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Linus Reichlin liefert in seinem Roman ein grandioses Vexierspiel über die Grenzen unserer Wirklichkeitswahrnehmung. Die Begegnung mit einem Hund wird zum Auslöser eines turbulenten Abenteuers zwischen Einbildung und Realität. Extrem schräg und mit hohem Suchtfaktor. Felix Sell hat eine eher pragmatische Sicht aufs Älterwerden. Wenn er sich ein neues Bücherregal kauft, schätzt er zum Beispiel vorher ein, ob das Preis-Leistungs-Lebenserwartungs-Verhältnis gewahrt ist. Und wenn er in seiner Plattensammlung auf einen uralten LSD-Trip stößt, probiert er ihn natürlich aus, er hat schließlich nichts zu verlieren. Doch als kurz darauf ein kleiner Hund vor seiner Tür steht und fluchend reinkommen will, gerät Felix Sells entspannte Perspektive auf das Dasein ins Wanken. Denn bevor er herausfinden kann, ob der englisch sprechende Hund real oder eine Erfindung seines frisch berauschten (oder zu alten?) Gehirns ist, dringen zwei (offenbar echte?) Verfolger in seine Wohnung ein. Felix bleibt nichts übrig, als erstmal das Naheliegende zu tun: den Hund in Sicherheit bringen und Indizien dafür sammeln, ob er existiert oder nicht. Was er nicht ahnt: Dies ist der Anfang eines Geschehens, das ihn für immer aus seinem festgefahrenen (Rest-)Leben beamen wird.
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Seitenzahl: 355
Veröffentlichungsjahr: 2023
Linus Reichlin
Roman
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Titelseite
Über Linus Reichlin
Über dieses Buch
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Hinweise zur Darstellung dieses E-Books
zur Kurzübersicht
Linus Reichlin, geboren 1957, lebt als freier Schriftsteller in Berlin. Für sein Debüt Die Sehnsucht der Atome erhielt er 2009 den Deutschen Krimipreis. Der Roman Der Assistent der Sterne wurde zum »Wissenschaftsbuch des Jahres 2010 (Sparte Unterhaltung)« gewählt. Es folgten die Romane Das Leuchten in der Ferne (2012), In einem anderen Leben (2014), Keiths Probleme im Jenseits (2019) und zuletzt Señor Herreras blühende Intuition (2021).
zur Kurzübersicht
Linus Reichlin liefert in seinem Roman ein grandioses Vexierspiel über die Grenzen unserer Wirklichkeitswahrnehmung. Die Begegnung mit einem Hund wird zum Auslöser eines turbulenten Abenteuers zwischen Einbildung und Realität. Extrem schräg und mit hohem Suchtfaktor.
Felix Sell hat eine eher pragmatische Sicht aufs Älterwerden. Wenn er sich ein neues Bücherregal kauft, schätzt er zum Beispiel vorher ein, ob das Preis-Leistungs-Lebenserwartungs-Verhältnis gewahrt ist. Und wenn er in seiner Plattensammlung auf einen uralten LSD-Trip stößt, probiert er ihn natürlich aus, er hat schließlich nichts zu verlieren.
Doch als kurz darauf ein kleiner Hund vor seiner Tür steht und fluchend reinkommen will, gerät Felix Sells entspannte Perspektive auf das Dasein ins Wanken. Denn bevor er herausfinden kann, ob der englisch sprechende Hund real oder eine Erfindung seines frisch berauschten (oder zu alten?) Gehirns ist, dringen zwei (offenbar echte?) Verfolger in seine Wohnung ein.
Felix bleibt nichts übrig, als erstmal das Naheliegende zu tun: den Hund in Sicherheit bringen und Indizien dafür sammeln, ob er existiert oder nicht. Was er nicht ahnt: Dies ist der Anfang eines Geschehens, das ihn für immer aus seinem festgefahrenen (Rest-)Leben beamen wird.
Widmung
Prolog
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Epilog
Nachwort des Autors
Für Birgit
»Und wo ist der Hund jetzt?«, fragt der Officer.
Felix sagt: »Weg.«
»Er ist also weg«, sagt der Officer.
»Er ist weg«, sagt Felix.
Es sind zwei Officer vom Naples Police Department, Kollege und Kollegin. Die Leute kommen in letzter Zeit in Felix’ Leben immer paarweise.
Die Kollegin sagt: »Das machen sie, wenn sie geschlagen werden.« »Was denn?«, fragt ihr Kollege, und sie sagt: »Na, abhauen.«
Beide schauen jetzt Felix an, als habe er ein verwundetes Reh getreten.
»Ich habe ihn nicht geschlagen«, sagt Felix, es ist ihm wichtig, das festzuhalten.
»Soso«, sagt der Female Officer.
»Werden wir nie erfahren«, sagt ihr Kollege und gibt Felix seinen Reisepass zurück.
»Würd’ ich nicht sagen«, sagt seine Kollegin, »jedenfalls wär’ schön, wenn man wüsste, ob der Hund gut behandelt wird.«
»Wenn er weg ist«, sagt ihr Kollege, »lässt sich das schlecht verfolgen. Er ist weg, deswegen ist er nicht hier, so! Punkt!«
»Armer kleiner Kerl«, sagt seine Kollegin. Das macht Felix stutzig: Woher weiß sie, dass der Hund klein ist?
»Die Überprüfung läuft noch«, sagt der Officer zu Felix, vielleicht meint er den Pass, vielleicht meint er aber auch irgendetwas im Zusammenhang mit den Dingen, von denen Simona überzeugt ist, dass sie geschehen.
Ganz ruhig, denkt Felix, Simona spinnt, das weißt du, atme jetzt mal ganz ruhig die Luft ein.
Die Blinklichter des Polizeiwagens, der quer in der Garageneinfahrt der Treetop Oasis steht, machen Felix das ruhige Einatmen schwer: Es ist, wie wenn man bei der Blutdruckmessung das schrille Piepsen des eigenen Pulses hört, das macht ihn nervös.
»Dann warten wir mal auf den Computer«, sagt der Female Officer und setzt sich in den Polizeiwagen, denn es hat wieder zu regnen begonnen. Ihr Kollege kehrt auch zum Wagen zurück, ohne Felix eine Verhaltensanweisung zu hinterlassen. Soll er hier im Regen stehen bleiben? Ist er eigentlich noch ein freier Bürger? Er sieht, wie sie beide im Polizeiwagen Esswaren auspacken wie kleine Geschenke, die sie sich in den Mund stecken.
