Der Assistent der Sterne - Linus Reichlin - E-Book

Der Assistent der Sterne E-Book

Linus Reichlin

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Beschreibung

Es gibt kein Schicksal! Aber man kann ihm nicht entrinnen. Hannes Jensen, ehemaliger Inspecteur der Polizei von Brügge, hat einen fatalen Fehler gemacht: Während eines Seminars in Island schläft er mit einer Frau, die er kaum kennt. Als er nach Brügge zurückkehrt, zu Annick, die er liebt, trägt er am Hals noch die Spuren jener Nacht: Die Frau hat ihn gebissen, und dieser Liebesbiss entzündet sich. Jensen versucht, ihn mit einem Kaschmirschal zu verdecken. Annick den Fehltritt zu gestehen, hält er für schädlich: Es würde nur ihre Beziehung gefährden, die ohnehin auf wackligen Füßen steht. Außerdem hat Annick im Augenblick andere Probleme, in die sie Jensen nach seiner Rückkehr einweiht: Ihrer besten Freundin geht es nicht gut. Ein afrikanischer Wahrsager hat ihr prophezeit, dass ihre einzige Tochter von einem Mann getötet werden wird, der ein Mal am Hals trägt. Jensen, ein leidenschaftlicher Hobby-Physiker, glaubt nicht ans Schicksal. Seiner Meinung nach ist das Leben eine Abfolge von Zufällen, nichts ist vorbestimmt. Aber die Ereignisse der nächsten Tage lassen ihn an seinem Weltbild zweifeln. Es scheint, als bekomme der Wahrsager mit seiner Prophezeiung recht. Je mehr sich Jensen gegen die schicksalhaften Verstrickungen wehrt, in die er gerät, desto weniger kann er ihnen entfliehen. Ein Roman über Schicksal und Zufall, über Liebe und Betrug – vom Krimipreisträger 2009.

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Seitenzahl: 489

Veröffentlichungsjahr: 2009

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Für Fabia. Für Beda.

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1

VAN DER ELST MACHTE SICH SORGEN wegen eines Afrikaners, der schon seit Stunden draußen vor dem Hotel stand. Jensen hingegen machte sich Sorgen um Van der Elst. Er verstand nicht, weshalb die Hotelleitung einem so jungen Burschen, dem noch die Muttermilch die Wangen rötete, die Verantwortung für das ganze Haus aufbürdete. Van der Elst musste das De Tuilerieën allein durch den Winter bringen, dreißig leere Zimmer waren zu überwachen, in jedem konnten sich heimlich Männer einnisten, die zuvor draußen den Eingang beobachtet hatten.

»Es kommt mir vor, als würde er den Eingang beobachten«, sagte Van der Elst. Er war blond, schmächtig und zu groß für das alte Hotel, dessen Türbögen für die kleinwüchsigen Menschen vergangener Jahrhunderte gebaut worden waren, die kleinen wallonischen Grafen, die kurzgewachsenen Barone und für Napoleon Bonaparte, der möglicherweise einmal hier übernachtet hatte; zumindest hätte ihm die Einrichtung gefallen. Gebückt stand Van der Elst hinter dem Tresen der Rezeption.

»Was meinen Sie? Soll ich die Polizei anrufen? Im letzten Sommer wurde direkt vor dem Hoteleingang ein Gast überfallen.«

Ein Italiener, dachte Jensen. Er legte seinen Zimmerschlüssel auf den Tresen. Er konnte sich nur noch an den Vornamen erinnern, Benedetto, ein Tourist aus Mailand. Jemand hatte ihn mit einem abgesägten Besenstiel niedergeschlagen und ihm Brieftasche und Pass gestohlen.

»Ich bin ja für die Sicherheit der Gäste verantwortlich«, sagte Van der Elst, und seine langen, dichten Wimpern taten einen Flügelschlag.

Der Täter war nie gefasst worden.

Kein Wunder, dachte Jensen. Denn er selbst hatte den Fall bearbeitet, zu einer Zeit, in der er das Interesse an seinem Beruf bereits vollständig verloren und nur noch die Tage bis zu seinem Ausscheiden aus dem Dienst gezählt hatte, von hundert rückwärts auf null.

Jensen warf einen Blick in die Richtung, in die Van der Elst beständig deutete. Nur zwei verglaste Doppeltüren trennten das Hotel von jenem Mann, der draußen in höflichem Abstand vor dem Eingang stand, bei acht Minusgraden, im kältesten Brügger Winter seit vierundfünfzig Jahren. Der Mann stapfte von einem Fuß auf den anderen, um warmes Blut in die Zehen zu pumpen. Trug er Turnschuhe? Es sah so aus. Turnschuhe und einen Regenmantel, wenig Schutz bei einem Kälterekord.

»Er ist wohl eher für sich selbst eine Gefahr«, sagte Jensen und wandte sich wieder Van der Elst zu. Wie lange bin ich schon hier?, dachte Jensen. Vier Tage? Und die Uhr über dem Schlüsselbrett funktionierte immer noch nicht. Der Minutenzeiger rastete auf der halben Stunde ein, sprang dann aber wieder eine Minute zurück. Seit vier Tagen war das so. Die Uhr war eine Zumutung für Gäste, die das Gefühl hatten, nicht vorwärtszukommen.

»Verstehen Sie mich nicht falsch«, sagte Van der Elst, er wurde rot. »Ich habe nichts gegen Schwarze, nicht, dass Sie das denken. Meine Schwester ist mit einem …«

»Wir haben alle nichts gegen Schwarze«, sagte Jensen. »Und falls doch, gibt es dagegen Gesetze. Aber ich mache Ihnen einen Vorschlag. Sie lassen diese Uhr da reparieren.«

»Das habe ich schon veranlasst«, sagte Van der Elst hastig.

»Und ich gehe in die Buchhandlung, drüben bei der Nepomucenus-Brücke. Danach werde ich eine heiße Schokolade trinken, im Den Comptoir.« Denn obwohl die defekte Uhr halb sieben anzeigte, war es erst vier Uhr, zwei Stunden zu früh für ein Bier. »Sollte der Mann dann immer noch vor dem Hotel stehen, werden wir etwas unternehmen. In seinem eigenen Interesse.«

Als Jensen das De Tuilerieën verließ, blickte er beiläufig zu dem Mann hinüber. Es gab vorläufig keinen Grund, ihn anzusprechen. Natürlich war es merkwürdig, dass er bei dieser Kälte, bei der einem beim Einatmen lockere Zahnplomben und kariöse Stellen schmerzhaft bewusst wurden, stundenlang auf demselben Fleck stand. Aber sich selbst zu quälen war nicht verboten. Jensen meinte zu erkennen, dass die Haltung des Mannes sich, als ihre Blicke sich trafen, veränderte; das Bild eines Rehs, das die Ohren spitzt, stand ihm vor Augen.

Er wartet auf jemanden, der ihn wahrnimmt, dachte Jensen. Ein armer Kerl, Einwanderer, Alkohol, Sehnsucht, irgendetwas in der Art.

Jensen schlug den Weg zur Buchhandlung ein; es war nicht weit, nur hundert Schritte über vereiste Pflastersteine unter tief hängenden Wolken, denen es zum Schneien zu kalt war. Jensen war für diesen Jahrhundertwinter nicht ausgerüstet, er fror an den Beinen, seine Jeans ließen die Kälte ungehindert passieren. Vorgestern hatte er im Kaufhaus vergeblich nach langen Unterhosen gesucht: Es waren keine mehr vorrätig gewesen. Die Brügger Winter waren üblicherweise maritim mild, die Einkäufer waren von der Nachfrage nach Winterwäsche völlig überrascht worden. Gefütterte Handschuhe, Pelzmützen mit Ohrenklappen, dafür hätte man jetzt auch einen überteuerten Preis bezahlt. Aber solche Güter waren knapp, und so behalfen sich die meisten Brügger mit zwei übereinander getragenen Wollpullovern und fingerlosen Skihandschuhen. Auch Jensen hatte im Schrank noch eine alte, kaum gebrauchte orangefarbene Skijacke gefunden, die immerhin den Wind ein wenig dämpfte. Die Ohren wärmte er sich ab und zu mit den kalten Händen, das musste reichen.

Kurz vor der Nepomucenus-Brücke drehte er sich um, so als habe er einen Handschuh verloren. Wenn ich nur einen hätte!, dachte Jensen. Es fiel ihm leicht, so zu tun, als würde er einen Handschuh vermissen. Der Mann stand noch immer auf seinem angestammten Platz vor dem Hotel, eine dünne, in einen Regenmantel gewickelte Gestalt. Aus der Distanz konnte Jensen nicht erkennen, ob der Mann ihn beobachtete. Dennoch ging er im Gefühl weiter, verfolgt zu werden. Es war, als würde ihm jemand in den Nacken atmen. Er dachte, dass es vielleicht an der Brise lag, er schlug den Kragen der Skijacke hoch. Aber sein Nacken ließ sich dadurch nicht beruhigen. Er erreichte die Nepomucenus-Brücke, die sich noch an den Klang der Pestglocke erinnerte und die erbaut worden war, um das Jüngste Gericht zu überdauern. Gedrungen wölbte sie sich über den Dijverkanal, auf dem man zurzeit einen Teil der Altstadt zu Fuß hätte umrunden können, das Eis wäre dick genug gewesen. Zwei Frauen trippelten über die Brücke, sie hatten sich einen japanischen Gang angewöhnt, um auf den Pflastersteinen, puren Eiswürfeln, nicht auszurutschen. Rechts der Brücke befand sich die kleine Buchhandlung, deren Sortiment bescheiden war. Aber einen oder zwei Begleitromane hoffte Jensen dort zu finden. Die Romane würden ihn nach Island begleiten, auf die große Reise, und nach drei Wochen würde er sie ungelesen wieder nach Brügge zurückbringen. Das war der Plan.

