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Die gefährlichste Schwäche der Welt.Linus Reichlins spannender Roman über Verrat, Verdächtigungen, Eifersucht. Und über die Schwierigkeit, sich für etwas so komplett Verrücktes wie die Liebe zu öffnen. Hannes Jensen hat es nicht leicht. Annick, seine blinde Geliebte, hatte, wie er herausfand, vom Beginn ihrer Beziehung an einen Anderen und ist mit diesem nach New York durchgebrannt. Einzig ihren Blindenhund ließ sie zurück, der nun – wie ein bewegliches Mahnmal des Verrats – nicht von Jensens Seite rücken will. Als Jensen samt Hund zur Beerdigung seiner Schwester nach Berlin fährt, lernt er in einem Blumenladen Lea kennen. Die so eigenwillige wie schöne Frau übt auf Jensen sofort eine enorme Anziehungskraft aus. Zugleich, darüber ist er sich schnell im Klaren, haftet ihr etwas Rätselhaft-Tragisches an.Lea ist keine gebürtige Berlinerin. Sie stammt von einer schottischen Insel, auf der die Zeit stillzustehen scheint.Seit Generationen lebt man dort von Schafzucht. Jeder kennt jeden und die Sitten sind so rau wie das Klima. Mit siebzehn war Lea von dort nach Berlin geflohen, weil ihr strengreligiöser Vater sie zwangsverheiraten wollte. Sie war damals schwanger, und die Bewohner der Insel wie ihre Familie verdächtigten den Falschen, ihr Liebhaber zu sein. Erst zwei Jahrzehnte später, als er die Diagnose einer unheilbaren Krankheit bekam, bat Leas Vater seine Tochter, ihn noch einmal aufzusuchen. Er konnte nicht ahnen, dass durch ihren Besuch alles wieder auf brechen und eine verhängnisvolleKettenreaktion ausgelöst werden würde, an deren Ende der grausame Tod eines Menschen steht.Als Jensen Lea kennenlernt, liegt dies bereits hinter ihr. Obwohl sich beide ineinander verlieben, findet Jensen ständig Indizien dafür, dass in Leas Leben noch ein zweiter Mann eine Rolle spielt; er zweifelt an allem und verstrickt sich in seine Eifersucht, bis diese Lea und ihm fast zum Verhängnis wird.
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Seitenzahl: 323
Veröffentlichungsjahr: 2011
Linus Reichlin
Roman
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Titelseite
Über Linus Reichlin
Über dieses Buch
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Hinweise zur Darstellung dieses E-Books
zur Kurzübersicht
Linus Reichlin, geboren 1957, begann nach längeren Aufenthalten in Südfrankreich, Italien und Kanada Repor tagen zu schreiben, für die er 1996 den Ben-Witter-Preis der Zeit erhielt. Er lebt in Berlin. Sein erster Jensen- Roman »Die Sehnsucht der Atome« war monatelang auf der Krimi-Welt-Bestenliste und erhielt den Deutschen Krimipreis 2009. Zuletzt erschien sein Roman »Der Assistent der Sterne« (KiWi 1169).
zur Kurzübersicht
Die schwarze Schwester der Liebe
Der Brügger Kriminalist Hannes Jensen lernt in Berlin Lea, eine so hübsche wie eigenwillige Frau kennen und verliebt sich – zu seiner eigenen Überraschung – Hals über Kopf in sie. Er fühlt sich von der Aura des Rätselhaft-Verschlossenen angezogen, die sie umgibt. Doch Lea gibt sich nicht ohne Grund so verschlossen. Diverse Menschen suchen nach ihr. Als Neueinsteiger in der Liebe ist Hannes Jensen ganz schnell auch der Schattenseite der Leidenschaft ausgesetzt. Überall meint er Indizien dafür zu sehen, dass noch ein zweiter Mann in Leas Leben eine Rolle spielt. Jensen steigert sich dermaßen in seine Verdächtigungen hinein, dass er, der einst ein guter Ermittler war, nicht in der Lage ist, das eigentliche Geheimnis zu lüften, das Lea umgibt. Schlimmer noch: Jensen ist so blind vor Eifersucht, dass er die Frau, die er liebt, nicht schützen kann …
Spannend bis zur letzten Minute« (Stern)
Widmung
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
Dank
Für Regina
Wer ist das?, dachte Angus. Wer war der Kerl, der im Krankenzimmer im anderen Bett lag und sich im Schlaf übers Gesicht wischte, als verscheuche er eine Fliege?
»Wer ist der da?«, flüsterte Angus.
Sean schaute kurz hin und sagte: »Blair, glaube ich.«
»Welcher Blair? Macfarlane?«
Sean nickte. Eine blonde Locke fiel ihm in die Stirn, er befestigte sie sorgfältig wieder hinter dem Ohr. Aber Blair Macfarlane war doch erst fünfzig. Der da sah aus wie achtzig, hatte keine Kontrolle mehr über seine Unterlippe, sie erinnerte Angus an einen toten Hering, der über die nassen Planken rutscht.
»Das ist nicht Macfarlane«, flüsterte er.
»Deswegen sind wir nicht hier«, sagte Sean, der aber nur nicht beim Lesen gestört werden wollte. Sean hatte immer ein Buch zwischen den Fingern. Er arbeitete in der Bibliothek von Stornoway und glaubte wohl, dass er das immer wieder jedem klarmachen musste, indem er sogar am Samstagabend Bücher las. Wenigstens trank er dazu Whiskey, und nicht ohne Leidenschaft.
»Ich kenne sonst jeden, das weißt du«, flüsterte Angus. Es ließ ihm keine Ruhe. Es gab natürlich immer welche, deren Namen man nicht kannte, aber noch überhaupt nie gesehen? Einen so alten Kerl? In dreiundvierzig Jahren kein einziges Mal gesehen, auf Lewis, einer Insel, auf der jeder jeden kannte?
