Der Atem des Teufels - Thomas Thiemeyer - E-Book

Der Atem des Teufels E-Book

Thomas Thiemeyer

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Beschreibung

Tief im Inneren der Erde haust das Volk der Steinernen. Vor Jahrtausenden wurde es von dieser Welt verstoßen durch die Gier eines einzelnen Mannes. Betrogen und verraten, holt es sich jetzt zurück, was ihm einst gehörte. Zwölf Jahre nach dem verheerenden Ausbruch des Vulkans Krakatau in der Meerenge zwischen Java und Sumatra kommt die Erde nicht zur Ruhe. Tiefe Spalten, aus denen undurchdringlicher gelber Nebel quillt, öffnen sich quasi über Nacht. Seltsame gehörnte Kreaturen steigen heraus und versetzen die Bevölkerung in Angst und Schrecken. Die Vorfälle rufen den Generalgouverneur Niederländisch-Indiens auf den Plan. Er wendet sich an seinen Außenminister, der wiederum den Rektor der Universität zu Berlin um Hilfe bittet. Und der kennt nur einen Mann, der das Rätsel der steinernen Teufel von Java lösen könnte: Carl Friedrich von Humboldt, Spezialist für unerklärliche Phänomene und Kopf seines unerschrockenes Teams der Weltensucher.

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Prolog

Am 27.August des Jahres 1883 ereignete sich in der Meerenge zwischen Sumatra und Java eine der schrecklichsten Naturkatastrophen der Neuzeit: die Explosion des Vulkans Krakatau.

Bereits am Tag davor konnten die Bewohner des tropischen Inselparadieses ein dumpfes Grollen hören, das nicht mehr aufhören wollte. Schwarze Wolken stiegen zum Himmel auf und breiteten sich rasch aus. Am Nachmittag war es dunkel wie in der Nacht. Feuer schoss zum Himmel, dann begann es übel riechenden Schlamm zu regnen. Das Tosen wurde immer lauter. Am Morgen des darauffolgenden Tages war es bereits ohrenbetäubend. Eine Steigerung schien unmöglich, als kurz vor Mittag ein gigantischer Knall die Luft zerriss – so gewaltig, dass er noch in fünftausend Kilometer Entfernung zu hören war.

Der Vulkan schleuderte zwanzig Kubikkilometer Asche und Gestein in die Atmosphäre. Die unterirdische Magmakammer entleerte sich rasch und stürzte dann unter dem Gewicht der Deckenformation ein. Wassermassen des umgebenden Meeres strömten schlagartig nach. Die Erde bebte und ein vierzig Meter hoher Tsunami raste durch die Sundastraße. Küstenstädte wurden in Sekunden zerstört, in Australien sanken Leuchttürme. Die Flutwelle war selbst im Ärmelkanal zwischen England und Frankreich zu spüren, wo der Meeresspiegel kurzzeitig um einige Zentimeter stieg. Auf die Flut folgten Ascheregen und pyroklastische Ströme – glühend heiße Wolken aus Gestein, Gas und Staub, die Geschwindigkeiten von bis zu achthundert Stundenkilometern erreichten. Elementare Gewalten zerstörten die umliegenden Inseln. Einhundertfünfundsechzig Städte und Dörfer wurden vernichtet und mehr als sechsunddreißigtausend Menschen getötet. Die Rauchwolke des Vulkanausbruchs war siebenhundert Kilometer weit zu sehen und selbst in zweitausend Kilometer Entfernung fiel noch Asche vom Himmel. Durch die Explosion des Krakatau wurden so gewaltige Mengen Staub in die Atmosphäre geblasen, dass sie monatelang dort blieben und weltweit den Himmel verdunkelten. In der Dämmerung strahlten Sonne und Mond in den wildesten Farbschattierungen. Schriftsteller berichteten in den Jahren danach von beeindruckenden Sonnenuntergängen. Angeblich soll der Vulkanausbruch expressionistische Maler wie Edvard Munch zu Bildern in leuchtenden Farben inspiriert haben.

Als am nächsten Morgen der 28.August anbrach, waren von Krakatau nur noch Trümmer übrig.

Wie durch ein Wunder überlebten die meisten Schiffsbesatzungen die Riesenwellen, doch in den verwüsteten Küstenabschnitten kämpften die Überlebenden um ihre Existenz. Es fehlten Trinkwasser, Nahrung und Medikamente. Die Hilfslieferungen liefen nur schleppend an. Das Elend spielte den Unabhängigkeitskämpfern in die Hände, die den niederländischen Kolonialherren bittere Vorwürfe machten und Aufstände anzettelten. Immer mehr Indonesier bekehrten sich zum Islam. Die Unruhen, die nach der Krakatau-Katastrophe begannen, gipfelten siebenundfünfzig Jahre später im indonesischen Unabhängigkeitskrieg.

Die Überreste des Krakatau waren eine leblose Ödnis, doch schon sechs Monate später entdeckten Biologen erstes Leben. In wenigen Jahren wuchsen auf den steilen Hängen bereits Bäume, und auch die Tiere kehrten auf die Insel zurück.

1927 kam es zur einer Wiedergeburt. Nach einer Serie heftiger Ausbrüche tauchte Anak Krakatau – »das Kind des Krakatau« – aus dem Meer auf. Die Insel entstand genau dort, wo sich zuvor der Zentralkegel erhoben hatte. Kurz nach der Geburt des kleinen Eilandes fiel die junge Insel aber schon wieder der Meeresbrandung zum Opfer. Viermal wiederholte sich der Zyklus aus Geburt und Niedergang, bis 1930 endlich eine stabile Insel heranwuchs. Seither gehört Anak Krakatau zu den aktivsten Vulkanen der Welt.

Teil 1

Das Land der brennenden Berge

1

Java, Februar 1895

Die Luft war zum Schneiden. Noch etwas dicker und man hätte sie aufs Brot schmieren können. Wasser tropfte von den Blättern der langstieligen Epiphyten und platschte auf den regendurchweichten Boden. Meterlange Lianen tasteten wie Finger durch die Schwaden. Der Boden war knöcheltief mit abgestorbenen Blättern und Rindenstücken bedeckt. An schmalen Stellen wurde der Weg von Tümpeln und Rinnsalen versperrt, denen man besser auswich. Nicht, weil man sich dort nasse Füße holte, sondern weil die fingerdicken Blutegel, die hier hausten, nur darauf warteten, dass ein unvorsichtiger Wanderer seinen Fuß in ihr Revier setzte.

Professor Konrad Lilienkron von der naturwissenschaftlichen Fakultät Potsdam schulterte sein Gewehr und zog den Trageriemen enger. Die Repetierbüchse wog einige Kilo, aber unbewaffnet wollte er nicht in den Dschungel ziehen, so naiv war er nicht. Immerhin gab es hier Tiger und andere Raubkatzen. Ganz zu schweigen von den seltsamen menschenähnlichen Kreaturen, die von den Ureinwohnern Orang Utans genannt wurden. Das Blätterdach war erfüllt von den Rufen tropischer Vögel, von denen es hier, im Südosten der Insel, besonders viele gab.

Java lag im Indischen Ozean und war eine der vier großen Sundainseln. Ein Tropenparadies mit tiefen Dschungeln, Mangrovensümpfen, Savannen und einer Unzahl von Tieren, die noch gar nicht erforscht waren.

Lilienkron hob den Kopf und genoss den Ausblick. Über ihm war ein Pärchen Rosenkakadus damit beschäftigt, Kerne aus einer reifen Papaya zu picken. Ein Paradiesvogel hatte seinen prächtigen Schwanz in der Morgensonne ausgebreitet, während hoch über ihm gelbe Sonnensittiche wie Blitze durch die Baumkronen schossen. Er lächelte versonnen: Ja, Java war ein Garten Eden, auch wenn die Luftfeuchtigkeit und die Temperaturen einem ziemlich zusetzen konnten. Aber für jemanden wie ihn, der schon oft in tropischen Ländern geforscht hatte, war das kein Problem.

»Temal, wo bleibst du denn?« Er drehte sich um. »Meine Mutter könnte kaum langsamer sein.« Er erklomm eine vorstehende Brettwurzel und spähte in das nebelverhangene Dickicht. Wo steckte dieser Träger bloß wieder? Temal tat so, als habe er den ganzen Tag Zeit. Die Geschwindigkeit seines Gehilfen stand in verdächtiger Abhängigkeit zum Lohn, aber Lilienkron war nicht bereit, wegen jeder zu umrundenden Bananenstaude nachzuverhandeln. Ausgeschlossen. Ein Handel war ein Handel. Das mussten auch die Einheimischen verstehen, schließlich benahmen sie sich untereinander nicht so dreist. Nur Fremde wurden nach Strich und Faden begaunert. Nun, er würde Temal schon zurechtbiegen. Wäre doch gelacht, wenn es ihm mit seiner Erfahrung und seiner Autorität nicht gelang, einen einfachen Träger zu disziplinieren. Man musste diese Leute spüren lassen, wer der Herr im Hause war, dann funktionierte der Rest von ganz allein.