Und wie hat das alles überhaupt begonnen? Das weiß Felix natürlich. Aber es kommt ihm alles jetzt so unwirklich vor, dass er sich die Geschehnisse der letzten Wochen in Erinnerung rufen möchte, einfach um sicher zu sein, dass es auch wirklich seine eigenen Erinnerungen sind. Das Problem ist nur, dass es hier hauptsächlich um Geschehnisse geht, für die es keine externen Zeugen gibt. Da ist Skepsis angebracht. Wer weiß, was man sich alles einbildet oder nachträglich zurechtbiegt.
Und der Hund?
Klar, der Hund war dabei, aber jetzt ist er erstens weg. Und selbst wenn er hier wäre, würde er eisern schweigen. Ja, wenn Hunde sich etwas in den Kopf setzen, die können stur sein, denkt Felix. Andererseits, wenn ich er wäre, denkt Felix, würde ich auch nicht mit jedem sprechen: viel zu gefährlich.
So ist das, denkt Felix. Im Polizeiwagen wird ernsthaft gefuttert, die Frontscheibe beschlägt.
Ja, begonnen hat es an jenem Abend. Im Radio sprachen sie von der ersten Tropennacht in Deutschland in diesem Jahr, Leute!
Felix schaltet das Radio aus. Es war überhaupt nur an, weil er eine Stimme hören wollte. Aber jetzt geht ihm das Gequatsche bereits auf die Nerven, da ist er lieber ohne Stimme. Und dass es sehr warm ist, merkt er doch selbst. Es ist genauso warm wie damals, vor wie vielen Jahren? Besser: vor wie vielen Jahrzehnten?
Felix benutzt den Taschenrechner seines Handys: 1978 minus 2022 macht minus 44. Vier Jahrzehnte und vier Jahre, so alt ist jetzt sein Liebeskummer schon. Er fragt sich, gibt es schon einen Eintrag im Guinness-Buch der Rekorde für Liebeskummer? Er hätte Chancen auf den Weltrekord.
Natürlich liebt er Nicole nicht mehr. Aber das Bedauern hat nie aufgehört, Bedauern ist das richtige Wort. Zuerst war es natürlich Schmerz, dann Trauer über den Verlust, und daraus entwickelte sich mit den Jahren dieses solide, ununterbrochene Bedauern.
Felix blickt zum Balkonfenster hinaus, in der Tropennacht sitzen auf dem Balkon gegenüber die beiden jungen Frauen unter einem Sonnenschirm, der jetzt überhaupt keinen Sinn mehr macht, sonst würde man es Tropentag nennen. Zwei Frauen, so alt wie Nicole damals war: Es ist schon merkwürdig, dass es Menschen gibt, die jetzt so jung sind, wie Nicole und er einmal waren. Es kommt Felix fast ein bisschen überflüssig vor: Er war doch schon jung, warum müssen andere es denn jetzt auch noch mal sein, ist das nicht redundant?
Es kommt im Rahmen der Tropennacht dementsprechend viel heiße Luft durch die offene Balkontür rein, auch das passt Felix nicht. Es erinnert ihn an seinen Urlaub in Florida vor einigen Wochen, und dieses Florida, so sehr ihm das Klima, die Landschaft, die Leute, die Airbnb-Wohnung, so sehr ihm eigentlich alles gefallen hat, so merkwürdig ungern erinnert er sich daran. Er hat keine Ahnung, was da wieder Komplexes mit seiner Psyche los ist, die er manchmal gern gegen eine weniger spezielle tauschen würde. Gegen eine liebenswürdigere, ruhigere, insgesamt kompatiblere Psyche.
Und jetzt also das Bücherregal. Felix hat es vorgestern gekauft, weil er dachte, er braucht mal ein neues Bücherregal. Vor dem Kauf hat er sich gefragt, ob sich die Anschaffung in seinem Alter noch lohnt, und er kam zum Schluss, dass das Preis-Leistungs-Lebenserwartungs-Verhältnis gerade noch stimmt. Es ist nicht sträflich optimistisch, wenn man mit vierundsechzig noch ein Bücherregal für 380 Euro kauft. Er hat ja keine Kinder, die etwas erben wollen. Seine Zwillingsschwester Simona wird erben, was übrig bleibt – auch nicht unbedingt eine schöne Vorstellung. Nicht wegen Simona, ihr würde Felix ein Zubrot gönnen, aber ihr Mann Carlo soll sich nicht von Felix’ Geld neue Weichen für seine Modelleisenbahn kaufen. Dieser Mann verbringt Abende mit seiner Modelleisenbahn, aber Simona ist das nicht unheimlich. Sie findet es rührend. Felix würde sich nicht wundern, wenn die Polizei eines Tages entdeckt, dass manche Schienen aus den Schulterknochen von vermissten Balletttänzern geschnitzt sind.
Aber jetzt das Bücherregal: Es muss ja neu bestückt werden mit dem Kram, der sich in vielen Jahren im alten Regal angesammelt hat. Felix hat alles im Wohnzimmer gestapelt: Die Bücher, die alten Vinyl-Schallplatten, die Stadtpläne aus aller Welt. Die Schallplatten sind ihm das Wichtigste, er hat sie alle noch von früher:
Jethro Tull – Aqualung
Rolling Stones – Sticky Fingers
Uriah Heep – Salisbury
Pink Floyd – Another Brick In The Wall
Led Zeppelin – Led Zeppelin I, Led Zeppelin II, Led Zeppelin III (einfach alle von Led Zeppelin!)
T. Rex – Tanx
Supertramp – Crime Of The Century
Genesis – Selling England By The Pound
King Crimson – In The Court Of The Crimson King
Et al.
Lauter sprechende Namen aus der Vergangenheit, alle verbunden mit Erinnerungen an eine schöne, schwierige, teilweise miese, lebendige, verklemmte, großartige, demütigende, blöde und tolle Zeit.
Und das alles muss jetzt eingeräumt werden in das Alters-Bücherregal, all diese abgegriffenen wundervollen Cover mit ihren ikonischen Motiven: die Jeans mit dem Reißverschluss, die vier jungen Männer, die an einen Monolithen gepinkelt haben, der seltsame Junge unter einer Laterne in einer verregneten Straße, Bob Dylan im Profil, sein leicht geöffneter Mund, der von hinten brennende Zeppelin, Marc Bolan in Satinhose, zwischen den Beinen einen Spielzeugpanzer, das Schulpult mit dem eingekratzten roten, von einem Dolch durchbohrten Herzen, und die Köpfe langhaariger Männer, in Fels gemeißelt wie die der Präsidenten im Mount Rushmore: Deep Purple In Rock. Mit dieser Schallplatte begann damals Felix’ Begeisterung für die neue Musik, was heißt Begeisterung! Es war Liebe, erfüllte Liebe, Trost, Beistand, Energie, um alles zu überstehen. Diese Musik war sein Zuhause, seine Burg, sein Liebesnest, sein Ferienhäuschen.