In der Buchhandlung glühten die Radiatoren, es roch nach verbrannter Luft. Jensen begann augenblicklich zu dampfen; er zog den Reißverschluss der Skijacke hinunter, es half nichts, er brach unter seinen zwei Pullovern in Schweiß aus.

Er war der einzige Kunde. Die Verkäuferin hockte mit einem Buch in der Hand hinter der Kasse. Sie blickte über den Rand ihrer Brille und schenkte Jensen ein kaltes Lächeln, er störte sie beim Lesen. Jensen fand es auf eine Weise unanständig, dass die Buchhändlerin während der Arbeitszeit selber Bücher las. Es war, als würde ein Arzt auf die Klage eines Patienten über starke Kopfschmerzen antworten: »Das ist noch gar nichts gegen meine Kopfschmerzen!«

Jensen suchte nach dem Regal mit den Klassikern, denn als Begleitromane waren Klassiker sehr viel besser geeignet als Neuerscheinungen, bei denen man nicht wusste, woran man war. Er wollte in Island nicht herausfinden müssen, dass das Buch eines zeitgenössischen Autors ihm völlig fremd war: und dann drei Wochen allein mit einem Buch, mit dem man sich nicht verstand. Jensen hatte Lust auf etwas klassisch Russisches, Tolstoi, Dostojewski, Gogol; diese drei Russen hatten sie, und von jedem ein einziges Buch. »Die toten Seelen« von Gogol, das hatte Jensen schon lange einmal lesen oder wenigstens ungelesen von einer Reise zurückbringen wollen. Er nahm das Buch aus dem Regal, und da das Regal nach hinten offen war, entstand eine schmale Lücke, durch die Jensen zwischen Dostojewski und Tolstoi den Mann sehen konnte. Er stand draußen vor der Buchhandlung und wischte sich etwas vom Regenmantel, bevor er die Tür aufstieß. über dem Rahmen der Tür hingen drei dünne Klangröhrchen, die nun ein sphärisches Bimmeln erzeugten.

Jensen trat hinter dem Regal hervor, er zeigte sich dem Mann, sagte aber noch nichts; er wollte abwarten, wie die Dinge sich entwickelten. Alkohol, Sehnsucht, das war es wohl doch nicht, denn von Nahem betrachtet wirkte der Mann keineswegs wie ein Verwirrter. Es war ein junger Mann aus Afrika, der eine billige Hornbrille mit wuchtigem Gestell trug, hinter der seine klugen, freundlichen Augen wie gefangen wirkten. Ein Student, dachte Jensen, der Leihbibliotheken durchwühlt, keine Mülleimer, der aber stets falsch eingeschätzt wird, von Leuten wie dir.

Der Mann strich mit der Hand über einige der Bücher auf dem Verkaufstisch. Eines klappte er auf, aber es war offensichtlich, dass er in Gedanken bei Jensen war.

»Kennen Sie das?«, fragte Jensen. Er zeigte dem Mann Gogols Buch. Ein Gespräch war ja unvermeidlich, der Mann war ihm gefolgt, das musste besprochen werden. Warum also das Gespräch nicht mit Gogol beginnen?

»Die toten Seelen«, sagte der Mann. Er nickte. Seine Brille hatte sich beschlagen, er nahm sie ab und rieb sie mit einem Taschentuch trocken. »Ich kenne aber nur den Titel. Ich lese wenig Romane. Ich habe keine Zeit dafür.« Er sprach ein weiches, melodiöses Flämisch; manchmal betonte er die falschen Silben. Er schaute Jensen lange in die Augen, und merkwürdigerweise war es Jensen nicht unangenehm. Er erwiderte den Blick, eine Art Vertrautheit entstand, in der Jensens Frage völlig natürlich klang.

»Sind Sie mir gefolgt?«

Der Mann schwieg. Er zog eine Packung Bonbons aus der Tasche seines Regenmantels und steckte sich eins in den Mund. Es waren, wie Jensen jetzt erkannte, keine Bonbons, es war Traubenzucker.

»Ist es so? Sind Sie mir gefolgt?«

»Ja.« Der Mann nickte. Die Traubenzuckerpastille knackte in seinem Mund.

»Und warum?«

»Nicht aus böser Absicht.« Der Mann hob beide Hände. »Ich wollte Sie nur fragen, wer Sie sind. Das ist alles.«

Was für eine kuriose Frage! Jetzt nicht lachen, dachte Jensen. Der Mann blickte ihn sehr ernst und eindringlich an. Ein Student, dachte Jensen, klug, aber vielleicht eben doch verwirrt.

»Ich glaube, ich möchte zuerst wissen, wer Sie sind«, sagte Jensen, freundlich, keineswegs fordernd. »Da Sie mir gefolgt sind, wäre es doch, vom Ablauf her, richtiger, wenn zuerst Sie sich vorstellen würden. Finden Sie nicht auch?«

»Ja, es wäre richtiger.« Der Mann schien zu überlegen, ob er es riskieren durfte, sich vorzustellen. Schließlich streckte er Jensen die Hand hin. »Mein Name ist Pierre Lulambo.«

»Hannes Jensen.«

»Jensen«, wiederholte Lulambo. Er schloss die Augen. »Jensen. Das sagt mir nichts.« Er murmelte es. »Aber das ist nicht wichtig.« Er sagte es zu sich selbst.

»Herr Lulambo«, sagte Jensen. »Ich bin verabredet. Ich habe nicht allzu viel Zeit«, log er. »Um was geht es? Wollen Sie mit jemandem reden? Das wäre nichts Schlimmes. Ich glaube nur nicht, dass ich der Richtige dafür bin.«

»Ob Sie der Richtige sind, weiß ich nicht. Aber man kann es vielleicht herausfinden.« Lulambo klaubte eine weitere Traubenzuckerpastille aus der Packung. »Bitte. Nur eine Frage«, sagte er. »Dann werde ich Sie nicht mehr belästigen. Kennen Sie eine Frau, die Vera Lachaert heißt?«

»Nein. Warum?«

»Sind Sie sicher? Vera Lachaert. Haben Sie den Namen schon einmal gehört?«

»Nein. Tut mir leid. Ich kann Ihnen nicht weiterhelfen. Haben Sie deswegen vor dem Hotel gewartet? Um mich zu fragen, ob ich diese Frau kenne?«

»Ich habe nicht auf Sie gewartet. Ich wusste nicht, dass Sie es sein würden.«

Lulambo hielt in der einen Hand die Traubenzuckerpackung, mit der anderen zupfte er aus der Hosentasche ein Papiertaschentuch. Er wischte sich damit über die Stirn, denn vor einer Stunde hatte es geschneit, und dieser Schnee, der sich in seinen Haaren festgesetzt hatte, schmolz nun in der Wärme der Buchhandlung.

»Sie wussten nicht, dass ich es sein würde?«, fragte Jensen. »Was meinen Sie damit?«

»Ich kannte nur den Ort. Ich wusste, wo ich warten muss.«

»Ja«, sagte Jensen. »Stört es Sie, wenn ich Ihnen jetzt auch eine Frage stelle?«

»Nein.«

»Wo werden Sie heute Abend schlafen?«

»Schlafen? In meiner Wohnung.«

»Sie haben also eine Wohnung.«

»Ich habe ein Zimmer in einer Wohnung. In Antwerpen. Ich schlafe in meinem Zimmer.« Lulambo lachte plötzlich; es war ein offenes, strahlendes Lachen, das eines geistig gesunden Menschen, es war sehr verwirrend.

»Jetzt verstehe ich«, sagte Lulambo. »Sie denken, dass ich im Gebüsch übernachte. Aber nein. Ich schlafe in einem Bett. Ich esse dreimal am Tag, und ich trinke kein Wasser aus der Toilette. Aber wenn ich schlafe, träume ich manchmal. Darüber sollten wir aber jetzt nicht sprechen. Darf ich nun wieder Sie etwas fragen?«

Jensen wurde aus diesem Mann nicht klug. Er redete seltsames Zeug, aber wenn er lachte, wie vorhin, hätte man ihm die Wohnungsschlüssel anvertraut.

»Fragen Sie.«

»Sie kennen also keine Frau, die Vera Lachaert heißt.« Lulambo sprach jetzt leise, er wirkte wieder besorgt. Was immer ihn umtrieb, es musste für ihn äußerst wichtig sein; Jensen war bereit, das zu respektieren. »Wenn Sie diese Frau jetzt nicht kennen«, sagte Lulambo, »dann bedeutet das vielleicht, dass Sie sie erst morgen oder in einer Woche kennenlernen werden. Aber vielleicht nicht hier. Vielleicht an einem anderen Ort. Das könnte sein. Warten Sie!« Lulambo hob die Hand. »Haben Sie vor, zu verreisen? Morgen oder in nächster Zeit?«

Ein Zufall, dachte Jensen. Was sonst.

»Ja, ich werde verreisen«, sagte er.

Einen Moment lang war es so still, das man das Rascheln von Buchseiten hörte; die Buchhändlerin überblätterte offenbar ein uninteressantes Kapitel.

»Darf ich fragen, wohin Sie verreisen?«

Warum nicht, dachte Jensen.

»Nach Island.«

»Allein?«

»Nein.«

»Mit einer Frau? Oder ist eine Frau dabei?«

Ja, es war eine Frau dabei, die Assistentin von De Reuse. Jensen kannte sie nicht, und sie hieß nicht Vera Lachaert. Man hätte diesem Mann den Wohnungsschlüssel überlassen und es später bitter bereut.

