, Morgenpost, Kurier?«

In der Seitentasche seines Jacketts fand Jo seinen Dienstausweis. Der Schupo warf einen erschrockenen Blick darauf. »Entschuldigung, Kommissar, mir wurde gesagt, dass nur die Ermittler von der Kripo und die KT und der Arzt und so weiter … Aber die sind ja schon alle da.«

»Wie ich schon sagte, ich wurde angerufen.«

Der Schupo trat etwas steif zur Seite, und Jo ging an Funk- und Einsatzwagen vorbei auf die aufgedunsene Leiche zu, die rücklings auf einer grauen Unterlage im fahlen Gras der Uferböschung lag. Umstanden von zwei weiteren Uniformierten, dem Arzt, der sie untersuchte, und Schuchardt, der den Pathologen still beobachtete.

Jo war vor etwa einer Dreiviertelstunde zu Hause angerufen worden. Seine Wohnungswirtin, Frau Küpper, eine notorische Frühaufsteherin, hatte ihn nach einer langen, letztlich aber enttäuschenden Nacht in verschiedenen Clubs der Stadt aus dem Schlaf rütteln müssen. »Jemand aus Ihrer Zentrale, Herr Sturm!«

Schlaftrunken war Jo zum Telefon im Flur gewankt. Der Anruf kam aus der Einsatzzentrale des Präsidiums, eine ihm unbekannte weibliche Stimme teilte ihm in dem üblichen formalen Singsang mit, dass im Landwehrkanal, an der Nordseite des Zoologischen Gartens, die Leiche einer Frau geborgen worden sei, bei der es sich möglicherweise um die vermisste Person Margret Kwiatkowski handele. Der zuständige Ermittlungskommissar Schuchardt erbitte Jos umgehende Anwesenheit am Fundort der Leiche.

»Margret Kwiatkowski«, wiederholte Jo. Er war sofort hellwach. Seit gut einer Woche war die Frau verschwunden, seitdem fahndete er nach ihr.

Dankenswerterweise hatte Petra Küpper bereits frischen Kaffee gebrüht – wenn auch für Markwort, ihren »Bekannten«, einen Schuhvertreter und mehrfachen Familienvater, der zwischen Berlin und Osnabrück pendelte und meist früh aufbrach. Jo hatte zwei Tassen hinuntergestürzt und war am verdutzten Markwort vorbei ins Bad gestürmt, um sich mit ein paar eiskalten Spritzern aus der tröpfelnen Brause frisch zu machen. Noch mit feuchten Haaren war er anschließend in seinem Zimmer in die Sachen vom Vorabend geschlüpft, die noch auf dem Boden verstreut lagen, um wenige Minuten später mit seiner DKW den kürzesten Weg Richtung Zoo zu nehmen. Allerdings wurde er unterwegs durch mehrere Baustellen überrascht, und zudem streikten auch noch die Zündkerzen zweimal, so dass er für die Strecke deutlich länger als gedacht gebraucht hatte.

Als er sich jetzt an den zwei Schupos vorbeischob und auf die Leiche zuging, hob Schuchardt den Kopf und begrüßte ihn mit einem tadelnden Blick.

Schuchardt war ein kleiner dünner Mann mit der Tendenz, dies zu verkennen, sein viel zu langer Mantel hing ihm bis unter die Knie, und der graue Filzhut wurde beinahe von den Ohren gestützt. Die Spitzen seiner langen schmalen Krawatten ließ er gewöhnlich in der Hose verschwinden. Groß und beeindruckend waren jedoch Schuchardts walnussgroße, wasserblaue Augen und das Delta roter Äderchen auf seiner langen Nase.

»Wo haben Sie denn gesteckt, Mensch?« Schuchardt reichte ihm etwas ungehalten die Hand. »Der Doktor hier ist beinahe schon fertig mit der Dame.«

Der Arzt, ein korpulenter Mann in seinen Fünfzigern, mit spärlichem Haar und einem weiten weißen Kittel über seinem Mantel, blickte nicht einmal auf. Er gehörte vermutlich zum nächtlichen Bereitschaftsdienst der Pathologie des Krankenhauses Moabit und war vielleicht kurz vor Dienstschluss noch gerufen worden.

Jo warf einen Blick auf die Leiche und versuchte, die sachliche Haltung einzunehmen, die es ihm ermöglichte, den Anblick zu ertragen und ihn hoffentlich bald wieder zu vergessen: eine Frau zwischen fünfzig und sechzig Jahren, deren individuelle Züge Wasser und Verwesung bereits weitgehend aus dem Gesicht gelöscht hatten, in einem dunklen, jetzt vollkommen verfilzten und verdreckten Wollkleid. Grau meliertes, stark verklumptes schulterlanges Haar, zu Lebzeiten möglicherweise zu einem Knoten oder Ähnlichem zusammengebunden. Leere Augenhöhlen blickten zum trüben Himmel hinauf, vielleicht das Ergebnis von Wasserschnecken oder Blutegeln. Die Haut an den Händen und nackten Beinen schimmerte wächsern und aschgrau, selbst in dem grellen Licht der von den Technikern aufgestellten Lampen.

Jo hob den Blick und sah Schuchardt an. »Margret Kwiatkowski? Vom Alter her könnte sie es sein.« Jahrgang 1906 laut Meldeauskunft. Die in ihrer Wohnung aufgefundenen Fotografien von ihr, die er in der Vermisstenakte gesammelt hatte, waren hier bereits nutzlos geworden. »Aber wie kommen Sie darauf, dass sie es sein könnte?«

Schuchardt deutete mit dem Kinn auf den Einsatzwagen der Techniker. »Ihr Mantel hing noch an einem Arm, als Passanten sie heute früh entdeckten, zwei Tierpfleger auf dem Weg zur Arbeit, hab sie bereits vernommen. In der Innentasche des Mantels steckte der Behelfsmäßige der Frau. Margret Kwiatkowski demnach. Aber man weiß ja nie.«

Jo warf wieder einen Blick auf die Leiche. »Mit dem Ausweis im Mantel vorschriftsmäßig ins Wasser gegangen?« Er sprach aus, was sich vermutlich auch Schuchardt fragte: Fremdeinwirkung oder nicht? Mord oder Selbstmord?

Schuchardt zog Jo ein paar Schritte zur Seite. »Ich konnte dem großen stillen Mann dort, unserem Doktor, ein paar Worte entlocken.«

»Glückwunsch. Und?«

»Auf den ersten Blick keine äußeren Gewalteinwirkungen, abgesehen von den Hautverletzungen, Abschürfungen und so weiter, die bei einer Wasserleiche erwartbar sind. Und da ihr Name auf Ihrer Vermisstenliste der letzten Tage stand …«

»Sie haben sich die Liste angesehen?« Jo neigte anerkennend den Kopf. Nicht alle Mordermittler nahmen zeitnah Kenntnis von seinen aktuellen Suchanzeigen, die auch hausintern kursierten. Obwohl die Vermissten in Berlin auf seiner Fahndungsliste keineswegs selten als Mordfälle endeten.

»Routineabfrage«, gestand Schuchardt. »Keine große Sache.«

Jo hatte Schuchardts unprätentiöse Art bereits im letzten Jahr kennen- und schätzen gelernt, als man ihn – wegen seiner Englischkenntnisse – zum Fall Beringer, dem Mord an einem Amerikaner, hinzugezogen hatte. Seine Hoffnung, dauerhaft als Mordermittler arbeiten zu können, war jedoch vom Leiter der Mordabteilung, Granzow, brüsk abgelehnt worden. »Nicht in meiner Mannschaft. Nicht unter meiner Leitung, Sturm!« Jos Disziplinlosigkeiten und Alleingänge hätten ihn für diese Aufgabe disqualifiziert.