Und Deep Purple In Rock: Erster Kuss auf die steifen Lippen von Nicole, zweiter Kuss auf die steifen Lippen, dann eine Entschuldigung. Dann sie: »Es war ja nicht schlimm.« Dritter Kuss auf die nun schon etwas entspannteren Lippen. Vor dem vierten sagte sie: »Mach mal so.« Sie stülpte ihre Lippen vor, und er sagte: »Wieso?«
»Dann ist es schöner«, sagte sie.
»Ich mach’s ja schon so«, sagte er.
»Na ja«, sagte sie.
Beim vierten Kuss stülpte er seine Lippen vor, und tatsächlich war es jetzt schöner. Und das alles bei Into The Fire: Ta Ta TaTaTaTa Da TaTa – diese Basslinie! So pathetisch und mitreißend. So wollte man sich als Fünfzehnjähriger fühlen, genau so wie diese Basslinie von Into The Fire. Sie brachte einen dazu, die Lippen total vorzustülpen. Also mehr Stülpen ging am Schluss gar nicht mehr, sie stießen mit den Zähnen aneinander.
»Sorry«, sagte Felix, und Nicole sagte: »War meine Schuld.«
Mit dieser Erinnerung im Herzen klappt Felix das Album auf, betrachtet die Fotos von Ian Gillan, Ritchie Blackmore, Jon Lord, Roger Glover und Ian Paice, keiner von ihnen erlaubt sich ein Lächeln, das hätte nicht gepasst. Damals hat man selten gelacht, dazu war die Welt in einem zu schlechten Zustand, Vietnam, drohender Atomkrieg, die Eltern, die Lehrer. Und was ist das da? Felix sieht es erst jetzt, obwohl er es die ganze Zeit vor Augen gehabt hat, denn es klebt ja direkt neben dem Foto von Jon Lord. Ein winziges Plastiktütchen, so was hat man damals noch mit Uhu festgeklebt, es gab noch keine Klebstreifen, und natürlich weiß Felix sofort, was es ist. Es stammt aus dem Jahr 1978, aus dem Geburtsjahr seines Liebeskummers. Felix hat es in sein damaliges Lieblingsalbum geklebt am Vorabend der Geburt des Liebeskummers, es war auch eine Tropennacht, nur nannte man es damals einfach Sommer.
Es sind zwei Sunshine Trips. Es sind die Sunshine Trips. Felix ist nicht sicher, ob sie wirklich so hießen, vielleicht auch Superman Trips. Aber er weiß haargenau, wer sie ihm verkauft hat, nämlich Bonny Feldmann. Ein merkwürdiger Typ, später in Indien verschollen. Bonny sagte Wenn ihr zusammen einen Trip nehmt, ist es, wie wenn sie von dir ein Kind kriegen würde, ich meine, es verbindet euch für statistisch gesehen durchschnittlich zwölf Jahre.
Das war der Plan: Eine Verbindung von Nicole mit ihm, Felix, für ewig und zwölf Jahre. Und es kostete Felix nur 40 Mark, das ist nicht viel für eine ewige zwölfjährige Verbindung. Man kann Geld für Blöderes ausgeben.
Es kam dann nicht mehr dazu, weil Nicole am selben Abend, als er schon die Kerzen und die Räucherstäbchen angezündet und die Trips vor einer kleinen Buddhafigur aus dem India Shop hingelegt hatte …
Felix löst vorsichtig das winzige Tütchen vom Coverpapier, aber es kommt eben doch ein Stück Papier mit, er kann froh sein, dass nicht noch ein Stück von Jon Lord am Tütchen kleben bleibt. Andererseits muss man den Hut ziehen vor der Klebfähigkeit von Uhu, die offenbar die Jahrzehnte überdauert. Aber gilt das auch für das LSD? Felix setzt sich auf sein Sofa und betrachtet die kleinen Pillen im Tütchen. Er erinnert sich, dass die Delle in den Pillen früher als Qualitätsmerkmal galt, und dass man sagte Pille schlägt Löschpapier, womit man meinte, dass das LSD in Pillenform wirksamer war, als wenn es auf Löschpapier getropft wurde.
Also: Wir haben eine Tropennacht im Jahr 2022, und wir haben, denkt Felix, einen vierundsechzigjährigen ehemaligen Landschaftsarchitekten, der die Trips der ewigen Verbindung findet, und mit denen sitzt er jetzt allein in seinem Wohnzimmer. Und neben ihm liegt die Bunte. Das ist der Vorteil: Wenn er Nicole sehen will, muss er nur die Bunte kaufen. Da steht sie dann in einem sicherlich teuren Abendkleid, davon versteht Felix nichts, neben der Königin von Spanien, die ebenfalls ein teures Kleid trägt und etwas größer ist als Nicole, obwohl Nicole auch hohe offene Schuhe trägt, sodass Felix ihre Zehen sehen kann, die er so mochte. Er kann nur hoffen, dass Gerry diese langgliedrigen Zehen auch zu schätzen weiß oder sie überhaupt bemerkt. Gerry hat ja als neuer Bundespräsident im Gegensatz zu Felix sicher keine Zeit, sich die Fotos seiner Frau in der Bunten anzusehen, denn er muss den spanischen König durch das Schloss Bellevue führen, in einem Frack. Das ist lustig für alle, die Gerry noch von früher kennen. Er sagte immer Kleider sind Schrott, Leiber sind das Wahre. Und so sah er auch aus: toller Körper in Schlaghosen, die er über den Knien mit der Schere aufgeschnitten hatte. Auf seine T-Shirts sprayte er mit Autolackfarbe das Peacezeichen. Heute heißt er Gerhard, das sagt schon alles: Name fits Tuxedo.
