Der Anwalt des Königs - C.J. Sansom - E-Book
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Der Anwalt des Königs E-Book

C.J. Sansom

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Beschreibung

Die Rache der Tudors York, Herbst 1541: Über eine Meile lang ist der königliche Tross, der sich von London aus auf den Weg nach York macht. Heinrich VIII will dem rebellischen Norden Stärke demonstrieren. Mit im Gefolge ist nicht nur seine fünfte Ehefrau Catherine Howard, sondern mehr als dreitausend Menschen, über tausend Soldaten und sämtliche Adligen des Landes. Auch Rechtsanwalt Matthew Shardlake ist auf einer Mission in York. Er soll nicht nur die Petitionen an den König auswählen, sondern auch einen Gefangenen sicher nach London bringen, damit sich die Folterknechte des Königs eingehend mit ihm beschäftigen können. Doch noch bevor er York verlassen kann, entdeckt er brisante geheime Aufzeichnungen und entgeht nur knapp einem Mordanschlag. Wer trachtet ihm nach dem Leben?

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C.J. Sansom

Der Anwalt des Königs

Historischer Kriminalroman

Aus dem Englischen von Irmengard Gabler

FISCHER E-Books

Inhalt

WidmungKapitel EinsKapitel ZweiKapitel DreiKapitel VierKapitel FünfKapitel SechsKapitel SiebenKapitel AchtKapitel NeunKapitel ZehnKapitel ElfKapitel ZwölfKapitel DreizehnKapitel VierzehnKapitel FünfzehnKapitel SechzehnKapitel SiebzehnKapitel AchtzehnKapitel NeunzehnKapitel ZwanzigKapitel EinundzwanzigKapitel ZweiundzwanzigKapitel DreiundzwanzigKapitel VierundzwanzigKapitel FünfundzwanzigKapitel SechsundzwanzigKapitel SiebenundzwanzigKapitel AchtundzwanzigKapitel NeunundzwanzigKapitel DreißigKapitel EinunddreißigKapitel ZweiunddreißigKapitel DreiunddreißigKapitel VierunddreißigKapitel FünfunddreißigKapitel SechsunddreißigKapitel SiebenunddreißigKapitel AchtunddreißigKapitel NeununddreißigKapitel VierzigKapitel EinundvierzigKapitel ZweiundvierzigKapitel DreiundvierzigKapitel VierundvierzigKapitel FünfundvierzigKapitel SechsundvierzigKapitel SiebenundvierzigKapitel AchtundvierzigEpilogGeschichtliche AnmerkungDankLektüreauswahl

Für P.D. James

Kapitel Eins

Es war dunkel zwischen den Bäumen, nur das Mondlicht sickerte fahl durch die nahezu kahlen Zweige. Der Boden war dicht mit welken Blättern übersät, die den Hufschlag unserer Pferde dämpften, und wir wussten nicht, ob wir von der Straße abgekommen waren. Ein elender Ritt, wie Barak eben bemerkt hatte, als er wieder einmal über die unwegsame Gegend maulte, in die ich ihn verschleppt hatte. Ich hatte dem nichts erwidert, denn ich war hundemüde, mein armer Rücken wund und meine Beine in den schweren Stiefeln brettersteif. Außerdem hatte ich andere Sorgen, denn die seltsame Pflicht, die vor uns lag, lastete mir schwer auf der Seele. Ich nahm die Zügel in eine Hand und griff mit der anderen in die Manteltasche, nach dem Siegel des Erzbischofs; dieweil ich es mit den Fingern umschloss wie einen Talisman, erinnerte ich mich an Cranmers Versprechen: »Damit seid Ihr gegen Gefahr gefeit.«

Ein schwerer Schicksalsschlag lag hinter mir, denn sechs Tage zuvor hatte ich in Lichfield meinen Vater zu Grabe getragen. Seitdem waren Barak und ich fünf Tage in stetem Trab gen Norden geritten, obschon die Wege nach diesem feuchten Sommer des Jahres 1541 in denkbar schlechtem Zustand waren. Wir durchritten ein wildes Land: In vielen Dörfern standen noch die alten Langhäuser aus Lehm und Stroh, in denen Mensch und Vieh beisammen hausten. An diesem Nachmittag hatten wir bei Flaxby die Große Straße nach Norden verlassen. Barak wollte einkehren und nächtigen, aber ich bestand darauf, den Ritt fortzusetzen, nötigenfalls die ganze Nacht. Wir mussten uns sputen, der folgende Tag war der zwölfte September, und wir mussten vor dem König unser Ziel erreichen.

Die Straße hatte sich jedoch bald als so unwegsam erwiesen, dass wir sie bei Einbruch der Dunkelheit gegen einen trockeneren Pfad eintauschten, der nach Nordosten schwenkte, durch dichtes Waldland und über kahle Stoppelfelder, auf denen die Schweine wühlten.

Immer dichter standen die Stämme, durch die wir uns mit Mühe einen Weg bahnten. Einmal kamen wir vom Wege ab, und es war verteufelt schwer, ihn in der Dunkelheit wiederzufinden. Alles war still, bis auf das Flüstern fallender Blätter und das gelegentliche Knacken dürrer Zweige, wenn ein Keiler oder eine Wildkatze vor uns Reißaus nahm. Die Pferde, beladen mit den Satteltaschen, in die wir unsere Kleider und was sonst noch unentbehrlich war gepackt hatten, waren ebenso erschöpft wie Barak und ich. Ich konnte Genesis’ Müdigkeit spüren, und Sukey, Baraks feurige Stute, war’s zufrieden, meinem Wallach gemächlich hinterherzutrotten.

»Wir sind vom Weg abgekommen«, maulte er.

»In der Herberge hieß es, wir sollten dem breiten Pfad gen Süden folgen. Es wird ohnehin bald Tag«, sagte ich. »Dann werden wir ja sehen, wo wir sind.«

Barak ließ ein verdrossenes Knurren hören. »Wahrscheinlich sind wir längst in Schottland. Als Nächstes wird man uns überfallen und Lösegeld für uns fordern.« Ich sagte nichts, weil ich sein Lamentieren satt hatte, und so ritten wir schweigend weiter.

Meine Gedanken kehrten zum Begräbnis meines Vaters zurück, zu den wenigen Menschen, die am Grabe gestanden, als der Sarg in die Erde gesenkt worden war. Meine Base Bess hatte ihn tot im Bett vorgefunden, als sie ihm die Morgensuppe brachte.

»Ich wusste ja nicht, wie krank er war!«, hatte ich ihr beteuert, als wir anschließend auf den Hof zurückgekehrt waren. »Ich hätte mich um ihn kümmern müssen.«

Sie schüttelte müde den Kopf. »Du warst eben zu lange fort. Über ein Jahr.« Ich sah den Vorwurf in ihren Augen.

»Ich hatte es auch nicht leicht, Bess. Aber ich wäre doch gekommen.«

Sie seufzte. »Seit der alte William Poer letzten Herbst gestorben ist, war dein Vater ein gebrochener Mann. Die beiden hatten so schwer gerackert in den letzten Jahren, damit der Hof noch etwas abwarf; mit Williams Tod hatte ihn der Mut verlassen.« Nach kurzer Pause meinte sie: »Ich hab ihm geraten, er soll sich doch an dich wenden, aber das wollte er nicht. Unser Herrgott prüft uns wahrlich schwer. Letzten Sommer die Dürre, heuer die Überschwemmung. Ich glaube, dein Vater empfand es als Schmach, dass er in Geldnöten war. Da hat ihn das Fieber erwischt.«

Ich nickte. Dass der Hof, auf dem ich aufgewachsen war und der jetzt mir gehörte, tief verschuldet war, hatte mich schwer getroffen. Mein Vater war fast siebzig gewesen, sein Verwalter William nicht viel jünger. Sie hatten das Land nicht mehr ordentlich bestellen können, und die letzte Ernte war kümmerlich gewesen. Um noch über die Runden zu kommen, hatte er bei einem reichen Landeigentümer in Lichfield eine Hypothek aufgenommen. Ich hatte es erst durch ein Schreiben des Hypothekars erfahren, welches mich unmittelbar nach Vaters Tod erreichte und in dem bezweifelt wurde, dass der Wert meines Landes die Schuld abdecken würde. Wie viele Landadlige damals versuchte auch dieser, seinen Grundbesitz zu mehren, um darauf Schafe zu halten, und dies gelang am besten, indem er älteren Bauern zu Wucherzinsen Geld borgte.

»Sir Henry, dieser Blutsauger«, sagte ich voller Verbitterung zu Bess.

»Was willst du jetzt tun? Dich geschlagen geben?«

»Keinesfalls«, sagte ich. »Ich werde Vaters Namen nicht entehren. Ich werde die Hypothek bezahlen.« Weiß Gott, dachte ich, das bin ich ihm schuldig.

»So gefällst du mir.«

Ein unwilliges Schnauben hinter mir riss mich aus meinen Gedanken. Barak hatte Sukey gezügelt, sie zum Stehen gebracht. Ich hielt ebenfalls inne und drehte mich unbehaglich im Sattel um. Seine Gestalt und die Silhouetten der Bäume waren schon schärfer geworden, langsam graute der Morgen. Er deutete nach vorn. »Seht doch, dort!«

Vor uns lichtete sich der Wald. In der Ferne sah ich tief am Himmel ein rotes Licht.

»Da ist es ja!«, rief ich triumphierend. »Das Licht, nach dem wir Ausschau halten sollten; man hat es auf eine Kirchturmspitze gesetzt, um Reisenden den Weg zu weisen. Ich hatte recht, dies hier ist Galtres Forest!«

Wir ritten aus dem Wald. Ein kalter Wind blies vom Fluss herauf, als der Himmel sich lichtete. Wir hüllten uns fester in die Mäntel und trabten hinunter nach York.