»Margret Kwiatkowski«, nahm Schuchardt den Faden auf, »Ihre vermisste Person – hatte sie Motive zum Selbstmord? Oder ist sie vor irgendwem davon, der sie eventuell erwischt und ins Wasser befördert hat? Was denken Sie?«

»Nach dem, was ich über sie weiß, weder-noch«, antwortete Jo und rief sich die Aussage von Helene Böhnke, der Wohnungsnachbarin der Vermissten, in Erinnerung. Demnach schien sie weder ausreichend Gründe gehabt zu haben, sich umzubringen, noch von jemandem bedroht oder verfolgt zu werden.

Margret Kwiatkowski, zweiundfünfzig Jahre alt, alleinstehend, wohnte recht ärmlich in einer Weddinger Einzimmerwohnung. Am Donnerstag letzter Woche war sie von ihrem Arbeitgeber, einem pensionierten Richter, dem sie den Haushalt führte, als vermisst gemeldet worden. Sie sei bereits den dritten Tag in Folge nicht bei ihm erschienen. Eine Nachbarin im Haus, Helene Böhnke, Witwe und wie Margret Kwiatkowski in ihren Fünfzigern, hatte diese am Dienstag zuletzt gesehen, als Kwiatkowski wie jeden Tag um halb acht ihre Wohnung verlassen hatte. Die Nachbarin hatte im Hof den Ascheimer geleert und war Margret Kwiatkowski auf dem Rückweg im Treppenhaus begegnet. An Selbstmord mochte Helene Böhnke jedoch nicht denken, auch wenn sich Margret, mit der sie sich als Nachbarin und als etwa gleichaltrige Frau gut verstanden habe, von dem pensionierten Richter sehr schlecht behandelt gefühlt habe. Den Kontakt zu ihrer Herkunftsfamilie in Schlesien, so die Nachbarin, habe Margret schon vor vielen Jahren kriegsbedingt verloren, und verheiratet sei sie nie gewesen.

Jo schaute wieder zu der Frauenleiche im Gras hinüber, der Arzt hatte sich erhoben und kam nun auf sie zu. Er wandte sich an Schuchardt: »Unter der Annahme, dass sie freiwillig ins Wasser gegangen ist, weiter keine Auffälligkeiten bisher. Die Verletzungen an der Haut können die Folge von Tierfraß oder Steinen et cetera sein. Für ein paar Laborwerte nehme ich sie mit in die Pathologie. Aber ich erwarte nichts Weltbewegendes, offen gesagt.«

»Lässt sich sagen, wie lange sie bereits tot ist?«

»Eine gute Woche. Grob geschätzt, ohne Gewähr.«

Schuchardt sah Jo an. Der Zeitraum deckte sich in etwa mit dem Verschwinden von Margret Kwiatkowski.

Der Arzt nickte den beiden Ermittlern zu, machte kehrt und veranlasste dann den Abtransport der Leiche.

Vom Zoo drangen neue Tierlaute herüber, es hörte sich an wie das Heulen von Wölfen.

Jo war nachdenklich geworden. »Wenn verlässliche Hinweise fehlen«, sagte er zu Schuchardt, »frage ich die Angehörigen auch nach Plätzen, an denen sie sich gern aufhielten. Manche von ihnen wählen diese Orte, um sich umzubringen.«

Schuchardt sah zu der toten Frau hinüber, für die soeben der Leichensack entfaltet wurde, und stieß einen leisen Seufzer aus. »Und sie hier, Margret Kwiatkowski, falls sie es denn ist?«

»Hatte eine Jahreskarte für den Zoo.« Jo warf einen Blick in die Richtung, aus der mit einer leichten Windböe nun auch ein strenger Wildgeruch heranwehte. – Oder war das der stechende Geruch fortgeschrittener Verwesung? »Die Jahreskarte, meinte die Nachbarin, sei der einzige Luxus, den sie sich gegönnt habe«, fügte Jo noch aus der Erinnerung hinzu.

»Vierundzwanzig Mark«, sagte Schuchardt fast mechanisch.

»Wie?« Jo sah ihn verblüfft an.

»Eine Jahreskarte für den Zoo. Vierundzwanzig Mark kostet sie. Ich habe auch eine.«

Kein Grund, rot zu werden, dachte Jo, auch nicht für einen gestandenen Ermittler, und er erwiderte Schuchardts verschämtes Lächeln.

Auf dem Weg ins Präsidium hielt er gegenüber der Ruine der Gedächtniskirche an der in aller Herrgottsfrühe öffnenden Konditorei Schilling. Er kaufte sich auf die Schnelle zwei belegte Brötchen und stopfte sie draußen auf dem noch fast menschenleeren Trottoir hungrig in sich hinein. Erst nach einer Weile, als er sich bereits eine Zigarette angesteckt hatte, die erste des Tages, wurde ihm klar, dass er dabei die ganze Zeit auf das Café nebenan starrte, das noch geschlossen hatte. Schlagartig wurde ihm bewusst, warum er das getan hatte. Aus dem gleichen Grund, warum er sich letzte Nacht nach seinem Besuch in der »Badewanne« in der Nürnberger Straße am Ende in einem weiteren Jazzclub, der »Eierschale« am Breitenbachplatz, wiedergefunden hatte. Beides mit enttäuschendem Ergebnis. Denn er hatte Lore Decker weder in dem einen noch in dem anderen Club angetroffen. Was durchaus erklärlich war, denn sie lebte im Ostteil der Stadt, und ihre Leidenschaft für den Jazz galt den Kulturbonzen in Partei und Staatsapparat drüben als Zeichen westlicher Dekadenz. Eine gefährliche Schwäche für eine ostdeutsche Musikjournalistin. Gut möglich also, dass Lore es aus diesem Grund nicht weiterhin riskieren wollte, heimlich den »demokratischen Sektor« zu verlassen, um im Westen dekadente Freiheiten zu genießen. Und sei es nur für wenige Stunden.

Vor einem Jahr, erinnerte sich Jo, hatten sie sich hier im Café Schilling gesehen, nachdem sie sich vorher zufällig im Odeon-Musikhaus am Ku’damm über den Weg gelaufen waren. Er musste über sich selbst den Kopf schütteln, dass ihm eine irgendwie verschüttgegangene Frau aus dem Osten immer noch in den Sinn kam, obwohl er sie schon so lange nicht mehr gesehen hatte. Dabei bestand, was Frauen betraf, an attraktiven Alternativen in Westberlin aus seiner Sicht kein Mangel. Problematisch wurde es für ihn erst, wenn es drohte, »ernst« zu werden, wenn aus einem Verhältnis etwas »Festes« werden sollte. Nein, er war nicht der Typ dafür. Ihm reichten die Erinnerungen an das Eheleben seiner Eltern und die Erfahrungen, die er als Kind mit ihnen gemacht hatte.

Er rauchte die Zigarette zu Ende und trat den Stummel auf dem Trottoir aus. Als er sich umwandte, um sein Motorrad zu starten, fiel sein Blick auf die Reklame des Gloria-Palasts. Sie zeigte Jeanne Moreaus schönes, herbes Gesicht, überlebensgroß in »Fahrstuhl zum Schafott«. Er hatte den Film vor Kurzem das zweite Mal gesehen. Weniger wegen der Krimihandlung, die er ja nun schon kannte, sondern wegen der unglaublich suggestiven Musik von Miles Davis. Helen, eine im US-Hauptquartier in Dahlem stationierte Amerikanerin, mit der er sich auf unkomplizierte Weise angefreundet hatte, seitdem sie sich vor einem Jahr das erste Mal begegnet waren, hatte ihn begleitet. »Great movie, great music«, hatte sie ihm ins Ohr geflüstert und war an seiner Schulter eingeschlafen.