Ist ja egal, denkt Felix. Was Felix bleibt, sind im Grunde diese beiden alten Trips. Er könnte googeln, wie lange LSD wirksam bleibt. Aber wozu? Er wird es ja sehen. Ein Trip ist immer so eine Art Experiment, sagte Bonny Feldmann. So ist es doch, man frage nur mal Albert Hofmann, den Erfinder des LSDs. Er war Chemiker und hat eben experimentiert. Das Ganze hat folglich einen wissenschaftlichen Charakter und ist etwas anderes als die Liebe zwischen Gerry und Nicole. In einem Interview mit der Bunten sagte Nicole einmal Wir haben beide ein Talent für eine glückliche Ehe. Das ist keine Wissenschaft, es ist bestenfalls Hormon und schlimmstenfalls eine Erfindung der Reporterin, denn der Satz klang überhaupt nicht nach Nicole. Aber was weiß Felix schon, was heutzutage nach Nicole klingt, er hat ja seit vierundvierzig Jahren nicht mehr mit ihr gesprochen. Gut, aber er hat hin und wieder Mails mit ihr ausgetauscht und davor Briefe, und das war’s. Also was soll das, denkt Felix, es hat doch keinen Sinn, das immer wieder aufzuwärmen. Jetzt schluck das Zeug, und dann schmeiß die Bunte weg! Der Mensch ist am Ende allein mit seinen Vinylplatten und seinen ungeschluckten Trips. Und mit dem neuen Bücherregal, das abends besser aussieht, als wenn die Sonne das billige Holz beleuchtet. Euro für Holz, das von brasilianischen Kinderholzfällern geschlagen wurde, oder wer weiß, wo das herkommt. Vielleicht wurden in China alte Wegwerf-Chopsticks zermahlen und dann zu Spanplatten gepresst: Wenn man die aufbohren würde, fände man vielleicht noch Reste von Hähnchen Sezuan-Art.
Ist doch egal, denkt Felix. Wenn die Bunte ihn mal fragt, würde er ohne zu lügen sagen Ich habe ein Talent für zwei, mir alles immer schlechtzureden. Diese Trips, denkt er übergangslos, klebten nicht zufällig all die Jahre in Deep Purple In Rock, sondern sie sind das Ende des Zirkels, wie Bonny Feldmann gesagt hätte. Sie markieren das Ende des An-Nicole-Denkens und des ständigen Selbstmitleids eines ehemaligen Landschaftsarchitekten, der jetzt für tausend Euro gewisse Dinge tut, die die Landschaft auch verändern, aber nicht so, wie es sich das Grünflächenamt von Berlin wünscht. Wenn Nicole wüsste, womit Felix mittlerweile sein Geld verdient, würde sie in der Bunten neben der spanischen Königin ein besorgtes Gesicht machen.
Aber auch das ist eine müßige Vorstellung, und ganz nebenbei, während er die Bunte über die Kante des Sofas schiebt, damit sie auf den Fußboden fällt, schluckt er die beiden Trips, mit Spucke. Er spült dann aber doch mit Bier nach, denn einer der Trips bleibt in der Speiseröhre fühlbar kleben.
Jetzt kann man nur abwarten.
Felix zieht seine Schuhe aus und legt sich aufs Sofa. Wollte er nicht die Schallplatten einräumen, die Bücher, den kleinen Buddha? Ja, schon, aber erst mal abwarten, ob der kleine Buddha in einer halben Stunde immer noch so still und bewegungslos auf dem Teetischchen steht.
Felix liegt da, bewegt seine Zehen, die sich am anderen Ende von ihm selbst befinden. Es ist völlig klar, dass seine Seele – falls er eine hat – sich nicht in seinen Zehen befindet, das hat ihn schon immer misstrauisch gemacht gegenüber dem Gerede einer »unsterblichen Seele«. Hat etwa schon jemals jemand in den Füßen Unmut empfunden, zärtliche Zuneigung oder Wut? Wenn die Seele es aber noch nicht einmal schafft, im ganzen Körper fühlbar zu sein, stehen die Chancen schlecht, dass sie einen Kopfschuss überlebt. Und in diesem Moment denkt Felix, jetzt schreib ihr eine Mail!
Die letzte Mail hat er Nicole vor fünfzehn Jahren geschrieben, als Gerry Außenminister wurde, er gratulierte ihr, schrieb, er wolle nur Hallo sagen und gratulieren, es sei ja unmöglich, nicht zu erfahren, dass Gerry jetzt und so weiter. Und wie es ihr gehe? Sie antwortete erst nach zwei Monaten, entschuldigte sich, so viel Post. Wie es ihm denn gehe, sie denke noch oft an die Spaziergänge am Schlachtensee, und Felix dachte, wieso Schlachtensee? Sie wohnten doch während ihrer kurzen ewigen Verbindung gar nicht in Berlin, und welche Spaziergänge? Danach wagte er nicht mehr zu schreiben, er wollte nicht einer sein, der jetzt, wo Gerry berühmt ist, sich aus uralter Zeit wieder meldet in der Hoffnung auf ein wenig Abglanz. Oder was auch immer: Felix fühlte sich jedenfalls besser, wenn er Nicole nicht mehr schrieb.
Aber jetzt schreibt er ihr, dass er schon lange nicht mehr geschrieben hat und nur mal wieder Hallo sagen möchte, weil er gerade die alten Platten von damals eingeräumt hat, Deep Purple In Rock, und er würde sich freuen, zu hören, wie es ihr geht.
Mit Herzklopfen drückt er SENDEN.
Das wäre also erledigt. Wahrscheinlich landet die Mail jetzt bei einem Nachtschichtler vom Bundesnachrichtendienst, der die Drohmails von den Fanmails trennt, und die Fanmails noch mal in Allgemein und Persönlich bekannt unterteilt, und Persönlich bekannt wird dann vielleicht an Nicoles Assistentin weitergeleitet, aber das ist nicht Felix’ Bier. Er hat geschrieben, und seine Seele fühlt sich jetzt besser, und zwar direkt zwischen den Augen hinter der Stirn.
Und dann kommt der Hund.
Er klingelt natürlich nicht, er kratzt an der Tür. Felix denkt zuerst nicht an einen Hund, er denkt nur, was ist denn das, fängt es jetzt an? Es könnte sein, dass es anfängt, denn er fühlt sich auch innerlich irgendwie angehoben. Er bringt das mit der Mail an Nicole in Verbindung, aber eigentlich wäre es plausibler, es mit den Trips in Verbindung zu bringen. Ja, Trips, es sind ja zwei, wenn das mal kein Fehler war! Felix denkt, wenn ich jetzt schon ein komisches Kratzen höre und mich innerlich irgendwie angehoben fühle, hätte ich vielleicht besser doch erst mal nur einen Trip geschluckt.
Das Kratzen hört nicht auf, obwohl Felix die Augen schließt und sich den Befehl gibt, das Kratzen einfach zu ignorieren. Also ein normales Kratzen ist es nicht, aber Felix hat keinerlei Erfahrung mit Kratzen an der Tür. Bei ihm hat noch nie jemand an der Tür gekratzt, er weiß nicht, wie sich das anhört, wenn man nicht auf dem Trip ist. Die Wirklichkeit ist letztlich eine Übereinkunft des Gehirns mit anderen Gehirnen, was sie gemeinsam für wirklich halten wollen. Wenn ein Gehirn allein entscheiden muss, ob etwas wirklich ist oder nicht, wird es schwierig. Felix denkt, dass es am besten ist, wenn er einfach nachschaut. Wenn da niemand ist, weiß er wenigstens, dass das LSD die Jahre überdauert hat und nun in seinem Gehörgang Wirkung entfaltet.