»Das gibt’s einfach nicht«, sagte Angus. In diesem Moment schlug der alte Alasdair, vor dessen Bett er und Sean saßen, die Augen auf und sagte: »In drei Wochen bin ich tot.« Er sagte es mit einiger Zufriedenheit, Angus verstand sofort warum. Er verschob die Grübeleien über den Kerl, den er nicht kannte, auf später und betrat die Weiden des Todes, auf denen das Gras sehr saftig war, wie Angus schien. In drei Wochen tot zu sein, zu wissen, dass es sich dann von selbst erledigte … der Alte hat’s wirklich gut, dachte Angus und wich Alasdairs Blick aus, diesen Distelaugen, vor denen Angus sein Leben lang Angst gehabt hatte und eben selbst jetzt noch, wo man sie dir bald zudrückt, dachte er. Angus stellte sich vor, wie die Stacheln, die in diesem Blick steckten, sich durch die geschlossenen Lider bohren würden, und wie der Leichenbestatter sich den zerstochenen Finger lecken und den Toten hinterher nur noch mit Lederhandschuhen anfassen würde.
»Sag nicht so was, Alasdair«, sagte Sean. Wenn Prostatakrebs blind gemacht hätte, hätte Sean das Buch bestimmt nicht zugeklappt, aber noch konnte Alasdair sehen, und man hörte das dumpfe Geräusch, wenn aus einem Buch die Luft entweicht. »Die kriegen dich schon wieder hin.«
»Reden kannst du«, sagte Alasdair, »und eine Menge Unsinn kommt dabei raus.« Seine Stimme klang weibisch, fand Angus, wahrscheinlich lag’s an den Medikamenten. »Das ist eine böse Form, verstehst du? Das ist nicht der Krebs, den alle haben.«
Klar, dachte Angus. Für den alten Alasdair musste es immer die Extrawurst sein, die größte Herde der Insel, die erste Krabbenzuchtanlage, und als Tochter das schönste Mädchen, das hier je aufs Meer geblickt hatte. Und dann war er auch noch tot, in drei Wochen, und dazu musste er nicht einmal mehr aufstehen. Er konnte einfach hier in diesem Bett liegen bleiben, wurde gefüttert, gewaschen, bestimmt auch noch gekämmt wie ein Zierschaf bei einem Schönheitswettbewerb. Und wenn’s so weit war, drehte er sich einfach auf die Seite und furzte seine Seele den Engeln ins Gefieder. Angus hatte mal in einer Radiosendung gehört, dass Sterbende furzen, und seitdem war der Gedanke an den Tod für ihn mit demselben befreienden Gefühl verbunden, das er jeweils hatte, wenn er nach einem schweren Abendessen die Gase abließ.
»Ihr habt ja keinen blassen Schimmer«, sagte Alasdair. Draußen regnete es, ein paar Tropfen blieben an der Fensterscheibe kleben, Südwestwind, dachte Angus.
»Das wird schon wieder«, sagte Sean. Mit seinen blonden Locken sah er ortsfremd aus, fand Angus, wie ein rübergeschwemmter Schwede. Er war aber ein MacAulay, alte, anständige Familie mit vielen Grabsteinen auf allen Friedhöfen der Insel. Grabsteine waren die Bäume von Lewis. Bäume hielten dem scharfen Wind nicht stand, Grabsteine schon, und wie bei den Bäumen kam es bei Grabsteinen auf die Wurzeln an. Man konnte auf Lewis sterben und blieb dennoch da, ein wohliger Schauder stieg Angus den Rücken hoch.
»Du brauchst jetzt bloß ein paar Wochen Ruhe«, sagte Sean. »Und im Sommer fahren wir rüber nach Sula Sgeir, wie jedes Jahr, du wirst sehen.«
Alasdair drückte auf ein Gerät, das wie eine Fernsteuerung aussah. Das Kopfende seines Bettes begann sich zu heben, bis der Alte im Bett saß. Die Sterbenden, dachte Angus, verfügten über alle Möglichkeiten, ihre Stellung zu wechseln. Gab es nicht sogar Betten, in denen man stehen konnte? In seinem Kopf leuchtete kurz das Bild eines Astronauten auf, der in einem solchen Bett irgendein Training absolvierte.
»Wenn ihr nichts unternehmt«, sagte Alasdair, brachte den Satz aber nicht zu Ende, weil ihm die Luft ausging. Er schloss die Augen. Die Anstrengung des Sitzens war ihm anzumerken. »Fährt bald keiner mehr nach Sula Sgeir. Das wisst ihr. Deswegen habe ich euch gerufen.«
Sean blickte Angus an. Sean hatte blaue Augen, die vom vielen Lesen klein geworden waren, und rote Äderchen zeugten davon, dass die dauernde Beschäftigung mit etwas so Kleinem wie Buchstaben ungesund war und etwas in den Augen zum Platzen brachte.
»Was sollen wir tun?«, fragte Sean, ohne den Blick von Angus abzuwenden.
Alasdair streckte die Hand aus.
»Wasser«, sagte er.
Sean reichte ihm das Wasserglas, Alasdair öffnete die Augen und schaute in das Glas. Nach langer Prüfung trank er einen Schluck. Das Wasser machte ihn schwer, er sank mit einem Seufzer ins Kissen.
»Es ist mein Letzter Wille«, sagte er, hielt dann inne und versuchte, den Kopf zu wenden. Das war ihm aber zu anstrengend, er zeichnete mit dem Finger einen Kreis in die Luft und sagte: »Hört er zu?«
»Ja, Alasdair«, sagte Sean, »wir hören beide zu.«
»Nein, der andere«, sagte Alasdair. »Der Alte da. Ich kenne ihn nicht.«
Sean und Angus blickten zu dem Kerl, den niemand kannte. Dessen Kopf lag tief in den Kissen, der Mund stand offen, ein dunkles, von gelben Zähnen bekränztes Loch, aus dem kein Laut kam.
»Der schläft«, sagte Sean. »Mach dir keine Sorgen.«
»Der war heute Morgen plötzlich da«, sagte Alasdair. »Hab ihn noch nie gesehen. Ich will nicht neben einem Fremden sterben.«
»Ich glaube, es ist Blair Macfarlane«, sagte Sean. »Du weißt doch, die Macfarlanes aus Tunga, Sanitärinstallationen.«
»Quatsch«, sagte Angus. »Die kenne ich alle. Wenn das ein Macfarlane ist, beiß ich mir die Hand ab.«
»Jedenfalls«, sagte Sean, er schaute Angus an und legte den Finger an die Lippen, »sind wir unter uns. Er hört uns nicht. Du kannst sprechen.«
Alasdair aber schwieg. Der Regen machte jetzt auf der Fensterscheibe Lärm, es klang, als würde man Schrotkugeln an eine Scheibe werfen. Der Wind hat gedreht, dachte Angus, von Südwest auf Nord.