*

Der Weg in die Innenstadt war mit Packpferden und Karren versperrt, die Güter aller Art geladen hatten. Einige Fuhrwerke schafften ganze Baumstämme in die Stadt, welche gefährlich weit über die Ladeflächen hinausragten. Vor uns erhoben sich die mächtigen Mauern der Stadt, schwarz vom Rauch vieler Jahrhunderte, und dahinter strebten zahllose Kirchtürme gen Himmel, die allesamt von den stolzen Zwillingstürmen des Yorker Münsters überragt wurden. »Hier geht es zu wie auf dem Wochenmarkt im Londoner Cheapside«, stellte ich fest.

»Man bereitet sich auf die Ankunft des Königs vor.«

Wir kamen nur langsam weiter, so dicht war das Gedränge. Verstohlen musterte ich meinen Begleiter. Es lag jetzt über ein Jahr zurück, dass ich Jack Barak nach der Hinrichtung seines früheren Brotherrn als Gehilfen in die Kanzlei aufgenommen hatte. Als ehemaliger Straßenjunge, der im Auftrag Thomas Cromwells zweifelhafte Botengänge ausführen musste, war er, wenn auch schlau und gottlob des Lesens und Schreibens mächtig, doch eine sehr ungewöhnliche Wahl. Dennoch hatte ich meine Entscheidung noch keinen Tag bereut. Er hatte sich gut eingefügt und als ein gelehriger Schüler erwiesen. Und wenn es galt, Zeugen ins Verhör zu nehmen, ihnen Geheimnisse aus der Nase zu kitzeln, konnte ihm keiner das Wasser reichen. Seine kritische Haltung unserem Rechtssystem gegenüber war ein nützliches Korrektiv, wenn mein Enthusiasmus mir wieder einmal den Blick vernebelte.

In den vergangenen Monaten erschien mir Barak jedoch oftmals bedrückt. Zuweilen vergaß er sich ganz und brachte mir denselben rüpelhaften Spott entgegen wie zu Beginn unserer Bekanntschaft. Da ich befürchten musste, er sei der Stubenhockerei überdrüssig geworden, hoffte ich, ihn mit diesem Ritt nach York wieder aufzumuntern. Er hatte jedoch wie alle Londoner gewaltige Vorurteile gegen den Norden und seine Bewohner und fast die gesamte Wegstrecke hier herauf nichts als geklagt und geknurrt. Jetzt schaute er missmutig nach allen Seiten, argwöhnisch gegen jeden.

Einzelne Häuser säumten die Straße, bis rechts von uns eine hohe, mit Zinnen bewehrte Mauer auftauchte, dahinter ein gewaltiger Kirchturm. Auf der Mauer patrouillierten Wachtposten; sie trugen eiserne Helme und die weißen Waffenröcke mit dem roten Malteserkreuz der verlässlichen Langbogenschützen. Statt mit Pfeil und Bogen waren sie jedoch mit Schwertern und furchterregenden Spießen bewaffnet; einige hatten sogar lange Vorderlader über der Schulter hängen. Das Lärmen und Schlagen jenseits der Mauer tönte bis heraus auf die Straße.

»Das ist wohl St Mary’s, die ehemalige Abtei, in der wir Quartier beziehen«, sagte ich. »Offenbar ist man schon emsig bei den Vorbereitungen für die Ankunft des Königs.«

»Sollen wir unsere Taschen abladen?«

»Nein, zuerst suchen wir Bruder Wrenne auf, dann reiten wir nach York Castle.«

»Den Gefangenen besuchen?«, fragte er leise.

»Genau.«

Barak blickte die Mauer empor. »St Mary’s ist gut bewacht.«

»Der König scheint sich nicht ganz sicher, ob er auch willkommen ist. Wen wundert’s.«

Ich hatte leise gesprochen, aber der Mann vor uns, der ein mit Getreidesäcken beladenes Packpferd am Zügel führte, drehte sich um und musterte uns scharf. Als Barak ihn anfunkelte, senkte der andere den Blick. Möglicherweise war er einer der vielen Spitzel des Kronrats, die ihre Augen und Ohren wahrhaft überall hatten.

»Vielleicht solltet Ihr die Robe anlegen«, meinte Barak mit einem vielsagenden Blick nach vorn, wo Karren und Lasttiere durch ein breites Tor in den Klosterhof drängten. Nicht weit dahinter traf die Abteimauer im rechten Winkel auf die Stadtmauer; gleich daneben befand sich ein festungsartiges Pförtnerhaus, über dessen Portal das Yorker Wappen prangte – fünf weiße Löwen auf rotem Grund. Davor waren weitere Wachsoldaten postiert. Sie hielten Hellebarden in Händen, trugen stählerne Helme und Brustharnische. Jenseits der Mauer ragten die Türme des Münsters in den grauen Himmel.

»Zum Glück habe ich meinen Geleitbrief bei der Hand.« Ich klopfte auf meine Manteltasche. Dort fand sich auch Erzbischof Cranmers Siegel; selbiges war aber nur für eine einzige Person bestimmt. Was ich im selben Moment erblickte, trieb mir, obwohl ich darauf vorbereitet war, dennoch kalte Schauer über den Rücken: vier Menschenschädel, ausgekocht und auf lange Pfähle gespießt, schwarz und von den Schnabelhieben gieriger Krähen gezeichnet. Zwölf der Rebellen, die man im Frühjahr gefasst hatte, waren in York hingerichtet und ihre Köpfe und Gliedmaßen auf alle Stadttore gespießt worden, dem Volke zur Warnung.

Während wir vor dem Tor auf Einlass warteten, ließen unsere Pferde vor Müdigkeit die Köpfe hängen. Die Wachen hatten den zerlumpten Menschen vor uns aufgehalten und fragten ihn derb, was er in der Stadt zu suchen habe.

»Ich wünschte, sie würden sich sputen«, flüsterte Barak. »Ich bin am Verhungern.«

»Ich weiß. Komm, wir sind die Nächsten.«

Einer der Wachsoldaten packte Genesis am Zügel, während ein anderer wissen wollte, was ich in York zu schaffen hätte. Er hatte einen südenglischen Akzent und ein hartes, zerfurchtes Gesicht. Ich zeigte ihm meinen Geleitbrief. »Anwalt des Königs?«, fragte er.

»So ist es. Und dies hier ist mein Gehilfe. Wir sind beauftragt, die Petitionen an den König auszuwählen.«

»Das Gesindel hier oben braucht eine feste Hand«, erwiderte der Soldat, rollte das Schreiben zusammen und winkte uns weiter. Als wir unter dem Wachturm hindurchritten, bemerkte ich mit Schaudern einen großen Klumpen Fleisch, der an die Mauer genagelt war und von Fliegen nur so wimmelte.

»Rebellenfleisch«, sagte Barak und verzog angewidert das Gesicht.

»Tja.« Ich schüttelte den Kopf über die merkwürdigen Wendungen des Schicksals. Hätte es im Frühjahr keine Verschwörung gegeben, wären weder ich noch der König hier oben. So aber war er mit seinem Hofstaat, dem längsten, prächtigsten Tross, der je in England gesehen worden war, gen Norden gezogen. Wir ritten unter dem Tor hindurch, wobei der Hufschlag unserer Pferde um ein Vielfaches verstärkt von den Mauern des Torbogens widerhallte, und hinein in die Stadt.

*

Jenseits des Tors erreichten wir eine schmale Gasse zwischen dreistöckigen Häusern mit auskragenden Gesimsen. Zu ebener Erde hockten Kaufleute auf ihren Holzblöcken und boten in Ständen ihre Waren feil. Die Stadt York machte mir einen ärmlichen Eindruck. Einige der Häuser waren in einem geradezu bedrohlichen Zustand: Stellenweise war der Putz abgebröckelt, sodass die schwarzen Balken darunter zum Vorschein kamen, und die Gasse war kaum mehr als ein schlammiger Trampelpfad. Die drängelnde Menge erschwerte uns das Reiten, aber ich wusste, dass Master Wrenne, wie alle höheren Barrister, innerhalb des Minster Close wohnte, der Domfreiheit, und die war einfach zu finden, da das Münster die gesamte Stadt beherrschte.

»Ich habe Hunger«, maulte Barak, »lasst uns etwas essen.«

Eine weitere hohe Mauer tauchte vor uns auf; York schien nur aus Mauern zu bestehen. Dahinter stand mächtig das Münster. Vor uns lag ein weiter offener Platz, auf welchem Händler ihre Stände errichtet hatten, deren buntgestreifte Wimpel in der feuchtkühlen Brise flatterten. Weiber in üppigen Röcken feilschten mit den Händlern, während Handwerker in den bunten Trachten ihrer Zünfte naserümpfend die ausgelegte Ware beäugten und zerlumpte Kinder sich mit den Hunden um ein paar Bissen balgten. Die meisten Leute hatten geflickte Kleider am Leib und an den Füßen abgetragene Holzpantinen. Ringsum waren Wachen postiert, mit dem Stadtwappen auf den Uniformen, und behielten die Menschen im Auge.

Ein paar hochgewachsene, blonde Burschen trieben in Begleitung ihrer Hunde eine Herde schwarzköpfiger Schafe auf den Marktplatz. Ich sah mir neugierig die wettergegerbten Gesichter der Männer und ihre schweren Wollmäntel an; es mussten die legendären Dalesmen sein, die vor fünf Jahren das Rückgrat der Rebellion gebildet hatten. Daneben strebten auch etliche Geistliche, je nach Stand in schwarzen Talaren oder braunen Kutten, der Domfreiheit zu.