Auf dem weiteren Weg in die Gothaer Straße folgte Jo auf seiner DKW eine Weile einem Bus mit wirbelnder Auspufffahne, dessen Werbung für Pfefferminz-Kaugummi ihm empfahl: »Hol tief Luft!« Als er keine zehn Minuten später beschwingt das Foyer des Präsidiums betrat, erfrischt von der morgendlichen Motorradtour durch das Zentrum der Stadt – oder das, was Westberlin daraus gemacht hatte –, fielen Hoyer hinter seinem verglasten Empfang beinahe die Augen aus den verquollenen Höhlen: »So früh heute, Herr Sturm? Ist ja noch keine acht Uhr. Sind Sie krank oder wie?«

Jo erwiderte Hoyers freundliches Lachen, ließ den Fahrstuhl links liegen und stürmte das Treppenhaus hinauf.

Im dritten Stock klopfte er bei Lene Spohn, die wie üblich früh im Dienst war. Er steckte seinen Kopf durch den Türspalt und warf ihr ein »Guten Morgen« zu.

Die Sekretärin der Abteilung V, das Laien oft als lateinisch für fünf auslegten, das jedoch für »Vermisste« stand, tippte hochkonzentriert ein Dokument, hob nur eine Sekunde lang die rechte Hand, um ihn zu grüßen, ohne jedoch auf- oder gar zu ihm hinzublicken.

Er ließ sie in Ruhe und war bereits auf dem Weg zu seinem Zimmer am Ende des Flurs, als die Tür des Sekretariats wieder aufflog und Lene heraustrat: »Hör mal, Jo«, rief sie ihm hinterher, »der Schuchardt von oben, aus der Fünften, hat vorhin angerufen und nach der Vermisstenakte Kwiatkowski, Margret, gefragt. Ich habe sie ihm raufgeschickt, weil er sagte, er hätte das mit dir abgesprochen. Hatte wohl angenommen, dass du schon im Haus bist.«

Jo signalisierte ihr, dass das in Ordnung gehe. »War vorhin mit ihm am Landwehrkanal. Leichenfundort, gleich hinterm Zoogelände.«

»Ach, wie idyllisch.« Lene Spohn war bekannt und bei manchen gefürchtet wegen ihres kantigen Humors. »Und ist sie es: Margret Kwiatkowski?«

»Der erste Anschein spricht dafür. Der alte Mann, dem sie den Haushalt geführt hat, ist nicht transportfähig. Ihre Nachbarin muss sie identifizieren.« Die Aufgabe, sie darum zu bitten, stand ihm jetzt bevor. Solange noch nicht zweifelsfrei feststand, um wen es sich bei der Toten aus dem Landwehrkanal handelte, musste der Fall Margret Kwiatkowski als Vermisstensache behandelt werden. Sollte die Nachbarin die Identität bestätigen, endete Jos Job, und Schuchardt würde alleinverantwortlich übernehmen, so waren die Spielregeln.

Lene machte ein ernstes Gesicht und verschwand wieder in ihrem Zimmer. Jo wollte bereits den Weg zu seinem winzigen Büro hinten fortsetzen, als die Tür des Zimmers geöffnet wurde, auf dessen Höhe er sich gerade befand, und Mattuschs große schlanke Gestalt darin erschien. Sein dunkler Zweireiher saß perfekt, sein langes Pferdegesicht unter der wohlfrisierten nussbraunen Wasserwelle glänzte vor Aftershave und noch mehr vor Selbstgefälligkeit.

Jo und Mattusch, der gut zehn Jahre älter sein mochte als er, sie hatten sich von Anfang an nicht ausstehen können. Und in diesem Moment standen sie sich so frontal gegenüber, wie es ihrem Verhältnis zueinander entsprach.

Nach Wondraschs überraschendem Tod im letzten Jahr – wenige Jahre vor seiner Pensionierung war er Opfer der asiatischen Grippe geworden – hatte Mattusch die vakante Stelle als Chef der Vermisstenabteilung erhalten. Jo war aus allen Wolken gefallen, als er begriff, dass Mattusch auch der Mann war, der seine Nachfolge an der Seite von Ilse Bonneur angetreten hatte. Und während Ilse Jo noch nachtrug, dass er nie ernste Absichten mit ihr gehabt habe – was nur stimmte, wenn man darunter wie sie die Gründung einer Familie verstand –, verhielt sich Mattusch ihm gegenüber, als wäre er immer noch mit ihr zusammen. Dabei hatte Jo beobachten können, dass sein neuer Vorgesetzter zur selben Zeit mit Ilses Kollegin Gisela Stolze angebändelt hatte. Wahrscheinlich schnitzte er sich zu Hause Markierungen in seine Bettpfosten. Wer im Augenblick seine Favoritin war, Ilse oder die Stolze, hatte Jo nicht weiterverfolgen können. Da die Prostitutionsüberwachung neuerdings von den Ordnungsämtern übernommen wurde, war die »Sitte«, für die Ilse und ihre Kollegin zuletzt gearbeitet hatten, im Sommer ausgezogen. Jo hatte Ilse seitdem nicht mehr gesehen.

Mattusch kniff übertrieben die Brauen zusammen. »Was lärmen Sie denn auf dem Flur herum, Sturm? Brennt es?«

»Sicher«, gab Jo zurück, indem er seinen Weg bereits fortsetzte. »Irgendwo in Berlin brennt es ja immer.« Nicht sehr originell, wie er sich eingestehen musste, aber hin und wieder tat es ganz gut, das letzte Wort zu haben.

In seinem Zimmer fiel ihm ein, dass die Telefonnummer von Helene Böhnke, Margret Kwiatkowskis Nachbarin, mit der Vermisstenakte zusammen den Weg zu Schuchardt angetreten hatte. Er schlug sie im Telefonbuch auf seinem Schreibtisch nach und rief gleich bei ihr an. Er erklärte ihr die Sache so schonend wie möglich. »Wir haben Margret Kwiatkowskis Personalausweis bei der Toten gefunden. Aber es besteht selbstverständlich die Chance, dass sie es nicht ist. Sie könnten uns helfen, einen Irrtum auszuschließen, Frau Böhnke.«

Er hörte die Frau schlucken und offenbar sekundenlang den Atem anhalten. »Muss es … muss das sofort sein?«, stieß sie schließlich hervor.

»Es würde uns sehr helfen.« Er schwieg davon, dass der Pathologe danach aufgrund gerichtlicher Anordnung mit der Leichenöffnung beginnen konnte. »Die Tote …«, formulierte er mit sehr viel Bedacht, »befindet sich in der Pathologie des Krankenhauses Moabit. Ich kann Sie abholen, Frau Böhnke, wenn Sie möchten. Ich könnte in einer Stunde bei Ihnen sein. Okay?«

»Wie bitte?«

»In einer Stunde. Wäre Ihnen das recht?«

»Ach, das ist nicht nötig, danke«, sagte sie mit schleppender Stimme. »Sind ja nur ein paar Stationen mit dem Bus bis Moabit.«

»Sind Sie sicher?«

»Aber ja.«

»Gut. Dann treffen wir uns vor dem Krankenhaus«, schlug er vor. »Ich warte auf Sie vor dem Eingang in der Turmstraße. Eventuell wird noch ein Kollege dabei sein.«

»Ist gut«, sagte sie bedrückt.

Nichts war gut. Er sammelte sich ein paar Sekunden lang und rief dann in der Pathologie an, um sich und die Zeugin anzukündigen. Der Termin wurde wie üblich problemlos bestätigt. Anschließend wählte er Schuchardts Dienstnummer. Er ließ es ein paarmal klingeln und wollte bereits auflegen, als doch noch abgehoben wurde.

»Gerber, Apparat Schuchardt.«

Gerber teilte sich das Büro mit dem Kollegen. Jo grüßte und fragte nach Schuchardt.

»Der Kollege ist mal für kleine Jungs.«

Typisch Gerber, es war ihm beinahe unmöglich, keinen Spruch auf was auch immer abzusondern.

»Ich rufe später wieder an«, entschied sich Jo.

»Großes Geheimnis zwischen euch, was? Worum geht’s denn, wenn man fragen darf?«

Jo berichtete ihm in aller Kürze von dem Vermisstenfall Kwiatkowski, der sich offensichtlich in einen Selbstmord- oder gar Mordfall gewandelt hatte.