»Mein Letzter Wille«, sagte Alasdair, eine Träne rann unter seinem geschlossenen Augenlid hervor. Er hob die Hand, von der die Krankheit schon alles Fleisch weggenagt hatte. »Fahrt nach Deutschland. Ihr beide. Du, Sean, und du, Angus. Und sprecht mit ihr. Mit mir spricht sie nicht mehr. Sagt ihr, dass ich sie bitte, es nicht zu tun. Das Foto. Sie soll es nicht tun, ihrem Vater zuliebe. Damit ich ruhig sterben kann. Sagt ihr, es ist mein Letzter Wille. Nein. Wunsch. Letzter Wunsch, nicht Wille.«
Alasdair öffnete plötzlich die Augen, sein Blick war nach nirgendwo gerichtet und glasig wie der eines toten Schafs. Er zog sich an dem Hebel, der wie ein Steigbügel aussah, mit beiden Händen hoch. Sein Ächzen klang unanständig.
»Was ist denn?«, fragte Sean. »Soll ich die Krankenschwester rufen?«
Alasdair starrte ein Loch in die Luft, sein Kopf wurde rot, seine Lippen verschwanden im Mund. Er legte den Kopf in den Nacken, und dann stieß er einen Rülpser aus, der etwas Endgültiges hatte. Danach lag Alasdair eine Weile zwischen den Falten der Bettwäsche und wurde allmählich wieder blass. Sean rückte den Stuhl ein wenig nach hinten und suchte mit der Nase nach frischen Luftströmen, denn Alasdairs Atem verpestete die Umgebung.
Alasdair blickte Angus matt an. »Warum bist du noch hier?«, fragte er. »Und du, Sean? Warum seid ihr noch hier? Habt ihr nicht verstanden? Sprecht mit ihr. Und wenn sie nicht will …«
Ja, dachte Angus, was dann? Das war nämlich der Punkt.
»Dann besorgt euch das Foto irgendwie«, sagte Alasdair. »Alles hängt jetzt von euch ab.«
»Du kannst dich auf uns verlassen«, sagte Sean mit kleiner Stimme, weil er versuchte, möglichst wenig einzuatmen. Der Atem von Sterbenden roch wirklich sehr intensiv, fand Angus. Wahrscheinlich lag’s an den Medikamenten. In Krankenhäusern lag überhaupt alles an den Medikamenten.
»Nicht wahr, Angus?«, fragte Sean.
»Wir werden ihr nichts tun«, sagte Angus. »Da brauchst du dir keine Sorgen zu machen.«
Alasdair starrte ihn an, etwas blitzte in seinen Augen auf. Er sagte aber kein Wort.
Der Herr war gefährlich. Und stark, aber dumm. Spürte er denn nicht die Luftwellen, empfand er nicht die Größe und Schnelligkeit der Dinge, die an ihm vorbeifuhren? Abseits jeder Markierung wollte er rübergehen auf die andere Seite, das musste verhindert werden. Der Hund schmeckte auf der Zunge das Trockenfutter, mit dem der Ausbilder ihn jeweils belohnt hatte, wenn er sich in solchen Situationen dem Herrn widersetzt hatte. Deine Herren, sagte der Ausbilder, sind stärker, aber dümmer als du, hast du das jetzt kapiert? Gib mir noch ein bisschen von dem leckeren Futter, dachte der Hund, dann fällt mir das Kapieren leichter. Der Ausbilder war ein guter Herr gewesen. Im Schritt hatte er wunderbar gerochen, aber der Ausbilder hatte dem Hund diesen Genuss von Anfang an abgewöhnt durch unangenehmen Lärm. Der Hund war nie dahintergekommen, wie der Ausbilder diesen Lärm erzeugte, es geschah hinter vorgehaltener Hand und war schmerzhaft.
Nun aber die fehlende Markierung und der gefährliche Herr, der nach Schweiß roch, er hatte Angst. Der Hund empfand einen Moment lang den Wunsch, dem Herrn in den Fuß zu beißen, seine Sehnen zu durch trennen, ihn zum Humpler zu machen, damit die Kollegen an seinen Hals gelangen konnten. Aber da waren keine Kollegen. Kollegen, das war es, was der Hund am meisten vermisste. Einer wie er hätte unter Kollegen leben müssen, ein tägliches Bad in ihren Gerüchen hätte seine Sinne geschärft. In der Gesellschaft von Herren stumpfte man ab, und der hier war der Schlimmste.
Der Hund erblickte nirgends eine Markierung, außer der falschen. Die falsche verlief in der Mitte der Straße. Wenn man ihr folgte, erzeugte der Ausbilder den unangenehmen Lärm. Zwei Arten von Markierungen waren erlaubt, jene, bei der auf eine dicke Markierung nichts folgte und dann wieder eine dicke, und die andere, bei der man sich in der Mitte zwischen zwei Markierungen bewegte. Doch nichts von alledem war hier vorhanden, so dass der Hund den Herrn von den gefährlichen Luftwellen, den mächtigen Dingen wegzuzerren versuchte. Der Herr, ein störrischer und eigensinniger Mensch, dazu dumm wie das Schäumchen auf der Spucke, zerrte aber mit Gewalt den Hund in die andere Richtung, in den sicheren Tod. Jetzt nicht bellen, nicht knurren, nicht wütend werden und Blut suchen durch einen Biss in den Fuß; das Knacken des Knöchels, saftiges Nass, auch die Schreie wären nicht zu verachten gewesen – all diese verlockenden Vorstellungen musste der Hund verscheuchen, denn er hatte eine klare Vorstellung von dem, was gut war, und von dem, was nicht belohnt wurde. Wenn der gefährliche Herr abseits aller Markierung übersetzen wollte, so war ihm die Macht gegeben, das zu tun. Wenn der Dummheit des Herrn nur ein Hund entgegenstand, war ihr der Sieg sicher.
Jensen brach die Brücken zu dem Hund ab. Dieses Tier würde niemals begreifen, dass er nicht blind war. Seine frühere Herrin war es gewesen. Aber die Herrin war dem Hund davongelaufen. Eine Blinde ließ ihren Blindenhund im Stich. Jensens Schultern verspannten sich bei dem Gedanken.