»Es kommt eine Frau mit«, sagte er widerwillig. »Aber es ist nicht die Frau, die Sie suchen oder von der Sie glauben, dass ich sie kenne. Wahrscheinlich verwechseln Sie mich mit jemandem. Ich bin fast sicher, dass es so ist. Das macht aber nichts. Es hat mich gefreut, Sie kennenzulernen. Doch jetzt möchte ich dieses Buch hier kaufen, und dann muss ich leider los. Alles Gute.«

Sie schüttelten einander die Hand. Als Jensen seine zurückziehen wollte, hielt Lulambo sie fest. Es war Angst in seinen Augen, nicht die eines Verrückten, Jensen hätte es nicht erklären können, es war gesunde, begründete Angst. »Vera Lachaert«, sagte Lulambo. »Sie müssen ihr aus dem Weg gehen. Ich bitte Sie. Denken Sie daran. Halten Sie sich von dieser Frau fern. Es ist lebenswichtig.«

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2

SIE WOLLTE POPCORN, eine Packung mittlerer Größe, aber es war kein Film für Popcorn. Die Kritiker nannten den Film ein Kunstwerk, im Foyer des Kinos herrschte vor Beginn der Vorführung eine andächtige Stimmung. Die wenigen Besucher diskutierten leise über den Regisseur, während Jensen als Einziger Popcorn bestellte. Es war, als würde man sich in einer Kirche die Haare kämmen.

»Es ist mir egal«, sagte O’Hara, als Jensen ihr die Tüte brachte. O’Hara hatte sich diesen Film unbedingt anhören wollen.

»Was ist dir egal?«

»Sie reden über mich.«

»Wer?«

»Die Leute hier.«

»Ich dachte, sie reden über den Regisseur.« Aber er hatte es natürlich auch gehört. Wortfetzen, Extrakte aus geflüsterten Bemerkungen. Es war ihm weniger egal, als er es sich gewünscht hätte. Er hob den Kopf und blickte die Leute offensiv an, sie wandten sich ab. Einer sagte laut: »Dieser soll ja noch sehr viel besser sein.«

Brügge war eine Kleinstadt und damit der denkbar schlechteste Ort, um mit einer Blinden ins Kino zu gehen. Unweigerlich wurde man zur Attraktion. Jensen, der in Konstanz aufgewachsen war, hielt Kleinstädte seither für die miserabelste aller menschlichen Siedlungsformen. Das Vorzeichen der Kleinstädte war das Minus, minus Gemeinschaftsgefühl der Dorfbewohner, minus Gleichgültigkeit der Großstädter, ein Plus war beim besten Willen nicht zu erkennen. Und dennoch war er wieder in einer solchen Minus-Siedlung gelandet.

»Der Film fängt gleich an«, sagte er. »Gehen wir rein.«

»Auf wie viel Uhr?«, fragte O’Hara.

»Eingang auf zwei Uhr«, sagte er. Sie ging nun allein, ohne seine Hilfe, auf den Eingang des Kinosaals zu; die Leute wichen vor ihr zur Seite. Durch ein dürres Spalier schritt sie in den Saal, eine große, schöne Frau, der Saum ihres schwarzen Wintermantels wogte hin und her, die Männer hielten sich an ihren Eintrittskarten fest. Vor dem Eingang blieb O’Hara stehen, sie drehte sich nach Jensen um, in ihrer schwarzen Sonnenbrille spiegelten sich die Deckenlichter des Foyers.

»Jensen?«

»Ich bin hier«, sagte er.

»Welche Reihe?«

Er schaute auf den Tickets nach.

»Neun. Platz fünfzehn.«

Sie zählte mit der Hand die Sitzreihen ab, danach die Stühle, bei denen sie sich aber verzählte, sie setzte sich auf Sitz sechzehn.

»Es ist der Platz rechts neben dir«, sagte Jensen. Er respektierte natürlich ihren Wunsch, sich ohne fremde Hilfe in der Welt zurechtzufinden. Gleichwohl wäre es für ihn manchmal unkomplizierter gewesen, wenn sie sich einfach von ihm hätte führen lassen. Nicht einmal bei gemeinsamen Spaziergängen durch die Stadt hakte sie sich bei ihm unter, sie ging oft sogar einen Schritt vor ihm, sie verließ sich darauf, dass er ihr in der Sprache der Kampfpiloten die Richtung wies und sie vor Hindernissen warnte: »Müllsäcke auf elf Uhr, Entfernung fünf Meter.«

Er setzte sich neben sie, ihre Arme berührten sich, sie zog ihren weg und überließ ihm die Lehne.

»Und wann fliegst du morgen?«, fragte sie.

»Um zehn.«

»Am Montag lasse ich es machen.«

Sie sagte es, damit es gesagt war.

»Was lässt du machen? Doch nicht den Test?« Sie hatten keine Abmachung getroffen, was den Test betraf, und er hatte natürlich befürchtet, dass sie es vielleicht machen würde, während er weg war, einfach, weil die Zeit drängte. Dennoch war er jetzt vollkommen dagegen.

»Drei Wochen hätte es doch noch Zeit gehabt«, sagte er.

In aller Ruhe zog sie ihren Mantel aus; sie faltete ihn zusammen und legte ihn sich auf den Schoß. Sie trug einen engen, schwarzen Rollkragenpullover; unwillkürlich suchte Jensen nach einem Anzeichen, einer leichten Wölbung vielleicht. Aber es war nichts zu erkennen.

»Ich will das hinter mich bringen«, sagte sie.

»Aber am Montag bin ich nicht hier. Das weißt du doch.« Jensen verstand einfach nicht, was sie damit bezweckte. »Ich möchte nicht, dass du das allein machst. Ich möchte dabei sein. Das ist hier ist ein gemeinsames …« Projekt, hätte er beinahe gesagt. »Dann sage ich die Reise eben ab.«

»Das könnte dir so passen.« Sie lächelte, immerhin. »Nein. Du fährst nach Island. Diese Reise wird dir guttun. Du warst lange nicht mehr unter Leuten. Du brauchst ein bisschen Gesellschaft.«

Mit drei Menschen, die er kaum kannte, drei Wochen in einem abgelegenen Haus in Island zu verbringen war doch wohl eher eine gesellige Form der Kerkerhaft. Nicht wegen der Gesellschaft, einzig wegen der Physik hatte Jensen sich zu dieser Reise entschlossen.

»Jedenfalls möchte ich nicht«, sagte O’Hara, »dass du diese Angelegenheit jetzt zum Anlass nimmst, um dich vor dem Seminar zu drücken.«

»Es ist doch nur ein Privatseminar«, sagte Jensen. »Das ist etwas anderes. Die Teilnahme ist fakultativ. Und diese Angelegenheit, wie du es nennst, ist mir eben wichtiger. Das wirst du ja sicher verstehen.«

»Du bist doch stolz darauf, dass du eingeladen worden bist.«

Ja, er war stolz darauf, stolz auf die persönliche Einladung von Jan De Reuse, Professor für Physik, Universität von Antwerpen, fiat lux, bedenke, du bist nur ein Mensch. Es war kindisch.

»Herrgott noch mal«, sagte er. »Ich bin einundfünfzig. Ich war fast dreißig Jahre lang Polizist, und jetzt bilde ich mir ein, dass die Physik schon immer meine wahre Berufung war. Das ist doch eigentlich lächerlich. De Reuse hat mich wahrscheinlich aus Mitleid eingeladen.«

»Psst!«, zischte jemand in der Reihe hinter ihnen, obwohl doch auf der Leinwand erst Werbung für Rachenbonbons gezeigt wurde.

»Er hat sich wohl gedacht«, sagte Jensen etwas leiser, »dass jemandem, der mit einundfünfzig an einem Volkshochschulkurs für Quantenphysik teilnimmt, bewusst geworden ist, dass sein Leben in eine falsche Richtung gelaufen ist. Andere Männer kaufen sich in dieser Situation eine Jacht.«

»Seien Sie doch bitte still!«, sagte die Person in der hinteren Reihe.

»Aber darum geht es jetzt gar nicht«, flüsterte Jensen. »Ich will dich bei diesem Test begleiten. Und vor allem will ich da sein, wenn der Laborbericht kommt. Wie lange dauert das? Wann erfährst du, ob das Kind gesund ist?«

»Sie sagten, eine Woche. Vielleicht zehn Tage.«

»Und was, wenn der Befund negativ ist? Nicht im medizinischen Sinn, meine ich. Negativ für uns. Dann wäre ich in Island, in einem Haus, in dem es übrigens nur ein Satellitentelefon gibt. De Reuse sagte, es sei ein sehr altes Modell. Er weiß nicht einmal, ob es noch funktioniert. Dann sitzt du hier, allein, mit diesem Befund, und ich …«

»Wenn das Kind nicht gesund ist«, sagte O’Hara, »werde ich eine Entscheidung treffen. Sie steht schon fest. Ich brauche dazu deine Einwilligung nicht. Wir sind nicht verheiratet, deine Rechte sind limitiert.«

Sie beugte sich zu ihm und küsste ihn auf die Nase, ein Fehlkuss, der in diesem Zusammenhang sarkastisch wirkte; es lag aber einfach daran, dass sie seine Wange nicht sehen konnte. Sie korrigierte sich und küsste ihn diesmal auf die richtige Stelle.

»Fahr nach Island«, sagte sie. »Ich komme hier gut allein zurecht. Und wenn du zurückkommst, erzählst du mir, was du alles gesehen hast.«

Es wurde dunkel im Saal, der Film begann. Jensen starrte auf die Leinwand, ohne etwas zu sehen.