»Und was denken Sie?«, fragte Gerber.

»Ich frage mich, was die Frau den ganzen Tag über gemacht hat, als sie verschwand.« Die Frage beschäftigte ihn schon seit dem Leichenfund heute früh.

»Was meinen Sie?«

»Den bisherigen Aussagen zufolge muss sie morgens gegen halb acht ihre Wohnung verlassen haben, ist an dem Tag aber bei ihrem Arbeitgeber, dem alten Richter, nicht mehr aufgetaucht.«

»Und?«

»Die Frau hätte nicht am schon hellen Morgen ins Wasser gehen können, ohne von anderen bemerkt zu werden. Um die Zeit ist die Stadt voller Menschen, die unterwegs sind, auch am Landwehrkanal. Bei Selbstmordabsicht hätte sie also warten müssen, bis es dunkel wurde, am besten bis in die tiefe Nacht, um nicht gegen ihren Willen gerettet zu werden. Aber was hat sie in den Stunden bis dahin gemacht? Warum, wenn sie schon entschlossen war, sich umzubringen, ist sie nicht ein paar Stunden früher von zu Hause los, um sich an ihrer Lieblingsstelle in den Landwehrkanal zu werfen?«

»Gute Frage«, attestierte Gerber. »Vielleicht war sie noch gar nicht so entschlossen zum Selbstmord, wie Sie sich das vorstellen.«

»Möglich. Aber dann stellt sich die Frage genauso«, erwiderte Jo. »Was hat die Frau in den verbliebenen Stunden bis zu ihrem Tod getan? Wo hat sie sich aufgehalten? Wem ist sie möglicherweise in dieser Zeit aufgefallen?«

»Hm, na, das soll Schuchardt klären«, entschied Gerber. »Symbolträchtiger Ort übrigens, wo sie gefunden wurde«, schob er auf einmal nach.

»Inwiefern symbolträchtig?«

»Man sieht’s mir nicht an, aber mein Vater war Kommunist. Durch und durch. Und bevor er von Kommunisten erschossen wurde, in den letzten Kriegstagen in Berlin, eine Art Missverständnis, würde ich sagen, war er glühender Anhänger der Rosa Luxemburg. Für ihn beinahe eine Heilige, eine Art Roter Engel, wenn Sie verstehen.«

»Was wollen Sie sagen, Herr Gerber?« Jo war nicht sicher, ob Gerber ihn auf den Arm nahm.

»Wenn ich den Worten meines Vaters glauben darf, und das soll man ja, besonders wenn der Vater tot ist, dann wurde auch Rosa Luxemburgs Leiche dort gefunden oder ins Wasser geworfen, wo jetzt Ihre Wasserleiche aufgetaucht ist.«

»Interessant«, sagte Jo ohne jeden Schwung, und Gerber musste lachen. »Moment, da kommt Schuchardt«, hörte er ihn sagen und offenbar den Hörer abgeben. »Für dich, Rudi. Unser junger Wirbelwind vom dritten Stock.«

»Ja, Schuchardt?«

Jo berichtete ihm von dem Termin in der Pathologie, doch Schuchardt verzichtete darauf, dabei zu sein. »Sagen Sie mir später, was dabei herausgekommen ist. Dann sehen wir weiter.«

Sie legten auf.

Jo hatte Lust auf eine Zigarette, bevor er loszog, um die Zeugin vor dem Krankenhaus in Empfang zu nehmen. Er fingerte die fast leere Schachtel Camel aus der Jackentasche und zündete sich eine an. Seit Schwarzmarktzeiten hatte er immer wieder Möglichkeiten gefunden, um sich die »Ami«-Zigaretten stangenweise zu besorgen. Er nahm einen tiefen Zug und blickte zu der kleinen Wanduhr hoch, die über der Peggie hing, seinem kleinen braunen Kofferradio, das auf dem Aktenschrank thronte. Gleich halb neun.

Doch er nahm die Uhrzeit kaum zur Kenntnis.

Denn das Radio – war verschwunden. Es stand nicht mehr auf dem Schrank.

Er griff zum Telefon.

»Spohn.« Lenes rauchige Stimme.

»Lene, ich vermisse meine Peggie.«

»Peggie? Kann mich nicht erinnern, dass du die Dame schon mal erwähnt hast.«

Jo verdrehte die Augen. »Mein Kofferradio im Büro, Lene: Peggie, Marke Akkord.«

»Schon klar.« Sie lachte und wurde schnell wieder ernst. »Sag, hast du das denn nicht mitbekommen, Jo?«

»Was nicht mitbekommen?«

»Die neue Dienstanweisung von Mattusch. Keine Radios mehr in den Dienstzimmern, die nicht Eigentum der Polizei sind.«

»Eigentum der Polizei – was ist das für ein Schwachsinn, Lene?«

»Stand im letzten Rundbrief für die Abteilung.«

»Den Punkt muss ich übersehen haben.« Er hatte die engzeilig getippten Blätter wie üblich nur überflogen.

»Private Radios sind in den Dienstzimmern ab sofort nicht mehr erlaubt.«

»Aber alle hier hören Radio in ihren Zimmern. Du doch auch, Lene.«

»Jetzt nicht mehr. Ich habe meines inzwischen mit nach Hause genommen. Und die Kollegen ihre Geräte wohl auch.«

»Aber wieso ist meines auf einmal weg? Ohne Benachrichtigung, was damit passiert ist?«

»Könnte mir vorstellen, dass Mattusch Pohlenz, den Technikwart, angewiesen hat, zu kontrollieren, ob noch welche in den Zimmern stehen.«

»Ein Technikwart, der in meiner Abwesenheit mein Büro filzt wie eine Knastzelle?« Er stockte und sah sich kurz um. »Obwohl es Ähnlichkeit damit hat.«

Lene lachte kurz auf. »Ich denke, Pohlenz würde sich für so etwas hergeben. Der Mann ist nicht ganz koscher, wenn du mich fragst.«

Jo stimmte ihr zu, er hatte schon einige unangenehme Begegnungen mit Pohlenz gehabt. Der Mann war für die Haustechnik und Geräte aller Art zuständig und tat Jo gegenüber gerne so, als würde er ihn gar nicht kennen, obwohl er schon mehrfach in seinem Zimmer den Heizkörper hatte justieren müssen.

»Ich wette, Pohlenz weiß, was aus deinem Radio geworden ist«, bekräftigte Lene. »Außerdem hat er für Notfälle Zugang zu den Zimmerschlüsseln.«

Jo würde sich später darum kümmern. Er legte dankend auf, angelte seinen Regenmantel von dem Garderobenständer und war fürs Erste froh, das Zimmer, die Abteilung, das ganze Haus verlassen zu können. Auch wenn der Anlass alles andere als angenehm war.

Jo wartete eine halbe Stunde vor dem roten Backsteinkoloss des Moabiter Krankenhauses und tadelte sich bereits dafür, nicht darauf bestanden zu haben, Helene Böhnke von zu Hause abzuholen, als er sie endlich doch aus einem Bus auf der gegenüberliegenden Straßenseite aussteigen sah. Die Fußgängerampel schaltete schon wieder auf Rot, ehe die Frau breithüftig watschelnd die Fahrbahn überquert hatte. Abbiegende Pkw rollten ungeduldig auf sie zu, doch sie ließ sich nicht beirren, schaute nicht einmal zur Seite. Helene Böhnke gehörte wie Margret Kwiatkowski zu den Frauen, die zwei Kriege überlebt hatten, über die sie nur selten sprachen. Seine eigene Mutter, die bei seiner Schwester in Weimar lebte, hatte die Erfahrung von Krieg und Nachkrieg äußerlich zäh und innerlich hart gemacht. Sie war jedes Mal wie versteinert, sobald das Thema aufkam. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass er die beiden Frauen schon seit mindestens zwei Jahren nicht mehr gesehen hatte. Die Begegnungen waren immer schwieriger geworden, für ihn als Polizisten war ein offizieller Besuch im Osten ausgeschlossen, und die DDR-Führung witterte hinter jedem Besuch ihrer Bevölkerung im Westen eine Straftat, seit Dezember letzten Jahres galt schon die vermeintliche Vorbereitung von »Republikflucht« als strafbar.