Barak war vor einen der Händler geritten. Er beugte sich vom Pferd und verlangte zwei Hammelpasteten. Der Händler starrte ihn begriffsstutzig an.

»Aus’m Süden?«, brummte er.

»Jawohl, und mir knurrt schon der Magen. Was – kosten – zwei – Hammelpasteten?«, wiederholte Barak laut und überdeutlich, als habe er’s mit einem Trottel zu tun.

Der Händler funkelte ihn wütend an. »Isset mien Fehler, datt du quakst wie ’ne Ente?«, brummte er.

»Ach so? Und du, Freundchen, hörst dich an wie’n Schleifeisen.«

Das hatten zwei stämmige Dalesmen gehört, die zwischen den Ständen hindurchgingen. Sogleich blieben sie stehen und kamen dem Händler zu Hilfe. »Macht dir der Schietkopp aus’m Süden Ärger?«, fragte der eine. Der andere griff mit seiner schwieligen Pranke nach Sukeys Zügel.

»Lass los, du Strolch!«, fuhr Barak ihn an.

Ich war überrascht über die Wut, die dem Manne nun ins Gesicht stieg. »Maulheld, du! Tut hier große Töne spucken, nur weil der fette Harry kommt!«

»Hundsfott, blöder!«, erwiderte Barak, ohne den Blick abzuwenden.

Der Dalesman zog den Dolch; Barak ebenso. Ich bahnte mir einen Weg durch die Menge.

»Vergebt uns, Sir«, sagte ich beschwichtigend, obwohl mir das Herz bis zum Hals klopfte. »Mein Bursche wollte Euch nichts Böses. Wir haben einen langen Ritt hinter uns …«

Der Mann musterte mich verächtlich. »Sieh mal an, een Buckelzwerg, der sien Maul spazieren führen tut! Kommt dahergeritten und tut uns die letzten Kröten aus der Tasche ziehen!« Er wollte schon zustechen, als ihn die Spitze einer Hellebarde in den Rücken pikte. Zwei Wachmänner waren, nichts Gutes ahnend, hinzugeeilt.

»Fort mit den Dolchen!«, bellte der eine und hielt mit dem Spieß den Dalesman in Schach, während sein Kamerad ein Auge auf Barak hatte. Allmählich bildete sich eine Menschentraube um uns.

»Was sollen die Sperenzchen?«, fuhr der Soldat uns an.

»Der Südländer hat den Händler beschimpft«, rief jemand.

Der Wachmann nickte. Er war stämmig, mittleren Alters und hatte scharfe Augen. »Dat wisst ihr doch, Leute!«, rief er hämisch. »So een Südländer ist nun mal een ungehobelter Klotz!« Die Menge lachte; einer der Umstehenden klatschte.

»Wir wollten nur eure blöden Pasteten kaufen!«, rief Barak.

Der Wachsoldat nickte dem Händler zu. »Gib ihm zwei Pasteten, na los.«

Der Mann gehorchte. »Een Tanner«, sagte er.

»Een was?«

Der Händler verdrehte die Augen. »Sixpence.«

»Für zwei Pasteten?«, fragte Barak ungläubig.

»Bezahl schon!«, bellte der Soldat. Barak zögerte, und ich drückte ihm hastig die Münze in die Hand. Der Händler biss ostentativ hinein, bevor er sie in den Beutel warf. Der Wachtposten wandte sich an mich. »Macht, dass Ihr weiterkommt, Sir. Und sagt Eurem Burschen, er soll sich gefälligst zusammenreißen. Bald kommt der König hierher, da wollt Ihr doch keinen Ärger, oder?« Stirnrunzelnd sah er zu, wie Barak und ich durch das Tor in die Domfreiheit ritten. Vor einer Bank an der Mauer stiegen wir steif von den Pferden, banden sie fest und ließen uns nieder.

»Himmel Arsch, tun mir die Beine weh!«, jammerte Barak.

»Mir geht es auch nicht besser. Meine Zehen sind schon ganz taub geworden, außerdem schmerzt mein Rücken.«

Barak biss in die Pastete. »Nicht übel«, meinte er überrascht.

Ich senkte die Stimme. »Achte auf deine Worte. Du weißt doch, dass uns hier oben keiner mag.«

»Das beruht ganz auf Gegenseitigkeit. Hundsfötter!« Er funkelte feindselig in die Richtung des Händlers.

»Hör zu«, sagte ich ruhig. »Wir dürfen nicht auffallen. Wenn du immer gleich aus der Haut fährst, bringst du nicht nur uns beide in Gefahr, sondern fällst zugleich dem König in den Rücken. Willst du das?«

Er antwortete nicht, sondern starrte nur finster auf seine Füße.

»Was ist eigentlich in letzter Zeit in dich gefahren?«, fragte ich. »Du bist schon seit Wochen unausstehlich. Als du Richter Jackson neulich eine triefäugige alte Kröte gescholten hast, und zwar so laut, dass er es hören konnte, hättest du mich beinah in Teufels Küche gebracht. Du musst lernen, deine scharfe Zunge im Zaum zu halten!«

Statt in sich zu gehen, grinste er hämisch. »Wenn es doch stimmt?!«

Ich ließ mich nicht beirren. »Was ist los mit dir, Jack?«

Er zuckte mit den Schultern. »Nichts. Ich bin nur nicht gern hier oben unter all diesen Wilden.« Er sah mich unverwandt an. »Es tut mir leid. Ich werde mich vorsehen.«

Entschuldigungen kamen Barak nicht leicht über die Lippen, und ich nickte versöhnlich. Trotzdem verbarg sich mehr hinter seiner Verdrossenheit als die Abneigung gegen den Norden, da war ich ganz sicher. Nachdenklich machte ich mich über die Pastete her. Barak ließ den scharfen dunklen Blick über den Marktplatz schweifen. »Was für ein armseliger Haufen«, stellte er fest.

»Die Geschäfte gehen schon seit Jahren schlecht. Und die Auflösung der Klöster hat die Armut noch verschärft. Vor drei oder vier Jahren hätte es hier nur so gewimmelt von schwarzen und weißen Kutten.«

»Tja, damit ist es vorbei.« Barak schluckte den letzten Bissen hinunter und wischte sich mit dem Ärmel über den Mund.

Ich rappelte mich auf. »Und jetzt auf zu Wrenne! Holen wir uns unsere Anweisungen.«

»Was meint Ihr, kriegen wir den König zu Gesicht, wenn er kommt?«, fragte Barak. »Aus der Nähe?«

»Schon möglich.«

Er pfiff durch die Zähne. Erleichtert stellte ich fest, dass ich nicht der Einzige war, den diese Aussicht einschüchterte. »Er hat übrigens einen alten Feind von uns im Gefolge«, fügte ich hinzu, »dem gehen wir besser aus dem Weg.«

Er fuhr herum. »Wen meint Ihr?«

»Sir Richard Rich. Er ist ein Mitglied des Kronrats und in dieser Funktion an der Seite des Königs. Ich weiß es von Cranmer. Also wie gesagt, wir müssen vorsichtig sein, uns möglichst unauffällig verhalten.«

Wir banden die Pferde los und führten sie am Zügel zum Tor, wo ein Wachsoldat uns mit dem Spieß den Durchgang verwehrte. Ich zeigte ihm meinen Geleitbrief, und er ließ uns passieren. Vor uns erhob sich eindrucksvoll die Stiftskirche zu York.

Kapitel Zwei

»Ein mächtiger Bau«, sagte Barak. Wir standen auf einem breiten, gepflasterten, von Mauern eingeschlossenen Platz, auf den die Kirche ihren Schatten warf. »Das größte Gebäude Nordenglands. Fast so groß wie St Paul’s.« Ich blickte auf das gewaltige gotische Eingangsportal, vor dem einige Kaufleute standen und eifrig debattierten. Weiter unten auf den Stufen kauerten Bettler neben ihren Almosenschüsselchen. Ich war versucht, einen Blick ins Innere der Kirche zu werfen, besann mich aber eines Besseren, da wir schon gestern bei Wrenne hätten sein sollen. Unweit der Kirche entdeckte ich ein Gebäude mit dem königlichen Wappen über der Tür. »Dort hinüber«, sagte ich zu Barak. Wir führten die Pferde über den Kirchplatz, wobei wir jeden unserer Schritte sorgsam abwogen, um nicht auf den Blättern auszugleiten, die von den Bäumen ringsum auf das Pflaster gefallen waren.

»Wisst Ihr, was dieser Wrenne für ein Mensch ist?«, fragte Barak.

»Ein angesehener Barrister, nehme ich an, allerdings nicht mehr der Jüngste.«

»Hoffentlich kein alter Zausel, der nicht mehr recht bei Verstand ist.«

»Er wird wohl tüchtig sein, wenn man ihm die Petitionen an den König überlässt. Man scheint ihm zu vertrauen.«

Barak führte die Pferde in eine Gasse, die von alten Häusern gesäumt war. Man hatte mich auf das Eckhaus zur Rechten verwiesen, ein hohes Gebäude von altehrwürdigem Aussehen. Auf mein Klopfen hin waren schlurfende Schritte zu vernehmen, dann ging die Tür auf. Vor uns stand ein altes Weib mit einem runden, faltigen Gesicht unter der weißen Haube und musterte uns säuerlich.

»Ja bitte?«

»Master Wrennes Haus?«

»Ist Er der Gentleman aus London?«

Leicht verärgert angesichts der despektierlichen Begrüßung erwiderte ich: »In der Tat, ich bin Master Shardlake, und das hier ist mein Gehilfe, Master Barak.«

»Wir hatten Ihn gestern erwartet. Mein armer Herr war schon ganz krank vor Sorge.«

»Wir haben uns im Wald verirrt.«

»Da ist Er nicht der Erste.«

Ich deutete auf die Pferde. »Sie sind müde, genau wie wir.«

»Hundemüde«, fügte Barak mit Nachdruck hinzu.