Er zerrte den Hund über die Straße, und vor einem Blumengeschäft wickelte er die Leine um die Stange eines Verbotsschildes, er vertäute den Hund mit einem Schifferknoten. Dem Hund war es nicht recht, es verstieß gegen sein Prinzip der permanenten Gefolgschaft.
»Sitz!«, sagte Jensen, aber der Hund gehorchte nicht.
Jensen fror, und er war in Eile und empfand es als Zumutung, nirgends allein hingehen zu können, ohne zuvor einen Hund festbinden zu müssen. Er hatte den Hund noch nie getreten. Aber der Gedanke an Annick, die dem Hund und ihm davongelaufen war, löste einen dunklen Impuls aus.
»Sitz!«, sagte er, und seine Hoffnung erfüllte sich. Der Hund setzte sich nicht. Es war ein milder Tritt, den Jensen ihm versetzte. Ein Schubser, mehr nicht. Ein Klaps mit der Schuhspitze.
Rasch entfernte sich Jensen, sein Herz klopfte. Und dann traf ihn mit großer Wucht ein Blick voller Trauer und Entsetzen. Hinter der Schaufensterscheibe des Blumengeschäfts stand eine Frau, sie hatte seine kleine, sinnlose Züchtigung beobachtet. Ihr schönes Gesicht wurde von Spiegelungen überlagert, die Geister von Autos fuhren darüber. Einen Moment lang herrschte eine merkwürdige Intimität zwischen ihm und dieser unbekannten Frau, die sich dann heftig abwandte, zurück blieben die fröhlichen Blumen, die sie ins Schaufenster gestellt hatte. Eine Hundenärrin, dachte Jensen.
Er hätte seine Blumen nun lieber woanders gekauft, aber für die Suche nach einem anderen Geschäft fehlte ihm die Zeit, und ohne Blumen wollte er seiner Schwester Franziska nicht nach fünfunddreißig Jahren zum ersten Mal wieder begegnen.
Bevor er das Geschäft betrat, warf er alle Schuld ab. Es war nur ein Schubser gewesen, der niemanden etwas anging.
Die Verkäuferin überhörte die Türglocke, die Jensen ankündigte. Sie kappte mit einem kurzen Messer Blumenstiele und war ganz darin versunken. Auf ihrer dunklen, wattierten Winterjacke lag rotes Haar. Jensen sagte, er brauche Blumen für eine Beerdigung. Auch das war in der Welt der Verkäuferin nicht zu hören. Sie blickte ihn nicht an, angestrengt schnitt sie kleine Stücke von den Stielen, und er sah, dass ihre Hände zitterten. Er schätzte sie auf Ende dreißig.
»Für eine Beerdigung«, wiederholte er.
»Für wen sind die Blumen?«, fragte sie mit Blick auf ihr Messer. Ihre Stimme klang, als hätte sie lange nicht mehr gesprochen.
»Für meine Schwester«, sagte er, obwohl er die Frage für zu intim hielt. Was ging es die Verkäuferin an, wer gestorben war.
»Welches waren ihre Lieblingsblumen?«
»Ist das wichtig?«, fragte er. Es ging sie auch nichts an, dass er es nicht wusste.
»Sie wissen es also nicht«, sagte sie. Sie legte das Messer ab, die Blumen, und dann schien es, als hole sie Atem wie vor einem Geständnis. Sie verschränkte die Arme, und plötzlich hob sie den Blick und schaute Jensen in die Augen. Es war ein persönlicher Blick voller Geflüster und Angst. Er verstand den Blick nicht, aber er spürte, dass es um etwas Ernstes ging. Er wusste nicht, um was, aber es war ernst. Etwas schien die Verkäuferin zu treffen, sie schloss irritiert die Augen, ihr Gesicht bekam einen leidenden Zug. Sie atmete tief ein und sagte: »Wissen Sie wenigstens, welche Blumen Ihre Schwester überhaupt nicht mochte?«
»Nein.«
»Dann spielt es keine Rolle. Dann kann es irgendetwas sein. Es hat überhaupt keine Bedeutung.«
»Ja«, sagte er.
Er sah ihr zu, wie sie Blumen aus Vasen zerrte. Sie ging respektlos mit ihnen um, ein Blütenblatt schwebte auf den Boden. Sie riss und presste, es war möglicherweise eine Vergeltung für den Schubser, sie behandelte die Blumen so wie er seinen Hund, zur Mahnung. Oder aber es war nicht ihr Tag. Oder es ging um etwas ganz anderes.
Der Strauß wurde zu bunt.
»Es ist für eine Beerdigung«, sagte Jensen.
Die Verkäuferin schwitzte. Sie griff mit der Hand nach mehreren Blumen und quetschte sie in den Strauß.
»Sechzig Euro«, sagte sie.
»Ich wollte damit sagen, dass der Strauß nicht zu bunt werden sollte.«
»Ach ja? Vielleicht mochte Ihre Schwester bunte Sträuße.« Sie zerrte ein paar weiße Blumen dazu.
»Achtzig Euro«, sagte sie.
Der Strauß lagerte auf ihrem linken Arm. Sie fügte ihm ein paar dünne Zierzweige hinzu, in ihrer Fahrigkeit stieß sie dabei eine Vase um. Die Scherben verteilten sich mit einem schönen Geräusch auf dem Boden. Die Verkäuferin blutete plötzlich, ein Schnitt scheinbar aus dem Nichts. Das Blut zeichnete zwei Streifen auf ihre Hand.
»Das sollten Sie desinfizieren«, sagte Jensen.
»Das ist nichts«, sagte sie.
»Es ist ein ziemlich tiefer Schnitt.«
»Das ist nichts!«, sagte sie heftig. Sie drückte ihm den Strauß in die Hand.
»Wissen Sie was?«, sagte sie. »Nehmen Sie sich so viele Blumen, wie Sie wollen. Und dann gehen Sie.«
Sie verschwand hinter einem grauen Vorhang, eine Spur aus Blutstropfen hinterlassend.