Lilienkron war Geologe. Vulkanologe, um genau zu sein. Ein feingliedriger Mann mit kantigen Gesichtszügen und einem Hut, der ein wenig an einen türkischen Fez erinnerte. Böswillige Zungen behaupteten, die Kopfbedeckung habe Wilhelm Busch zu der Figur des Schneiders Böck in Max und Moritz angeregt. He, heraus du Ziegen-Böck! Schneider, Schneider, meck, meck, meck! Aber diese Bildergeschichte war bereits 30Jahre zuvor erschienen.

Nicht dass Lilienkron einen guten Scherz nicht zu schätzen wusste, aber das ging dann doch zu weit. Immerhin war er ein ordentlicher Professor an einer der bedeutendsten Universitäten der Welt. Als Experte für Vulkane und mit einem Jahresgehalt von zweitausendfünfhundert Mark standen ihm alle Türen der Welt offen. Irgendeiner seiner Studenten hatte jedoch mit dieser Böck-Geschichte angefangen und im Nu hatte sich der Spottname »Lilienböck« an der Fakultät verbreitet. Eine Zeit lang hatte Lilienkron versucht, dagegen vorzugehen, doch es war, als würde man Wasser auf eine heiße Herdplatte tropfen.

Sei’s drum. Würde er erst finden, wonach er schon sein halbes Leben lang suchte, dann würde man ihn mit mehr Respekt behandeln. So viel war sicher.

Er reckte den Hals. Endlich sah er den dunklen Haarschopf und den leinenfarbenen Rucksack durchs Unterholz wippen. Temal hatte eine lilafarbene Orchidee gepflückt und schnupperte gedankenverloren in ihrem Kelch. Vermutlich dachte er dabei an seine junge Verlobte, die daheim auf ihn wartete. Lilienkron winkte ungeduldig mit dem Arm.

»Temal! Hierher.«

Der Träger erblickte ihn, wechselte die Richtung und kam spornstreichs auf ihn zu.

»Da bist du ja endlich.« Lilienkron stemmte die Hände in die Hüften. »Ich habe dir schon tausendmal gesagt, dass wir uns beeilen müssen, wenn wir unseren Lagerplatz vor dem Regen erreichen wollen. Bei deinem Getrödel schaffen wir es nie bis zum Bromo.«

»Nicht aufregen, Tuan Lilienkron. Wir viel Zeit.« Temal schnupperte an seiner Blume. »Wenn schneller, dann mehr Geld.«

»Das kannst du vergessen, mein Lieber. Das Thema haben wir schon durch. Du wirst dich an unsere Vereinbarung halten, oder ich erzähle dem Dorfältesten, dass er einen Betrüger in seinem Ort beherbergt. Wenn ich mit deiner Leistung zufrieden bin, werde ich dir eine Prämie zahlen. Aber nur, wenn du nicht dauernd wieder vom Geld anfängst. Wenn ich gewusst hätte, was ich mir mit dir einhandele, hätte ich einen anderen Träger genommen, da kannst du sicher sein.« Er blickte Temal streng an, der dann auch einigermaßen zerknirscht dreinblickte. Lilienkron nickte zufrieden, wobei er unterschlug, dass Temal der Einzige war, der ein halbwegs verständliches Malaiisch sprach, weshalb seine Argumentation eigentlich sinnlos war. Aber das musste er dem Kerl ja nicht auf die Nase binden.

Temal zuckte mit den Schultern, fügte sich in sein Schicksal und hielt während der nächsten Stunde mit Lilienkron Schritt.

Nach einer Weile wurde der Wald lichter und machte einer grasbewachsenen Ebene Platz, die mit unzähligen kleinen Büschen durchsetzt war. Jenseits davon stieg die Landschaft zu einem wilden, zerklüfteten Hochplateau an, unter Wissenschaftlern auch als Caldera bekannt. Dahinter erhob sich drohend der Bromo.

Lilienkron lächelte. Die Flanken des Vulkans waren zum Greifen nah. Nur noch diese Ebene, dann konnten sie ihr Lager aufschlagen. In freudiger Erwartung schlug er den Weg durch das hüfthohe Gras ein.

Er war noch keine hundert Meter weit gekommen, als er unvermittelt stehen blieb. Was er sah, ließ ihn vor Verwunderung nach Luft schnappen.

Vor seinen Füßen öffnete sich ein enormer Graben. Wie mit dem Lineal gezogen erstreckte sich der Schnitt über Dutzende Kilometer sowohl nach links als auch nach rechts. Unmöglich zu erkennen, wie lang er tatsächlich war. Fest stand nur, es war viel zu weit, um ihn zu umrunden.

Ein seltsames Gefühl stieg in Lilienkron empor, als er nach unten blickte. Er konnte nicht erkennen, wie tief die Spalte in das Innere der Erde führte, denn sie war mit einer Schicht dicken gelblichen Nebels gefüllt. Mehrere schmale Seitenrisse machten den Boden entlang der Kante instabil. Vorsichtig trat er einen Schritt zurück, setzte seinen Rucksack ab und nahm das Gewehr von der Schulter.

»Seltsam«, murmelte er. »Ich kann mich nicht erinnern, diesen Graben in der Karte gesehen zu haben. Aber das haben wir gleich.« Er nahm den Plan aus dem Rucksack, faltete ihn auseinander und legte ihn flach auf den Boden. Dann wanderte er langsam mit dem Finger über das Papier. Temal trat neugierig dazu. Sein Gesicht war ernst.

»Genau wie ich gedacht habe«, sagte Lilienkron. »Ist nicht drin. Also entweder hat Junghuhn hier geschlampt, oder der Graben ist neu. Wenn du mich fragst, ich tippe auf Letzteres.« Er blickte hinüber auf die andere Seite, wo der Bromo sein kahles Haupt erhob. Dunkle Wolken quollen aus seiner Spitze. Ein sicheres Zeichen dafür, dass er jederzeit ausbrechen konnte. Lilienkron glaubte sogar, den fauligen Geruch von Schwefel in der Nase zu spüren. »Gut möglich, dass die Erdspalte bei einem der vielen Beben der jüngeren Zeit entstanden ist«, sagte er. »Die frische rote Erde ist der Beweis, siehst du?«

Temal schwieg.

Die Erde von Java war in ständiger Bewegung, besonders nach dem verheerenden Ausbruch des Krakatau vor zwölf Jahren. Beinahe jede Woche wurde die Erde durchgeschüttelt. Für die Bevölkerung war der Zustand so normal, dass sie den geringfügigeren Beben schon keine Bedeutung mehr zumaß. Ein kleiner Rumpler am Morgen, das gehörte für sie schon genauso dazu wie der Aufgang der Sonne. Lilienkron hingegen hatte einige Zeit gebraucht, um sich daran zu gewöhnen. Mehr als einmal war er aus dem Schlaf gefahren, weil der Boden wackelte und die Häuserwände quietschten. Da neunzig Prozent aller Gebäude aus Bambus bestanden, war die Gefahr, erschlagen zu werden, relativ gering. Trotzdem war es natürlich eine unheimliche Erfahrung. Besonders während der Nacht.

Die Wände des Grabens waren in einem fünfundvierzig Grad-Winkel nach unten geneigt. Das machte ein Hinabsteigen zwar schwierig, aber nicht unmöglich. Lilienkron blickte seinen Träger an.

»Was meinst du, sollen wir es wagen?«

Temal schüttelte den Kopf. Er hatte während der ganzen Zeit kein einziges Wort gesagt. Sein Mund, der sonst immer lächelte, war zu einem schmalen Strich verzogen. So kannte Lilienkron ihn gar nicht.

»Was ist?«, fragte er. »Hat es dir die Sprache verschlagen?«

»Besser umkehren, Tuan Lilienkron. Hier ist nicht geheuer.«

»Was ist nicht geheuer?«

»Temal kennt Orte wie diesen. Drüben bei uns ist auch so ein Graben. Ist verflucht. Nicht gut hier, besser umkehren.«

»Das ist nur eine einfache Kluft. Entstanden durch Bewegungen in der Erdkruste. Nichts, wovor man sich ängstigen muss.«

»Doch, Tuan, ich Angst. Möchte lieber zurückgehen.«

Der Träger wirkte ernstlich besorgt. Oder war das nur wieder ein Trick, um noch mehr Geld zu verlangen? Lilienkron faltete den Plan zusammen. »Wenn du mehr Geld willst …, ich habe dir gesagt, mit dem Thema sind wir durch.«

»Nein, nicht mehr Geld. Ist zu gefährlich hier. Graben ist Brutstätte der Steinernen.«

Lilienkron zögerte. Er hatte schon von den Steinernen gehört. Angeblich handelte es sich um Kreaturen, die zu nachtschlafender Zeit Städte und Dörfer überfielen und Menschen und Tiere mitnahmen. Die Beschreibungen gingen auseinander, aber alle Zeugen sprachen von unheimlichen Geschöpfen mit Hufen statt Füßen und Hörnern auf dem Kopf. Fast so, wie man sich in westlichen Breiten den Teufel vorstellte. Natürlich war das Unsinn. Teufel gab es nicht. Wo hätte sich eine solche Spezies auch unerkannt entwickeln sollen? Andererseits – was, wenn das mit der Sache zusammenhing, derentwegen er hier nach Java gekommen war? Er hatte bereits aus verschiedenen Quellen gehört, dass es Bauern gab, die schworen, ihr Dorf sei von den Steinernen heimgesucht worden. Der König der Insel hatte sogar eine Lotterie ins Leben gerufen, um diesen Kreaturen Menschenopfer darzubringen. Lilienkron hatte den Geschichten zunächst nur wenig Bedeutung beigemessen, doch jetzt schien sich der Verdacht zu erhärten, dass das Auftauchen dieser Wesen irgendetwas mit diesen Gräben zu tun hatte. Ob es möglich war, dass …? Nein, das wäre zu schön. Andererseits – als Wissenschaftler durfte er nichts dem Zufall überlassen.