»Dann kommt Ihr am besten herein. Ich sag dem Knecht, dass er die Pferde in den Stall stellen und sie trocken reiben soll.«

»Verbindlichen Dank.«

»Der Herr ist ausgegangen, kommt aber bald zurück. Seid Ihr hungrig?«

»Und wie!« Die Pastete hatte nur den ersten Hunger gestillt. Die Alte machte kehrt und watschelte vor uns her in eine hohe Stube, die noch nach altem Stil mit einer Feuerstelle in der Mitte ausgestattet war. Ein Reisigfeuer knisterte, und graue Schwaden zogen langsam in den Rauchfang zwischen den schwarzen Balken. Gutes Silbergeschirr stand auf der Anrichte, aber der Vorhang hinter dem Tisch, der an der Stirnseite des Raums auf einem Podest stand, sah verstaubt aus. Ein Wanderfalke mit glänzend grauem Gefieder saß auf einer Stange am Feuer. Er beäugte uns aus seinen großen Raubvogelaugen, während ich nach den Büchern schielte, die allenthalben herumlagen, auf den Stühlen, der Eichentruhe, entlang den Wänden, mitunter zu waghalsigen Stapeln aufgetürmt, die augenblicklich einzustürzen drohten. Noch niemals zuvor hatte ich außerhalb der Bibliothek so viele Bücher auf einem Haufen gesehen.

»Euer Herr ist wie mir scheint ein Büchernarr«, stellte ich fest.

»Das ist wohl wahr«, antwortete die Alte. »Ich hol Euch ein wenig Gemüsebrei.« Sie schlurfte davon.

»Ein Humpen Bier wär auch nicht zu verachten«, rief ich ihr hinterher. Barak sank schwer auf eine Sitzbank nieder, die mit einem dicken Schaffell und etlichen Kissen belegt war. Ich griff mir ein großes altes Buch, in Kalbsleder gebunden, schlug es auf und runzelte die Stirn. »Beim Blute Gottes, das sind ja mönchische Handschriften!« Ich blätterte durch die Seiten. Es war eine Kopie von Bedas Kirchengeschichte, in wunderschöner, kunstvoller Schrift verfasst und mit farbigen Bildern verziert.

»Ich dachte, sie wären alle ins Feuer gewandert«, sagte Barak. »Wrenne sollte vorsichtiger sein.«

»Das ist wahr. Also kein Reformator.« Ich stellte das Buch zurück und musste husten, als eine kleine Staubwolke aufstieg. »Herr Jesus, diese Wirtschafterin knausert mit ihren Kräften.«

»Sieht aus, als wär’s ihr einerlei. Aber vielleicht besorgt sie ihm ja nicht nur den Haushalt. Mein Geschmack wär sie nicht, die Alte.« Barak machte es sich auf den Kissen bequem und schloss die Augen. Ich setzte mich in einen Lehnstuhl und streckte die steifen Beine von mir. Just als auch mir die Augen zufielen, tauchte die Alte wieder auf. Schlagartig war ich hellwach, zumal sie uns zwei Schüsseln mit dampfendem Erbsenmus und zwei Humpen Bier auf den Tisch gestellt hatte. Wir machten uns eifrig darüber her. Das Mus war ungewürzt und schmeckte fade, füllte aber immerhin den Bauch. Kaum war seine Schüssel leer, fielen Barak die Augen wieder zu. Ich dachte kurz daran, ihn anzurempeln, weil es sich nicht ziemte, am Tisch des Hausherrn einzuschlafen, ließ es aber sein, da ich ja wusste, wie müde er war. Es war friedlich hier drin; der Lärm von der Straße drang nur gedämpft durch die dicken Butzenscheiben, im Kamin knisterte das Feuer. Irgendwann wurden auch mir die Lider schwer. Ich betastete meine Tasche, die Erzbischof Cranmers Siegel enthielt, und dachte an den Auftrag, der mich nach York gebracht hatte.

*

Das letzte Jahr war nicht einfach für mich gewesen. Seit dem Sturz von Thomas Cromwell waren alle, die mit ihm in Verbindung gestanden hatten, in Ungnade gefallen, und so hatten mir etliche meiner Mandanten ihr Vertrauen entzogen. Außerdem vertrat ich die Londoner Ratsherren, die gegen einen meiner Amtsbrüder Klage führten. Stephen Bealknap mochte ein hundsgemeiner Spitzbube sein, doch indem ich gegen ihn, meinen Amtsbruder, prozessierte, verletzte ich ein ehernes Gesetz unseres Berufsstands, und einige Kollegen, die mir früher gelegentlich Fälle hatten zukommen lassen, gingen mir seitdem geflissentlich aus dem Weg. Bealknap hatte noch dazu einen mächtigen Gönner hinter sich, nämlich Sir Richard Rich. Dieser stand dem Court of Augmentations vor, jener Behörde, die das konfiszierte Klostervermögen verwaltete. Sodann hatte mich Anfang September die Kunde vom Tode meines Vaters erreicht. Die Trauer darüber saß mir noch in den Knochen, als ich mich einige Tage später am Morgen in die Kanzlei begab, wo Barak mit besorgter Miene auf mich wartete.

»Sir, ich muss Euch sprechen.« Er warf einen Blick auf meinen Schreiber Skelly, der mit blitzenden Augengläsern Urkunden kopierte, und bedeutete mir, ihm in den Nebenraum zu folgen. Ich nickte.

»Während Eurer Abwesenheit kam ein Bote«, sagte er, als sich die Tür hinter uns geschlossen hatte. »Von Lambeth Palace. Erzbischof Cranmer persönlich erwartet Euch dort heute Abend um acht.«

Ich sank auf einen Stuhl. »Ich hoffte, nie wieder vor großen Männern katzbuckeln zu müssen«, sagte ich und sah Barak eindringlich an, denn unsere Mission für Cromwell im Jahr davor hatte uns einige mächtige Feinde beschert. »Sind wir in Gefahr? Hast du etwas munkeln hören?« Ich wusste, dass er nach wie vor Kontaktleute bei Hofe hatte.

Er schüttelte den Kopf. »Nichts, seitdem man mir sagte, wir wären in Sicherheit.«

Ich seufzte tief. »Tja, dann muss ich mich wohl gedulden.«

An diesem Tag hatte ich Mühe, meinen Pflichten nachzugehen, und so machte ich mich schon früh auf den Weg nach Haus. Als ich den Hof überquerte, kam mir eine dürre Gestalt in feiner Seidenrobe entgegen. Der strohblonde Haarschopf unter dem Barett ließ keinen Zweifel: Stephen Bealknap, der ehrloseste, habgierigste Halunke, der mir in meinem Beruf je untergekommen war. Er verneigte sich.

»Bruder Bealknap«, grüßte ich, um der Höflichkeit Genüge zu tun.

»Bruder Shardlake. Wie ich höre, steht der Termin für unsere Verhandlung noch immer nicht fest. Tja, die Mühlen des Gesetzes mahlen langsam«, meinte er kopfschüttelnd, obwohl ich wusste, dass ihm der Aufschub gut zupasskam. Bei unserer Streitsache handelte es sich um ein kleines aufgelöstes Kloster in der Nähe des Cripplegate, welches er käuflich erworben und in schäbige Behausungen umgebaut hatte. Da er es versäumt hatte, für die erforderlichen Senkgruben zu sorgen, mussten die Nachbarn ringsum viel Ungemach ertragen. Nun galt es zu klären, inwieweit er die einstige Befreiung des Klosters von Städtischem Recht auch für sich in Anspruch nehmen durfte. Bealknap fand Unterstützung bei Sir Richard Rich, welcher als Schatzmeister des Court of Augmentations den Gewinn aus ehemaligem Klosterbesitz verwaltete. Sollte Bealknap den Fall verlieren, würde der Verkaufswert ähnlicher Besitztümer empfindlich sinken.

»Im Six Clerks’ Office ist man offenbar außerstande, die Verzögerung zu erklären«, sagte ich zu Bealknap. Ich hatte Barak mehrmals nachfragen lassen, auf sein einschüchterndes Auftreten vertrauend, doch ohne Erfolg. »Vielleicht kennt ja Euer Freund Richard Rich den Grund.« Sofort bereute ich, was mir da über die Lippen gerutscht, da ich Sir Richard de facto der Korruption bezichtigte. Es bewies nur einmal mehr, unter welchem Druck ich stand.

Bealknap schüttelte den Kopf. »Pfui, Bruder Shardlake, was redet Ihr denn da. Was wohl der Vorstand unserer Innung dazu sagen würde?«

Ich biss mir auf die Zunge. »Es tut mir leid. Ich nehme alles zurück.«

Bealknap bleckte grinsend die hässlichen gelben Zähne. »Nun gut, es sei Euch verziehen, Bruder. Aus Euch spricht die Angst. Da ist nur verständlich, dass Ihr Euch im Ton vergreift.« Sprach’s und ließ mich stehen. Ich blickte ihm nach und hätte ihm allzu gern in den knochigen Steiß getreten.