Das Blut ging Jensen zu Herzen. Wenn es aber vergossen worden war wegen des Hundes, war es sinnlos vergossenes Blut. Der Hund war geschubst und nicht mit einem Hammer geschlagen worden. Eine überspannte Tierliebhaberin. Vielleicht. Sie hatte andererseits nicht diesen Eindruck erweckt. In ihrem Blick lag die Kraft eines Menschen, der auf die Zuneigung von Tieren nicht angewiesen war. Und das Entsetzen über etwas weitaus Schlimmeres als den Tritt in eine Hundeflanke.
Jensen achtete darauf, nicht in ihre Blutstropfen zu treten, als er zur Kasse ging. Er legte einen Geldschein hin, und bevor er mit dem schweren Strauß das Geschäft verließ, drehte er sich noch einmal nach dem grauen Vorhang um, hinter dem die Verkäuferin in seiner Vorstellung das Blut von ihrer Hand leckte.
Draußen hielt er die Hand in den Verkehrsstrom, er winkte ein Taxi heran. Er hatte zu viel Zeit verloren, zu Fuß wäre er zu spät zur Beerdigung gekommen.
»Zum Friedhof«, sagte Jensen.
»Urnen oder Gräber?«, fragte der Fahrer.
Plötzlich kam Jensen in den Sinn, welche Blumen Franziska nicht gemocht hatte. Ein Urlaub in Holland, er war zehn Jahre alt gewesen, Franziska acht, ein kluges, stilles Mädchen ohne Schneidezähne. Bei der Besichtigung eines Tulpenfeldes fragte sie: »Warum gibt es hier so viele von diesen hässlichen Blumen?« Tulpen hatte Franziska nicht gemocht, Zissi, aber sie hatte in Schuhkartons Weinbergschnecken gehalten, der Geruch von feuchter Pappe, welkem Salat und Schneckenkot stieg Jensen in die Nase. Die Erinnerungen griffen ihm ans Herz, und zum ersten Mal seit Zissis Tod weinte er, der Taxifahrer verstellte den Rückspiegel, um es besser zu sehen. In die Tränen um Zissi mischten sich Tränen um Annick, wo war denn der Unterschied? Die eine war gestorben, die andere hatte ihn verlassen, und er, fiel ihm jetzt ein, hatte den Hund vergessen, der war noch ans Halteverbot gefesselt. Und wenn schon, Hunde gehörten ins Wetter, man hätte sie gar nie in die Wohnzimmer lassen dürfen. Hunde wurden dann eben später geholt, wenn die Toten begraben waren.
Sein Mund war trocken vom Reihern. Der Regen floss ihm in den Nacken, berührte kalt die Stelle zwischen den Schulterblättern. Angus hatte gegessen: zwei Scheiben Haggis, zwei Spiegeleier, zwei Handvoll Bohnen, zwei Würstchen, von allem zwei. Gereihert hatte er aber doch bestimmt schon zehn Scheiben Haggis, zehn Eier, wo kam das überhaupt alles her? Wenigstens war man hier draußen an der Luft, die nach Salz, Jod und ganz kurz nur nach Erbrochenem roch, während es drinnen, in dem Raum, wo sie alle krank waren, nach ausgezogenen Schuhen stank, nach feuchten Wetterjacken. Und nach Muschen, dachte Angus, bei Gott, er konnte das riechen. Um sich bei der Überfahrt abzustützen gegen den Wellengang, spreizten die Frauen ihre fetten Beine, und es musste immer die engste Jeanshose sein, weil sie ja nach Ullapool fuhren, vielleicht sogar nach Edinburgh, um groß einzukaufen und sich einen Bürokerl anzulachen, und dann roch Angus eben die Muschen der Schafzüchterstöchter. Es hieß, der Weihnachtsmann bringe das Duschwasser, zwischendurch, wenn eine Heirat bevorstand, auch mal der Osterhase.
Der Wind griff in seine Haare, kämmte sie ihm in alle Richtungen. Südost, schätzte Angus, aber auf dem Wasser verließ ihn sein Sinn für Richtungen. Die Buggischt spritzte ihm das Gesicht nass, er hasste das Meer, wenn er auf ihm war. Er mochte das Meer, wenn er in Port Nis über dem schlechten Hafen stand und von dort auf all das Wasser blickte. Er wusste dann, dass die Insel sicher war. Meterhohe Wellen rollten bei Südwest in den Hafen, die Schiffe zerrten wie Wildpferde an den Tauen. Für die, die Schiffe besaßen, war der Hafen Mist, dauernd splitterte Holz, die Motorschrauben mussten ausgedellt werden, weil sie gegen die Quaimauer gekracht waren. Aber Angus machte in Schafen, nicht in Krabben, ihn beruhigte der schlechte Hafen, ihm gefiel es, dass Lewis bei schlechtem Wetter manchmal tagelang isoliert war. Isoliert. Das Wort hatte Sean einmal benutzt, mit runtergezogenen Mundwinkeln.
Angus spürte eine Baggerschaufel in seinem Unterleib, sie baggerte den letzten Schleim hoch, der da noch war. Angus würgte ihn ins Meer, der Wind riss ihm einen Schleimfaden von den Lippen. Sean war wohl nicht gerne isoliert, schon zweimal war er nach Boston geflogen, er wusste wohl nicht, wie man ein Fernsehgerät einschaltet. Fünfhundert Pfund hatte Sean bezahlt, für jede Reise wohlbemerkt, und was erzählt er, als er zurückkommt? Dasselbe, das man sieht, wenn man den Fernseher einschaltet, wenn eine Sendung über Boston kommt. Angus lachte. Er wusste natürlich, dass es nicht so einfach war, aber trotzdem. Er stand jetzt seit einer halben Stunde an der Reling, mit dem Gesicht zum Meer. Aber wer lachen kann, der kann sich auch mal wieder umdrehen. Ihm wurde sofort übel. Er fixierte eine weiß übermalte Schraube, die zu den Schrauben gehörte, die das Bordfenster festmachten. Hinter dem dicken Glas konnte er Sean erkennen, der zwischen den Seekranken ein Buch las, zwei Finger an den Lippen. Manche Leute fuhren so Auto, mit zwei Fingern an den Lippen, Sean las so Bücher.