»Diese Steinernen, bist du sicher, dass das nicht nur Gespenstergeschichten sind?«

Temal schüttelte energisch den Kopf. »Keine Geschichten. Die Steinernen sind wirklich. Kommen in dunklen Nächten, rauben, stehlen, töten.« 

»Bist du selbst mal einem von ihnen begegnet?«

»Nein, nicht. Aber gehört. Verschleppen Männer, Frauen und Kinder. Ziehen sie hinab in dunkle Höhlen, tief unter die Erde.«

Lilienkron blickte versonnen in die Tiefe.

Ein Wind hatte eingesetzt. Der Nebel am Grunde des Grabens wurde verwirbelt und ein fauliger Gestank wehte zu ihnen empor. Temals Gesicht war aschfahl geworden. »Riechen das?«, fragte er und seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. »Ist Atem des Teufels.«

»Nun beruhige dich mal«, sagte Lilienkron. »Ich mache dir einen Vorschlag. Ich werde alleine hinübergehen, das Tal auskundschaften und uns einen sicheren Aufstieg auf der anderen Seite suchen. Du kannst solange hier warten und uns etwas zum Essen machen. Wenn alles gut geht, lege ich noch mal einen kleinen Betrag drauf. Was hältst du davon?«

Temal schüttelte den Kopf. »Tuan Lilienkron nicht gehen. Bleiben hier. Temal macht schönes Essen, dann umkehren, ja?«

»Nein, verdammt noch mal«, protestierte der Gelehrte. »Ich muss da rüber und du wirst hier auf mich warten, basta! Diese abergläubischen Heiden. Als ob man sonst keine Probleme hätte …« Er griff nach seinem Gewehr und prüfte, ob es durchgeladen war. Irgendwann würde ihn die Borniertheit dieser Eingeborenen noch mal in den Wahnsinn treiben. Er hatte keine Lust umzukehren. Nicht, ehe er herausgefunden hatte, was mit diesem Graben los war. Und wehe, Temal verließ seinen Posten. Dann würde er ihn achtkantig rausschmeißen und alleine weiterziehen.

Wütend und entschlossen begann er mit dem Abstieg.

Temal beobachtete mit besorgtem Blick, wie sein Herr den steilen Abhang runterrutschte. Schlitternd und gleitend sauste er in die Tiefe. Immer wieder lösten sich Steine und polterten mit lautem Getöse hinterher. Er konnte nur hoffen, dass die Steinernen während des Tages in ihren Höhlen blieben. Es hieß, sie wären lichtempfindlich und kämen deswegen immer nur in tiefster Nacht an die Oberfläche. Aber gab es dafür eine Garantie?

Um sich auf andere Gedanken zu bringen, entfachte Temal ein Feuer, hängte einen Topf mit Wasser darüber und setzte Reis auf. Als er fertig war, gab er Kardamom, Ingwer, geraspelte Kokosnuss und klein geschnittenes Gemüse in einen kleinen Wok, briet das Ganze scharf an und schmeckte es mit Salz, Pfeffer und Chilischoten ab. Er spürte, wie sein Herz wieder langsamer schlug. Es gab nichts Beruhigenderes als Kochen.

Temal blickte sich um. Drüben am Waldrand stand eine Palme mit Trinkkokosnüssen. Kokosmilch enthielt viele wertvolle Bestandteile und war überdies sehr wohlschmeckend. Ob er Lilienkron wohl versöhnlich stimmen konnte, wenn er ihm zwei davon zum Essen servierte? Allerdings müsste er dazu seinen Platz verlassen und hinüberlaufen. Aber der Forscher würde ja nicht ausgerechnet in diesem Augenblick kommen.

Temal war gerade aufgestanden, um zu der Palme hinüberzugehen, als er einen Schuss hörte. Dann noch einen und noch einen. Die Stille des friedlichen Morgens war zerstört. Das Echo wurde von den Wänden der Schlucht zurückgeworfen. Die Vögel in den umliegenden Bäumen nahmen entsetzt Reißaus.

Temal eilte an die Abbruchkante und spähte in den Dunst.

»Tuan Lilienkron?« Sein Ruf wurde nicht beantwortet. Noch einmal versuchte er seinen Herrn zu rufen, wieder ohne Erfolg. In diesem Moment nahm er aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr. Lilienkrons Mütze war kurz zu sehen, dann war sie wieder verschwunden. Dieser verdammte Nebel!

In einem Anflug von Tollkühnheit sprang Temal in die Tiefe. Sein Herr brauchte Hilfe, so viel war klar. Da! Jetzt konnte er den Forscher erkennen. Er rannte, stolperte, stand wieder auf und schlug dabei seltsame Haken. Noch einmal krachte ein Schuss.

Der Nebel hinter ihm war vollkommen undurchdringlich. Lilienkron humpelte. Er hielt seinen Arm und zog ein Bein beim Gehen nach. Mit Entsetzen sah Temal, dass sein weißes Hemd mit Blut besudelt war. Er sah aus, als wäre er von einem Tiger angefallen worden. »Tuan, du bist verletzt.«

Lilienkron fuhr überrascht herum. »Was machst du denn hier?«

»Dich retten, Tuan.«

»Sehe ich aus, als ob ich Hilfe brauche? Diese verflixten Biester sind zäher, als sie aussehen. Trotzdem glaube ich, dass ich eines von ihnen erwischt habe. Das Tageslicht scheint sie träge zu machen. Ich …« In diesem Augenblick zischte ein Pfeil aus dem Nebel auf sie zu. Temal reagierte geistesgegenwärtig und duckte sich, doch Lilienkron war nicht so schnell. Mit einem dumpfen Aufprall bohrte sich das schwarze Holz in die Schulter des Gelehrten.

Er wankte, taumelte, dann fiel er um.

»Nein!« Temal war sofort bei ihm. Der Forscher rang nach Atem. »Ist … nicht … schlimm. Mir ist nur kurz … die Luft … weggeblieben.«

Temal blickte entsetzt auf den schwarzen dicken Pfeil. Er schien tief in der Schulter zu stecken. »Ich hole dich hier raus, Tuan«, sagte er und packte den Mann. Zum Glück war er leichter als er selbst. »Ich dich in mein Dorf bringen.«

»Nein«, röchelte Lilienkron. »Ich kann … nicht hier weg. Ich … muss zurück. Habe etwas … gefunden. Eine Treppe …«

»Du bist verletzt. Du brauchst Arzt.«

»Aber … die Treppe. Ich muss doch … nachsehen … wohin … sie … führt. Ist … ein … Tor in die … Tiefe.« Mit diesen Worten verdrehte er die Augen und sackte in sich zusammen. Er war ohnmächtig.

Aus dem Nebel drang ein tiefes Knurren. Temal stöhnte auf. Panisch zog er den Forscher hinter sich her. Er erreichte den Hang und begann mit hektischen Bewegungen nach oben zu klettern. Hohe, keuchende Laute ausstoßend, versuchte er die steile Böschung zu erklimmen, glitt aber ab. Je mehr er sich bemühte, desto schneller rutschte die Erde nach. Doch er gab nicht auf und versuchte es an einer anderen Stelle. Langsam gewann er an Höhe. Mit äußerster Mühe gelang es ihm, Lilienkron die steile Flanke hinaufzuziehen.

In diesem Moment sah er tief am Grunde der Schlucht eine Bewegung. Er kniff die Augen zusammen.

Was war das?

Ein plötzlicher Windstoß fegte durch die Schlucht und trieb den Dunst auseinander.

Temal war unfähig, etwas zu sagen oder sich zu rühren. Ihm schien, als wären seine Füße versteinert, als steckten sie einen halben Meter versunken im Boden.

Da unten bewegte sich eindeutig etwas Lebendiges. Seine langen Arme gruben sich in das Erdreich. Rasselnde Atemlaute drangen aus seiner Kehle, während schwarze Schuppen sich von seiner Haut lösten. Seine Augen leuchteten, als würden sie brennen. Als das Wesen ihn erblickte, stieß es ein Fauchen aus und entblößte dabei eine Reihe messerscharfer Zähne.