*

Nachdem ich zu Abend gegessen, legte ich die Robe an und ließ mich im Fährboot über den Fluss setzen, nach Lambeth Palace. In London war es still, wie schon den ganzen Sommer über, seit der König und sein Hofstaat sich in den Norden Englands begeben hatten. Im Frühling war von einer neuerlichen Revolte in Yorkshire die Rede gewesen, die jedoch im Keime erstickt worden war. Danach hatte der König beschlossen, samt Gefolge gen Norden zu ziehen, um dem Volke dortzulande Ehrfurcht einzuflößen. Er und seine Ratgeber, hieß es, seien arg in Sorge gewesen. Durchaus begreiflich; fünf Jahre zuvor hatte sich der gesamte englische Norden erhoben, um gegen den religiösen Wandel zu rebellieren; die Pilgrimage of Grace, wie der Aufstand hieß, hatte aus dreißigtausend Kriegern bestanden. Der König hatte die Anführer mit falschen Versprechungen dazu gebracht, die Waffen zu strecken, und sie sodann hinrichten lassen. Seither aber ging die Angst um, der Norden könne sich ein zweites Mal erheben.

Im Juni hatten die Hoflieferanten sämtliche Geschäfte und Lagerhallen Londons geplündert, um für die dreitausend Menschen, die gen Norden ziehen würden, Vorräte zu beschaffen. Solch eine Zahl war kaum vorstellbar, die Einwohnerschaft einer kleinen Stadt! Eine ganze Meile lang war der Zug aus Reitern und Wagen gewesen, der sich Ende Juni aus der Stadt gewälzt und London in diesem feuchten Sommer eigentümlich still zurückgelassen hatte.

Als mein Fährboot am Lollards’ Tower vorüberglitt, an der Nordseite von Lambeth Palace, sah ich in der Dämmerung in einem der Kerkerfenster oben im Turm ein Licht brennen. Dort hielt der Erzbischof Ketzer in sicherem Gewahrsam: Cranmers Auge auf London, wie manche sagten. An der großen Treppe legten wir an. Ein Wachsoldat empfing mich und führte mich über den Vorplatz auf die Empfangshalle zu, wo er mich alleine ließ.

Ich stand da und betrachtete voller Bewunderung das großartige Sprengwerk. Ein Kanzleischreiber in schwarzer Amtsrobe näherte sich auf leisen Sohlen. »Der Erzbischof lässt bitten«, sagte er und führte mich eiligen Schrittes durch ein Labyrinth düsterer Korridore.

Der Weg endete in einer kleinen, niedrigen Amtsstube. Thomas Cranmer saß lesend an seinem Schreibpult, neben sich eine Kerze. Im Kamin brannte ein munteres Feuer. Ich verneigte mich tief vor dem großen Manne, der der päpstlichen Autorität getrotzt, den König mit Anne Boleyn vermählt und Thomas Cromwell bei jedem reformerischen Schachzug als Freund und Mitstreiter beigestanden hatte. Nach Cromwells Niedergang hatten viele erwartet, dass auch Cranmer aufs Schafott müsse, doch der hatte überlebt, obwohl der Reformation vorerst ein Ende gesetzt worden war. Heinrich hatte ihm während seiner Abwesenheit die Regierungsgeschäfte in London übertragen. Es hieß, der König vertraue ihm wie keinem Zweiten.

Mit tiefer, ruhiger Stimme hieß er mich Platz nehmen. Ich hatte ihn zuvor nur von fern gesehen, auf der Kanzel. Er trug ein weißes geistliches Gewand und eine Pelzstola, hatte jedoch die Kappe abgesetzt, sodass sein ergrauendes schwarzes Haar zum Vorschein kam. Ich bemerkte die Blässe seines breiten, ovalen Gesichts, die Runzeln um den vollen Mund, doch vor allem seine Augen. Sie waren groß und dunkelblau. Als er mich musterte, las ich Besorgnis darin.

»Ihr also seid Matthew Shardlake«, sagte er mit einem gewinnenden Lächeln, um mir die Befangenheit zu nehmen.

»Euer Gnaden.«

Ich setzte mich auf einen harten Stuhl ihm gegenüber. Ein großes Kreuz aus massivem Silber glänzte auf seiner Brust.

»Nun, wie gehen die Geschäfte?«, fragte er.

Ich zögerte. »Sie waren schon besser.«

»Harte Zeiten für all jene, die in Lord Cromwells Diensten standen.«

»So ist es, Mylord«, sagte ich vorsichtig.

»Jedes Mal, wenn ich die London Bridge passiere, sehe ich sein aufgespießtes Haupt oder was die Möwen davon übrig gelassen haben.«

»Ein erschütternder Anblick, fürwahr.«

»Ich besuchte ihn im Tower, müsst Ihr wissen. Nahm ihm die Beichte ab. Dabei erzählte er mir von der geheimen Angelegenheit, mit der er Euch zuletzt betraut hatte.«

Meine Augen weiteten sich, und trotz des wärmenden Feuers überlief mich ein Frösteln. Cranmer wusste also Bescheid.

»Ich erzählte dem König von der Suche nach dem Griechischen Feuer. Schon vor Monaten.« Dies verschlug mir vollends den Atem, doch Cranmer lächelte und hob beschwichtigend die beringte Hand. »Ich wartete, bis sein Zorn gegen Lord Cromwell verraucht war und er seinen klugen Rat zu vermissen begann. All jene, die die Verantwortung tragen für das Geschehene, gehen jetzt wie auf Eierschalen; freilich leugneten sie ihre Schuld, Heuchler und Lügner, die sie sind.«

Ein frostiger Gedanke durchfuhr mich. »Euer Gnaden – weiß der König, dass ich in die Sache verwickelt war?«

Er schüttelte beschwichtigend den Kopf. »Lord Cromwell bat mich, Euch nicht an den König zu verraten; er wusste, dass Ihr Euer Bestes gabt, obschon Ihr lieber ein Privatmensch geblieben wärt.«

Noch im Angesicht des grausamen Todes, der ihn erwartete, hatte der Lordkanzler meiner gedacht und mir verziehen. Tränen der Rührung stiegen mir in die Augen.

»Er war ein vornehmer Mensch, Master Shardlake, bei aller Härte. Seine Majestät weiß nur, dass Untergebene Lord Cromwells beteiligt waren, und ließ die Sache auf sich beruhen, auch wenn seine Wut sich gegen jedermann richtete, der ihn so schnöde getäuscht hatte. Unlängst beteuerte er vor dem Herzog von Norfolk, wie sehr er sich Lord Cromwell zurückwünsche. Man habe ihn, Heinrich, mittels eines schurkischen Handstreichs dazu gebracht, den besten Ratgeber hinrichten zu lassen, der ihm jemals zur Seite gestanden hatte. Tja.« Cranmer sah mich mit ernster Miene an. »Seine Lordschaft sagte, Ihr wärt von seltener Verschwiegenheit, selbst Angelegenheiten von allergrößter Wichtigkeit seien bei Euch gut aufgehoben.«

»Es gehört zu meinem Berufsstand.«

Er lächelte. »Meint Ihr? Die Anwaltsinnungen sind doch wahre Brutstätten für Klatsch und Tratsch! Nein, der Graf versicherte mir, Eure Verschwiegenheit sei ganz außerordentlich.«

Cromwell hatte vor seinem Tod dem Erzbischof offenbar all jene genannt, die für ihn von Nutzen sein konnten.

»Ich hörte mit Bedauern, dass Euer Vater unlängst verstorben ist«, sagte der Erzbischof.

Meine Augen weiteten sich. Woher wusste er das? Er sah meinen Blick und lächelte traurig. »Als ich den Vorstand Eurer Innung fragte, ob Ihr zu sprechen wärt, erzählte er es mir. Gott hab ihn selig, Euren Herrn Vater.«

»Amen, Mylord.«

»Er lebte in Lichfield, nicht wahr?«

»Ja. In zwei Tagen werden wir ihn dort zu Grabe tragen.«

»Der König ist schon weiter, in Hatfield. Sein Tross kommt nur langsam voran nach dem vielen Regen im Juli. Auch die Postreiter treffen stets verspätet bei uns ein, weshalb es nicht immer einfach ist, den Wünschen des Königs zu entsprechen.« Er schüttelte den Kopf und wirkte jäh erschöpft. Cranmer, hieß es, verstehe sich nicht recht auf Politik.

»Ein erbärmlicher Sommer«, stellte ich fest. »So nass wie der vorige trocken.«

»Gottlob ist das Wetter jetzt ein wenig besser. Die Königin begann schon zu kränkeln.«

»Man munkelt, sie sei guter Hoffnung«, wagte ich zu bemerken.

»Dummes Geschwätz!«, sagte der Erzbischof und runzelte unwillig die Stirn. Er verfiel in Schweigen, wie um seine Gedanken zu sammeln, und fuhr dann fort: »Wie Ihr wohl wisst, reiten auch Rechtsanwälte mit dem Tross gen Norden. Ihnen obliegt es, etwaige Streitigkeiten innerhalb des Trosses oder mit der Bevölkerung entlang des Wegs zu schlichten.« Er holte tief Luft. »Der König hat dem Norden versprochen, für Gerechtigkeit zu sorgen. In jeder Stadt dürfen daher Klagen gegen die örtlichen Behörden vorgebracht werden. Ausgewählte Juristen treffen sodann eine Vorauswahl, klauben alles Kleinliche, Törichte heraus, schlichten, wo sie können, und schicken den Rest zum Nordenglischen Kronrat. Nun ist aber einer der königlichen Anwälte an Lungenentzündung verstorben, der Ärmste. Der Haushofmeister hat daher den Kronrat in einem Brief ersucht, Ersatz für ihn zu schicken; er möge in der Stadt York zum Gefolge des Königs stoßen, da dort eine Menge Arbeit seiner harre. Ich dachte dabei an Euch.«

»Ach.« Dies war nun nicht, was ich erwartet hatte: Cranmer wollte mir eine Gunst erweisen.