Angus drehte sich wieder dem Meer zu, das ihm vorkam wie jemand, der die ganze Nacht lang im Schlaf spricht und sich von einer Seite auf die andere wälzt. Hoffnung gab es nicht, denn in Edinburgh wartete ein Flugzeug auf ihn. Angus war noch nie in seinem Leben geflogen, seine Schafe hatten das nie verlangt. Niemand in seiner Familie war je geflogen, beide Großväter hatten in der Infanterie gedient. Angus’ Vater hatte jedes Mal, wenn sie im Radio von Flugzeugen sprachen, den Finger gehoben: »Wenn Gott gewollt hätte, dass der Mensch fliegen kann …« Den Rest des Satzes war er der Familie bis zu seinem Tod schuldig geblieben. Ein Morrison flog einfach nicht, das war wohl die Botschaft.
Angus kam das Meer vor wie er selber. In der Ferne erhob sich der Rücken einer kleinen Insel, deren Namen er nicht kannte. Der kalte Wind trieb ihm Tränen in die Augen.
Es wurde plötzlich still in ihm.
Er hatte viel nachgedacht in der letzten halben Stunde, über das Meer, über das Reihern, über das Fliegen, über Sean, aber das war alles Beiwerk. Hier ging es um mehr. Er war unterwegs, um Lea zu sehen. Das verdammte Foto. Aber auch darum ging es nicht. Er hatte Angst. Er umklammerte mit beiden Händen die Reling, er hielt die Fähre fest. Man konnte sehr lange über vieles nachdenken, es war wie Pfeifen im Keller. Beim Torfstechen war es oft lange Zeit, als würde man mit einem heißen Messer Butter schneiden. Aber plötzlich stieß man auf etwas Hartes, man spürte durch den Schaft der Schaufel den Widerstand. Da war etwas im Torf, das nicht dort hingehörte. Es war besser, man schaute es sich an. In seinem Fall war es die Angst.
Sie weiß es nicht, dachte Angus. Er wischte sich mit dem Ärmel das Gesicht trocken. Er brauchte sich gar keine Sorgen zu machen. Sie wusste nicht, was Craig ihm auf Sula Sgeir gesagt hatte. Wenn sie es wüsste, dachte er, würde sie nicht so mit ihrem Vater umspringen. Seit eineinhalb Jahren sagte Angus sich das. Wenn man beim Torfstechen auf etwas Hartes stieß, dachte man natürlich immer zuerst an einen Stein. Aber manchmal irrte man sich, und es war zum Beispiel eine Schaufel, die ein Torfstecher vor hundert Jahren liegen gelassen hatte. Und hier ging es nicht darum, dass Lea nicht wusste, was Craig gesagt hatte. Es geht darum, dachte er, dass du es weißt. Du weißt es. Und damit musste er jetzt leben. Und leben hieß, sich nichts antun. Ich werde mir nichts antun, dachte Angus, und weil er sich in dieser Angelegenheit misstraute, sagte er es laut, er wollte die Worte hören.
Einen solchen Übertopf konnte man nicht draußen auf dem Gehsteig stehen lassen. Er war zu kostbar, schweres, violettes Glas, eine gediegene Handarbeit, für den Hund war ihr offenbar nur Kunsthandwerk gut genug. Jensen schüttete das restliche Wasser weg, auf dem sich bereits ein Eiskrüstchen gebildet hatte. Jensen trug den Topf auf die Toilette eines italienischen Restaurants, das sich neben dem Blumengeschäft befand, und im Spiegel überprüfte er sein Aussehen. Seine Frisur schien ihm etwas zu brav, er kämmte seine Haare mit den Fingern, um mehr Wildheit hineinzubringen. Er war eine grauhaarige Eminenz, aber ohne Bauchansatz, man klopfte hier auf Stahl. Er leckte sich über die Lippen, die man auch auf der Kinoleinwand hätte zeigen können, wie er fand. Ganz besonders überzeugt war er von seinen großen Augen, in die er manchmal selbstverliebt blickte. Er wollte der Verkäuferin gefallen und fand das merkwürdig. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass er gut oder jedenfalls so aussah wie immer, brachte er der Verkäuferin den Übertopf zurück.
Sie stand, als er das Geschäft betrat, auf einer Klappleiter, in herrischer Art, wie eine tatarische Reiterin oder was er sich darunter vorstellte. Irgendwie russisch jedenfalls, sinnlich, aber mit Dreck an den Stiefeln.
»Ich nehme an, der gehört Ihnen«, sagte er.
»Stellen Sie ihn dorthin«, sagte sie, und er stellte den Übertopf neben die Kasse. »Sie haben Ihren Hund zwei Stunden lang in der Kälte allein gelassen.«
Sie schraubte mit Handschuhen die defekte Glühbirne aus der Fassung.
»Und ohne Wasser«, fügte sie hinzu. Sie hielt ihm die Glühbirne hin. Jensen musste sich strecken, um hinzugelangen.
»Vorsicht«, sagte sie. Aber er hatte sich die Finger schon verbrannt. Er ließ das glühende Ding fallen, es zerplatzte.
»Macht nichts«, sagte sie. »Da auf dem Tisch liegt die neue. Wenn Sie sie mir bitte geben würden.«
Als er ihr die Glühbirne gab, berührten sich ihre Finger, und sie verharrten beide in dieser Berührung, bevor die Hände wieder ihre Tätigkeit aufnahmen.
»Danke, dass Sie ihm Wasser gebracht haben«, sagte Jensen. »Ich habe den Hund in der Eile vergessen. Weil ich zur Beerdigung musste.« Er versuchte, seine Augen ins Spiel zu bringen, indem er sie weiter öffnete, als nötig war. Die Verkäuferin nahm davon aber keine Notiz.
»Haben Sie Kinder?«, fragte sie.