Er öffnet die Tür, schaut ins Treppenhaus und denkt, aha, so ist es, das LSD ist im Gehörgang angekommen. Denn da ist niemand. Aber dann fällt sein Blick nach unten, und da ist ein Hund, der zu ihm hochschaut und dabei die Ohren ein wenig anhebt.
Er ist etwa so groß wie ein Dackel, hat aber längere Beine, und er ist weiß mit braunen Flecken, oder umgekehrt. Er trägt ein breites Halsband mit so einer Art Deko, so Schmucksteine und da ist noch irgend so ein Gerätchen drauf. Felix denkt, wo ist denn der Besitzer?, und der Besitzer sagt »I’m all dry. Get me some water.«
»Was?«, sagt Felix, seine Stimme hallt im Treppenhaus. Wieso versteckt der sich? Das ist Felix nicht geheuer – und dann dieser amerikanische Akzent. Es muss ein Amerikaner sein, einen solchen Akzent kann man nicht lernen, das ist native. Felix war ja schon oft drüben, er kennt sich damit ein bisschen aus.
»Ah, Sir«, sagt er ins Treppenhaus, »is this your dog?«
Keine Antwort.
Doch dann sagt der Besitzer: »Said I’m dry like a rattlesnake’s ass. Thirsty. Dehydrated, got it?«
Felix geht zum Treppengeländer, blickt in den unteren Stock, das Erdgeschoss, da ist aber keiner. Aber hier oben im ersten Stock ist auch keiner, die zwei Türen der Nachbarwohnungen sind zu. Außerdem wohnen da keine Amerikaner, sondern Zugezogene aus Brandenburg.
»Sir, please«, sagt Felix, »ähm … where are you?«
»Who the hell are you talking to?«, sagt der Besitzer, und in diesem Moment geht der Hund uneingeladen in Felix’ Wohnung.
»Moment mal«, sagt Felix, »he, du Kleiner bleibst hier. Sir«, ruft er ins Treppenhaus, »your dog just invaded my apartment. Could you please tell him to kindly leave!«
»No«, hört Felix den Besitzer sagen, und zwar sagt der Besitzer es eindeutig aus seiner Wohnung. Das ist jetzt überhaupt nicht mehr lustig, das riecht nach irgendeinem faulen Trick, einem Überfall womöglich. Felix lässt die Wohnungstür offen, um notfalls fliehen zu können, und betritt dann vorsichtig sein Wohnzimmer: Niemand. In der Küche ist auch keiner, nur der Hund, der auf einen Stuhl gesprungen ist und bellt. Im Schlafzimmer ist auch keiner, und mehr Zimmer hat die Wohnung nicht.
Moment mal, denkt Felix, jetzt ganz ruhig.
»Und du sei ruhig!«, sagt er zum Hund, und irgendjemand sagt: »Fill. A. Salad. Bowl. With. Water. Will you!« Und jemand fügt hinzu: »Please.«
Ruhig, denkt Felix. Ruhig. Ordne die Situation. Es ist niemand da. Aber jemand muss da sein. Ach so!
Felix rennt aus der Küche, durchs Wohnzimmer, reißt die Balkontür auf, aber ganz ehrlich: Auf diesem kleinen Balkon kann sich keiner verstecken, hier ist nur Platz für das Marmortischchen und zwei schmiedeeiserne Gartenstühle, von denen immer nur einer benutzt wird, der mit dem durchgesessenen Kissen. Auf dem Balkon gegenüber sitzen noch immer die zwei jungen Frauen, jetzt lachen sie gerade, nicht über ihn, sie ignorieren ihn leidenschaftlich, seit sie vor einem Jahr eingezogen sind.
Felix blickt hinunter in den Hinterhof. Von seinem Balkon aus könnte man sich unter Umständen in den Hinterhof fallen lassen, mit Glück ohne sich das Bein zu brechen. Aber warum sollte der Amerikaner zuerst in seine Wohnung und dann vom Balkon in den Hinterhof, und als der Hund an der Balkontür erscheint und sagt: »Water please. Tap water will be fine« ist sowieso klar, dass Felix umdenken muss.
Er beugt sich zu dem Hund hinunter und weiß, jetzt muss er sich überwinden. Er muss über seinen Schatten springen und etwas vollkommen Verrücktes tun.
»Say it again, please«, sagt er zu dem Hund.
Felix will einfach wissen, woher die Stimme kommt. Er bringt sein Ohr ganz nahe an die Schnauze des Hundes.
»You heard me perfectly well«, sagt eine Stimme aus der Schnauze des Hundes, und das ist wahr: Die Stimme kommt direkt aus dem Hund, da kann man nichts machen.
Okay, verstehe, denkt Felix, das ist es jetzt also: Er sieht hier einen kleinen braunen Hund mit weißen Flecken oder eher umgekehrt, und warum? Weil ihm solche Hunde gefallen, so kleine Hunde mit Flecken. Aber gefallen ist zu viel gesagt: Solche Hunde findet er halbwegs erträglich. Und warum hört er die Stimme aus dem Hund? Weil er während seines kürzlichen Urlaubs in Florida abends im Fernsehen einen Film gesehen hat, in dem ein sprechender Hund vorkam! Es war ein naiver Hundenarren-Film, und er hat ihn sich nur zwei Minuten angesehen und nur um seine Verachtung für Leute, die sich solche Filme ansehen, zu genießen. Aber sein Unterbewusstsein hat offenbar einen Narren an diesem Film gefressen, und da das LSD sich ganz offenbar vom Gehörgang zu den atavistischen Gehirnteilen vorgearbeitet hat, in denen Emotionen und Hundefilme verarbeitet werden, hört er jetzt eben diesen Hund sprechen, und zwar amerikanisch, weil das im Film so war.
Und was macht man in einer solchen Situation am besten? Was würde, denkt Felix, Bonny Feldmann machen, wenn er auf dem Trip einen Hund reden hört? Beziehungsweise wenn er einen Hund sieht und reden hört, denn es handelt sich hier ja um eine visuell-auditive Halluzination, das LSD zieht alle Register. Weder ist der Hund da, noch spricht er, und so würde Bonny Feldmann vermutlich sagen Das ist ganz normal bei Superman-Trips, es ist so eine Art Hallizu … zination. Lass dich einfach nicht drauf ein, sonst drehst du noch durch.