Helene Böhnke begrüßte Jo mit einem ernsten Nicken und ließ sich scheinbar teilnahmslos durch das Hauptgebäude des Krankenhauses über das weitläufige Gelände zur Pathologie führen, die beinahe schon an der Birkenstraße lag. Hin und wieder stieß sie währenddessen eine Art Schnaufen aus, das eher unwillig als verstört klang.

Im Haus L, in dem sich die Pathologie befand, wies sich Jo im sogenannten Annahmeraum gegenüber einem Pfleger in einem blauen Kittel aus, der ihn und die Zeugin wortlos in den angrenzenden Kühlraum führte. Dort lagerten auf vier Etagen bei minus zwanzig Grad etwa zwei Dutzend Leichen aus ganz Westberlin. Der Pfleger schob einen Hubwagen, der im Weg stand, beiseite und zog ein Paar weiße Handschuhe aus seinem Kittel, die er rasch und routiniert überstreifte. Anschließend kontrollierte er einen Zettel, der an dem herausragenden großen Zeh einer Leiche befestigt worden war, die sich unter einem weißen Tuch vorne rechts in einem Fach in mittlerer Höhe befand.

»Frau, circa fünfzig, Fundort Landwehrkanal, Höhe Zoologischer Garten, heutiges Datum?« Er warf Jo einen fragenden Blick zu.

»Richtig.«

Der Pfleger zog den Hubwagen wieder heran, schob die Leiche mitsamt der Schiene, auf der sie lag, darauf, entfernte das Tuch in Kopfhöhe des toten Körpers und trat einen Schritt zurück.

Jo hatte eine solche Situation in den letzten Jahren schon häufig erlebt und wusste, dass er sich niemals daran gewöhnen würde. Dieser buchstäblich und im übertragenen Sinn kalte Blick auf den Tod, die banal wirkende Ansammlung toter Körper und die Vorstellung, dass auch er eines Tages so enden würde, ging noch jedes Mal über seinen Verstand. Was ihm half, um die Situation durchzustehen, war, sich um die Zeugin zu kümmern. Als er feststellte, dass die kleine korpulente Frau neben ihm trotz ihres dicken Wollmantels und des grauen Filzhuts am ganzen Körper zitterte, legte er einen Arm um ihre Schultern und führte sie behutsam Schritt für Schritt an die Leiche heran.

Helene Böhnke wurde kreidebleich beim Anblick des aufgedunsenen grauen Gesichts mit den leeren Augenhöhlen.

»Wir können jederzeit abbrechen, Frau Böhnke«, bot Jo besorgt an.

Sie griff rasch in ihre große schwarze Handtasche, die sie krampfhaft hielt, und holte ein besticktes Taschentuch heraus, das sie an ihre fahlen Lippen presste. Plötzlich aber streckte sie die Hand aus, und Jo dachte bereits, sie wolle die Tote berühren, doch sie deutete nur mit dem entfalteten Taschentuch darauf und nickte schwach. »Ja, sie ist es. Margret.«

Jo sah ihr in die Augen. »Sind Sie ganz sicher?« Die Leiche hatte tagelang im Wasser gelegen, ihr Gesicht keine Ähnlichkeit mehr mit ihrem eigenen Passbild.

»Ja, das ist Margret.« Sie deutete auf den Kopf. »Sie hat ein großes … ein Muttermal unter dem Ohr … Ohrläppchen, ich kann … einen Teil davon erkennen.«

Jo bat den Pfleger mit einem Blick, die Stelle am Ohr besser sichtbar zu machen, was dieser wortlos mit einem geübten Griff tat. Tatsächlich kam jetzt vollends ein etwa pfenniggroßes blassbraunes Muttermal zum Vorschein, dessen Anblick Helene Böhnke sichtlich erschütterte, so dass sie ihr Taschentuch auf ihre Augen pressen musste. »Ich möchte gehen«, stieß sie hervor. »Bitte, ich …« Doch sie wartete nicht darauf, dass Jo sie hinausführte, sondern wandte sich mit tief gebeugtem Kopf ab und tippelte, das Taschentuch vor Augen, wie eine Blinde in Richtung Ausgang.

Jo beeilte sich, ihr die Tür zu öffnen, und registrierte zugleich, dass der Pfleger die Leiche bereits wieder in das Fach schob. Helene Böhnke machte auch nebenan im Annahmeraum nicht halt, sondern trachtete nur noch danach, hinauszukommen, um im Flur tief durchzuatmen.

Ein Arzt und eine Krankenschwester traten aus einem der vorderen Räume und verschwanden gleich gegenüber. Sonst war der Flur, hier im Haus der Toten, im Augenblick menschenleer.

Jo führte Helene Böhnke zu einer schmalen Holzbank in der Nähe und setzte sich neben sie. Sie atmete jetzt ruhiger. Dann richtete sie ihre wässrigen grauen Augen auf ihn. »Wissen Sie, dass ich hier meinen Mann verloren habe?«, sagte sie mit gebrochener Stimme.

Jo sah sie erschrocken an. »In diesem Krankenhaus?«

»Ja, hier.«

Jo legte seine verfrorene Hand auf ihre, die ebenso eiskalt war. »Danke, dass Sie trotzdem hergekommen sind, Frau Böhnke.«

Sie machte eine schwache Geste mit dem Taschentuch.

Nach einigen Minuten des Schweigens nebeneinander auf der Sitzbank verließ er mit ihr das Gebäude.

Vor dem Haupteingang, auf dem Trottoir der Turmstraße, die jetzt sehr belebt war, winkte er für sie ein Taxi heran und verabschiedete sich von ihr.

Die Aussicht, dass sich schon sehr bald sein Kollege Schuchardt bei ihr melden würde, ersparte er ihr noch.

Zurück im Präsidium suchte Jo als Erstes nach Pohlenz, dem Technikwart. Hoyer vermutete den jungen Kollegen in seinem Kabuff am Ende des langen Flurs im Erdgeschoss und hatte recht damit. Das Zimmer lag exakt unter seinem im dritten Stock und war daher auch genauso eng geschnitten, stellte er fest, als er nach kurzem Klopfen eintrat. Das stimmte ihn für eine Sekunde versöhnlicher. Doch in der nächsten wurde ihm klar, dass der satte Klang von Freddy Quinns Schlagerstimme, die mit der Drohung, »bald wieder hier« zu sein, den kleinen Raum erfüllte, einem Transistorradio zu verdanken war, das eine verdächtige Ähnlichkeit mit seiner Peggie hatte: Kaum größer als ein handliches Buch, in kaffeebraunes Leder gekleidet, thronte es auf Pohlenz’ schmalem Arbeitstisch inmitten eines Sammelsuriums von Kleinwerkzeugen, zerknüllten Servietten, Schrauben, Zigarettenschachteln, Nägeln und Resten von Brotmahlzeiten.

Pohlenz stand in seinem abgenutzten hellblauen Arbeitskittel vor einem geöffneten grauen Stahlschrank und warf dem eintretenden Jo über die Schulter hinweg einen mürrischen Blick zu.

»Und Sie sind?« Pohlenz’ dummes »Wer-sind-Sie-gleich-noch?«-Spiel.

Jo ignorierte es und deutete nur nachlässig auf seine Peggie. »Schönes Radio.«

Pohlenz schwieg, wurde aber plötzlich rot.

»Hat nur einen Fehler«, fuhr Jo fort.