Temal legte sein ganzes Gewicht in einen letzten Versuch, den Forscher aus der Kluft zu schaffen. Einen Entsetzensschrei ausstoßend, wuchtete er ihn über die Kante und zog ihn vom Graben weg. Dann sank er erschöpft zu Boden. Sollte das Wesen jetzt auf die Idee kommen, ihm zu folgen, wäre das sein Ende. Er hatte keine Kraft mehr. Doch die Kreatur blickte nur eine Weile hasserfüllt nach oben, dann drehte sie um und verschwand im Nebel.

2

Berlin, einige Wochen später …

Das Warenhaus Wekwerth & Dorn warb damit, das erste auf dem europäischen Festland zu sein, das ausschließlich mit patentierten Glühlampen der Firma Edison Electric Light Co. beleuchtet wurde. Ein absolutes Novum für die Stadt, in der neunzig Prozent aller Lampen mit Gas betrieben wurden. Bereits jetzt, am Tag, erstrahlte der Eingangsbereich in geradezu blendender Helligkeit und ließ das Kaufhaus wie einen voll beleuchteten Ozeandampfer aussehen.

Oskar kniff die Augen zusammen. »Und hier sollen wir etwas zum Anziehen finden?«

»Natürlich.« Charlottes Augen funkelten angriffslustig im Licht der Glühbirnen. »Kennst du einen besseren Ort? Dieses Kaufhaus ist das größte und modernste in ganz Berlin und es hat gerade erst eröffnet. Alle Welt spricht davon, nur wir waren noch nicht drin.«

»Wenn es nach mir ginge, könnte es auch so bleiben«, murmelte Oskar, doch er tat es leise und mit sanfter Stimme. Die Nichte des Forschers Carl Friedrich von Humboldt besaß ein ausgesprochen hitziges Temperament. Man tat gut daran, sie nicht zu ärgern.

»Ich war mit Hambacher & Co. immer ganz zufrieden«, sagte er. »Die Sachen halten ewig.«

»Das ist ja genau das Problem. Sie halten so ewig, dass du mittlerweile längst rausgewachsen bist. Sieh dich doch mal an. Du siehst immer noch aus wie ein Straßenjunge. Das gilt übrigens für euch alle.« Charlottes Blick traf auf Oskars Freunde, die eng zusammenstanden und in die Helligkeit blinzelten. »Mein Onkel hat mir aufgetragen, euch neu einzukleiden. Er hat gesagt, ich soll aus euch neue Menschen machen, und genau das habe ich vor. Hier drin gibt es Mode aus der ganzen Welt. Kleider aus Paris, Schuhe aus Mailand, Hosen aus New York, Anzüge aus London. Eliza, sag du ihnen bitte noch mal, dass sie dringend neue Sachen brauchen!«

Die Haitianerin lächelte beschwichtigend: »Also kommt.«

Willi, Bert, Maus und Lena blickten skeptisch auf das Schild über dem Eingang. »Wekwerth & Dorn werden auch Sie einkleiden – maßgeschneidert für Ihren Geldbeutel. Luxus, den Sie sich leisten können. Sie werden staunen.«

»Ick staun jetzt schon«, sagte Maus, der Kleinste und Jüngste in der Gruppe. Mit seinen leuchtenden Augen und den flinken Bewegungen erinnerte er an ein quirliges Eichhörnchen. »Wo se wohl den janzen Strom herkriegen, um det Ding zu beleuchten? Muss ja ’n Vermöjen kosten.«

»Angeblich haben die im Keller einen Generator«, sagte Oskar. »Ein Gerät, so groß wie mein ganzes Zimmer.«

Verblüffte Gesichter waren die Antwort. Seine Freunde hatten lange Jahre zusammen mit Oskar auf der Straße gelebt, ehe sie vom Forscher aufgenommen worden und in Lohn und Brot gestellt worden waren. Mittlerweile verrichteten sie Hausarbeiten, kümmerten sich um die Pferde und halfen Eliza in der Küche. Das Anwesen des Forschers glich einem luxuriösen Waisenhaus mit dem Unterschied, dass hier alle eine Arbeit hatten, für die sie bezahlt wurden. Die Tage begannen früh und endeten spät, denn es gab viel zu tun. Humboldt hatte sich während des letzten Jahres einen Namen als Spezialist für unerklärliche Phänomene gemacht, und es war erstaunlich, wie viele es davon gab. Die Kunden rannten ihm förmlich die Tür ein und Humboldt wurde mit den allermerkwürdigsten Fällen beauftragt. Und er löste sie alle, mochte es sich nun um Gespenster, Grubenunholde oder nächtliche Lichterscheinungen handeln. Bewaffnet mit Lupe, Fotoapparat, chemischen Utensilien und einer Portion gesunden Menschenverstandes machten sie sich ans Werk und gingen den Dingen auf den Grund. Fast immer gab es eine natürliche Ursache für die Phänomene, auch wenn man manchmal etwas tiefer graben musste. Wie zum Beispiel bei dem Poltergeist in einer Nobelvilla, der sich als ein besonders raffinierter Marder entpuppt hatte. Trotzdem waren die Menschen froh und dankbar, von ihren Sorgen erlöst zu sein. Obwohl die Welt mit einem Fuß bereits im zwanzigsten Jahrhundert stand, herrschten in vielen Köpfen noch immer erschreckend mittelalterliche Ansichten. Vorstellungen, die von Ängsten und Aberglauben begünstigt wurden. Ein weites Betätigungsfeld für jemanden wie Carl Friedrich von Humboldt, der mit seinem scharfen Intellekt jedes noch so vertrackte Rätsel zu knacken vermochte. Und Oskar war stolz, an der Seite seines berühmten Vaters arbeiten zu dürfen.

»Hm … hm.« Charlotte spielte an ihrer Brosche. Das tat sie immer, wenn sie ungeduldig war. Die anderen waren schon im Inneren des Kaufhauses verschwunden, nur Oskar fehlte noch.

»Na gut, dann auf ins Gefecht«, sagte er und marschierte an Charlotte vorbei ins Gebäude.

Der Anblick war atemberaubend. Vor seinen Augen öffnete sich ein hell erleuchteter Saal, an dessen Wänden meterhohe Regale standen. Hier gab es unzählige Kleidungsstücke. Manche hingen an Bügeln, manche lagen in Fächern, wiederum andere waren über Kleiderpuppen drapiert, die zeigten, wie die Jacken, Blusen oder Röcke am Körper aussehen mochten. Neben den Regalen befanden sich Umkleidekabinen und hohe schlanke Spiegel. Es gab Stühle und Sofas, auf denen man sich ausruhen und den Kunden beim Anprobieren zusehen konnte. Der dunkle Parkettboden war mit prächtigen Teppichen ausgelegt und über der gesamten Szenerie hing der frische Geruch von Bohnerwachs.

Auf einen Blick erfasste Oskar an die fünfzig Leute, die von emsig herumwuselndem Dienstpersonal umschwärmt wurden. Es ging zu wie in einem Bienenstock. Man konnte sehen, wie Laufburschen immer neue Kleider heranschafften, während die Kunden mit prallen Paketen das Kaufhaus verließen.

Ihre Gruppe blieb nicht lange unbemerkt. Kaum hatten sie sich einigermaßen zurechtgefunden, kam auch schon ein Verkäufer mit breitem Lächeln auf sie zugesteuert.

»Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich begrüße Sie im Einkaufsparadies von Wekwerth & Dorn. Ich freue mich, dass Sie den Weg zu uns gefunden haben. Wir führen sämtliche Marken aller Hersteller aus aller Herren Länder. Ist dies Ihr erster Besuch bei uns?«

»So ist es«, entgegnete Charlotte mit einem bezaubernden Lächeln. »Und wir sind sehr gespannt.«

»Jungfräuliche Kundschaft also. Wie wunderbar.« Der Mann rieb seine Hände. »Es gibt so viel zu sehen, so viel zu entdecken. Sie werden staunen. Lassen Sie mich für die nächsten Stunden Ihr Lotse sein. Ihr Führer im Urwald, um mal diese farbige Metapher zu verwenden.« Sein Blick fiel auf die dunkelhäutige Eliza, doch wenn er überrascht war, so ließ er es sich nicht anmerken. »Suchen Sie nach etwas Bestimmtem oder möchten Sie sich erst mal einen Eindruck verschaffen?«

»So verlockend das Angebot auch klingen mag, unsere Zeit ist leider knapp bemessen«, sagte Charlotte. »Wir möchten die jungen Herrschaften hier mit moderner, gut aussehender Straßenkleidung ausstatten.« Charlotte deutete auf die fünf Jugendlichen. »Hemden, Jacken, Hosen und Schuhe, das Mädchen natürlich mit entsprechendem Rock. Wenn möglich aus der neuen Frühjahrskollektion. Wie Sie sehen, entspricht ihr Äußeres nicht mehr ganz dem aktuellen Trend.«

»Das ist wahr.« Der Mann trat näher und prüfte die Qualität von Oskars Jacke. Dabei machte er ein Gesicht, als würde er in eine Zitrone beißen. »Gute Verarbeitung«, sagte er. »Sehr robust. Hambacher, nicht wahr?«

»Äh, ja …«, sagte Oskar.