Sie kommt allein zurecht, dachte er. Es war ihr Wappenspruch: SEMPER SINE AUXILIO.

Chorionzottenbiopsie, jetzt fiel es ihm wieder ein. So lautete der Terminus für die Untersuchung, der sie sich am Montag in seiner Abwesenheit unterziehen würde. Sie war zehn Jahre jünger als er, erst einundvierzig, ein Alter, um das Jensen sie manchmal beneidete. Eigentlich hätte man doch ihn untersuchen müssen. Aber Spermien waren verglichen mit Eizellen simple Gebilde, weniger komplex als auch nur ein Geißeltierchen. Spermien standen auf einer Stufe mit den Viren, und wenn ein achtzigjähriger Mann hustete, konnte er mit Leichtigkeit eine sehr viel jüngere Frau anstecken, das war das ganze Geheimnis später Vaterschaft.

»Ich muss Sie auf die Risiken hinweisen«, hatte Doktor Vermeulen gesagt.

»Ich weiß«, hatte O’Hara geantwortet.

Down-Syndrom, Häufung mit zunehmendem Alter der Frau. Vermeulen hatte zu einer Chorionzottenbiopsie dringend geraten. Jensen hatte am Fenster des Behandlungsraums gestanden, mit verschränkten Armen. Vermeulen hatte versucht, sich seine Verärgerung nicht anmerken zu lassen. Mit Blick auf den Monitor des Ultraschallgeräts hatte er gesagt: »Es sieht alles gut aus.« Außer, dass ich persönlich es für verantwortungslos halte, dass eine blinde Frau ein Kind zur Welt bringt. Es war Vermeulen auf der Stirn gestanden: Diese Schwangerschaft konnte er nicht gutheißen.

Jensen schaute eine Weile auf die Leinwand, auf der ein Mann und eine Frau sich das Leben zur Hölle machten. Dazu reichte ihnen ein Hotelzimmer. Der Film dauerte schon eine halbe Stunde, und das Paar saß immer noch dort drin. Es war im Grunde ein Hörspiel, ideal für O’Hara, die gespannt zuhörte, während Jensen ihre Hände betrachtete, die im Halbdunkel schimmerten. Bei Tageslicht konnte man an ihrem Handgelenk die punktförmigen Narben sehen, die vom Biss jener Felsenklapperschlange herrührten, von der O’Hara im mexikanischen Hochland gebissen worden war, sieben Monate war es jetzt her. Ein Fall, Jensens letzter als Inspecteur der Brügger Kriminalpolizei, hatte eine Reise nach Amerika und Mexiko erforderlich gemacht. Kurz vor seiner Abreise war O’Hara in sein Leben getreten, mit aller Entschiedenheit. Sie hatte von dem Fall im Radio gehört und wollte Jensen unbedingt nach Mexiko begleiten. Denn ihr Mann, John, dachte Jensen, John, das Gespenst, war vor zwei Jahren in Mexiko verschwunden. O’Hara hatte zwischen dem Verschwinden ihres Mannes und Jensens Fall eine Verbindung gesehen, zu Recht, wie sich später herausstellte.

John O’Hara. Ire, Arzt, Kosmopolit – und ihre einzige große Liebe, dachte Jensen. Ihr Herz war besetzt, damit musste er sich abfinden. Wegen ein paar Geldscheinen hatte ein mexikanischer Gelegenheitsverbrecher John O’Hara in eine Schlucht gestoßen.

»Ich liebe dich!«, sagte die Frau im Film.

»Das ist es ja, was mich anwidert«, antwortete der Mann.

Jensen betrachtete O’Hara, ihr Gesicht war der Leinwand zugewandt, zwischen ihren Knien ragte der Blindenstock empor, wie eine Fahnenstange, dachte Jensen. Es fehlte nur noch die Flagge, SEMPER SINE AUXILIO und darunter IN MEMORIAM JOHN O’HARA.

Lächerlich, dachte Jensen. Er war eifersüchtig auf einen Toten. Lächerlich war es deshalb, weil man gegen einen Toten nur verlieren konnte. Der Tote verharrte auf ewig im Zustand bester Erinnerung; die Fehler, die er zu Lebzeiten gehabt haben mochte, erodierten, bis nur noch seine guten Seiten übrig blieben.

Nach ihrer Rückkehr aus Mexiko hatten Jensen und O’Hara in ihrem Haus am Kortewinkel viele Abende lang miteinander Tee getrunken, nur die erlesensten Sorten; jede Tasse war eine für John gewesen. O’Hara und John hatten zuletzt in Shanghai gelebt und unter anderem ihre Leidenschaft für Tee miteinander geteilt, sodass Jensen, der zur Entspannung ausschließlich Bier trank, sich bei jeder Tasse, die O’Hara ihm vorsetzte, ausgeschlossen vorkam. O’Hara hatte während dieser Phase der Teeabende und auch später nie über John gesprochen; dennoch hatte Jensen sich stets als Ersatz-Teetrinker gefühlt. Sie hatten sich damals konsequent beim Nachnamen genannt. Aber am letzten dieser Abende hatte sie gesagt: »Hannes. Es wäre schön, wenn du heute Nacht hierbleiben würdest.« Am nächsten Morgen war sie für fünf Wochen nach Shanghai gereist, um die Wohnung zu verkaufen, die Möbel, alles, was sie an John noch hätte erinnern können. Sie hatte versucht, einen Schlussstrich zu ziehen, ihr Herz zu räumen, um frei zu werden für etwas Neues. Das jedenfalls hatte Jensen sich eingeredet, und er hatte gehofft, dass es ihr gelingen möge.

Der Film hatte einen langen Atem. Die Frau saß in Untersuchungshaft, der mit dem Fall betraute Kommissar verliebte sich in sie; natürlich war es eine obsessive Liebe. Der Kommissar versuchte den Mord einem anderen in die Schuhe zu schieben, darüber konnte Jensen nur lachen. Er versank vollends in seinen Erinnerungen.

Nach Shanghai war sie anders gewesen. Sie zog sich zurück. Sie sprach ihn wieder mit seinem Nachnamen an. Auf seine Bitten, sich mit ihm zu treffen, antwortete sie ausweichend. Sie verabredeten sich, aber dann vertagte sie die Verabredung wieder, sie schob sie hinaus, auf übermorgen, auf die nächste Woche, ihre Ausreden wurden immer komplizierter. Drei Wochen lang sprachen sie nur am Telefon miteinander, und dann, an einem verregneten Samstagmorgen, als er sie vom Den Comptoir aus anrief, einem Café, in dem er oft frühstückte, sagte sie: »Ich war beim Arzt.« Bei Doktor Vermeulen, der diese Schwangerschaft ablehnte und der jetzt eine Chorionzottenbiopsie für ratsam hielt, möglicherweise in der Hoffnung, dass eine Chromosomenschädigung dem Spuk ein Ende bereitete. Eine Blinde und ein Mann über fünfzig, der seinem Kind doch nichts anderes sein kann als ein Großvater!

Und eine Witwe, dachte Jensen, die einen Toten liebt.

Alles war in der Schwebe, nichts war entschieden. Nur, dass sie beide das Kind wollten, oder vielmehr: Es war nun einmal da. Entstanden zwar nicht aus Leichtsinn, sondern wegen eines Versagens der für die Verhütung zuständigen Chemikalien. Sie hätten sich aus der Verantwortung reden können mit der Begründung, dass es ein Unfall war, und niemand möchte für den Rest seines Lebens auf einer Unfallstelle leben. Darüber, immerhin, hatten sie miteinander gesprochen, und sie waren sich einig gewesen, dass es völlig falsch war, von einem Unfall zu sprechen. Es war kein Unfall, es war etwas, das schon in fünf Monaten die Wärme der Sonne auf der Haut spüren und sich in fünfzehn Jahren zum ersten Mal in die schönen Augen eines knochigen Jünglings verlieben würde. Die Frage war nur, in welchem Ausmaß Jensen am Leben dieses Kindes teilnehmen würde. Kurz nach jener ersten Ultraschalluntersuchung bei Doktor Vermeulen hatte Jensen O’Hara den Vorschlag gemacht, bei ihm einzuziehen, sobald das Kind da war. Sein Haus in der Timmermansstraat war zwar klein, aber man hätte den Abstellraum im oberen Stock mit wenig Aufwand in ein Kinderzimmer umbauen können. Außerdem war O’Haras Haus am Kortewinkel noch wesentlich kleiner; Wohnzimmer, Schlafzimmer, eine Küche, das war alles. Wo wollte sie denn dort ein Kind unterbringen? »Jensen«, hatte sie gesagt. »Mit dem Kind leben und mit dir leben, das ist nicht dasselbe.«

Vielleicht brauchte sie einfach noch Zeit.

Der Film war endlich fertig, der Kommissar tot. Nachdem er behauptet hatte, nur der Tod komme der Liebe gleich, hatte er sich den Lauf seiner angeblichen Dienstwaffe an die Schläfe gedrückt. Jensen erkannte die Waffe natürlich, es war eine Walther TPH, Kaliber 22, auch bekannt als Damenwaffe. Kein Polizist der Welt hätte diese kleinkalibrige Pistole als Dienstwaffe akzeptiert.