»Fehler?« Pohlenz wandte sich ihm erst jetzt ganz zu und klatschte eine Hand auf die dunkelblonde Haarwolle seines Scheitels. »Wüsste nicht, welchen?«

Jo ging auf den Arbeitstisch zu, griff zwischen den Abfällen nach seiner Peggie und schaltete sie aus. »Es steht an der falschen Stelle. Es gehört nämlich nach oben, in mein Zimmer.« Jo deutete lächelnd mit den Augen zur Decke hoch, klemmte sich das Radio unter die Achsel und machte kehrt.

»Hören Sie mal, das Radio habe ich auf Anweisung einkassiert.«

Jo wandte sich um. Pohlenz hatte eine lauernde Miene aufgesetzt. »Ohne mich darüber zu informieren, wo ich es abholen kann? Und dass Sie es bis dahin quasi an meiner Stelle hören, hier in Ihrer Zimmermüllhalde?«

»In meiner was?« Pohlenz tat empört, warf einen Blick auf seinen Arbeitstisch und entschied sich nachzukarten. »Trotzdem können Sie das Gerät nicht einfach mitnehmen.«

»Ich denke doch. Ist ja nicht schwer.« Jo öffnete die Tür zum Flur und ging mit seinem zurückeroberten Schatz hinaus.

Auf dem Weg durch das Treppenhaus hinauf in den dritten Stock wurde ihm noch einmal bewusst, wie lächerlich das Ganze war, angefangen bei Mattusch, der sich den Unsinn ausgedacht hatte.

In seinem Büro platzierte er das Radio an seine alte Stelle auf dem Aktenschrank und schaltete es ein. Der AFN brachte »It could happen to you« von Chet Baker, Jo steckte sich eine Zigarette dazu an. Das ließ ihn den dummen Vorfall schnell vergessen und sich mit weniger Widerwillen an die Aufgabe setzen, die ihm für den Rest des Tages bevorstand: die Kriminalstatistik für das letzte Quartal, um die ihn Lene Spohn schon in der vorigen Woche gebeten hatte. Dabei ging es keineswegs nur um die Anzahl der aktuell vermissten, gesuchten und wiederaufgefundenen Personen in Berlin. Nein, neben den üblichen Angaben zur Fingerabdruck- und Lichtbildkartei von neuen Straftätern erwartete man von ihm ernsthaft auch eine Bereicherung der Spitznamensammlung und neuerdings auch der Schlägerkartei, die im Frühjahr eingerichtet worden war. Jeder Streifenpolizist hatte gewöhnlich mehr dazu beizutragen als er, doch auch »keine Angabe« musste vermerkt werden.

Damit seine Laune während der stupiden Aufgabe nicht wieder in den Keller rauschte, hangelte er sich auf Mittelwelle – etwas anderes gab seine Peggie nicht her, dafür aber in bester Qualität – von einer Musiksendung zur nächsten. Fand er keinen Jazz, der gespielt wurde, war er auch für den einen oder anderen Rock ’n’ Roll-Titel dankbar, wenn schon kein Swing, dann wenigstens Schwung. Doch irgendwie konnte er sich mit der Musik der heutigen Jugendlichen nicht so recht anfreunden. Er schwärmte nun einmal für Duke Ellington oder Django Reinhardt und zunehmend für Miles Davis, nicht für Elvis’ Hüftschwung oder Bill Haleys Bauch. Wenn er beispielsweise Musik von Fats Domino hörte, blitzte stattdessen in seinem Kopf der Name von Fats Waller auf, der seiner Ansicht nach den Rock ’n’ Roll erfunden hatte, bevor er überhaupt erst seinen Namen bekommen hatte.

Als Jo gegen sechs am Abend das Präsidium verließ, war die Statistik fertig und sein Kopf wie ausgeräumt. Und als er zwanzig Minuten später nach der Fahrt quer durch die Stadt sein Motorrad vor dem Haus in der Waldemarstraße abstellte, hatten sich seine Lungen mit ätzender Luft gefüllt, geschwängert durch Kohleheizungen in Ost und West. Im Treppenhaus roch es noch immer faulig, und das nicht erst seit heute, wenn er darüber nachdachte. Im zweiten Stock nahm er im Vorbeigehen Helmut Eberhardts polternde Stimme wahr, je nach Alkoholvorrat würde sie sich im Laufe des Abends noch erheblich steigern. Eberhardt schikanierte mal wieder seine Frau Christine, und Jo wünschte, sie würde sich ihren Mann vom Hals schaffen, schon wegen der beiden Kinder, der siebenjährigen Elke und des noch kleineren Ralf, die sichtlich unter ihrem Vater litten.

Auch in seiner Wohnung hing an diesem Abend der Haussegen schief. Frau Küpper, seine Vermieterin, stand vor dem Bad und klopfte verärgert gegen die Tür. Als sie Jo hereinkommen und seinen Mantel im Flur aufhängen sah, grüßte sie ihn kurz, erklärte, falls er Hunger habe, finde er Kartoffelsalat und Würstchen in der Küche, und klapperte wieder mit der Klinke der Badezimmertür.

»Um Himmels willen, Helga, was machst du die ganze Zeit im Bad? Du bist jetzt schon über eine Stunde drin.«

»Ich bin bald fertig, Mama, nur noch zehn Minuten«, tönte es heraus.

Aus dem kombinierten Wohn-, Arbeits- und Schlafzimmer seiner Wohnungsvermieterin schob sich nun auch Markworts massige Gestalt durch den Türrahmen schräg gegenüber dem Bad. Anscheinend hatte er heute früh die Wohnung nur für Geschäfte in der Stadt verlassen, bei seiner Familie in Osnabrück ließ er sich wohl erst wieder am Wochenende blicken. Er rief Jo einen knappen Gruß zu und zerrte ungehalten mit einer Hand an dem Gürtel seines gestreiften Bademantels, offenbar unschlüssig, ob er ihn bereits lockern konnte oder doch wieder fest um seinen ausladenden Bauch zurren musste. In diesem Konflikt entschied er sich, ins Zimmer zurückzugehen.

»Andere wollen auch ins Bad, Helga!«, rief Petra Küpper ein weiteres Mal ihrer Tochter hinter der verschlossenen Tür zu und trabte, als sie nicht einmal mehr eine Antwort erhielt, mit wutsteifer Miene zur Küche, wohin ihr Jo folgte. Auf dem Tisch stand eine große Schüssel mit lauwarmem Kartoffelsalat, eine Spezialität seiner Vermieterin. Ein Blick zum abgeräumten Geschirr auf der Anrichte zeigte ihm, dass die Familie bereits gegessen hatte, für ihn war aber noch gedeckt.

Petra Küpper bat Jo, sich schon mal zu bedienen, stellte sich an den Herd und wärmte in einem flachen Topf ein Paar Wiener Würstchen, das sie ihm nach wenigen Minuten zu dem Kartoffelsalat auf den Teller legte. Während er mit Appetit aß, stellte sie einen Kessel Wasser auf den Herd und setzte sich dann mit einer Tasse dampfendem Hagebuttentee zu ihm. Sie klagte ein wenig über das unangenehme nasskalte Wetter und die steigenden Preise für Gemüse und Obst in Berlin, so dass Jo schon fürchtete, sie wolle ihn über diesen Umweg auf eine Mieterhöhung vorbereiten. Doch sie wollte scheints nur Konversation machen und vielleicht auch davon ablenken, dass sie ihre fünfzehnjährige Tochter – anders als ihre Klavierschüler – keineswegs im Griff hatte. Nicht ganz zu Unrecht nahm sie an, dass außer Werner Markwort, ihrem Bekannten, der im Zimmer nebenan sicher schon mit den Hufen scharrte, auch ihr Untermieter Jo das Bad in absehbarer Zeit gerne benutzen würde.

Als Jo nach der kleinen Mahlzeit den Flur entlang zu seinem Zimmer schlenderte, um in Ruhe eine Zigarette zu rauchen, flog mit einem Mal die Badtür auf, und er stieß beinahe mit Helga Küpper zusammen.