Eben. Und deshalb denkt Felix: Nicht mit mir! Soll der Hund da sein und reden, ich achte einfach nicht drauf, so wie die beiden Frauen da drüben auch nicht drauf achten, ich leg mich jetzt aufs Sofa und versuche, was anderes zu halluzinieren.
Felix liegt also auf dem Sofa, mit geschlossenen Augen. Er ignoriert den eingebildeten Hund einfach. Er hat nicht vor vierundvierzig Jahren 40 Mark bezahlt, um sich mit einem wahnhaften Hund abzugeben, der auf seiner Toilette das Wasser aus der Kloschüssel schlabbert. Das sind genau die Geräusche, die Felix auf dem Sofa hört und ignoriert: ein Tier, das Wasser aus dem Klo säuft. Es ist das typische Schlabbergeräusch langer Zungen.
Felix hört als Nächstes das Tippeln der Hundetätzchen auf den schönen Holzdielen. Dann hört er ein Schütteln von einem Hund, der sich schüttelt, und danach ein Lefz-Geräusch, wenn ein Hund sich mit der Zunge über die ganze Schnauze lefzt. Und als Nächstes hört er den Hund sagen: »I hate to break it to you, but I’m pretty sure those douchebags are pulling in before you can say your last prayer!«
Felix hört es, ignoriert es und denkt, komisch, dass ich den oft gar nicht verstehe. Als Felix in Florida war, verstand er natürlich sehr viele Leute manchmal nicht, aber das ist was anderes, die hat er sich ja nicht eingebildet. Diese Leute besitzen ein eigenes Gehirn, in dem englische Redewendungen wie I take a rain check on that gespeichert sind, während dieses Idiom in Felix’ Gehirn nicht gespeichert ist. Dieser Hund aber besitzt kein eigenes Gehirn, er ist ein Produkt von Felix’ Gehirn, und wie kann es nun sein, fragt sich Felix, dass der Hund besser Englisch spricht als er? Felix weiß nicht, was I hate to break it to you heißt, aber der Hund sagt es. Der Hund sagt those douchebags are pulling in, und Felix versteht es nicht.
Es könnte natürlich sein, dass Felix’ Gehirn ein Fantasie-Englisch erfindet, so, wie es ja auch den Hund erfindet. Aber nein, Felix googelt, was der Hund gesagt hat, und die Übersetzungsmaschine erkennt es als richtiges Englisch und übersetzt: »Ich sag’s dir ungern, aber ich bin sicher, dass die Mistkerle hier auftauchen, bevor du einen Furz lassen kannst!«
Jetzt stellt sich noch die Frage: welche Mistkerle? Ignorieren, denkt Felix. Aber ein bisschen neugierig ist er schon. Soll er den Hund fragen, nur so spielerisch? Natürlich nicht im Ernst, denn Bonny Feldmann hat ganz recht, man darf sich nicht auf seine Halluzinationen einlassen, sonst geht man ganz schnell im Park einer psychiatrischen Klinik spazieren. Aber wie gesagt, man muss es ja nicht ernst nehmen.
Felix räuspert sich.
»Ähm … these douchebags«, sagt er, »who would that be?«
Der Hund hockt gerade auf Felix’ persischem Teppich und kratzt sich hinter dem Ohr, und ohne damit aufzuhören, sagt er: »You’ll see in a heartbeat.«
Auch das versteht Felix nicht, das heißt, er versteht den Sinn, aber er selber würde das nie so sagen und weiß nicht, was der heartbeat in dem Satz verloren hat. Und jetzt kommt sogar noch ein neurologisches Problem hinzu: Wenn der Hund, den Felix halluziniert, sagt, dass gleich Mistkerle hier auftauchen, und wenn diese Mistkerle dann tatsächlich auftauchen, müssen die ja dann auch Halluzinationen sein. Das ist genau das Problem bei Halluzinationen, auf die man sich einlässt: Sie ziehen Kreise. Eins greift ins andere. Plötzlich siehst du nicht nur den Hund, sondern auch Mistkerle, und was, wenn die sich mit dir versöhnen und dich auf ein Bier in die Kneipe einladen? Nehmen wir mal an, denkt Felix, ich nehme die Einladung an: Ist dann die Kneipe, in die wir uns setzen, real oder nicht? Das ist genau das Problem: Am Schluss sitzt man mit einem imaginierten Bier in der Hand an einer Busstation, und wenn die Polizei kommt, sagt man Ich weiß genau, dass ihr nicht existiert. Ihr seid nur in meinem Kopf!
Es klingelt. Oh nein, denkt Felix, darauf falle ich nicht rein! Aber es klingelt erneut. Und jetzt mal ehrlich: Hätte er doch diese verdammten Trips nicht geschluckt! Das ufert ja hier richtig aus und hat überhaupt nichts mit gemütlichem Sehen von bunten Farben und kleinen Sternchen zu tun!
Es klingelt zweimal, dann klopft jemand.
Der Hund rennt aus dem Wohnzimmer.
Ja, verschwinde, denkt Felix und wartet. Einerseits ist es ja das Prinzip von halluzinogenen Drogen, dass man die Kontrolle über seine Wahrnehmung verliert. Aber andererseits muss das auch nach Regeln ablaufen, da muss ein Stoppknopf eingebaut sein. Aber das ist Quatsch. Den Stoppknopf wollte damals auch Manfred Göschner drücken, als er nachts im Stadtpark nach der Abifeier einen Trip einwarf und eine halbe Stunde später auf die alte Buche im Park klettern wollte, weil ihm Spinnen auf den Fersen waren. Das wirkliche Prinzip ist eben das Fehlen des Stoppknopfs, und genau genommen ist das im realen Leben ja auch so: Man wird geboren, durchlebt eine Art geregelten Trip voller Wahrnehmungen, die nur deshalb nicht verrückt sind, weil die anderen sie auch haben, und was grundsätzlich auch hier fehlt, ist der Stoppknopf. Jeden Tag möchten Millionen Leute in ihrem ganz normalen Leben den Stoppknopf drücken, weil sie in Situationen hineingeraten, die genauso übel sind wie eine üble Halluzination.
Ich kann also genauso gut, denkt Felix, die Tür öffnen, denn in diesem Moment wird an die Tür von vielen Leuten geklopft, und vor der Tür steht jemand mit einem Küchenmesser oder einem Räumungsbefehl – viel schlimmer, denkt Felix, kann es ja in meiner Halluzination auch nicht sein.
Also geht er zur Tür und öffnet, und da steht ein Paar. Ein Mann und eine Frau, sie sind beide sehr modisch angezogen, er in einem blauen Sakko, weiter, gebügelter Hose, sie in einem grünen Sommerkleid aus Seide. Er hat recht lange schwarze, gewellte Haare, die er stark zurückgekämmt hat, sie trägt kurz mit spitzen Schläfenhaaren.