»Und da Ihr ohnehin in diese Richtung reitet, umso besser. Ihr werdet im folgenden Monat mit dem Tross heimkehren und fünfzig Pfund für Eure Mühe erhalten. Man erlaubt Euch aber nur einen Gefolgsmann; so nehmt lieber Euren Gehilfen mit als einen Leibdiener.«

Ein wahrhaft großzügiges Angebot! Und doch zögerte ich, da ich weder dem König noch seinen Gefolgsleuten zu begegnen wünschte. Ich holte tief Luft.

»Mylord, wie ich höre, soll auch Sir Richard Rich den Tross begleiten.«

»Ah ja, die Sache mit dem Griechischen Feuer, verstehe.«

»Das ist es nicht allein. Ich bin obendrein in einen Streitfall verwickelt, der ihn betrifft. Rich würde mir gewiss so manchen Knüppel zwischen die Beine werfen.«

Der Erzbischof schüttelte den Kopf. »Kümmert Euch nicht um ihn. Er ist mit den Ländereien befasst, die der König in Yorkshire konfiszieren ließ. Die Petitionen fallen nicht in sein Ressort.«

Sollte ich es wagen? Ich wäre mit einem Schlag all meine Geldnöte los und könnte zudem die Verbindlichkeiten meines Vaters begleichen. Überdies reizte mich die Aussicht auf dieses großartige Unternehmen; es wäre die Reise meines Lebens und würde mich von meiner Trauer ablenken.

Der Erzbischof neigte den Kopf zur Seite. »Entscheidet Euch, Master Shardlake. Ich habe wenig Zeit.«

»Ich will es tun, Mylord«, sagte ich. »Ich danke Euch.«

Der Erzbischof nickte. »Gut.« Dann beugte er sich vor, und die schweren Ärmel seines Gewands streiften raschelnd die Papiere auf seinem Pult. »Ich habe noch ein kleines persönliches Anliegen«, sagte er. »Ihr sollt in York etwas für mich erledigen.«

Mir stockte der Atem. Jetzt saß ich in der Falle. Er war eben doch ein guter Politiker.

Der Erzbischof sah meine erschrockene Miene und schüttelte den Kopf. »Keine Sorge, Sir. Ihr braucht Euch keiner Gefahr auszusetzen, das Anliegen ist ein ganz unschuldiges. Es erfordert lediglich eine gewisse Autorität, und vor allem –«, er blickte mich scharf an –, »Verschwiegenheit.«

Ich kniff die Lippen zusammen. Cranmer legte die Fingerspitzen aufeinander, einen Turm formend, und fragte:

»Ihr wisst, warum der König nach Norden reist?«

»Er will in den aufständischen Gegenden seine Macht demonstrieren, seine Autorität zurückgewinnen.«

»Der englische Norden ist fürwahr der letzte Ort, den Gott geschaffen hat!«, sagte Cranmer in jähem Zorn. »Ein Volk von Barbaren und papistischen Ketzern.«

Ich nickte, sagte aber nichts, wartete, bis er die Karten auf den Tisch legte.

»Lord Cromwell richtete nach der Rebellion vor fünf Jahren im Norden Englands eine Zwangsregierung ein. Dieser nordenglische Kronrat beschäftigt unzählige Spitzel, und er tut gut daran, denn die neuerliche Verschwörung, die im Frühjahr glücklicherweise aufgedeckt werden konnte, stellte eine ernste Gefahr für uns dar.« Ein leidenschaftliches Funkeln trat ihm in die Augen. »Das letzte Mal hätte der König sich lediglich seiner reformerischen Berater entledigen sollen.«

Solcher wie Euch, dachte ich; sie hätten Cranmer ins Feuer geschickt.

»Diesmal schalten sie Heinrich einen Tyrannen und wollten ihn vom Throne stürzen. Außerdem planten sie ein Bündnis mit den Schotten, obgleich sie sie hassen, weil die Schotten zwar Papisten, aber noch ärgere Barbaren sind als sie selbst. Zum Glück wurde ihr Plan vereitelt, sonst Gnade uns Gott.«

Ich holte tief Luft. Er ließ mich an Geheimnissen teilhaben, die mich nichts angingen, Geheimnissen, die mich an ihn banden.

»Nicht alle Verschwörer wurden gefasst. Viele konnten sich in die Berge flüchten. Es gibt noch einiges aufzudecken bezüglich ihrer Pläne. Einer der Verschwörer ist Sir Edward Broderick von York. Er wurde unlängst dort gefangen genommen und soll auf dem Seeweg nach London überführt werden.« Cranmer presste die Lippen fest aufeinander, und einen Moment lang sah ich die Furcht in seinen Augen.

»Ein ganz bestimmter Aspekt in den Plänen der Verschwörer war nicht allgemein bekannt. Nur wenige waren eingeweiht, und wir glauben, dass Broderick einer von ihnen war. Besser, Ihr wisst nichts darüber. Niemand weiß etwas, bis auf den König selbst und ein paar verlässliche Ratsmitglieder in London und in York. Broderick will partout nicht reden. Der König sandte seine Kommissare hinauf nach York, aber sie brachten kein Wort aus ihm heraus, der Bursche ist stur wie der Teufel. Er soll mit dem Königlichen Tross in einem versiegelten Wagen von York nach Hull gebracht und dann zu Wasser nach London verfrachtet werden, bewacht von den zuverlässigsten Männern. Der König will in London sein, wenn Broderick verhört wird, und dieses Verhör kann nur im Tower stattfinden, wo wir den Fragestellern trauen und sicher sein können, dass ihre Kunst ihm die Wahrheit entlockt.«

Ich wusste, was das bedeutete. Folter. Ich holte tief Luft. »Und was habe ich dabei zu tun, Euer Gnaden?«

Seine Antwort überraschte mich. »Ihr sollt sicherstellen, dass er am Leben und wohlauf ist, wenn er hier ankommt.«

»Aber – ist er denn nicht in der Obhut des Königs?«

»Der Herzog von Suffolk trifft die Arrangements für den Tross; er hat auch den Kerkermeister für Broderick ausgesucht. Einen Mann, auf den unbedingt Verlass ist. Doch nicht einmal er weiß, wessen wir Broderick verdächtigen. Sein Name lautet Fulke Radwinter.«

»Der Name sagt mir nichts, Euer Gnaden.«

»Der Mann wurde überstürzt ausgesucht, und ich bin ein wenig – in Sorge.« Cranmer schürzte die Lippen und griff nach dem Siegel auf seinem Schreibpult. »Radwinter hat Erfahrung in der Bewachung und – Befragung – von Ketzern. Er hängt dem rechten Glauben an, und man kann darauf vertrauen, dass er Broderick strengstens bewacht.« Er holte tief Luft. »Doch mitunter schießt er ein wenig über sein Ziel hinaus. Einmal, da – starb ein Gefangener in seiner Obhut.« Er runzelte die Stirn. »Deshalb wünsche ich, dass noch jemand ein Auge auf Broderick hat, damit er wohlbehalten in den Tower überstellt werden kann.«

»Verstehe.«

»Der Herzog von Suffolk ist bereits verständigt, ich habe seine Zustimmung. Er teilt meine Sorge.« Er legte sein bischöfliches Siegel vor mir auf den Tisch, ein großes Oval aus Messing, an dessen Rand in lateinischer Sprache Cranmers Name sowie das Amt, das er bekleidete, eingeprägt war. In der Mitte sah man ein Relief von der Geißelung Christi. »Nehmt es, als Vollmacht. Ihr bürgt mir für Brodericks Wohlergehen, bis er hier in London eintrifft. Ihr werdet nicht mit ihm sprechen, Euch lediglich nach seinem Befinden erkundigen und sicherstellen, dass er keinen Schaden nimmt. Radwinter weiß, dass ich jemanden schicke, er wird meinen Wunsch respektieren.« Der Erzbischof lächelte wieder sein trauriges Lächeln. »Er ist mir persönlich unterstellt und bewacht normalerweise die Gefangenen, die ich in den Lollards’ Tower sperren ließ.«

»Verstehe«, sagte ich in sachlichem Ton.

»Falls nötig, so lockert dem Gefangenen die Fesseln, wenn sie auch nicht weniger sicher sein dürfen. Ist er hungrig, gebt ihm zu essen. Und wenn er krank ist, sorgt dafür, dass ein Arzt sich seiner annimmt.« Cranmer lächelte. »Eine mildtätige Pflicht, die Euch da erwartet, meint Ihr nicht?«

Ich holte tief Luft. »Mylord«, sagte ich. »Ich war der Meinung, meine Aufgabe in York beschränke sich auf die Bittgesuche an den König. Meine letzte Mission für Lord Cromwell brachte mich schier um den Seelenfrieden. Jetzt wünsche ich mir, keinen Anteil mehr am politischen Geschehen zu haben. Ich habe Männer auf grausamste Weise sterben sehen …«

»Dann sorgt dafür, dass dieser Mann am Leben bleibt«, sagte Cranmer ungerührt. »Mehr verlange ich nicht, und Ihr dünkt mir dafür der Richtige. Auch ich war dereinst Privatmensch, Master Shardlake, und lehrte in Cambridge Theologie. Bis der König mich bat, ihm die Scheidung zu ermöglichen. Manchmal ruft Gott uns zu schwerer Pflicht. Dann –«, sein Blick wurde wieder hart –, »dann müssen wir uns seinem Wunsche würdig erweisen.«

Ich sah ihn an. Falls ich mich weigerte, würde ich auch meinen Platz im Tross verlieren und wäre außerstande, meines Vaters Schulden zu begleichen. Außerdem hatte ich schon genügend Feinde bei Hofe und wollte es mir nicht auch noch mit dem Erzbischof verscherzen. Ich saß in der Falle.

»Nun gut, Mylord«, seufzte ich.