»Ja. Ein Mädchen.«
»Aber das Kind lebt nicht bei Ihnen. Sie tragen keine Verantwortung für das Kind. Im täglichen Leben, meine ich. Sonst hätten Sie den Hund nicht vergessen.«
»Nein. Meine Tochter lebt nicht bei mir.«
»Ihre Frau hat Sie verlassen, nicht wahr?«
»Das war ja nicht schwer zu erraten.«
»Hat der Hund ihr gehört?«
»Ja.«
»Warum hat sie Ihnen den Hund überlassen?«
»Es wäre zu aufwendig gewesen. Sie wohnt jetzt in den USA, die Einfuhrbestimmungen für Hunde sind streng.«
»Ich glaube nicht, dass das der Grund war. Wenn man einen Hund liebt, nimmt man ihn mit, wenn man geht. Ich würde sagen, sie hat den Hund nicht gemocht. Deshalb fand sie die Einfuhrbestimmungen so streng. Der Aufwand hat sich für sie nicht gelohnt. Und jetzt frage ich mich: Warum hatte sie einen Hund, wenn sie nicht an ihm hing? Vielleicht hat sie ihn ja einfach nur gebraucht? Es ist ein schwarzer Labrador. Und er ist übererzogen. Ist es ein Blindenhund?«
»Nein«, sagte Jensen, und irgendwo in der Hölle bimmelte ein Glöcklein. Er wusste nicht genau, warum er log. Weil er ihr den Triumph der schnellen Erkenntnis nicht gönnte? Oder weil ihn eine blinde Frau verlassen hatte und er nicht wollte, dass die Verkäuferin dachte: Wenn nicht einmal eine Blinde bei ihm bleibt …?
Sie wurden unterbrochen. Ein blondes, mageres Mädchen stieß mit der Schulter die Tür des Blumenladens auf. Auf der Schwelle blieb das Mädchen stehen, fauchend, die Kälte des Winterabends im Rücken und einen Sack Hundefutter im Arm. Es arretierte mit dem Fuß die Tür, denn es hatte nicht vor, lange zu bleiben.
»Kann ich jetzt gehen?«, fragte das Mädchen.
»Ja«, sagte die Verkäuferin. »Leg’s einfach hin.«
»Nein, ich schmeiße es hin!« Und das Mädchen schmiss den Sack. »Wegen dem blöden Hundefutter komme ich zu spät!«
»Ruf an, wenn du dort bist!«, rief die Verkäuferin dem Mädchen hinterher. Das Mädchen konnte es aber schon nicht mehr hören, sein blondes Haar verschwand in der Nacht.
»War das Ihre Tochter?«, fragte Jensen.
»Ja. Und das ist für Ihren Hund.«
Sie stand noch immer über ihm auf der Leiter, die erhöhte Position würde sie auch niemals aufgeben, das war ihm bereits klar. Es ging um den Hund, und er hatte seit eineinhalb Jahren mit keiner Frau mehr geschlafen, war auch keiner so nahe gekommen wie ihr. Ihr Rocksaum tänzelte vor seiner Nase, und ihre dicken, schwarzen Strümpfe atmeten in seine Richtung.
»Der kriegt jetzt was zu futtern«, sagte sie in verändertem, unbeschwerterem Tonfall.
Sie wollte den Hund nicht im Geschäft füttern, sondern bei sich in der Wohnung. Jensen sagte dazu nichts. Er hob den Sack Hundefutter auf und trug ihn wie Myrrhe und Weihrauch und Gold.
Auf dem Weg zu ihrer Wohnung sagte sie: »Lea.«
Und er sagte: »Hannes.«
Sie sagte: »Was man aus Hans alles machen kann.«
Es herrschte ein Ungleichgewicht zwischen ihnen, sie war forscher, er duckte sich, sie teilte aus und er nahm es hin. An seiner Seite ging der Hund, den der Hunger belebte, der Duft des Trockenfutters erzeugte eine Art Leidenschaft, man konnte es durch die Leine spüren. Es war kalt, es fielen winzige Flöckchen Schnee, die sich auf der Stirn bissig anfühlten, und Jensen begann von den Tulpen zu sprechen, und dass er sich dank Lea wieder erinnert habe, welche Blumen seiner Schwester zuwider gewesen waren. Als nichts kam, redete er weiter, einer musste reden, das Gespräch musste stetig weiterfließen, es handelte sich um die Anästhesie einer verfänglichen Situation.
Vor der Tür sagte Lea: »Hier ist es.« Sie blickte Jensen an, als sei er ihr heimlich bis zu ihrer Haustür gefolgt.
»Wir können den Hund auch hier füttern«, sagte er. »Oder ich füttere ihn. Das ist gar kein Problem.«
Ihr fiel der Hausschlüssel zu Boden, Jensen bückte sich mit ihr, sie stießen zusammen, sie sagte: »Darum geht es nicht.«
»Um was geht es dann?«
»Der Hund muss in die Wärme.«
Sie stiegen die Treppe hoch, im ersten Stock flackerte das Licht. Jensen erreichte in letzter Zeit beim Onanieren manchmal nicht mehr die gewohnte Stärke. Eine Schweißperle drückte sich ihm aus der Schläfe. Er wünschte sich, dass seine Erwartungen maßlos übertrieben waren. Der Hund musste in die Wärme, das hatte sie selbst gesagt, darauf konnte er sich im Notfall berufen. Sie atmete während des Treppensteigens schwer, blieb einmal sogar stehen, es waren doch aber nur ein paar Stufen.
»Hast du manchmal Schmerzen in der Brust?«, fragte er.
»Hatte ich schon als Kind«, sagte sie.
»Lass es mal untersuchen.«
Sie nahm eine weitere Stufe, drehte sich nach ihm um, schüttelte den Kopf und nahm die nächste. Nervöses Blut, dachte er, kein Übergewicht, aber ein gefährlicher Energieüberschuss, das Herz pumpt mehr Energie als Blut, Angina Pectoris, sie sollte es wirklich abklären lassen.
Er fühlte sich ihr gesundheitlich überlegen, was nicht unangenehm war, aber die Lampe flackerte nach wie vor.
Das Aufschließen der Wohnungstür geschah in angespanntem Schweigen. Sie zog die Stiefel aus, er fragte, ob er die Schuhe anbehalten dürfe, sie fragte: »Warum?« Er hätte sich in Schuhen sicherer gefühlt, zog sie aber natürlich aus, seine linke Socke beschämte ihn durch ein Loch beim großen Zeh. Sie aber erhob ihn wieder in den Status eines ehrwürdigen Mannes durch das Loch in ihren Strümpfen, an der Ferse, er betrachtete es voller Dankbarkeit. Er dachte, dass Zuneigung auf kleinen Defekten basierte.