»Und?«, fragte O’Hara, als sie aus dem Kino in die eiskalte Nacht traten, eine scharfe Brise fraß sich in Jensens Gesicht, er drehte dem Wind den Rücken zu. »Wie hat dir der Film gefallen?«

»Gut. Ich hatte viel Zeit, um nachzudenken.«

Sie ging nicht darauf ein, sie sagte: »Ich bin müde. Lass uns nach Hause gehen.«

»Und wo ist das?«

»Ich wohne am Kortewinkel. Und du? Wohin gehst du? In die Timmermansstraat? Oder wohnst du immer noch im Hotel?«

»Ja.«

»Warum eigentlich? Warum wohnst du im Hotel? Ich finde das merkwürdig.«

»Ich lasse mir einen Kamin einbauen. Und Stijnen ist noch nicht fertig. Stijnen, so heißt der Hafner. Er soll gut sein.«

Die Straßenlampe auf der gegenüberliegenden Straßenseite flackerte, es sah aus, als würde sie einen Morsecode in die Nacht senden.

»Wofür brauchst du denn einen Kamin?« O’Hara lachte. »Verzeih mir, aber du und ein Kamin?«

Nein, nicht er und ein Kamin. Sondern sie, das Kind und er und ein Kamin, so hatte er sich das vorgestellt. Ein Kamin aus Naturstein, mit Funkenschutzgitter. Sein Haus war nicht gemütlich, aber ein Kamin würde das ändern, gemütliche Abende vor dem Feuer, das Knistern, ein Glas Rotwein für ihn und O’Hara, wenn das Kind schlief, in der umgebauten Abstellkammer.

»Ich bringe dich jetzt nach Hause«, sagte er. »Geradeaus, zwölf Uhr.«

Die Stille der Gassen übertrug sich auf sie, sie gingen schweigend, die Mantelkragen hochgeschlagen; einmal rutschte O’Hara auf dem vereisten Pflaster aus, Jensen hielt sie fest, er spürte, wie sie sich verkrampfte.

Vor ihrem Haus am Kortewinkel küsste er sie auf den Mund, ihre Lippen waren kalt.

»Morgen fliege ich dann also«, sagte er. »Sobald ich angekommen bin, rufe ich dich an. Und noch etwas. Falls sich bei dem Test herausstellt, dass das Kind nicht gesund ist, möchte ich, dass du auf mich wartest. Bis ich zurück bin. Wir sollten die Entscheidung gemeinsam treffen. Es ist auch mein Kind.« Es war schlimm genug, dass er das immer wieder betonen musste.

»Dieser Kamin«, sagte sie. »Hat das etwas mit uns zu tun? Glaubst du, dass mir ein Kamin gefallen würde, und dass ich dann zu dir ziehe?«

»Kann sein«, sagte er. »Ja, schon möglich, dass ich es deswegen tue.«

Sie senkte den Kopf. »Ich kann dir nichts versprechen«, sagte sie. »Ich weiß nicht, wie es weitergeht. Ich bin einfach noch nicht so weit. Es ist auch noch nicht sicher …«

Sie schwieg.

»Was? Was ist noch nicht sicher?«

»Wir reden später darüber. Leb wohl! Ich wünsche dir eine schöne Zeit in Island.«

Leb wohl? Das klang endgültig.

»Warte«, sagte er, aber sie schüttelte den Kopf, und dann verschwand sie in ihrem kleinen Häuschen, einem der ältesten Häuser von Brügge, ein beliebtes Sujet bei Touristen, weil es so märchenhaft aussah mit seinen Fensterchen, die das Licht rationierten, sodass es drinnen selbst im Sommer nie richtig hell wurde, und den Erkerchen, gebaut für Elfen oder andere Wesen, die winzig genug waren, um darin Platz zu finden. Ein idyllisches Häuschen, wenn man sich die darin lebende Frau wegdachte, die sich nicht entscheiden konnte zwischen einem Toten und einem Lebenden.

Irgendwo bellte ein Hund, es begann zu schneien.

Auf dem Rückweg ins Hotel fühlte Jensen sich elend, er kämpfte gegen das Gefühl, in seinem Leben alles falsch gemacht zu haben. Weshalb sonst war alles so kompliziert und vor allem unentschieden? Mit einundfünfzig hätte das Leben einfach und klar sein müssen, wie eine Loipe. Das Leben als Loipe, in der man ruhig seine Bahnen zog, Stockeinsatz, einen Ski vor den anderen schieben, in einem Rhythmus, der einem in Fleisch und Blut übergegangen war. Die Loipe hätte zu einem Haus mit Kamin geführt. Eine Frau, die wusste, was sie wollte, hätte ein Holzscheit ins Feuer gelegt, ohne zuvor zu sagen: »Ich bin noch nicht so weit. Und es ist auch noch nicht sicher …« Und das Kind wäre zum Kamin gekrabbelt, ohne dass aber die geringste Gefahr bestand, denn man hatte an ein Funkenschutzgitter gedacht.

So hätte es sein müssen. Stattdessen hatte Jensen das Gefühl, sich in ein Gebiet abseits der markierten Piste verirrt zu haben, weit und breit keine Loipe, nur ein mit Tiefschnee bedeckter Steilhang, und hinter ihm das Donnern einer Lawine. Ich weiß nicht, wie es weitergeht, hatte sie vorhin gesagt, und solange sie es nicht wusste, wusste er es auch nicht; man konnte nur die Augen schließen und die Skier talabwärts richten, in der Hoffnung, der Lawine zu entkommen.

Als er aus der Kälte in die überheizte Hotellobby trat, wurde sein Gesicht heiß, seine Wangen glühten.

Van der Elst kam hinter dem Tresen der Rezeption hervor, aufgeregt fuchtelte er mit einem Zettel.

»Sie glauben nicht, was passiert ist! Dieser Mann war hier. Der Afrikaner. Etwa eine Stunde nachdem Sie das Hotel verlassen haben, ist er einfach hier hereinmarschiert. Er behauptete, dass er Sie kennt! Er wollte, dass ich Ihnen das hier gebe. Er sagte, es sei sehr wichtig. Ich sagte ihm, er solle verschwinden. Ich habe es natürlich nicht so direkt gesagt, ich bin ja allein hier. Ich wollte ihn nicht provozieren. Ich habe es ihm sehr höflich mitgeteilt. Und er ist dann auch tatsächlich gegangen.«

Van der Elst überreichte Jensen den Zettel.

»Danke«, sagte Jensen.

»Ich habe natürlich die Hoteldirektion informiert. Herr Deckmyn hat mich ermächtigt, den Mann notfalls polizeilich des Hauses zu verweisen, falls er noch einmal hier auftauchen sollte. Außer natürlich, wenn Sie den Mann kennen. Das wäre etwas anderes. Aber das kann ich mir nicht vorstellen.«

»Ja«, sagte Jensen. »Gute Nacht.« Er hatte jetzt wirklich schwerwiegendere Probleme.

Er stieg die Treppe hoch in die zweite Etage, wo sich sein Zimmer befand. Er knipste das Licht an, legte sich aufs Bett und las den Zettel. Es war im Wesentlichen eine in Druckbuchstaben geschriebene Bitte, den Namen Vera Lachaert nicht zu vergessen. Das sei lebenswichtig. Gezeichnet: Pierre Lulambo, »Ihr guter Freund«.

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3

» FISCH ODER GEFLÜGEL?«, fragte die Bordhostess in kantigem Englisch.

»Geflügel.«

Sie trug am Revers ein Namensschild, M. Sigurdóttir. Vor Jensens Augen entstand das Bild einer Felsküste, gegen die das Meer wütete, denn es war ein wildes Meer, die Küste war ihm im Weg, es wollte sie wegfegen. Ein salziger Wind trug die Gischt der Brandung zu einer moosbewachsenen Hütte, in der Sigur auf einem mit getrocknetem Gras gefüllten Leinensack seine sieben Töchter zeugte.

Jensen blickte aus dem Fenster. Er hatte keine Ahnung, wie das Meer hieß, dessen Wellen sich tief unten wie in Zeitlupe bewegten. Am Horizont stieg bereits die Dämmerung hoch, sie flogen einer frühen und langen Nacht entgegen.

»Wann geht denn in Island jetzt im Winter die Sonne auf?«, fragte er Sigurdóttir, als sie ihm die Plastikschale mit dem Geflügel reichte.

»Um halb zwölf«, sagte sie lächelnd.

»Und wann geht sie wieder unter?«

»Um halb vier ungefähr. Aber das wird jetzt von Tag zu Tag besser.«

Jensen fragte sich, wie er reagiert hätte, wenn auf ihrem Namensschild nicht M. Sigurdóttir gestanden hätte, sondern V. Lachaert. Vor Jahren hatte Jensen es beruflich mit einem Mann zu tun bekommen, der auf dem Marktplatz in Brügge eine Zeit lang Angst und Schrecken verbreitet hatte. Er hatte wahllos Leute, die an ihm vorbeigingen, am Arm festgehalten und ihnen mit Tränen in den Augen erklärt, sie hätten Magenkrebs, er spüre das, er wisse es einfach, sie müssten unbedingt sofort einen Arzt aufsuchen. Viele seiner Opfer hatten empört die Polizei angerufen und sich über den Spinner beklagt, der auf dem Marktplatz dummes Zeug erzähle. Aber als Jensen daraufhin die Zeugen befragte, gaben die meisten von ihnen zu, dass sie sicherheitshalber ihren Hausarzt konsultiert hatten, einige unterzogen sich später sogar einer Magenspiegelung. Van Heerden hatte der Mann geheißen, aber im Gegensatz zu Pierre Lulambo war er ein registrierter Freigänger des Onze-lieve-Vrouw gewesen, der Psychiatrischen Klinik von Brügge.