Wenn mich jetzt einer meiner Nachbarn durch den Türspion beobachtet, denkt Felix, sieht er mich, wie ich in der offenen Tür stehe und die Luft angaffe, weil da nämlich keiner ist.
Die Frau sagt: »Guten Abend, Herr Sell.« Der Mann tippt mit dem Finger auf Felix’ Klingelschild, auf dem F. Sell steht.
»Ja, das bin ich«, sagt Felix, und aus irgendeinem Grund kriegt er einen Lachanfall.
Die beiden lassen ihn eine Weile lachen, dann sagt die Frau: »Herr Sell, wir glauben, dass der Hund meiner Mutter …«
Felix kann nicht mehr! Der Hund ihrer Mutter! Das ist so komisch! Was ihm alles einfällt, wenn er halluziniert! Felix lacht so aus ganzem Herzen, dass sogar dem sehr ernst dreinblickenden Mann ein Mundwinkellächeln entfährt.
»Der Hund meiner Mutter«, sagt die Frau und sendet dem Mann einen strafenden Blick, »den sie über alles liebt, ist unserer Kenntnis nach in Ihrer Wohnung.«
»Jaja«, sagt Felix, »das ist … klar. Ist es so ein kleiner Hund mit braunen Flecken? Oder eher ein größerer?« Bonny Feldmann würde sich in seinem indischen Grab umdrehen, wenn er wüsste, wie sehr Felix sich gerade auf seine Halluzinationen einlässt. Aber Felix hat das Gefühl, sowieso bereits über den Jordan zu sein, in einer Welt ohne oben und unten: Der Spaß mit LSD beginnt vielleicht erst, wenn man sich total darauf einlässt.
»Ja«, sagt die Frau, »es ist der mit den braunen Flecken.«
»Darf ich dann bitte eintreten«, sagt der Mann und schiebt Felix beiseite.
Ja, gern, denkt Felix, nur hereinspaziert, die sehr verehrten Halluzinationen sind herzlich eingeladen, sich bei mir umzusehen. Felix ist ja schon froh, dass sich seine Halluzinationen einigermaßen an die Regeln der Realität halten und in Gestalt eines schicken Mittelklassepaares auftauchen. Sie könnten ja auch als riesige Spinnen hier herumlaufen – remember Manfred Göschner.
Der Mann betritt ganz ungeniert das Wohnzimmer und schiebt dann die Tür zum Schlafzimmer auf: Er pfeift durch die Zähne und sagt: »Hobo, du kleiner Mistkerl, komm raus, wir gehen zu Mutterchen.«
Mutterchen. Dieses Wort wäre Felix nüchtern nie in den Sinn gekommen. Das LSD scheint sein Englisch zu verbessern und seinen Wortschatz zu vergrößern.
Felix setzt sich aufs Sofa, aber könnte er sich nicht eigentlich auch hinlegen, wie er es jetzt tun würde, wenn er allein wäre? Er ist doch allein! Es ist doch keine Frage fehlenden Anstands, wenn man es sich während des Besuchs zweier Halluzinationen bequem macht. Die Frau setzt sich in den Sessel und schaut ihn an, während der Mann in der Küche Lärm macht. Felix denkt, dass die vom LSD betroffenen Teile seines Gehirns offenbar beschlossen haben, die Halluzination A (Mann) die Halluzination B (Hund) nicht finden zu lassen. Ob das wohl alles gewissen psychologischen Spurrinnen folgt, wie Träume auch?
Die Frau hebt die Bunte auf und legt sie ordentlich auf den Sofatisch. Sie scheint mit der Ordnung im Wohnzimmer nicht zufrieden zu sein, ihr Blick auf die Schallplatten und Bücher, die vor dem leeren Regel stehen, ist vernichtend.
Der Mann kommt rein, seine Stirn glänzt, er ist in seinem Sakko zu warm angezogen für die Tropennacht. Er sagt: »Verdammt, was soll das! Der Mistkerl muss doch hier irgendwo sein!«
»Nenn ihn nicht Mistkerl!«, sagt die Frau. »Das würde meine Mutter sehr kränken.« Diesen Satz sagt sie zu Felix. »Herr Sell«, sagt sie, »können Sie sich vorstellen, dass ein Hund für jemanden zur einzigen Freude im Leben wird? Wenn Sie krank sind, wenn Sie betagt sind, wenn Sie niemanden sonst haben?«
»Ihre Mutter?«, fragt Felix und streckt sich nun bequem auf dem Sofa aus, streift die Schuhe ab. Er sieht an der Decke einen Streifen rötlichen Lichts, der sich an beiden Enden auffächert und sehr langsam pulsiert. Es ist ein schöner Anblick.
»Ich spreche von einer Frau«, sagt die Frau, »die jetzt, in diesem Moment, allein zu Hause sitzt und sich nichts mehr wünscht, als dass ihr geliebter Hund zu ihr zurückkehrt. Verstehen Sie? Er heißt Hobo, und sie liebt ihn über alles.«
»Ja, natürlich«, sagt Felix, »aber warum kümmern nicht Sie sich um Ihre Mutter? Dann würde sie Sie über alles lieben.«
»Das geht dich nichts an, du Penner!«, sagt der Mann und macht eine Bewegung, als würde er die Beherrschung verlieren und Felix eine knallen.
»Ich meine«, sagt Felix, »Sie sprechen über Ihre Mutter, als wären Sie selbst gar nicht da.« Darüber muss er lachen, denn die Frau ist ja wirklich nicht da.
»Herr Sell«, sagt die Frau, »machen wir es kurz: Ihnen ist heute Abend ein Hund zugelaufen. Und da Sie meiner Meinung nach im Moment betrunken sind oder unter Drogeneinfluss stehen, macht Ihnen das Ganze eine Menge Spaß. Ich sollte die Polizei rufen, aber irgendwie tun Sie mir leid.«
Der Mann sagt: »O ja, natürlich, der arme Kerl!«
»Sie tun mir leid«, wiederholt die Frau, »und deshalb gebe ich Ihnen ein wenig Zeit, um sich zu überlegen, ob sie eine Anzeige wegen Diebstahls riskieren wollen wegen der fünfzig Euro, die Sie für den Hund auf dem Schwarzmarkt kriegen.«
Felix ist fasziniert, dass eine LSD-Halluzination ihm vorwirft, er stehe unter Drogen. Man sollte meinen, dass Halluzinationen etwas mehr Verständnis für den Drogenkonsum ihrer Erzeuger aufbringen.