»Nun, ich glaube, da kann ich Ihnen eine ebenso gute Qualität anbieten, mit weitaus modischerem Flair. Sie werden feststellen, dass wir nur feinstes englisches Garn verwenden. Es ist ungleich dichter verwoben und macht die Stoffe leicht und schmutzabweisend. Wenn Sie mir bitte folgen wollen …«

Er führte sie in die Mitte der Halle, wo ein großer schmiedeeiserner Fahrstuhl auf sie wartete.

»Stock drei«, sagte er.

Der Fahrstuhljunge, herausgeputzt wie ein Hotelpage mit gestreifter Weste und Hütchen, drückte auf den entsprechenden Knopf. Es ruckelte, dann schoss der Aufzug in die Höhe.

»Ick dachte, det war schon det janze Kaufhaus.« Maus blickte zwischen den Gitterstäben hindurch, hinter denen sich der Boden rasch entfernte.

»Das Erdgeschoss?« Der Verkäufer lächelte überlegen. »Oh nein. Es gibt fünf Stockwerke, jedes mit einer eigenen Warengruppe. Unser Kaufhaus hat dreitausend Quadratmeter. Im Erdgeschoss befindet sich die Aktionsware zusammen mit den Restposten. Stock eins umfasst die Damenwelt, Stock zwei die der Herren. Ebene drei ist den Kindern und der Jugend vorbehalten. Auf Stock vier finden sie Vorhänge, Bettwäsche, Teppiche und Kurzwaren, und unter dem Dach gibt es Gemischtwaren, Spielwaren und Bücher.«

»Sie haben eine Buchabteilung?« Oskar hob die Brauen. Auf einmal erschien ihm der Weg zu Wekwerth & Dorn doch nicht mehr ganz so sinnlos. Bücher waren seine Leidenschaft. Besonders solche, die spannend, abenteuerlich und unheimlich waren. Karl May, Jules Verne, Arthur Conan Doyle, Edgar Allan Poe, das waren seine Helden. Er hatte auch nichts gegen gute Sachliteratur einzuwenden. Reiseberichte, Lexika, Nachschlagewerke, nichts war vor ihm sicher. Was Letztere betraf, so war sein Vater daheim sehr gut ausgestattet. Er verfügte über eine der größten Bibliotheken Berlins, auch wenn er das nicht an die große Glocke hing. Was ihm fehlte, waren Romane. Er machte sich nichts aus Geschichten, die jemand sich ausgedacht hatte, wie er zu sagen pflegte. Doch Oskar war anderer Meinung. Früher hatten ihm die Geschichten über sein trostloses Leben hinweggeholfen, heute las er zur Entspannung. Es gab nicht einen Abend, an dem er vor dem Zubettgehen nicht noch ein paar Seiten schmökerte. Das half beim Einschlafen und bescherte einem tolle Träume. Er trug sich mit dem Gedanken, irgendwann selbst mal eine Geschichte zu schreiben. Stoff genug gab es ja, nach allem, was er an der Seite seines Vaters schon erlebt hatte. Die Abenteuer in Peru, die Entdeckung von Atlantis, die Begegnung mit der unheimlichen Kreatur aus den Tiefen des Weltraums … er brauchte nicht mal etwas hinzuerfinden. Irgendwann mal, wenn er nur etwas Zeit hätte …

Ein Klingeln ertönte, der Fahrstuhl hielt an.

»Stock drei, wir sind da.« Der Verkäufer winkte sie hinaus.

»Kann ich mal kurz mit dir reden?«, sagte Oskar zu Charlotte.

Die Nichte des Forschers hob amüsiert eine Augenbraue. »Was ist? Du willst mir doch nicht erzählen, dass du Angst hast, dich vor mir umzuziehen. Du hast gegen Rieseninsekten und Seemonster gekämpft.«

»Nein, das ist es nicht.« Sein Blick fiel auf einen Jungen, der von seiner Mutter in einen Rollkragenpullover aus Wolle gezwungen wurde. Er hatte einen hochroten Kopf und kämpfte mit den Tränen. Offensichtlich kratzte das Teil wie die Hölle.

»Was dann?«

»Ich möchte dir einen Handel anbieten.«

Ein süffisanter Zug erschien um ihren Mund. »Wie bitte?«

»Ein Handel. Ein Deal, wie die Engländer sagen.« Er hoffte, sie mit seinen neu gewonnenen Englischkenntnissen zu beeindrucken. »Mein Vorschlag lautet, dass ich und meine Freunde mitspielen und die ganze Prozedur klaglos über uns ergehen lassen, wenn wir anschließend dem fünften Stock einen Besuch abstatten und uns etwas aussuchen dürfen. Ein Spielzeug, ein Buch oder etwas anderes.«

»Das ist Erpressung.«

»Das ist es.« Oskar grinste.

Charlotte stemmte empört die Hände in die Hüften. »Auf keinen Fall werde ich mich auf so eine Forderung einlassen. Das wäre ja noch schöner, wenn wir jedes Mal …«

Eliza legte Charlotte ihre Hand auf den Arm. Mit einem Lächeln sagte sie: »Ich glaube, das geht in Ordnung. Ich bin sicher, Carl Friedrich wird nichts dagegen haben. Hauptsache, es ist nicht zu teuer.«

»Hurra!« Die fünf Freunde strahlten übers ganze Gesicht. Willi klopfte Oskar anerkennend auf die Schulter und Lena himmelte ihn mit ihren grasgrünen Augen an.

Charlotte hingegen schüttelte den Kopf. »Das sind doch Ganovenmethoden«, sagte sie.

»Wir sind Ganoven, vergiss das nicht«, erwiderte Oskar mit noch breiterem Grinsen.

»Na gut, aber nur unter einer Bedingung: Ihr probiert alles an, was ich euch gebe. Widerspruchslos. Und ihr lasst die neuen Sachen gleich an. Die alten nehmt ihr mit als Arbeitsklamotten für zu Hause.«

»Harte Forderungen«, sagte Oskar. »Aber so soll es sein. Auf, meine Freunde, los geht’s …«

3

Es war bereits dunkel, als sie zurückkehrten. Die Villa des Forschers lag in völliger Finsternis. Rasch stellten die Freunde ihre Neuerwerbungen ab, liefen durch das Haus und entzündeten die Gaslampen. Im Nu herrschte wieder eine angenehme, heimelige Atmosphäre.

Oskar lauschte. Von irgendwoher vernahm er leises Hämmern.

»Wo ist denn Vater?«

»Klingt, als wäre er wieder unten im Keller«, sagte Eliza. »So wie gestern und vorgestern.«

»Und die ganze letzte Woche«, ergänzte Charlotte. »Ich frage mich, was er da treibt. Er hat ein neues Schloss anbringen lassen, redet mit keinem, kommt zu spät zum Essen – ich fange langsam an, mir Sorgen zu machen.«

Ich glaube nicht, dass ihr euch darüber Gedanken zu machen braucht«, sagte Eliza. »Solange er klopft und hämmert, geht es ihm gut.«

»Und dann dieser neue Schuppen im Wald«, sagte Lena und kraulte Wilma dabei den Kopf. Der Kiwi gurrte wie eine Taube. »Er ist ziemlich groß und hat keine Fenster. Ich habe nach irgendwelchen Ritzen zum Reinschauen gesucht, aber Fehlanzeige. Ich glaube, er baut da drinnen irgendetwas.«

»Das würde zu den Lieferungen passen, die vor zwei Wochen dort eingetroffen sind«, sagte Oskar. »Erinnert ihr euch? Diese riesigen Holzkisten mit der Aufschrift Vorsicht, nicht kippen!«

»Zerbrecht euch nicht die Köpfe«, sagte Eliza. »Wenn er uns etwas mitzuteilen hat, wird er es tun. Bis es so weit ist, geht am besten nach oben, räumt eure Zimmer auf und dann kommt zum Essen. Ich werde zusehen, dass ich auf die Schnelle etwas zubereite.«

Oskar wusste, dass das maßlos untertrieben war. Elizas Kochkünste waren vom Feinsten. Wenn sie sagte, sie müsse etwas auf die Schnelle machen, dann war davon auszugehen, dass es wieder ein kleines Festessen geben würde. Rasch stürmten die Freunde in ihre Zimmer und brachten ihre Neuerwerbungen in Sicherheit. Oskar konnte es kaum erwarten, endlich den steifen englischen Zwirn ablegen zu dürfen und wieder in seine bequemen, eingetragenen Sachen zu schlüpfen. Nicht dass er etwas an den neuen Kleidern auszusetzen hätte – sie waren wirklich schön –, aber es würde wieder verdammt lange dauern, bis er sich daran gewöhnt hatte. Besonders die Schuhe, von denen er jetzt schon Blasen hatte. Er öffnete den Schrank und wollte gerade seine Hose ausziehen, als sein Blick auf ein beinahe vergessenes Kleidungsstück fiel. Eine unscheinbare Kombination aus einer Hose, einem langen Oberteil mit Kapuze sowie speziellen Schuhen. Die Jacke war mit winzigen Insektenschuppen überzogen, die im Licht der Gaslampe geheimnisvoll schimmerten. Es war das Gewand eines Meisterdiebes aus Xi’mal, ein Geschenk des Schamanen aus dem Reich der Regenfresser. Oskar strich mit seinen Fingern über das Material. Wie schön es sich anfühlte. Angeblich war es imstande, sich der Farbe des Untergrundes anzupassen. Eine Art Tarnanzug, für jemanden, der ungesehen irgendwo rein- und rausspazieren wollte. Dabei war er extrem leicht, man spürte ihn gar nicht, wenn man ihn trug.