Jensen hatte gestern Abend noch Doktor Lambert angerufen, den er, wiederum beruflich, seit vielen Jahren kannte. Lambert war der Direktor des Onze-lieve-Vrouw. Er machte sich nicht nur die Mühe, in seinen eigenen Akten nachzusehen, in denen kein Pierre Lulambo verzeichnet war, sondern er durchforstete auch die Patientenlisten der Antwerper Kliniken. Lulambo hatte ja behauptet, er lebe in Antwerpen. Jedenfalls war er auch dort nie psychiatrisch behandelt worden. Das musste nichts bedeuten: Vielleicht war ja gestern der Tag gewesen, an dem er zum ersten Mal auffällig geworden war. In ein paar Wochen, sobald er zu viele Passanten vor seiner Vera Lachaert gewarnt hatte, würden sich ihm bestimmt die Tore einer Klinik öffnen.

Um drei Uhr nachmittags, bei Sonnenuntergang, landete Jensen in Reykjavík. Mit seinen zwei Wollpullovern war er zu warm angezogen, er schwitzte, als er vor dem Flughafen im letzten Tageslicht seinen Rollkoffer zum Taxistand zog. Die Luft roch fremdartig, schweflig, dann wieder salzig, je nachdem, aus welcher Richtung der Wind sie herantrug.

Auf der Fahrt ins Hotel fragte Jensen den Taxifahrer, ob es im Winter hier immer so warm sei.

»Das ist der Golfstrom«, sagte der Fahrer in akzentfreiem Englisch. »Er kommt aus Mexiko. Er ist unsere Heizung. Und es kostet uns keinen Cent.« Der Fahrer lachte. »Wenn wir für den Golfstrom bezahlen müssten, gäbe es hier nur Gletscher. Wir Isländer schauen aufs Geld.«

»Kennen Sie den Langjökull?«, fragte Jensen.

Der Fahrer drehte sich kurz zu ihm um.

»Da haben Sie aber den Richtigen erwischt. Ich komme nämlich aus Húsafell. Die Künstlerkolonie. Haben Sie davon gehört? Kjarval, der Maler?«

»Nein. Ich bin zum ersten Mal in Island.«

»Jóhannes Sveinsson Kjarval. Na ja, das war früher. Aber den Wald haben wir noch.« Wieder lachte der Fahrer. »Vier Meter hohe Birken gibt es dort. Vier Meter! Sind Sie zum ersten Mal in Island?«

»Ja.«

»Dann sollten Sie im Sommer wiederkommen. Jetzt im Winter kann man den Wald nicht besichtigen.«

»Warum nicht?«

»Es ist alles zu. Die Piste ist gesperrt.«

»Aber zum Langjökull kommt man doch?«

»Sie wollen zum Langjökull? Das ist ein Gletscher.«

»Das weiß ich. Aber beim Langjökull gibt es ein Haus. Wir fahren morgen dorthin. Ich und ein paar … Freunde.«

»Húsafell«, sagte der Fahrer. »Sie meinen Húsafell. In Húsafell gibt es Häuser. Aber direkt beim Langjökull? Nicht, dass ich wüsste. Vielleicht ein Schuppen. Für Benzin und Vorräte. Aber Motorschlittenfahren können Sie da jetzt auch nicht. Sie kommen gar nicht hin.«

Hatte Jensen etwas falsch verstanden? De Reuse hatte doch von einem Haus am Fuß des Gletschers Langjökull gesprochen. Ein ererbtes Haus, es hatte seiner aus Island stammenden Mutter gehört.

»Dann habe ich mich wohl geirrt«, sagte Jensen. Es würde sich morgen klären, wenn De Reuse und die anderen Teilnehmer des Privatseminars im Grand Hotel Reykjavík zu ihm stießen.

»Vielleicht ein altes Gehöft«, sagte der Fahrer. »Das könnte schon sein. Aber wie gesagt, die Kaldidalurpiste ist bis Anfang Mai gesperrt. Haben Sie wirklich noch nie etwas von Jóhannes Kjarval gehört?«

Jensen bezog sein Zimmer im Grand Hotel. Ein Page stellte ihm den Koffer auf die Ablage, Jensen drückte ihm eine Münze in die Hand.

»Brauchen Sie sonst noch etwas?«, fragte der Page, der eine rote Hoteluniform trug. Als Jensen verneinte, kratzte der Page sich hinter dem Ohr und sagte: »Eine Begleitung vielleicht?«

»Ich weiß nicht, was Sie meinen.«

»Ich könnte es arrangieren.«

»Ich will fünf«, sagte Jensen. »Fünf Stuten. Pferde, verstehen Sie? Und ein paar junge Hunde. Aber es muss unter uns bleiben.«

Der Page stieß einen höhnischen Laut aus und verschwand.

Jensen prüfte nun die Bettlaken auf Sauberkeit, sein Vertrauen in das Hotel war erschüttert. Er entdeckte unter dem Kissen ein Haar, aber das mochte einem Zimmermädchen gehört haben. Das Zimmer war kalt möbliert, der Wille zur Modernität ließ einen frieren. New York! Paris! London!, schrien einem die Möbel entgegen. Dabei wären Möbel aus Walknochen doch viel authentischer gewesen. Einsamkeit und Walfang, das waren doch die beiden bedeutenden isländischen Traditionen; er mochte die Insel von Anfang an nicht.

Er setzte sich ans Fenster und schaute hinaus in die nachmittägliche Nacht. In der Ferne zeichneten Lichter die Konturen der Hafenbucht nach. Rauchbucht, er hatte sich vor der Abreise informiert. Reykjavík hieß Rauchbucht, wegen der Dämpfe, die aus den heißen Quellen aufstiegen, die ganze Insel war eine Vulkangeburt; der Vulkan streckte gewissermaßen seinen zu Stein erstarrten Hintern aus dem Wasser, und über diesem Hintern ging nun um halb zwölf Uhr mittags die Sonne auf. Wie konnte man hier nur leben. Entweder war es den ganzen Tag hell oder ständig dunkel, die einzige Hoffnung war der Flughafen Keflavík. Jensen hatte vor Jahren eine Zeit lang mit großer Begeisterung ein Computerspiel gespielt, in dem kleine Spielfiguren auf Inseln Städte bauten, wenn man ihnen den entsprechenden Befehl dazu gab. Aufgrund eines Programmierfehlers gehorchten aber nach einer Weile einige der Spielfiguren den Befehlen nicht mehr: Anstatt Häuser zu bauen und Weizen zu ernten, versammelten sie sich an den Ufern ihrer Insel und starrten tatenlos aufs Meer. Durch nichts waren sie dazu zu bewegen, wieder an ihre Arbeit zurückzukehren. Sie standen einfach nur an der Küste, jeder für sich, mit den Füßen im Wasser. Einsamkeit und Walfang. Zumindest eine dieser Traditionen teilte Jensen mit den Isländern, das mochte der Grund sein, warum ihm die Insel spontan unsympathisch war.

Er schaute auf die Uhr des Fernsehers. Es war vier. In zwei Stunden erst stand ihm die Bar offen. Da der Alkohol seine Mutter früh ins Grab gebracht hatte, hielt Jensen sich strikt an die Regel, nie vor sechs Uhr abends zur Flasche zu greifen. Er beschloss, die beiden Stunden, die noch vergehen mussten, auf dem Bett liegend zu verdösen. Die Matratze war zu weich, wahrscheinlich hatten zu viele isländische Begleitungen auf ihr gelegen.

Als er erwachte, traute er seinen Augen nicht: Die Digitaluhr des Fernsehers zeigte 22:08. Er hatte sechs Stunden geschlafen. Nun war es zu spät, um O’Hara anzurufen und ihr mitzuteilen, dass er gut angekommen war. Er war außerdem nicht sicher, ob es sie überhaupt interessierte.

Eher nicht, dachte er.

Im Badezimmer kämmte er sich mit den Fingern die Haare zurecht. Er versuchte, sein Alter zu schätzen, aus Sicht eines Fremden.

Fünfundvierzig, dachte er. Er konnte das auch begründen. Seine Haare ließen ihn jünger aussehen, sie waren dicht und kräftig, es war eine Mähne.

Oder jedenfalls üppig, dachte er. Mähne war übertrieben, und er wollte ja auch keine Löwenhorde anführen. Etwas grau an den Schläfen, aber noch immer überwog die Farbe reifer Kastanien. Notfalls konnte man die verwelkten Stellen färben. Die Frage war nur, für wen. O’Hara hatte ihn nie nach der Farbe seiner Augen, seiner Haare gefragt. Und nur ein einziges Mal hatte sie sein Gesicht abgetastet, sehr ausführlich und exakt allerdings. Das Ergebnis kannte er nicht, er wusste nicht, wie er für sie aussah. Er bedauerte das, denn wenn Symmetrie ein Maßstab für Schönheit war, so hätte man sagen können, dass sein Gesicht recht symmetrisch war. Angenommen, O’Hara hatte das bemerkt: was hätte sie mit der Symmetrie anfangen können? Besaßen Blinde einen Sinn für körperliche Schönheit? Er befürchtete, dass noch Jahre vergehen mussten, bis er ihr diese Frage zu stellen wagte.

Er zog die Tür hinter sich zu und fuhr im Lift hinunter in die Hotellobby. Neben den Liftknöpfen hing die Wetterprognose für den nächsten Tag: Bedeckt bei plus zwei Grad, Sonnenaufgang 11:19. Die isländischen Kinder gingen folglich im Dunkeln zur Schule, und wenn sie in der Zehn-Uhr-Pause auf den Schulhof strömten, war es immer noch dunkel, unter den Sternen verzehrten sie ihr Pausenbrot.

Die Hotelbar glühte neonblau. Die eisige Illumination mochte eine ironische Anspielung auf den Landesnamen sein; Jensen bezweifelte allerdings, dass die Isländer auf so raffinierte Ideen kamen.