»Hier ist meine Karte«, sagt die Frau. »Bitte rufen Sie mich einfach an, wenn Sie so weit sind. Wir holen den Hund dann ab, und die Sache ist vergessen. Okay?«
»Ja, die Karte«, sagt Felix und lässt sich ihre Visitenkarte geben. Darauf steht
Mona Arnu
Content Administrator
Eine Telefonnummer, eine Instagram-Adresse und die Mail-Adresse.
»Ich habe noch vergessen zu erwähnen«, sagt die Frau und steht vom Sessel auf, »dass meine Mutter gerne bereit ist, einen Finderlohn zu bezahlen. Vielleicht führt das bei Ihnen gleich jetzt zu einem … Sinneswandel?«
»Ich verstehe«, sagt Felix, was soll er sonst sagen? Ein Trip dauert – das hat er noch von früher im Kopf – sechs, sieben Stunden, bei manchen auch länger. Von einigen wenigen sagte man, sie seien auf dem ewigen Trip, sie seien nicht wieder runtergekommen, aber das waren vielleicht nur Legenden. Er fühlt das Gewichtchen der Visitenkarte in seiner Hand, und sie fühlt sich nach wertigem Papier an, er riecht daran: Und sie riecht nach Visitenkarte. Das ist wirklich sehr realistisch gemacht, denkt Felix. Er biegt die Visitenkarte, und sie verbiegt sich. Sie macht dabei ein Geräusch wie eine Blume, die man ins Feuer wirft, und die, wenn die Hitze schlagartig das in ihr gespeicherte Wasser verdampfen lässt, auf Blumenart schreit.
»Der ist doch völlig zugedröhnt!«, hört er den Mann sagen. »Lass mich fünf Minuten mit ihm allein, ich weiß, wie man mit Junkies umgehen muss!«
»Herr Sell«, sagt die Frau und tätschelt Felix’ Wange, »hören Sie mich?«
»Ja klar«, sagt Felix, »ich höre Sie, und ich sehe Sie. Das kann noch etwa sechs, sieben Stunden anhalten.« Wieder muss Felix lachen, es ist einfach zu köstlich. Er fragt sich, ob er eigentlich laut redet, oder nur glaubt, dass er redet. Es ist köstlich, aber irgendwie schon auch sehr beunruhigend, daran darf er aber nicht denken. Er muss sich auf das Köstliche konzentrieren und muss das Beunruhigende ausblenden, sonst könnte die Sache kippen.
»Herr Sell, Sie werden mich doch anrufen?«, fragt die Frau, die sich zu ihm runtergebeugt hat wie zu einem Kind.
»Absolut«, sagt Felix. »Darauf können Sie zählen.«
»Glaub nicht, dass wir wegfahren«, sagt der Mann, »wir bleiben in deiner Nähe, verstanden?«
Mit diesen Worten gehen die beiden und machen hinter sich sogar die Tür zu.
Und wer kommt als Nächstes?
Bob Dylan wäre nicht schlecht.
Warum kommt nicht Bob Dylan und singt
I am a lonesome hobo
without family or friends
Where another man’s life might begin
that’s exactly where mine ends
Das Lied würde zum Hund passen, er heißt ja Hobo.
Ja, vielleicht deswegen, denkt Felix, weil ich den Song so mag. Er dreht sich auf dem Sofa auf die Seite, denn er ist plötzlich sehr müde. So unglaublich müde, dass er sofort in seinen Florida-Traum hineinfällt, eine ganze Ewigkeit verbringt er darin, und das ist kein Vergnügen. Den Traum hat er sich am Schluss seines Urlaubs in Florida sozusagen eingefangen, so als gäbe es da in den Sümpfen Mücken, deren Stich einen Traum überträgt. Es ist ein gestaltloser Traum, und er handelt von nichts, das ist das Furchtbare. Normale Träume haben wenigstens unlogische Abläufe, in denen einzelne Sequenzen in abstrusen Zusammenhängen stehen. Aber dieser Traum ist unerzählbar, es gibt kein Geschehen, keine Bilder, keine Worte, keine Klänge, und doch ist da etwas. Etwas Schlimmes, nichts Gutes – nicht böse, nicht aggressiv, aber nicht gut. Es ist aber kein Albtraum, ein Albtraum wäre etwas, über das man sprechen kann. Über diesen Traum kann man nicht sprechen, er ist inzwischen für Felix ein echtes Problem. Vor allem rätselt er, warum dieser Traum ihn seit der eigentlich doch schönen Florida-Reise zwei-, dreimal die Woche heimsucht, das macht überhaupt keinen Sinn. Er war in einer wunderschönen Airbnb-Wohnung, Treetop Oasis, mit hölzerner Veranda, vor den Fenstern die Bananenbaumblätter, die Palmwedel, unten im Garten eine Iguana-Echse, im Kanal abends das Blubbern eines Alligators. Felix war gern in Florida, die Hitze, die gewaltigen Regenfälle, die Gewitter, das Krachen, das Knacken, die Stille. Seine verrückte Englischlehrerin Clarissa, mit der er stundenlang in einem kleinen Café konversierte. Es war doch alles in Ordnung, und die plausibelste Erklärung für den Traum ist, dass er überhaupt nichts mit Florida zu tun hat und nur zufällig in den letzten Nächten dort zum ersten Mal auftauchte.
Jedenfalls ist Felix froh, dass er aufwacht, selbst wenn der Preis dafür eine lange, feuchte Zunge ist, die ihm vom Kinn zur Stirn übers Gesicht leckt, und nicht nur einmal. Außerdem riecht der Atem des Hundes nicht nach Veilchenwasser. Und wie groß überhaupt diese Zunge ist, Felix hätte sie dem kleinen Hund gar nicht zugetraut. Der Hund sagt: »Get up, we gotta beat it! Get your car keys, I know a safe place!«
Nach dem verfluchten Traum geht’s jetzt also wieder mit dem LSD-Trip weiter! Der Hund will, dass Felix seine Autoschlüssel holt, denn der Hund kennt einen sicheren Platz.
Felix stößt den Hund von sich runter und merkt, dass ihn die Situation wirklich überfordert. Er möchte zurückkehren zur Tagesnormalität – was gäbe er für eine Pille, die ihn nüchtern macht. Daran hat Albert Hofmann nicht gedacht: die Pille danach. Was soll Felix jetzt mit diesem Hund, der will, dass er die Autoschlüssel holt? Wie geht man damit um?
»They«, sagt der Hund, »that man. That woman. They bad. Bad people. Got me? We. You. Me. We got. To move. Our asses. Outta here. You understand?«