Oskar überlegte, ob er den Anzug mal wieder anziehen sollte, als ein Geräusch an seiner Tür zu hören war. Er drehte sich um und da stand Lena. Ihre Wangen glänzten und sie lächelte schüchtern.

»Stör ich?«

»Was? Nein gar nicht, komm doch rein«, sagte Oskar. »Ich war gerade etwas in Gedanken. Was kann ich für dich tun?«

Lena schloss die Tür hinter sich und kam auf ihn zu. »Ich dachte, du könntest mir vielleicht helfen.« In ihren Augen schimmerte das Licht der Lampe.

»Klar, schieß los.«

»Folgendes: Die neuen Sachen, die ich gekauft habe. Ich bin ein bisschen unsicher, ob sie wirklich zu mir passen. Vorhin, vor Charlotte, wollte ich nichts sagen. Sie ist sehr eigen in solchen Dingen, deshalb dachte ich mir, ich frage dich, wenn sie nicht da ist.«

»Du siehst sehr hübsch darin aus.«

Sie strahlte. »Ja, wirklich? Mädchen haben oft einen anderen Geschmack als Jungs.«

»Wenn ich es dir doch sage. Richtig schick – du siehst aus wie eine Dame.«

»Oh, danke.« Ein roter Schimmer huschte über ihre Wangen. Die Farbe stand in einem interessanten Kontrast zu ihren grünen Augen. Sie blickte an sich hinab und strich den Stoff glatt. »Die Sachen sind noch etwas ungewohnt.«

»Das kenne ich. Ich war gerade dabei, meine wieder auszuziehen, weil mich alles kratzt und juckt.« Oskar grinste. Lena musste jetzt vierzehn oder fünfzehn sein. Als sie sich zum ersten Mal begegnet waren, war sie eine freche Sechsjährige mit roten Zöpfen gewesen. Sie waren jetzt schon so viele Jahre befreundet, aber irgendwie hatte er es bis heute nicht geschafft, in ihr etwas Anderes als das kleine Mädchen zu sehen.

»Komisch«, sagte er.

»Was denn?« Sie sah ihn aufmerksam an.

»Mit den neuen Sachen und den hochgesteckten Haaren wirkst du viel erwachsener. Du bist ein vollkommen neuer Mensch.«

Das zarte Rosa verwandelte sich in ein flammendes Rot. »Du aber auch. Ich finde, der neue Anzug steht dir toll. Charlotte hat wirklich einen guten Geschmack.«

»Ja, das hat sie.« Oskar wurde ein bisschen wehmütig ums Herz. Er liebte Charlotte von ganzem Herzen, aber in letzter Zeit machte sie es ihm nicht gerade leicht. Die Nachricht, dass sie ein Adoptivkind war, hatte sie völlig aus der Bahn geworfen. Charlotte setzte alle Hebel in Bewegung, um herauszufinden, wer ihre leiblichen Eltern waren, bisher jedoch ohne Erfolg.

Oskar konnte ihren Frust nachfühlen. Er, der ohne Eltern aufgewachsen war, hatte nie etwas vermisst. Er hatte sich seine eigene Welt geschaffen und ein Stück weit war das immer noch so. Für Charlotte hingegen musste es sein, als habe man ihr den Boden unter den Füßen weggezogen. Ihr bisheriges Leben – eine einzige große Lüge. Gewiss, Humboldt und Eliza hatten sie mit offenen Armen willkommen geheißen, aber das war kein Ersatz. Jedenfalls nicht in absehbarer Zukunft. Dafür saßen die Verletzungen zu tief.

Trotzdem wünschte sich Oskar, sie würde ihm wieder mehr Aufmerksamkeit schenken. So, wie sie es früher getan hatte, als sie noch glaubten, Cousin und Cousine zu sein.

Er seufzte und bemerkte im selben Augenblick, dass Lena noch immer dastand und ihn betrachtete.

»Bitte entschuldige«, sagte er und strich über seine Stirn. »War gerade in Gedanken. Kann ich sonst noch etwas für dich tun?«

Lächelnd hielt sie zwei Paar Schuhe hoch. »Ich wollte meine neuen Sachen nachher deinem Vater vorführen und ich weiß nicht, welche Schuhe besser dazu passen.«

»Zieh sie doch mal an.«

Im Nu hatte sich Lena auf sein Bett gesetzt und zog das erste Paar an. Es waren flache braune Schuhe mit Schnürbändern. Sie lief ein paarmal auf und ab. »Und?«

»Jetzt mal die anderen.«

Das andere Paar war aus schwarzem Kalbsleder gefertigt und mit Haken und Ösen versehen. Außerdem hatten die Schuhe hohe Absätze.

»Diese, ganz klar«, sagte Oskar. »Sie passen wunderbar zu dem grauen Rock und der roten Bluse. Jetzt noch das Jackett, eine schöne Halskette und ein paar Ohrringe, und die Männer Berlins liegen dir zu Füßen.«

Lena kicherte. »Nun übertreib mal nicht.«

»Nein, im Ernst«, sagte er. »Ich würde dich sofort um eine Verabredung bitten.«

Augenblicklich fingen ihre Wangen wieder an zu glühen. »Dummkopf.«

Sie kam auf ihn zu und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. »Vielen Dank, dass du mir geholfen hast.«

Sie öffnete die Tür und ging hinaus in den Flur, wo sie sich noch einmal umdrehte. »Na dann bis gleich unten beim Essen.« Sie warf ihm eine Kusshand zu.

»Ja, bis gleich.« Er winkte zurück. Etwas verwirrt stellte er fest, dass der Besuch Lenas in ihm das gleiche Gefühl erzeugte wie ein Glas Champagner. Irgendwie fühlte er sich so perlig und leicht.

In diesem Augenblick kam Charlotte von oben herunter. Sie blieb stehen und schaute Lena mit hochgezogener Augenbraue hinterher. Schweigend.

Oskar bemerkte den missbilligenden Blick und versuchte, den Ärger im Keim zu ersticken. »Ich musste ihr nur ein paar Tipps in Sachen Garderobe geben«, sagte er so sachlich wie möglich.

»Ach ja?«

»Es ging um die Schuhe. Welches Paar besser zu ihrem neuen Rock passt und so …«

»Darin bist du also ein Fachmann?« Charlotte lächelte kühl. »Man lernt doch nie aus. Na, dann hoffe ich, dass du ihr zu den Flachen geraten hast. Die Hochhackigen, die sie eben anhatte, passen nämlich überhaupt nicht dazu.« Sie schickte sich an weiterzugehen, hielt dann jedoch noch einmal kurz inne und sagte in einer perfekten Imitation Lenas: »Na dann bis gleich unten beim Essen.« Sie warf ihm eine Kusshand zu, dann verschwand sie auf der Treppe ins Untergeschoss.

Oskar blieb völlig verdattert stehen. Die Gedanken schwirrten in seinem Kopf wie Bienen in einem Korb. Sosehr er sich auch abmühte, er fand keinen tieferen Sinn in der Unterhaltung. Irgendwann gab er es auf, ging zurück in sein Zimmer und zog sich um. »Frauen«, murmelte er.

4

Elizas Essen war, wie erwartet, köstlich: Hühnchen im Teigmantel, exotisches Gemüse und frittierte Kartoffeln. Dazu eine Joghurtsoße mit raffinierten Gewürzen. Außer Oskar hatten alle ihre neuen Sachen anbehalten und benahmen sich darin, als hätten sie an einem Benimmkurs von Knigge teilgenommen. Kleider machen Leute, hieß es nicht so? Diese Verräter. Oskar warf seinen Freunden vernichtende Blicke zu, doch sie bemerkten ihn gar nicht. Stattdessen unterhielten sie sich fröhlich, scherzten und plauderten und taten so, als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt, im neuen Zwirn beim Abendessen zu sitzen. Dabei hatten sie vor knapp zwei Jahren noch in Lumpen gehüllt auf der Straße gelebt.