Zum Teufel!, dachte er. Lass die Isländer in Ruhe!

Er bestellte ein Bier, der Kellner verlangte eine Spezifikation. Jensen war sein einziger Kunde, der Kellner verfügte über alle Zeit der Welt, zwölf Biersorten zählte er auf.

Während Jensen den Sermon höflich über sich ergehen ließ, sagte hinter ihm jemand auf Flämisch: »Nehmen Sie das Einheimische.«

Jensen drehte sich um.

»Thule Lättöl«, sagte Jan De Reuse. »Ich kann es empfehlen.«

Jensen brauchte einen Moment, um in der neuen Situation heimisch zu werden.

»Ich dachte, Sie kommen erst morgen«, sagte er. Es war ihm unmöglich, seine Enttäuschung zu verbergen. Ihm standen ja noch drei Wochen bevor, drei Wochen mit drei Fremden irgendwo in der isländischen Einöde, in einem Haus, von dem der Taxifahrer behauptet hatte, es existiere nicht. Jensen hatte gehofft, diesen einen Abend noch allein verbringen zu können.

»Ich störe Sie doch nicht?«, sagte De Reuse, ohne Jensen anzusehen.

»Nein«, log Jensen. »Ganz und gar nicht. Und die anderen? Sind sie auch schon hier?«

»Sie kommen erst morgen, wie verabredet. Wir werden sie am Flughafen abholen.« De Reuse rückte einen Barhocker zur Seite, lehnte sich an die Theke und winkte den Kellner zu sich. Er sprach isländisch mit ihm. Der Kellner nickte; auf dem Weg zum Zapfhahn schaltete er die im Gläserregal eingebaute Stereoanlage ein, Pianomusik erklang, As Time Goes By.

»Das ist Island«, sagte De Reuse. »Ab zwei Gästen schalten sie die Musik an.«

»Ja«, sagte Jensen. Er fühlte die Notwendigkeit, etwas Kluges sagen zu müssen, aber ihm fiel nichts ein. Immerhin war De Reuse Professor für Physik, wenn auch nur an der Universität von Antwerpen, einer zweitklassigen Lehranstalt. Dennoch bestand zwischen ihnen ein deutliches Ungleichgewicht: hier der Laie, dessen Liebe zur Physik mangels mathematischer Kenntnisse etwas Schwärmerisches hatte, dort der Professor, der über das Higgs-Boson forschte, international gesehen zwar nur in der hintersten Reihe, aber trotzdem, De Reuses Gegenwart schüchterte ihn ein, Jensen hatte das Gefühl, sein Kinn nicht von der Brust lösen zu können. Ihm war nach wie vor rätselhaft, warum De Reuse ihn zu diesem Privatseminar eingeladen hatte. Er wagte allerdings auch nicht, nach dem Grund zu fragen; er befürchtete, dass die Antwort ihn verletzen könnte.

»Und?«, fragte De Reuse. »Wie gefällt Ihnen Island? Können Sie das schon beurteilen?«

Jensen sagte etwas Freundliches, denn De Reuses Mutter stammte ja von hier. De Reuse kratzte sich mit dem Fingernagel etwas aus dem Mundwinkel, er schien gar nicht zuzuhören.

Der Kellner brachte ihnen auffallend helles, schaumloses Bier.

»Skål«, sagte De Reuse. Er prostete Jensen zu. Das Bier schmeckte nach nichts.

De Reuse trug einen weißen Rollkragenpullover, dazu weiße Hosen aus grobem Leinen, Segelschuhe, denn das Seemännische war sein Stil. Auch während des Seminars an der Volkshochschule hatte er ausschließlich Jachtbekleidung getragen. Man hatte stets den Eindruck gehabt, dass ein Weltumsegler an der Volkshochschule kurz vor Anker gegangen war, um die physikbegeisterten Laien in die Geheimnisse der Quantenverschränkung einzuweihen, bevor er, der braun gebrannte Skipper, wieder Segel setzte und Kurs auf unerforschte Inseln nahm.

De Reuse trank sein Glas in einem Zug leer und streckte dem Kellner zwei Finger hin.

»Woher kommt eigentlich Ihr Interesse für Physik?«, fragte er. »Während des Kurses hatten wir ja keine Zeit, uns näher kennenzulernen. Aber wie Sie wissen, sind Sie mir aufgefallen. Sonst wären Sie nicht hier. Die ganze Zeit über habe ich mich gefragt: Was bringt einen Kriminalbeamten dazu, sich frühzeitig pensionieren zu lassen, nur um sich dann ganz der Physik zu widmen?«

Es war ein Fehler, dachte Jensen, ich hätte es nicht tun sollen. Er vermisste seinen Beruf, und die Physik füllte die Lücke nicht. Sämtliche populärwissenschaftlichen Bücher hatte er bereits gelesen, und über das Laienstadium würde er nie hinauskommen, dazu fehlten ihm die mathematischen Grundlagen. Die Sprache der Natur war die Mathematik, das Universum dachte in Zahlen, aber er eben nicht. Er konnte nur in Bildern denken, und Bilder waren die Übersetzung der Natursprache in spezifisch menschliche Emotionen und Interpretationen; Bilder konnten unmöglich die physikalische Wahrheit wiedergeben, das erreichten nur Gleichungen. De Reuse konnte sich mit dem Universum unterhalten, er nicht. Das wollte Jensen aber unter keinen Umständen zur Sprache bringen.

»Als ich elf war«, sagte er, »ist meine Mutter gestorben. Sie war Alkoholikerin.« Er war sich nicht sicher, ob er De Reuse gegenüber wirklich so offen sein wollte. Andererseits war es ihm wichtig, dessen Frage nach seinem Interesse für Physik wahrheitsgemäß zu beantworten. »In der Nacht vor ihrem Tod betete ich. Ich flehte Gott an, er möge meine Mutter sterben lassen. Es war so ernst gemeint, wie ein Kind es eben ernst meint, wenn es verzweifelt ist und einfach nur möchte, dass alles aufhört. Am nächsten Tag war meine Mutter tot, und nun stand ich vor der Frage, ob ich daran schuld war oder nicht.« Jensen trank sein Bier leer, der Kellner stellte bereits das zweite hin. »Es war jetzt absolut notwendig, dass ich herausfand, wie die Welt funktionierte. Eines Tages, während einer Messe in der Konstanzer Dreifaltigkeitskirche, fiel mir auf, dass Christus an nur drei Nägeln am Kruzifix hing. Ich überlegte mir, wie schwer Christus zu Lebzeiten gewesen war. Er war Mensch und Gott, und als Mensch hatte er folglich bestimmt sechzig oder siebzig Kilo gewogen. Es fiel mir schwer, zu glauben, dass ein siebzig Kilogramm wiegender, vertikal hängender Erwachsener von nur drei Nägeln an einem Kreuz festgehalten werden konnte. Nach der Messe habe ich in unserem Garten einen sieben Kilogramm schweren Sack mit Kohlebriketts am Apfelbaum befestigt, mit drei Nägeln. Nach achtzehn Minuten, ich habe es mit der Stoppuhr überprüft, riss der Sack und fiel zu Boden. In diesem Moment begriff ich, dass es eine messbare Wahrheit geben muss und dass diese Wahrheit etwas Befreiendes hat.«

»Wunderbar«, sagte De Reuse. Er stieß mit Jensen an. »Skål. Die Geburt der Physik in der Kirche. Sie kennen doch die Geschichte, dass Galileo Galilei während einer Messe einen hin- und herschwingenden Kandelaber beobachtete und anhand dieser Beobachtung später herausfand, dass die Periode eines Pendels nicht von der Auslenkung oder dem Gewicht abhängt, sondern von der Länge des Pendels. Dass es der Kandelaber in der Kirche war, der ihn auf diesen Gedanken brachte, ist natürlich nur eine Legende. Es ist trotzdem eine schöne Geschichte. Wie Ihre. Eine hübsche kleine Geschichte.«

De Reuse glaubte ihm also nicht. Jensen fand es unverschämt, wusste aber nicht, wie er darauf reagieren sollte. Ein Streit schon am ersten Abend? Verdrossen trank er das schale Bier. De Reuse fragte ihn, ob ihm das isländische Bier nicht schmecke, Jensen sagte, so sei es in der Tat. De Reuse bestellte zwei Pils. Eine Weile lang unterhielten sie sich über Belangloses, den außergewöhnlich strengen flämischen Winter, die Rivalität zwischen Antwerpen und Brüssel, und schließlich, nach drei Pils, kam De Reuse auf die Frauen zu sprechen. Er sagte, er sei jetzt achtundfünfzig, gehöre aber glücklicherweise zu den Männern, deren Schönheit durch den Reifungsprozess an Tiefe gewinne. Er fragte Jensen, ob er den Song »A Gift« von Lou Reed kenne, die Zeile »Like good wine I get better as I get older«. Jensen sagte, er kenne dieses Lied, und die Selbstironie darin sei nicht zu überhören. De Reuse bestritt das, nein, Reed habe es ebenso ernst gemeint wie er selbst. De Reuse war tatsächlich ein auffallend attraktiver Mann; sein Lächeln hatte etwas Unwiderstehliches, auf Frauen musste es geradezu betörend wirken. Man konnte ihm höchstens vorwerfen, dass er damit hausierte.

Sie waren jetzt beide unterschiedlich schwer betrunken.

Ich leicht, dachte Jensen, er schwer. Wahrscheinlich hatte De Reuse zuvor schon getankt.