»Ich hole einen Teller«, sagte sie, »für den Hund. Bin gleich wieder da.« Sie lud ihn also nicht ins Innere der Wohnung ein, er hielt das für ein intelligentes Signal, mit dem sie ihm seinen Platz in der Nähe von Postboten und Bibelverkäufern zuwies. Er zupfte seine Socke nach vorn, damit das Loch sich weniger spannte. Jensen hörte Geschirr klappern, in einiger Entfernung, es schien eine geräumige Wohnung zu sein. Von seinem Platz aus konnte er ein Arbeitszimmer sehen. Der Schreibtisch weckte seine Neugier, einen Menschen kennenzulernen, der fähig war, in solch radikaler Unordnung zu arbeiten. Sogar auf dem Aquarium, das laut gurgelte, lagen Bücher, die Fische schienen alle bereits von herunterfallenden Romanen erschlagen worden zu sein. Nur eine Prachtschmerle war übrig geblieben, und auch sie lag schräg im Wasser.
Über dem Aquarium hingen zwei Fotografien. Sie zeigten beide dieselbe winterliche Birke, neben der dasselbe Kind stand, auf dem einen Bild im Morgenlicht, auf dem anderen nachts, beleuchtet von einem Scheinwerfer. Die Ästhetik der Bilder war ergreifend, etwas Zwingendes lag darin. Jensen hielt es für legitim, sich ein wenig von seiner Postbotenposition zu entfernen, die Bilder hingen ja schließlich da, um angesehen zu werden. Aus geringerer Distanz betrachtet, entpuppte sich das Kind als Liliputaner, und sofort empfand Jensen die Bilder, die ihn zuvor sehr angezogen hatten, als geschmacklos.
»Viele Leute verstehen das nicht«, hörte er Lea sagen. Sie stellte dem Hund einen Suppenteller hin.
»Was?«
»Dass Distanz eine Gnade ist.«
Sie riss mit den Zähnen die Verpackung auf und füllte den Teller mit Hundecrackern. Der Hund schaute sich um, wie um sich zu vergewissern, dass auch wirklich er gemeint war. Als niemand widersprach, schnüffelte er an dem Futter, und nach einem Moment der Vorfreude fraß er wie ein Schwein, fand Jensen.
»Möchtest du mich nicht fragen, wer die Fotos gemacht hat?«, sagte Lea.
»Du?«
»Aber das war früher. Ich hab das Fotografieren aufgegeben. Siehst du das?« Sie legte den Finger an ihre Nase. »Weißt du, was das ist? Das ist mein Tyrann.« Sie erklärte Jensen, dass jeder Mensch von einem der fünf Sinne besonders beherrscht werde. Sie habe die Fotografie geliebt, aber es habe ihr stets etwas Entscheidendes gefehlt dabei: der Geruch. »Ich steckte Energie in etwas, das nicht gut roch. Fotos riechen nicht gut, ich war olfaktorisch permanent unbefriedigt. Natürlich war ich beim Fotografieren dauernd von Gerüchen umgeben, aber das wäre auch ohne Kamera so gewesen, es war kein Zugewinn. Es ging um das Produkt, verstehst du? Ich wollte mit Produkten zu tun haben, die gut riechen, auch wenn es nicht meine Produkte waren. Ich war bereit, auf Kreativität zu verzichten zugunsten guter Gerüche. Ist das etwa toll? Nein, das ist doch wohl eher bescheuert! Deswegen sage ich, das hier«, sie kniff sich in die Nase, »ist mein Tyrann. Verstehst du?«
Jensen nickte, er dachte: Sie könnte kompliziert sein.
»Ich muss mich jetzt umziehen«, sagte sie. »Wir können aber weiterreden, ich lasse die Tür einen Spalt offen.« Sie meinte die Tür ihres Schlafzimmers, die sie jetzt aufstieß. Jensen sah ein weiß bezogenes großes Bett, einen antiken Schrank, Lea, wie sie ins Zimmer ging, dann verengte sich sein Blick auf einen Streifen Schrank.
»Toni ist mit einer Freundin im Kino«, hörte er Lea hinter der handbreit geöffneten Tür sagen. »Mit meiner Freundin, wohlbemerkt. Mit gleichaltrigen Mädchen kann Toni nicht viel anfangen, sie sagt immer, ihre Gehirne seien unreife Pflaumen, hart und trocken. Sie mag die reiferen Gehirne von Erwachsenen mehr, sie glaubt, dass die sich beim Denken dehnen wie ihres. Verstehst du?«
»Wie alt ist sie?«, fragte Jensen.
»Elf. Und wie alt ist deins?«
»Sie wird bald zwei.« Unter den Augen eines anderen, dachte Jensen. Ein anderer hatte ihr erstes Wort gehört, ihre ersten Schritte beklatscht, ein Möbeldesigner aus Yonkers, Jensen pulsierten die Schläfen, wenn er an den überdurchschnittlich hohen Anteil von Pädophilen in der Berufsgruppe der Möbeldesigner dachte. Vielleicht verwechselte er es mit Informatikern, egal, der Mann hatte sich sein Kind angeeignet. Und bestimmt war es der Typus Mann, für den ein Kind nur Futter für die Videokamera war, ein voyeuristischer Klicker, der sich die ersten Schritte, die ersten Worte, den ersten Schultag auf dem Computerbildschirm ansah und selbst dann noch nicht begriff, was da geschehen war. Der Hund leckte sich widerlich über die von Fressgier geröteten Lefzen, und in seinem Blick lag so wenig Wissen über Betrug und Leid, über Schmerz und Verzweiflung, dass Jensen ihn am liebsten im Aquarium ersäuft hätte.
»Was soll ich anziehen?«, fragte Lea. »Ich muss zu einem Elternabend. Toni hat im Augenblick keine Probleme in der Schule. Wenn sie welche hätte, würde ich einen Rock anziehen. Man kommt einfach weiter damit. Aber so reicht auch eine Hose, was meinst du?«
Einen verwirrenden Moment lang sah er im Türspalt Leas Brüste, die Schranktür klappte auf und beendete diesen Anblick. Unter der mit Schnitzwerk verzierten Tür sah er ihre Füße, schwarz lackierte Nägel, jetzt, im tiefsten Winter, er dachte: Sie hat einen Freund, und es ist keiner, der so ist wie ich.
»Ja, zieh eine Hose an«, sagte er, der Flüsterer vor der Kemenate der Königin. Da er manchmal die Absicht hinter ihren Fragen nicht verstand, hielt er Bestätigung für das Sicherste.