Sie lachten beide über die unverhoffte Begegnung, Jo allerdings auch über ihren unkonventionellen Aufzug: Helgas schulterlange blonde Haare waren noch feucht, den Oberkörper hatte sie mit einem großen froschgrünen Frotteehandtuch bedeckt, die eigentliche Überraschung bestand jedoch darin, dass sie in einer triefnassen Bluejeans steckte, die von der schmalen Hüfte bis zu den nackten Füßen wie eine zweite Haut an ihren stabdünnen Beinen klebte.

Jo warf einen Blick in das noch dampfende Badezimmer, das, nun ja, blauwarme Wasser in der Wanne lief gerade ab – nicht ganz so langsam, wie es gewöhnlich aus dem holzbeheizten Badeofen tröpfelte. Er ahnte, was Helga so lange im Bad veranstaltet hatte.

Im nächsten Moment drängte sich auch schon Helgas Mutter an ihm vorbei. Sie war aus der Küche herangerauscht und begann augenblicklich mit einer Strafpredigt, vor der ihre Tochter in Windeseile in ihr Zimmer flüchtete, das am Ende des Flurs neben Jos lag. Um den Streit nicht mit anhören zu müssen, entschloss er sich, die Zigarette nach dem Essen auf später zu verschieben und vorher ins Bad zu gehen. Doch da spürte er, dass Markwort, der wie ein Kugelblitz aus dem Zimmer geschossen kam, den gleichen Gedanken hatte und schneller war.

Von seinem Zimmer aus konnte Jo das lautstarke Wortgefecht zwischen Mutter und Tochter mitverfolgen, ein ausgeglichener Fight, denn auch Helga Küpper war nicht auf den Kopf und erst recht nicht auf den Mund gefallen. Sie erklärte ihrer Mutter in nicht weniger vorwurfsvollem Ton, dass die einzige Methode, neue Bluejeans passend zu machen, darin bestehe, sich damit eine Stunde lang in die Badewanne zu legen und anschließend am Körper trocknen zu lassen. Jo hatte sie jedoch kürzlich gesteckt, dass eine andere Möglichkeit wäre, die Nähte der Jeans zu verengen, sobald man in sie hineingeschlüpft sei. Doch die Methode sei umständlich, denn um wieder herauszukommen, müsse man, logisch, sämtliche Nähte erst wieder auftrennen. Ihre Mutter wiederum fand Helgas »Texashosen« nicht nur grundsätzlich hässlich, sondern auch ohne Badekur schon unanständig eng für ein Mädchen ihres Alters.

»Was soll das heißen, für ein Mädchen in meinem Alter?«

Petra Küpper sparte sich die Erklärung und ging nahtlos dazu über, sich über die »entsetzliche Unordnung« im Zimmer ihrer Tochter zu beschweren. Jo wusste, wovon die Mutter sprach. Er hatte beim Hereinkommen einen Blick durch die offen stehende Tür in Helgas Zimmer werfen können: ein knallbuntes Durcheinander von Bravo-Heften, Schallplattenhüllen, Büchern und Klamotten, die quasi in mehreren Lagen überall im Raum verteilt waren.

Helga Küpper ließ den Wortschwall ihrer Mutter jetzt schweigend über sich ergehen, bis diese wütend das Zimmer verließ und die Tür hinter sich zuschlug. Nachdem sich die Szene beruhigt hatte und Helga vorerst auch darauf verzichtete, aus Frustration eine ihrer Rock ’n’ Roll-Scheiben aufzulegen, um sie in dröhnender Lautstärke zu hören – was ihre Mutter gleich wieder auf den Plan gerufen hätte –, legte er selbst eine Platte auf, Count Basies »Atomic«-Album. Beim Anblick des strahlenden Atompilzes auf der Plattenhülle musste er unweigerlich an Mattusch denken, den er heute selbst gerne in die Luft gesprengt hätte, und genoss danach umso mehr den kraftvollen, energiegeladenen Big-Band-Sound des alten Meisters. Er hatte gerade die Platte umgedreht, als es leise an seine Tür klopfte und Helga, einen langen kirschroten Bademantel über den trocknenden Jeans, zaghaft eintrat.

Jo lud sie ein, es sich ihm gegenüber in dem Sessel gemütlich zu machen, doch sie setzte sich lieber zu ihm auf die Bettcouch. Er hatte schon länger das Gefühl, dass sie eine kleine Schwäche für ihn entwickelt hatte, und überlegte, ob es nötig war, ein Sofakissen zwischen sie beide zu legen, um von seiner Seite kein Missverständnis aufkommen zu lassen. Doch er sah den ungewöhnlichen Ernst und auch eine deutliche Beunruhigung in ihren hellen Augen und verzichtete darauf.

»Alles in Ordnung mit dir, Helga?«, fragte er sie ganz direkt.

Sie zuckte die schmalen Schultern. »Eigentlich schon. Bloß …« Sie stockte und schaute zum Plattenspieler hinüber.

»Dich stört die Musik, was? Ich kann sie ausstellen, wenn du möchtest.«

»Nein, nein, nicht ausstellen. Die Musik ist … na ja. Aber ich will nicht, dass Mama mich hört.«

»Du meinst, hier bei mir?«

»Deswegen nicht, sie hat ja nichts dagegen.«

Das stimmte, Petra Küpper wusste, dass Jo die Schwärmerei ihrer Tochter, die sie natürlich auch selbst schon bemerkt hatte, nicht ausnutzen würde.

»Was ist los, Helga?« Jo wandte sich ihr nun ganz zu und achtete kaum mehr auf die Musik.

»Es ist wegen Grit.«

»Grit, deine Freundin?« Sie war etwa gleich alt wie Helga.

»Ja.«

»Was ist mit ihr?«

»Das ist es ja, ich weiß es nicht genau.«

»Worum geht’s? Hat Grit irgendetwas angestellt? Ist sie, wie soll ich sagen, in etwas hineingeraten, irgendeine … blöde Sache?«

»Das weiß ich ja eben nicht.« Sie kniff die Brauen zusammen und senkte die Stimme noch mehr. »Am Sonntagabend waren wir doch im Sporti. Bei Bill Haley.«

»Ach ja? Habe ich gar nicht mitbekommen, dass du dort warst. Wie war’s?« Er ahnte allmählich, worauf sie hinauswollte. »Hab gelesen, dass das Konzert nicht so ganz friedlich geendet hat.« Wenn man den Pressedarstellungen tags darauf glaubte, war das noch maßlos untertrieben. Angeblich hatten die Jugendlichen die Musiker aus dem Saal getrieben und die Bühne zerlegt.

»Ja, es war ziemlich aufregend zum Schluss. Aber, bitte, Jo – Herr Sturm«, flüsterte sie aufgeregt, »Sie dürfen meiner Mutter nichts davon sagen, weil sie nämlich denkt, Grit und ich wären am Sonntag bei unserer Freundin Lisabeth gewesen.«

»Wart ihr nicht?«

»Doch, ich schon. Aber von unserem Konzertbesuch weiß meine Mutter nichts. Und Lisabeths Eltern auch nicht, sie waren Sonntagabend schon früh aus, Theater, glaube ich, und sie kamen auch erst spät zurück. Danach habe ich bei Lisabeth übernachtet. Aber Grit ist gleich zurück nach Hause, weil sie sich nicht gut fühlte. Das blöde Konzert, die Randale, die Polizei und das alles haben sie ziemlich aufgeregt.«

»Kann ich mir denken.«

»Wir haben aber gar nichts angestellt bei dem Konzert. Sind raus, als es brenzlig wurde. Ehrlich.«

»Gut. Nur verstehe ich nicht, wo dann das Problem liegt?«

»Ich kann Grit seitdem nicht mehr erreichen. Und sie meldet sich einfach nicht.«

»Hm.« Ein Konflikt unter Freundinnen? Dafür war er wohl kaum der richtige Ansprechpartner.