De Reuse schwärmte weiter von sich selbst, Jensen fand es lächerlich, aber doch auch amüsant, charmant sogar. De Reuse war einer jener Männer, denen jeder Selbstzweifel fremd war, die einem den Arm um die Schulter legten und sagten: »Du musst doch zugeben, dass ich ein toller Kerl bin.« Und man gab es zu, man gestand sich ein, dass diese eiserne Selbstverliebtheit etwas Grandioses hatte. Man erlag der Versuchung, sich solchen Männern auf ihrem Weg zum Kaiserthron anzuschließen.

So ist das doch, dachte Jensen.

Er schwer, ich schwer, dachte er.

Zwei Gläser isländische Thule-Hühnerpisse, und danach sechs reine Pils; er war nahe daran, De Reuse das Du anzubieten.

»Und morgen«, sagte De Reuse mit großer Geste, »morgen werden Sie meine Assistentin kennenlernen. Ilunga Likasi. Was für ein Name! Man hört die Palmen rauschen!«

»Ein schöner Name«, sagte Jensen, er musste ein Rülpsen unterdrücken.

»Er stammt von einer afrikanischen Königin. Sie hat mir das einmal erzählt. Eine mythische Königin aus dem Kongo, Ilunga. Jedenfalls schlafen wir miteinander. Ich vertraue Ihnen das an, weil Sie es irgendwann sowieso gemerkt hätten. Der Dozent und seine Assistentin … ich hoffe, Sie finden das nicht allzu trivial.«

»Das geht mich nichts an«, sagte Jensen. »Sie können tun und lassen, was Sie wollen.«

De Reuse lachte.

»Wie schön das wäre!«, sagte er.

Zwei Polizisten setzten sich an die Bar, der Kellner begrüßte sie per Handschlag. Die Polizisten lockerten ihre Krawatten, einer hängte seine Uniformjacke an den Haken unter der Theke. Ein Dienstvergehen, dachte Jensen. Er schüttelte missbilligend den Kopf. In Belgien war es Polizeibeamten verboten, nach Dienstschluss in Uniform auszugehen, aber in Island warteten sie hier wahrscheinlich auf Begleitungen.

»Ich habe übrigens vor«, sagte De Reuse, »Ilunga zu überraschen. Ich möchte ihr den Langjökull zeigen.«

»Den Gletscher«, sagte Jensen. Der Rand seines Bierglases verdoppelte sich.

»Das ist der Grund, weshalb ich zwei Tage früher angereist bin. Ich wollte das Equipment nicht im Flugzeug transportieren. Es wäre zu aufwendig gewesen. Und natürlich hätte sich Ilunga über den zusätzlichen Koffer gewundert. Ich habe gestern alles hier in Reykjavík gekauft. Thermounterwäsche, ein Navigationsgerät, Eispickel, Zelt, Seile. Können Sie mir noch folgen, Jensen?«

»Natürlich.« Er hatte das Gefühl, in eine Falle getappt zu sein. De Reuse wirkte plötzlich nüchtern, während er zweifellos ins Bett musste. Noch dieses eine Glas, dachte er, dann ist Schluss.

»Sie und Van Gaever werden also drei oder vier Tage allein sein. Das macht Ihnen doch nichts aus?«

Konzentrier dich, dachte Jensen.

»Sie machen mit Ihrer Freundin eine Gletschertour?«, fragte er.

»Bravo! Gut kombiniert!« De Reuse klopfte Jensen auf die Schulter. »Ja, so ist es. Ich werde mit ihr über den Langjökull wandern. Drei Tage auf dem Eis, Übernachtung im Zelt, Erfrierungen ersten Grades.« Auch De Reuses Lächeln wollte sich verdoppeln. »Wenn Ilunga wüsste, was ich vorhabe, würde sie natürlich nicht mitkommen. Sie ist außerordentlich verwöhnt. Und verwöhnte Menschen muss man zu ihrem Glück zwingen. Ich werde sie also überlisten müssen. Wenn wir morgen im Haus ankommen und das Gepäck ausladen, wäre ich froh, wenn Sie behaupten würden, dass der Koffer mit dem Equipment Ihnen gehört. Nur ein kleines Täuschungsmanöver, falls sie misstrauisch wird. Kann ich auf Ihre Hilfe zählen?«

»Moment«, sagte Jensen. »Sie werden vier Tage weg sein? Aber das Seminar …« Von einer Gletschertour war nie die Rede gewesen! »Wäre es nicht besser, Sie würden diese Tour ein andermal … ich meine, wenn Sie mit Ihrer Freundin einmal allein hier sind?«

Der Kellner brachte ihnen unaufgefordert noch einmal zwei Pils; Jensen kam zur Überzeugung, dass ein Glas mehr oder weniger überhaupt keine Rolle mehr spielte.

»Wäre das nicht besser?«, wiederholte er, und diesmal entfuhr ihm der Rülpser.

»Diese Gletschertour«, sagte De Reuse, »ist Teil des Seminars. Und damit ist das Thema für mich beendet.« Er warf Jensen einen finsteren Blick zu.

»Na gut. Aber jetzt im Winter. Ist das nicht riskant? Eine Gletscherüberquerung? Hier wird es ja nie hell. Oder nur von Sonnenaufgang zu Sonnenuntergang, und auch dann fragt man sich …« Ja, was fragte man sich? Er hatte es vergessen.

»Sie sind betrunken«, sagte De Reuse.

»Sie etwa nicht? Jedenfalls vorhin waren Sie betrunken.«

»Ich will Ihnen Ihre Frage trotzdem beantworten: Ja, es ist sogar sehr gefährlich, aber nicht für jeden.« De Reuse klopfte mit seinem Siegelring ans Bierglas. »Hören Sie das? Es klingt etwas dumpfer als sonst.« Er hob das Glas ans Licht. »Es hat einen Sprung. Es ist nur ein Haarriss. Man kann ihn nicht sehen. Aber man hört es, wenn man mit einem metallischen Gegenstand das Glas zum Schwingen bringt und weiß, worauf man achten muss.« Nach einer Pause sagte er: »Der Langjökull ist gefährlich für alle, die ihn nicht kennen. Aber ich kenne ihn gut.«

De Reuse trank sein Glas leer und stellte es vorsätzlich mit Wucht auf die Theke. Ein großer, fast dreieckiger Splitter brach ab. »Sehen Sie?«, sagte er. »Ich hatte recht.«

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4

Am nächsten Morgen war De Reuse wortkarg. Auf der Fahrt zum Flughafen sprach er kaum drei Worte, was Jensen recht war, denn der Alkohol hatte ihm einen ohnmachtsähnlichen und dennoch unruhigen Schlaf beschert. Außerdem war ihm übel; er hatte zum Frühstück Orangensaft getrunken, um sich Vitamine zuzuführen, und danach eine Cola, um den Katerbrand zu löschen. Eine verheerende Kombination.

Es war neun Uhr und noch immer Nacht. Einmal erfassten die Scheinwerfer des Geländewagens, den De Reuse gemietet hatte, eine tote Möwe, sie lag mitten auf der Straße, und es wäre anständig gewesen, um sie herumzufahren. De Reuse aber nahm sie unter die Räder. Jensen dachte, dass diese Möwe vermutlich ein Opfer der Dunkelheit war. Jetzt im Winter blieb den Vögeln für die Nahrungssuche nur ein kurzes Zeitfenster, ein paar helle Stunden, und wenn sie nicht satt wurden, dehnten sie die Futtersuche wahrscheinlich in die Dämmerung hinein aus und prallten gegen schlecht beleuchtete Hausmauern oder Kamine.

Stijnen, dachte Jensen. Wenn ich zurückkomme, ist der Kamin fertig. Aber das Kind, das den Ausschlag gegeben hatte für den Bau dieses Kamins, gab es dann vielleicht schon nicht mehr. Chorionzottenbiopsie. Das Wort repetierte sich in Jensens Gehirn von selbst, wie eine Melodie, die man nicht loswurde. In seinen Därmen grollte der Orangensaft.

»Können Sie sich noch an Ihr Versprechen von gestern Abend erinnern?«, fragte De Reuse, als sie in der Empfangshalle des Flughafens auf die beiden anderen warteten.

»Sie meinen die Gletschertour?« Daran erinnerte er sich natürlich, nicht aber an ein Versprechen.

»Kein Wort darüber zu Ilunga! Sie halten doch Ihre Versprechen, Jensen? Sie sind ein Mann, dem man trauen kann? Ich hoffe nicht, dass ich mich in Ihnen geirrt habe.«

»Es bleibt unter uns.«

»Sehr gut!« De Reuse belohnte ihn mit einem väterlichen Schulterklopfen; Jensen hustete in die Hand, um sein Lachen zu verbergen. Ein altmodischer Mensch, das war es. De Reuse war ein zutiefst altmodischer Mensch. Schulterklopfen, ein Siegelring mit dem Familienwappen, die Seemannsbekleidung, und in jedem Hafen eine Frau, und wenn es sich um eine Verwöhnte handelte, lockte man sie auf einen isländischen Gletscher, damit sie dort lernte, mit dem Taschenmesser gefrorene Bohnen aus einer Konservendose herauszubrechen.

Jensen war jetzt gespannt darauf, die Frau kennenzulernen, die sich das gefallen ließ. Eine Assistentin, Doktorandin vermutlich: Sie war also bestimmt dreißig Jahre jünger als De Reuse. Ilunga Likasi, wahrscheinlich war sie afrikanischer Abstammung. Unter den Ankommenden, die die Zollschranke passierten, entdeckte er aber keine Frau, auf die die Beschreibung zutraf. Hingegen sah er Van Gaever, der sich verloren umblickte.