Er lächelte. »Der schriftliche Auftrag wird Euch morgen nach Hause geschickt. Ihr sollt in York als juristischer Berater fungieren.« Er griff nach dem Siegel und drückte es mir in die Hand. Es war schwer. »Und dies hier zeigt Radwinter. Kein Schriftstück.«

»Darf ich meinen Gehilfen einweihen? Barak?«

Cranmer nickte. »Meinetwegen. Lord Cromwell vertraute ihm. Obwohl er mit Bedauern bemerkte, dass weder er noch Ihr den rechten Eifer für die Reformation gezeigt hättet.« Er sah mich fragend an. »Wart Ihr nicht einmal anderer Meinung?«

»Das ist lange her.«

Der Erzbischof nickte. »Ah ja, Ihr gehört zu denen, die schon sehr früh dazu beitrugen, England zum wahren Glauben zu führen.« Er sah mich scharf an. »Und zur festen Überzeugung, dass nicht der Bischof von Rom, sondern der König, von Gott selbst zum Obersten Hirten seines Volkes bestimmt, Oberhaupt der Kirche sein sollte. Regt sich das Gewissen des Königs, dann spricht Gott aus ihm.«

»Jawohl, Euer Gnaden«, sagte ich, wenig überzeugt.

»Diese Verschwörer sind gefährlich und niederträchtig. Wir müssen hart gegen sie durchgreifen, auch wenn mir dergleichen zuwider ist. Schließlich soll das Erreichte bewahrt werden. Obwohl noch viel mehr zu tun ist, wenn wir in England ein christliches Gemeinwesen errichten wollen.«

»Das ist wahr, Mylord.«

Er lächelte, weil er meine Worte für Zustimmung hielt. »So geht mit Gott, Master Shardlake.« Er stand auf und entließ mich. Ich verneigte mich tief und zog mich zurück. Was habe ich mir nur wieder eingebrockt, dachte ich. Da sollte ich nun dafür sorgen, dass ein Mensch wohlbehalten den Folterknechten in die Hände kam. Welches Geheimnis mochte dieser Broderick hüten, das diesen ängstlichen Blick in Cranmers Augen trieb?

*

Stimmen draußen vor der Tür rissen mich aus den Gedanken. Ich rüttelte Barak wach, und wir standen eilig auf, beide unter Stöhnen, da unsere Beine noch steif waren. Die Tür ging auf, und ein Mann in verschlissener Robe trat in die Stube. Master Wrenne war breitschultrig und einen Kopf größer als Barak. Er war in der Tat schon älter, aber von gewinnendem Aussehen, wie ich erleichtert feststellen konnte. Sein kerzengerader Gang und die lebhaften blauen Augen unter dem verblichenen rotblonden Haar nahmen mich noch mehr für ihn ein. Er ergriff meine Hand.

»Master Shardlake«, sagte er mit klarer Stimme und nordisch gefärbter Aussprache. »Nein, Bruder Shardlake, das trifft es besser, denn wir sind ja Amtsbrüder. Ich bin Giles Wrenne. Schön, Euch zu sehen. Wir befürchteten schon, Ihr wäret hoffnungslos vom Wege abgekommen.«

Während er mich in Augenschein nahm, blieb sein Blick nicht wie jener der meisten Menschen auf meinem krummen Rücken haften. Ein Mann mit Feingefühl. »Wir hatten uns, fürchte ich, tatsächlich ein wenig verirrt. Darf ich Euch Jack Barak, meinen Gehilfen vorstellen?«

Barak verneigte sich und schüttelte dann Wrennes ausgestreckte Hand.

»Meiner Treu«, sagte der Alte. »Das nenne ich einen kräftigen Händedruck für einen Schreiber.« Er klopfte ihm auf die Schulter. »Gut so, unsere jungen Männer achten viel zu wenig auf körperliche Ertüchtigung und wundern sich dann über ihr teigiges Aussehen.« Wrenne blickte auf die leeren Teller. »Wie ich sehe, hat meine brave Madge Euch schon bewirtet. Sehr schön.« Er trat näher zum Feuer. Der Falke drehte sich ihm zu, wobei an seinem Fuß ein Glöckchen klingelte, und ließ sich den Hals kraulen. »Na, meine alte Octavia, frierst du auch nicht?« Er wandte sich mit einem Lächeln wieder an uns. »Der Vogel und ich waren so manches Mal gemeinsam auf der Jagd, doch jetzt sind wir beide zu alt dafür. Bitte setzt Euch; schade, dass ich Euch nicht hier beherbergen kann, solange Ihr in der Stadt seid.« Er setzte sich auf einen Stuhl und blickte bedauernd auf die staubigen Möbel und Bücher. »Meine arme Frau ist vor drei Jahren gestorben, seitdem fehlt in diesem Haus ein wenig die weibliche Hand. Ich habe nur Madge und einen Burschen, und Madge kommt allmählich in die Jahre – drei Männer zu versorgen, würde über ihre Kräfte gehen. Aber sie war die Magd meiner Frau.«

Soviel zu Baraks Theorie über Madge, dachte ich. »Wir haben eine Bleibe in St Mary’s, vielen Dank.« Wrenne lächelte und rieb sich die Hände. »Und dort gibt es gewiss allerhand zu sehen, wenn erst der König samt Gesinde dort eintrifft. Ihr wollt Euch bestimmt erst einmal gründlich ausschlafen. Ich schlage also vor, dass ihr beide morgen früh um zehn zu mir kommt, dann haben wir den ganzen Tag, um die Petitionen zu sortieren.«

»Gut so. In St Mary’s herrscht schon reges Treiben«, erzählte ich.

Der Alte nickte. »Dort sollen ja herrliche Gebäude entstehen. Angeblich überwacht Lucas Horenbout höchstselbst die Bauarbeiten.«

»Horenbout? Der königliche Hofmaler?«

Wrenne nickte lächelnd. »Er soll nach Holbein der größte Künstler im Lande sein.«

»So sagt man. Ich wusste nicht, dass er hier ist.«

»Tja, sie scheinen eine große Zeremonie vorzubereiten. Ich selbst war noch nicht dort, nur wer dringliche Geschäfte hat, wird nach St Mary’s eingelassen. Einige sagen, die Königin sei guter Hoffnung und erhalte in York die Krone. Aber niemand weiß es genau.« Er stockte. »Habt Ihr mehr gehört?«

»Dieselben Gerüchte.« Ich musste daran denken, wie verdrießlich Cranmer geworden war, als ich das Gerede der Leute erwähnt hatte.

»Nun gut. Das Volk hier in York wird es noch früh genug erfahren.«

Wrennes bitterer Unterton ließ mich aufmerken. »Vielleicht wird Königin Catherine ja tatsächlich gekrönt«, räumte ich ein. »Schließlich hat sie schon über ein Jahr lang an Heinrichs Seite ausgehalten«, fügte ich hinzu. Wrenne sollte nicht meinen, ich sei ein Speichellecker, der nur im ehrerbietigsten Ton von den Majestäten zu sprechen wagte.

Wrenne nickte lächelnd, hatte verstanden. »Tja, wir werden viel zu tun haben in den nächsten Tagen. Ich bin froh, dass Ihr mir helft, die Streu vom Weizen zu trennen. Gestern zum Beispiel las ich das Gesuch eines Mannes, der sich mit dem Kronrat um ein Stück Land von der Größe eines Schnupftuchs streitet.« Er lachte. »Aber derlei Unfug ist Euch ja sicherlich nichts Neues, Bruder.«

»O nein, Eigentumsrecht ist mein Spezialgebiet.«

»Oho! Ihr werdet noch bereuen, dass Ihr mir das verraten habt, Sir«, rief er augenzwinkernd. »Jetzt werde ich die Eigentumsfälle gleich an Euch weiterreichen und mich auf die Finanzsachen und Streitfälle konzentrieren.«

»Geht es in den Petitionen ausschließlich um solche Angelegenheiten?«, fragte ich.

»Ich fürchte schon.« Er runzelte die Stirn. »Man sagte mir, dem König sei viel daran gelegen, dem Volke im Norden zu beweisen, dass es ihm am Herzen liegt. Kleinere Belange werden von uns geschlichtet, an Seiner statt, die größeren an den Kronrat verwiesen.«

»Wie werden wir vorgehen?«

»Wir teilen die Aufgaben unter uns auf. Ich übernehme den Vorsitz, Ihr und ein Vertreter des Kronrats seid die Beisitzer. Die Kläger bringen ihre Anliegen vor, und wir versuchen zu schlichten. Habt Ihr Erfahrung darin?«

»O ja. Der König wird sich also nicht persönlich um die geringeren Angelegenheiten kümmern?«

»Aber nein.« Nach kurzer Pause setzte er hinzu: »Doch begegnen werden wir ihm schon.«

Barak und ich merkten auf. »Wie das, Sir?«

Wrenne neigte den Kopf. »Bis jetzt ließ der König in allen Städten und Ortschaften entlang der Straße, von Lincoln bis herauf nach York, die Honoratioren antreten, und wer vor fünf Jahren auf der Seite der Aufständischen war, der musste auf Knien angerutscht kommen, ihn untertänigst um Vergebung bitten und ihm sodann den Treueeid leisten. Interessanterweise dürfen sich laut Anordnung nicht zu viele Büßer auf einmal einfinden. Der König hat offenbar immer noch Angst. Etwa tausend Soldaten begleiten den Tross, und die königlichen Geschütze gelangen auf dem Seeweg nach Hull.«

»Aber es hat doch keinen Zwischenfall gegeben?«

Wrenne schüttelte den Kopf. »Nein. Aber der König legt großen Wert darauf, dass die Frevler im wahrsten Sinne des Wortes vor ihm zu Kreuze kriechen. Der Bußgang hier in York soll ein großes Spektakel werden. Die Ratsherren werden König und Königin am Freitag draußen vor der Stadt treffen, um in Sack und Asche gehüllt und in aller Demut Abbitte zu leisten, weil sie den Rebellen im Jahre 1536 erlaubten, York zu ihrer Hauptstadt zu machen. Da es für das einfache Volk schädlich wäre, ihre Stadtherren so erniedrigt zu sehen –« Wrenne zuckte vielsagend mit den schweren Augenbrauen –, »werden die Einwohner von York nicht zugegen sein, die sich ja sonst wider den König erzürnen könnten. Zudem erhalten der König und seine Gemahlin große Pokale, welche bis obenhin mit Goldmünzen gefüllt sind. Ein Willkommensgruß der Bürgerschaft … zu dem es einiger Überredungskunst vonseiten der Stadtherren bedurfte.« Ein spöttisches Lächeln umspielte seine Lippen. Er holte tief Luft. »Und wir beide, in unserer Eigenschaft als Anwälte der Krone, sollen Seiner Majestät in aller Form die Petitionen überreichen.«

»Dann sind wir also mitten im Geschehen.« Dabei hatte Cranmer mir das Gegenteil versprochen.