»Seit Sonntagabend hab ich sie nicht mehr gesehen.«

»Ich denke, du bist mit ihr in einer Schulklasse?«

»Nicht in derselben Klasse. Aber in derselben Schule, der Gerhart Hauptmann in der Böckhstraße. Normalerweise sehen wir uns in den Pausen. Und treffen uns nach der Schule. Machen zusammen Hausaufgaben und so weiter.«

Jo nickte. Und so weiter hieß, sie lasen Bravo, hörten Musik, träumten von Elvis oder Peter Kraus und fantasierten sich vielleicht an die Stelle von Conny Froboess oder anderen Schlagersternchen.

»Aber gestern war Grit nicht in der Schule und heute wieder nicht.«

»Hat sie kein Telefon?«

»Doch, schon. Ich habe mittlerweile auch tausendmal bei ihr angerufen. Aber sie geht nicht ran. Nicht mal ihre Mutter nimmt ab. Ich war natürlich auch dort und habe geklingelt. Es macht niemand auf.«

»Vielleicht hat Grit ihrer Mutter gestanden, dass ihr bei Bill Haley wart, und da ist sie sauer geworden? Ergebnis: eine Weile Hausarrest für Grit?«

»Dann hätte ich sie aber wenigstens in der Schule treffen müssen. Grits Mutter kann außerdem nicht wissen, dass ich es bin, die anruft.«

»Punkt für dich.« Streng genommen sogar zwei Punkte für das Mädchen. »Was ist eigentlich mit Grits Vater?«

»Den gibt’s nicht. Er ist tot, meine ich, schon lange. Grit spricht nicht über ihn.«

Jo stieß einen leichten Seufzer aus. »Helga, ich verstehe, dass du dir ein bisschen Sorgen um deine Freundin machst …«

»Nicht nur ein bisschen.« Sie sah ihn streng an.

»Okay, entschuldige. Du machst dir Sorgen um Grit. Das verstehe ich. Aber mir ist nicht klar, was du von mir möchtest.«

Sie riss verwundert die Augen auf. »Aber Sie sind doch bei der Polizei. Suchfahndung oder wie das heißt.«

»Vermisstenabteilung. Es ist nur so, Helga, dass ich keine Suche auslösen kann, nur weil ein Mädchen seine Freundin seit gerade mal zwei Tagen vermisst. Vielleicht gibt es einen triftigen Grund, warum sie nicht antworten kann. Krankheit zum Beispiel?«

»Ihre Mutter war letzte Woche krank. Aber doch nicht Grit.« Helga sah ihn an, als müsste er das wissen.

»Oder sie musste aus einem dringenden Grund verreisen«, spekulierte Jo weiter, »allein oder mit ihrer Mutter.«

Helga sah ihn beinahe mitleidig an. »Sie verstehen das nicht. Grit ist meine Freundin. Sie würde es immer irgendwie schaffen, mir zu sagen, was los ist, auch wenn sie verreist wäre oder Hausarrest hätte.«

Das Mädchen stand auf und patschte auf ihren nackten Füßen hinaus, ließ ihn allein mit seiner Jazzmusik, die sie ohnehin nicht ausstehen konnte. Auf der Couch blieb nur die ein wenig feucht gewordene Stelle zurück, die ihre durchnässte Jeans trotz Bademantels hinterlassen hatte.

Jo hörte die B-Seite des »Atomic«-Albums noch einmal von vorn und kramte währenddessen in der Zeitschriftenablage neben der Couch die Zeitungen der vergangenen zwei Tage heraus. Üblicherweise legte ihm Frau Küpper die von ihr gelesenen Ausgaben ihres Abonnements auf die Ablage und entsorgte sie alle zusammen am Wochenende mit dem Papier, sofern sie zum Anheizen der Kachelöfen nicht gebraucht wurden. Das Haley-Konzert war der Aufmacher der Montagsausgabe. Von Berichterstattung konnte jedoch kaum die Rede sein, fiel ihm jetzt auf, als er den Artikel noch einmal überflog, es herrschte die blanke Empörung vor: »Entfesselte junge Leute« hätten anlässlich der »Veranstaltung« mit Bill Haley am Sonntag im Sportpalast ein furchterregendes Beispiel jugendlicher Zerstörungswut gegeben. Die Sachschäden gingen in die Zehntausende. Bill Ramsey, der Sänger der Edelhagen-Combo, vermutete »Leute aus dem Osten« hinter den Tumulten, festgenommen wurden allerdings nur Westberliner: Schlosser, Mechaniker, Verchromer »und ein Gymnasiast«. Fotos von »Rowdys in Aktion« wurden präsentiert, Polizei und Veranstalter baten die Bevölkerung um Unterstützung bei der Identifizierung weiterer Täter.

Jo legte kopfschüttelnd die Zeitung weg und nahm sich die heutige Ausgabe vor. Hier wurden bereits die Wunden geleckt und Konsequenzen gefordert. Um falschen Schlüssen über den moralischen Zustand der heutigen Jugend vorzubeugen, wurde den halbstarken Rock ’n’ Roll-Anhängern vom Sonntag das Landesjugendsingen in der Sporthalle Schöneberg als positives Beispiel gegenübergestellt. Das dazugehörige Foto zeigte Jugendliche, die wie versteinert auf ihren Plätzen saßen und Gesichter wie auf einer Beerdigung machten. Auf den Berlinseiten weiter hinten in der Zeitung konnte der Schaden schon genauer beziffert werden, mehr als dreißigtausend Mark, erste Politiker riefen nach scharfen Maßnahmen. Der Senat ließ sich ebenfalls nicht lumpen, er fordere, verkündete ein Sprecher, das Verbot solcher »Sensationsveranstaltungen«, die die Sicherheit und Ordnung in der Stadt gefährdeten.

Jo faltete genervt die Zeitung zusammen und warf sie zu den anderen auf den Boden.

Sicherheit und Ordnung, das waren die Kampfbegriffe, mit denen bereits sein Vater, im Zivilberuf ein Postbeamter, und dessen Generation in den Krieg gezogen waren. In ihren Vorstellungen einer idealen Welt herrschten entweder Schlachtenlärm oder Friedhofsruhe. Und die Jugend hatte zu ihnen, den Vätern und Großvätern, ehrfurchtsvoll aufzuschauen oder gehorsamst ins Heldengrab zu sinken.

Er stand vom Sofa auf. Die B-Seite der Platte war längst zu Ende, und er war bereits im Begriff, eine neue aufzulegen, als er sich mit einem Blick auf seine Armbanduhr anders entschied. Er ging zum Radio auf dem Sideboard und schaltete es ein. Der RIAS brachte die Nachrichten. Wirtschaftsminister Erhard ärgerte sich über japanische Billigartikel, die den deutschen Markt überschwemmten. Der russische Schriftsteller Boris Pasternak lehnte, offenbar auf Druck der Sowjets, den Literaturnobelpreis ab, den er erst kürzlich erhalten hatte. Und Westberlins Regierender kritisierte Ulbricht im Osten für dessen Behauptung, die Sowjetunion habe die USA, Großbritannien und Frankreich nach dem Krieg freundlicherweise an der Verwaltung Groß-Berlins »beteiligt«. Mittlerweile aber seien die drei Westmächte als illegitime »Besatzungsmächte« anzusehen. Jo horchte auf, die schroffen Töne aus Ostberlin und Moskau hatten in den letzten Wochen und Monaten deutlich zugenommen.

Die Nachrichten endeten mit dem Wetterbericht: leicht regnerisch, der Wind von West auf Südwest drehend, Temperaturen bei elf Grad.

Danach entstand plötzlich eine merkliche Pause. Ein, zwei Sekunden lang glaubte Jo an eine Störung, ehe der Sprecher mit spürbar veränderter, ernster Stimme fortfuhr: »Und nun noch, verehrte Hörer, eine Mitteilung in eigener Sache: Die heutige Ausgabe unserer Sendung ›Die bunte Palette‹ mit Wulf Herzke muss leider entfallen. Stattdessen bringen wir Musik mit einer Aufnahme des RIAS-Tanzorchesters vom …«