Humboldt schien zu gefallen, was er sah. Zumindest hielt er sich mit den üblichen spöttischen Kommentaren zurück. Vielleicht lag es aber auch daran, dass er andere Dinge im Kopf hatte. Oskar fiel auf, dass er ziemlich geistesabwesend wirkte. Bestimmt war er in Gedanken bei seiner neuen Maschine. Oskar hätte zu gerne erfahren, was sein Vater da im Schuppen eigentlich trieb, aber dann fielen ihm Elizas Worte wieder ein und er schwieg.

Irgendwann waren alle fertig, räumten ab, machten den Abwasch und versammelten sich dann vor dem Kamin. Eliza hatte ihnen versprochen, dass sie dem Forscher vor dem Zubettgehen noch ihre Neuerwerbungen zeigen durften.

Lena hatte sich eine hübsche Haarspange mit Bernsteinverzierungen gekauft, Willi einen Satz Trickkarten, mit denen man Zauberkunststücke vorführen konnte, Berts Liebe war sofort auf ein Taschenmesser mit Flaschenöffner übergesprungen und Maus hatte einen wunderbar geschnitzten und bemalten Holzritter für seine Sammlung erstanden.

»Und was hast du dir gekauft?«, fragte Humboldt.

»Das hier.« Oskar reichte ihm ein Buch, von dem er glaubte, dass es seinem Vater gefallen würde. Es enthielt einige schwarz-weiße Bilder und schematische Zeichnungen, die allesamt sehr technisch und wissenschaftlich aussahen. Der Forscher schnappte sich den schmalen Band und begann darin herumzublättern.

»John Cleve Symmes’ Theorie der konzentrischen Kreise«, sagte Oskar stolz. »Ein Buch über die Hohlwelt.« Er wusste, dass sein Vater es gerne sah, wenn er neben seinen Romanen hin und wieder auch ein Sachbuch las, und war völlig überrascht, als dieser plötzlich in schallendes Gelächter ausbrach.

»Na, da hast du dir ja eine schöne Lektüre gekauft«, sagte Humboldt und wischte eine Träne aus seinem Augenwinkel. »Ich wusste gar nicht, dass inzwischen eine deutsche Übersetzung davon erhältlich ist. Ich hoffe bloß, dass du das nicht allzu ernst nimmst.«

»Warum?«, fragte Oskar enttäuscht. Auf der Rückseite stand, dass dieses Buch Jules Verne zu seinem Roman Reise zum Mittelpunkt der Erde inspiriert habe. Es konnte also nicht schlecht sein. Dass sein Vater sich so darüber amüsierte, kränkte ihn.

Seine Freunde drängten heran, um einen Blick auf das Buch zu erhaschen. »Worum geht es denn?«

»John Cleves Symmes war ein Hauptmann der US-Armee«, sagte Humboldt. »Er vertrat die Auffassung, die Erde sei in Wirklichkeit ein Hohlkörper, der eine innere Sonne beherberge. Eine These übrigens, die vor ihm schon der englische Astronom Edmund Halley und der Schweizer Mathematiker Leonhard Euler geäußert hatten. Daran könnt ihr sehen, dass auch große Geister nicht vor Irrtümern gefeit sind. Die Idee entstand, weil man sich einige physikalische Unstimmigkeiten nicht erklären konnte. Und da jedermann davon ausging, dass nicht nur die Erde, sondern auch die Planeten Venus, Merkur und so weiter bewohnt sein müssten, kam man auf die Idee, dass sich das Leben im Inneren dieser Himmelskörper entwickelt haben müsste.«

»Im Inneren?« Berts Augen wurden groß wie Murmeln.

»Es kommt noch besser«, fuhr Humboldt fort. »Symmes überredete den Kongress dazu, eine Expedition zum Südpol zu entsenden. Dort vermutete er den Eingang in die Hohlwelt.«

»Warum ausgerechnet da?«

»Das Hauptargument waren die Polarlichter. Da er sich nicht erklären konnte, wie sie entstanden, behauptete er einfach, es sei Licht, das aus den Tiefen der Erde durch das Eis an die Oberfläche dringe. Herrlich, oder?«

Charlotte runzelte die Stirn. »Was wurde aus der Expedition?«

»Nichts. Sie wurde zwar begonnen, scheiterte aber unterwegs wegen einer Meuterei. Wahrscheinlich hatten die Leute begriffen, dass sie einem Scharlatan aufgesessen waren. Sie enthoben den Führer seines Kommandos und zogen kurzerhand einen Schlussstrich unter die Sache. Besser ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende, wie der Volksmund so schön sagt. Dass dieses Buch immer noch in den Köpfen der Leute herumspukt, zeigt mir, dass wir noch einen weiten Weg vor uns haben. Ach Oskar, jetzt schau nicht so bedröppelt.« Er klopfte ihm auf die Schulter. »Wenn du das Buch mit einer gewissen Distanz liest und nicht alles glaubst, was da steht, wirst du viel daraus lernen. Nichts über die Hohlwelt, fürchte ich, aber darüber, wie manche Gedanken – und seien sie noch so absurd – sich in den Köpfen der Leute festsetzen und dort Wurzeln schlagen. In jedem Fall ist es eine sehr unterhaltsame Lektüre.«

Oskar griff nach dem Buch und steckte es weg. Er hatte große Lust, auf sein Zimmer zu gehen.

Humboldt blickte lächelnd in die Runde. »Schöne Sachen habt ihr euch ausgesucht, ich bin sehr zufrieden.« Er nippte an seinem Portwein. »Ich habe übrigens auch Neuigkeiten für euch. Während ihr unterwegs wart, kam ein Bote hier vorbeigeritten. Er hat mir einen Brief dagelassen, den ich euch nicht vorenthalten möchte.« Er griff in die Innentasche seiner Weste und zog ein gelbliches Blatt Papier heraus, das den Briefkopf der Universität zu Berlin trug. Darunter stand in feiner Tinte und mit ausdrucksvoller Handschrift ein längerer Text. Humboldt schob seine Brille auf die Nasenspitze, räusperte sich und fing an zu lesen.

»Sehr verehrter Herr Donhauser …« Er machte eine bedeutsame Pause. Jeder in diesem Raum wusste, wie empfindlich er war, wenn man ihn mit seinem bürgerlichen Namen anredete. Er selbst war davon überzeugt, der uneheliche Sohn Alexander von Humboldts zu sein – eine Behauptung, die er leider nie hundertprozentig hatte beweisen können.

»Ich bin mir darüber im Klaren, dass mein Anschreiben Sie in einem ungünstigen Moment erreicht, aber ich möchte trotzdem mein Glück versuchen. Vor geraumer Zeit haben Sie der Universität den Rücken gekehrt – ein Schritt, den ich sehr bedauere. Lassen Sie mich Ihnen jedoch versichern, dass ich Ihre Beweggründe voll und ganz verstehe. Wir beide wissen, dass die Strukturen, die an unserer Lehranstalt herrschen, verbesserungswürdig sind, und ich betrachte es als meine Aufgabe, dies zu ändern. Mein Name ist Dr.Jakob Sprengler und ich bin der neue Direktor der Friedrich-Wilhelm-Universität zu Berlin.«

»Sprengler«, sagte Oskar. »Nie gehört.«

»Er ist seit etwa einem halben Jahr im Amt«, sagte Humboldt. »Ein junger und tüchtiger Mann, wie man hört.« Er schob seine Brille vor und las weiter.

»Mir ist zu Ohren gekommen, dass Sie während des vergangenen Jahres ein höchst erfolgreiches Privatunternehmen gegründet haben und dabei Dingen auf den Grund gehen, die man im Volksmund als unerklärliche Phänomene bezeichnet. Ihre Liste an Kunden ist beeindruckend – ebenso beeindruckend wie Ihre Erfolgsquote. Aus diesem Grund würde ich Sie gerne mit einer Aufgabe betrauen, die von höchster Wichtigkeit für das Ansehen und die Reputation der Universität ist. Ich möchte eine Expedition ins Leben rufen, bei der Sie die Leitung übernehmen sollen. Selbstverständlich würden wir für alle Kosten aufkommen und uns auch sonst ganz nach Ihren Wünschen richten. Mit diesem Ansinnen und dem tiefempfundenen Wunsch, Sie persönlich kennenzulernen, möchte ich Sie am kommenden Donnerstag zehn Uhr zu einer Besprechung in mein Büro einladen. Sie dürfen gerne Ihre Assistenten mitbringen und jeden, von dem Sie glauben, dass er unserer Sache dienlich sein könnte. In großer Verehrung und mit den freundlichsten Grüßen, Ihr Dr.Jakob Sprengler, leitender Direktor.«

Humboldt ließ das Papier sinken.

»Verblüffend, nicht wahr?«

Oskar zog die Brauen zusammen. »Verstehe ich das richtig? Die Universität hat einen Auftrag für uns?«

»So sieht es aus«, sagte der Forscher.

»Und worum geht es?«, fragte Charlotte.