»Möglich. Tankerd, der Stadtschreiber, regt sich mächtig auf über die Rede, die er halten muss. Die Ratsherren lassen wegen jeder Bagatelle nach dem Herzog von Suffolk senden, damit auch alles dem Wunsche des Königs entspreche.« Er lächelte. »Ich gebe zu, dass ich schon sehr gespannt bin auf den König. Morgen, dünkt mir, bricht er in Hull auf. Sein Tross war länger als geplant in Pontefract verblieben und dann nach Hull weitergezogen. Und offensichtlich will der König nach seinem Aufenthalt in York erneut in Hull Station machen, zumal er plant, die Festungsanlagen der Stadt zu erweitern.« Und ausgerechnet in Hull sollten wir den Gefangenen auf ein Schiff bringen, dachte ich.

»Wann wird das sein?«, fragte ich.

»Anfang nächster Woche, meine ich. Der König wird allenfalls einige Tage hier in York verweilen.« Wrenne sah mich neugierig an. »Habt Ihr den König schon einmal zu Gesicht bekommen, da Ihr doch aus London seid?«

»Einmal, als Nan Boleyn gekrönt wurde. Aber nur von fern.« Ich seufzte. »Tja, zum Glück habe ich meine beste Robe und das neue Barett eingepackt.«

Wrenne nickte. »Soso.« Mit einer Behäbigkeit, die sein Alter verriet, stand er auf. »Nun Sir, Ihr müsst müde sein nach dem langen Ritt – Ihr solltet Euer Quartier aufsuchen und erst einmal ein wenig rasten.«

»Ja, müde sind wir wohl.«

»Im Übrigen werden Euch viele unbekannte Wörter zu Gehör kommen. Vergesst vor allem nicht, dass die Straßen hier gate heißen und Bar kein Wirtshaus bezeichnet, sondern ein Tor.«

Barak kratzte sich am Kopf. »Ach so.«

Wrenne lächelte. »Ich lasse nun Eure Pferde holen.«

Nachdem wir Abschied genommen hatten, ritten wir über den Kirchplatz und zum Tor hinaus.

»Master Wrenne dünkt mir doch recht munter für sein Alter«, sagte ich zu Barak.

»Tja, und für einen Anwalt ziemlich lebhaft.« Er sah mich an. »Und jetzt?«

Ich holte tief Luft. »Wir müssen uns sputen. Auf nach York Castle.«

Kapitel Drei

Wir standen vor den Toren der Stadt, unschlüssig, welcher Weg nach York Castle führte. Ich winkte einem hellhaarigen Jungen und bot ihm einen Farthing, wenn er uns führte. Er äugte misstrauisch zu uns herauf.

»Erst zeigt her!«

»Hier!« Ich hielt die Münze in die Höhe. »Und jetzt die Burg.«

Er deutete in die entsprechende Richtung. »Ihr müsst durchs Schlachthausviertel, Shambles. Das erkennt Ihr am Gestank. Dann quer über den Platz und dann seht Ihr schon Castle Tower.«

Ich gab ihm den Farthing. Kaum hatten wir uns ein Stück weit entfernt, warf er uns ein »Ketzerpack!« hinterher und entschlüpfte in eine Gasse. Die Umstehenden grinsten.

»Wir sind nicht sonderlich beliebt, was?«, sagte Barak.

»Nein. Wer aus dem Süden kommt, wird sogleich mit der neuen Religion in Verbindung gebracht, ob er will oder nicht.«

»Gibt es denn nur Papisten hier oben?«, fragte er.

»Wahrscheinlich. Sie wissen die Freude der Heilsbotschaft Christi eben nicht zu schätzen«, erwiderte ich mit grimmigem Spott. Barak sah verdutzt drein. Er sprach nie über seine religiösen Überzeugungen, doch hatte ich schon lange den Verdacht, er könne wie ich weder der evangelischen noch der papistischen Seite viel Angenehmes abgewinnen. Die Tatsache, dass er noch immer um seinen früheren Brotherrn Thomas Cromwell trauerte, hatte wohl eher persönliche denn religiöse Gründe.

Wir bahnten uns einen Weg durch die Menge. Baraks Kleider waren wie die meinen voller Staub, sein markantes Gesicht unter dem flachen, schwarzen Barett vom langen Ritt gebräunt.

»Wrenne wollte wissen, ob die Königin ein Kind erwarte«, sagte er.

»Wie ganz England. Da der König nur einen Sohn hat, hängt das Fortbestehen der Tudor-Dynastie an einem einzigen Menschenleben.«

»Einer meiner Freunde bei Hofe sagte mir, der König habe ein böses Geschwür am Bein und wäre im Frühjahr fast daran gestorben. Sie mussten ihn mit einem Stuhl auf Rädern im Palast herumschieben.«

Ich merkte auf. Dank seiner Kontakte zur Dienerschaft bei Hofe hatte Barak immer wieder wissenswerte Neuigkeiten auf Lager. »Ein Sohn aus der Howard-Linie käme den Papisten bei Hofe sehr zupass. Schließlich ist ihr Kopf, der Herzog von Norfolk, der Onkel der Königin.«

Barak schüttelte den Kopf. »Es heißt, die Königin hätte kein Interesse an Glaubensfragen. Sie ist ja auch erst achtzehn, noch ein leichtsinniges Hühnchen.« Er grinste anzüglich. »Der König ist schon ein gewiefter Fuchs!«

»Cranmer ließ durchblicken, dass Norfolks Stern im Sinken begriffen sei.«

»Dann ist er vielleicht bald einen Kopf kürzer«, erwiderte Barak, und in seiner Stimme lag ein Hauch Bitterkeit. »Bei diesem König weiß man nie, woran man ist, hab ich recht?«

»Wir sollten leise sprechen«, sagte ich. Ich fühlte mich unbehaglich in York. Hier gab es keine breiten Hauptstraßen wie in London, und so wurde man auf Schritt und Tritt von Fußgängern bedrängt. Die Gassen waren viel zu belebt, um darauf zu reiten, und ich beschloss, dass wir künftig wohl besser zu Fuß gingen. Obwohl viel Volk auf den Straßen war und reger Handel getrieben wurde in Erwartung des königlichen Trosses, hatte der Trubel wenig von Londons Leichtigkeit. Wir zogen allerorten feindselige Blicke auf uns, als wir langsam weiterritten.

Der Bengel hatte recht gehabt: Der Gestank von fauligem Fleisch aus dem Schlachthausviertel schlug uns schon von weitem entgegen. Wir ritten durch eine schmale Gasse, in der Speckseiten feilgeboten wurden, auf denen sich die Fliegen tummelten. Jetzt war ich froh, hoch zu Ross zu sitzen, denn auf der Gasse watete man knöcheltief im Unrat. Barak rümpfte die Nase, als er Kaufwilligen dabei zusah, wie sie die Fliegen vom Fleisch wedelten, und den Weibern, wie sie ihre Rocksäume anhoben, damit sie nicht im Dreck schleiften, während sie mit den Händlern feilschten. Als wir den ekligen Ort hinter uns gelassen hatten, tätschelte ich meinem Genesis den Hals und raunte ihm beruhigende Worte zu, denn die Gerüche hatten ihn erschreckt. Am Ende einer stilleren Gasse sahen wir endlich die Stadtmauer vor uns und ein befestigtes Stadttor, vor welchem Wachtposten patrouillierten. Dahinter erhob sich ein grüner Erdwall mit einem runden steinernen Burgfried darauf.

»York Castle«, stellte ich fest.

Eine Jungfer kam uns entgegen. Sie wurde von einem Diener begleitet, auf dessen Wams das Wappen des Königs prangte. Die Jungfer trug ein vornehmes gelbes Kleid und war über alle Maßen hübsch, mit weichen Zügen, vollen Lippen und milchweißer Haut. Seidiges Blondhaar spitzte unter der weißen Haube hervor. Sie bemerkte meinen Blick, sah dann zu Barak auf und schenkte ihm ein keckes Lächeln, als wir vorüberritten. Barak zog vor ihr den Hut und zeigte ihr lächelnd seine blitzend weißen Zähne. Das Mädchen senkte errötend den Blick und ging weiter.

»Vorwitziges Ding«, sagte ich.

Barak lachte. »Was ist denn dabei, wenn sie einem hübschen Burschen schöne Augen macht?«

»Fang mir bloß keine Tändelei an hier oben! Die Jungfer ist aus York und könnte dich fressen.«

»In diesem Fall wär’s mir recht.«