»Darüber steht nichts in diesem Brief.«

»Du nimmst seine Einladung doch an.«

Humboldt blickte unschlüssig von einem zum anderen und zuckte dann mit den Schultern. »Ich habe mich noch nicht festgelegt. Eigentlich hatte ich mir geschworen, nie wieder einen Fuß dorthin zu setzen.«

»Aber es ist ein neuer Direktor«, gab Charlotte zu bedenken. »Außerdem klingt das Angebot verlockend. Eine Expedition, finanziert von der Universität zu Berlin. Ich finde, das ist mehr als interessant. Vor allem, wenn man bedenkt, dass die da drüben doch genug eigene Wissenschaftler haben müssten. Warum du?«

Darauf wusste der Forscher keine Antwort.

»Dann ist die Sache doch klar«, sagte Charlotte. »Wir werden es kaum herausfinden, wenn wir uns nicht die Mühe machen, mit ihm zu sprechen, meinst du nicht auch?«

Humboldt runzelte die Stirn. »Seid ihr anderen auch dieser Meinung?«

Oskar nickte. »Klar, unbedingt.«

»Was hättest du schon zu verlieren?«, hakte Charlotte nach. »Außerdem wäre das endlich mal wieder ein schöner Auftrag.«

»Und was war mit dem ganzen letzten Jahr? Wir hatten doch mehr als genug zu tun.«

»Ja schon, aber denk doch mal nach, Onkel. Marder, Siebenschläfer und Sumpfgas. Das ist nicht unser Niveau.«

»Aber es bringt gutes Geld. Was kann ich dafür, dass sich die angeblich übernatürlichen Phänomene immer als Banalitäten entpuppen?«

»Natürlich kannst du dafür nichts«, sagte Charlotte. »Aber sei doch mal ehrlich: Geldverdienen ist nicht alles. Gib zu, es juckt dich auch in den Fingern, endlich mal wieder einen Auftrag in fernen Ländern zu übernehmen. Irgendwo, wo noch nie ein Mensch gewesen ist. Und das Angebot riecht förmlich danach.«

Humboldt dachte eine Weile nach, dann seufzte er. »Na schön. Ich kann ja mal hören, was er zu sagen hat. Vielleicht habt ihr recht und es ist wirklich ein größerer Forschungsauftrag. Das würde mich schon reizen. Aber eines sage ich euch: Ich werde diesen Auftrag nicht für einen Appel und ’n Ei erledigen. Sprengler muss schon etwas springen lassen, sonst kann er sich seinen Expeditionsleiter woanders suchen.«

5

Die Friedrich-Wilhelm-Universität zu Berlin wirkte bereits von außen ziemlich beeindruckend. Eine dreiflügelige Anlage, die sich um den Ehrenhof Zu den Linden hin gruppierte, dazu die siebenachsigen Stirnbauten längs der Allee, die den Komplex noch beeindruckender aussehen ließen. Irgendwie einschüchternd, wie Oskar fand.

Als die Kutsche vorm Hauptgebäude eintraf, läutete es vom nah gelegenen Berliner Dom zehn Uhr.

Bert lenkte den Landauer durch das schmiedeeiserne Tor, vorbei an den Eingangspfeilern, die von steinernen Engeln mit Schriftrollen gesäumt waren und hinein in den Hof mit dem Droschkenplatz. Er stellte das Fahrzeug ab und half Charlotte und Eliza beim Aussteigen. Oskar schnappte nach dem Körbchen, in dem Wilma saß, und folgte den anderen. Ihre Ankunft wurde von einem Dutzend Studenten beäugt, die auf der Treppe saßen, Pfeife und Zigarren rauchten und den Sonnenschein genossen.

»He Leute, kiekt mal den komischen Verein da. Was is ’n det für ’ne Truppe?«

Drei Studenten, gekleidet in feine Anzüge und mit der typischen Mütze auf dem Kopf, kamen zu ihnen herüber. Angeführt wurden sie von einem groß gewachsenen Kerl mit einem Monokel im Auge. Breitbeinig versperrte er ihnen den Weg. Er hakte seine Daumen in die Hosenträger und schob seine Brust vor. Seine Schuhe blitzten im Sonnenschein.

»Wo wollt ihr denn hin?«

»Da rein«, erwiderte Humboldt kurz angebunden und wollte an dem Studenten vorbeigehen. Doch dieser hielt ihn zurück.

»Ich fürchte, das könnte ein Problem geben.«

»Zugang für Weibsvolk verboten«, ergänzte sein Genosse, ein kleiner Rothaariger mit schnarrender Stimme.

»Und für Tiere sowieso«, sagte der andere und deutete dabei auf Wilma. »Ist schließlich kein Zoo hier.«

»Wir haben einen Termin bei Direktor Sprengler«, sagte Humboldt. »Wenn Sie also so freundlich wären …« Noch einmal schickte er sich an, den Angeber zu umrunden, doch dieser streckte die Hand aus und tippte Humboldt vor die Brust. »Halt. Ohne meine Erlaubnis macht hier niemand einen …«

Schritt hatte er vermutlich noch sagen wollen, doch dazu kam er nicht mehr. Mit einer Bewegung, zu schnell fürs Auge, packte der Forscher die Hand seines Widersachers und bog sie in einem schmerzhaften Winkel nach oben.

Mit einem quiekenden Laut sackte der Mann auf die Knie. Seine Freunde wollten sich auf Humboldt stürzen, doch der hob nur seinen Spazierstock und ließ ihn in Kniehöhe durch die Luft sausen. Es gab zwei trockene Schläge, dann lagen die beiden wimmernd am Boden. Es ging alles so schnell, dass Oskar nicht genau sehen konnte, was passiert war.

»Wollt ihr uns nun durchlassen?« Humboldts Stimme war ganz ruhig.

»Ja, mein Herr«, wimmerte der Große, immer noch in gebeugter Haltung. »Was immer Sie wünschen. Wenn Sie bloß meinen Arm loslassen. Ich glaube, er bricht gleich.«

Humboldt entsprach seinem Wunsch. Der Kerl sackte in sich zusammen und umklammerte seine geschundene Hand.

»Sei unbesorgt«, sagte Humboldt. »So schnell bricht kein Arm, zuerst reißen immer die Sehnen.«

Die restlichen Studenten waren mittlerweile auf sie aufmerksam geworden. Neugierig, aber in respektvollem Abstand, kamen sie näher. Keiner sagte ein Wort. In manchen Gesichtern entdeckte Oskar Schadenfreude, andere zeigten eine unverhohlene Abneigung. Eines war jedoch sicher: Für diesen Tag waren sie das Gesprächsthema Nummer eins.

Humboldt wandte sich zu seinen Freunden um. »Wollen wir?«

Als sie durch die Reihen der stumm glotzenden Studenten die Treppen zum Hauptgebäude emporschritten, sagte er: »Versteht ihr jetzt, warum ich gezögert habe, der Universität einen Besuch abzustatten?«

»Herr von Humboldt?« Der junge Mann ergriff die Hand des Forschers und schüttelte sie heftig. »Mein Name ist Emil Körner, ich soll Sie zum Direktor begleiten. Es ist mir eine Freude, Sie kennenzulernen. Ich gehöre zu Ihren glühendsten Bewunderern.«

Humboldt erwiderte den Gruß mit einem erfreuten Lächeln.

»Ich verfolge alle Ihre Abenteuer in der Tagespresse. Fritz Ferdinand von der Berliner Morgenpost ist ein guter Freund von mir. Er versorgt mich immer mit den neuesten Nachrichten. Sie müssen Eliza sein und Sie Charlotte.« Der Mann schüttelte den beiden Frauen die Hände. »Und Sie sind vermutlich Oskar. Freut mich, Sie kennenzulernen. Doch jetzt kommen Sie bitte. Wir wollen den Direktor nicht länger warten lassen.« Er blickte durch die Glastür nach draußen, wo immer noch beträchtliche Aufregung herrschte. »Gab’s Schwierigkeiten?«

»Keine Schwierigkeiten«, erwiderte Humboldt freundlich. »Wieso?«

Ein paar Minuten später trafen sie vor dem Büro des Direktors ein. »Da wären wir«, sagte Körner. »Ich hoffe, bald wieder Neues von Ihnen zu erfahren. Ihre Reiseberichte sind immer ein Genuss.«

»Ich freue mich, dass unsere Abenteuer bei Ihnen ein so gutes Echo finden«, sagte Humboldt. »Richten Sie Fritz Ferdinand bitte einen schönen Gruß von mir aus und sagen Sie ihm, er soll nicht immer so maßlos übertreiben. Die Leute könnten sonst auf den Gedanken kommen, ich wäre ein neuer Baron Münchhausen.«

Der Hausdiener klopfte an die Tür, verschwand kurz dahinter und tauchte wenige Sekunden später wieder auf.

»Der Direktor bittet Sie jetzt herein.«

Oskar ließ die anderen vorgehen und betrat als Letzter das Büro des Direktors.

Das Zimmer wirkte hell und aufgeräumt. Ein paar Regale, ein Sekretär, ein Schreibtisch und ein paar Stühle. Ein Strauß frischer Freesien verströmte einen angenehmen Duft. Vom Fenster aus hatte man einen schönen Blick auf den Vorhof, die Prachtstraße