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Joey Morales ist noch ein Teenager, als sie das Orphan-Programm verlässt. Aber sie ist nicht alleine: An ihrer Seite ist Evan Smoak, auch bekannt als Orphan X, für den Joey zu der Familie geworden ist, die er nie hatte. Sie schickt Evan auf seine bisher ungewöhnlichste Mission, für die er einige tödliche Individuen rekrutieren muss: Candy McClure (Orphan V), Tommy Stojack (Schwarzmarkt-Waffenschmied) und Arragón Urea (ehemaliger Drogenboss). Ihre Hilfe gibt es nicht umsonst. Aber Evan wird jeden Preis bezahlen, um Joey zu helfen.
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Seitenzahl: 65
Veröffentlichungsjahr: 2025
Cover
Titel
Der Auftritt
Weitere Titel von Gregg Hurwitz
Die Orphan X-Reihe von Gregg Hurwitz
Impressum
Cover
Inhaltsverzeichnis
Titelseite
Inhaltsbeginn
Impressum
Der Auftritt – eine Orphan X Kurzgeschichte
Gregg Hurwitz
Aus dem Amerikanischen von Michael Krug
Joey war verängstigt.
Sehr sogar.
Mehr, als sie ahnte.
Sie mochte die Orphan-Ausbildung abgebrochen haben, trotzdem hatte sie viel darüber gelernt, wie man sich gegen Angst wappnete. Entsprechend dem Dritten Gebot für Attentäter hatte sie sich mit der Umgebung vertraut gemacht. Im vergangenen Monat war sie die Anlage mehrmals pro Woche abgelaufen, um sich den Aufbau einzuprägen, die Ein- und Ausgänge zu überprüfen und nach möglichen Bedrohungen Ausschau zu halten.
An diesem Morgen begann sie die Vorbereitung gemäß dem Zweiten Gebot: Wie man etwas tut, so tut man alles.
Sie hatte ihre vierstufige Atemübung absolviert, sich die Vorgehensweise verinnerlicht, sich entsprechend gekleidet: zerrissene schwarze Jeans mit Netzstrümpfen darunter – nicht wie aus einem Porno, mehr wie bei einer Rockerbraut – alles bei Spencer’s im Einkaufszentrum besorgt. Dazu ihre hippen Doc Martens mit den vorn aufgestickten Rosen. Das schwarz-braune Haar trug sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, um ihren Undercut rechts zu zeigen. Das smaragdgrüne Nasenpiercing betonte zusammen mit dem Totenschädelarmband das Strahlen ihrer Augen.
Sie bereitete sich in einer Toilettenkabine im Schoenberg Music Building der UCLA auf ihren Einsatz vor. In diesem Fall bedeutete das einen Kampf mit ihren Nerven, die unschlüssig zu sein schienen, ob sie Joey zum Kotzen bringen sollten oder nicht. Sie hatte bereits mehrere Runden der Mission absolviert, doch die Vorbereitung machte ihr jedes Mal wieder zu schaffen. Gerade als sie ihren Magen in den Griff bekam, stürmten drei It-Girls herein, begleitet von unbeschwertem Gelächter, locker-flockigem Geplapper und Düften von Bath & Body Works – den ausgefallenen wie Champagner Toast und Iced Lemon Pound Cake, die sich Joey nicht auszuprobieren traute, weil sie fürchtete, als zu bemüht ausgelacht zu werden. Umhüllt vom belanglosen Geschwafel der jungen Frauen und der von ihnen ausgestrahlten Leichtigkeit des Seins wartete sie.
Sobald sie gegangen waren, verließ sie die Kabine, tauchte in die Rückstände süßlichen Parfüms ein und betrachtete sich im Spiegel. Sie richtete ihr Haar, zog ein paar Strähnen so nach vorn, dass sie ihr Gesicht umrahmten. Das lenkte vom restlichen Babyspeck ihrer Wangen und ihres Kinns ab und ließ sie ein wenig erwachsener aussehen.
Wenn sie die Augen zusammenkniff, wirkte sie recht hübsch. Allerdings stand viel auf dem Spiel. War sie auch hübsch genug, um zu bestehen?
Die Mappe in ihrer Hand wurde voll geschwitzt.
Ihre Atmung ging zu schwer.
Zurück zu ihrer vierstufigen Technik.
Sie schloss die Augen und stellte sich Bewegungsabläufe des traditionellen Ringkampfs aus Okinawa namens Tegumi vor. Schweiß, Stärke, Geschick. Das Durchlaufen einer Kata, obwohl nur in Gedanken, erinnerte ihr Nervensystem daran, wie sich Stärke und Belastbarkeit anfühlten.
Joey schlug die Augen auf.
Sie würde es schaffen.
Entschlossen marschierte sie los und stieß mit den Handballen die Pendeltür auf.
Um in den Übungsraum zu gelangen, musste sie ihre BruinCard – die sie als Studentin Josephine Morales auswies – in ein Lesegerät neben der Tür schieben. Mittlerweile war sie lang genug vor den Killerkommandos der Regierung in Sicherheit, um wieder ihren richtigen Namen zu verwenden. Evan Smoak, ihr Quasi-Onkel, hatte ihre Spuren sauber verwischt und den letzten ihrer Jäger unter die Erde gebracht. Früher war er selbst ein skrupelloser Killer gewesen und hatte als Orphan X etliche Personen überall auf der Welt liquidiert. Mittlerweile half er als wohltätiger Auftragsmörder ausschließlich Leuten, die von Arschlöchern terrorisiert wurden und sonst keinen Beistand hatten.
Seltsam irgendwie, dass der sicherste Mensch, den sie kannte, zugleich der gefährlichste war.
Aber wenn man darüber nachdachte, ergab es durchaus Sinn.
Im Übungsraum stand ein Stutzflügel.
Joey setzte sich auf die Bank.
Und wartete.
Die glänzenden, elfenbeinweißen und ebenholzschwarzen Tasten sahen ausgesprochen edel aus, wie die in Vitrinen ausgestellte Ware eines Nobeljuweliers, die man nicht anfassen durfte.
Ihre Hände zitterten.
Wenig später trat ihre Lehrerin ein, begleitet vom Klappern ihrer Armbänder aus Holzperlen und einer Patschuli-Duftwolke. Wie immer nahm Miss De Vries die Armbänder ab und legte sie auf einen Beistelltisch, damit es kein störendes Klackern geben würde.
»Sind wir bereit?«, fragte sie.
Die Frau besaß einen wunderbaren niederländischen Akzent. Jedes »k«, »g« und »ch« klang bei ihr kehlig, jeder Zwielaut flockig. In seltenen Fällen nahm sie kurze Anrufe ihrer betagten Mutter entgegen. Dann musste Joey so tun, als verstünde sie die Sprache nicht. Sie hatte längst gelernt, die Menschen nicht mit dem unfassbaren Umfang ihres Wissens zu verstören.
Joey nickte.
Allerdings fühlte sie sich nicht bereit.
Sie hatte keinerlei Probleme damit, in die Rechenzentren der Schweizerischen Nationalbank einzudringen oder einen zudringlichen Typen hinter einer Bar mit handgreiflichem Nachdruck abzuwehren. Aber sie wollte sich in etwas anderem als darin auszeichnen, Systeme zu hacken und Menschen zu erwürgen. Nicht, dass sie Letzteres schon getan hätte. Jedenfalls nicht bis zum Tod.
Deshalb jagte ihr dieses Unterfangen, der Versuch, das zu lernen, eine Heidenangst ein.
Es war etwas für andere, für reichere Mädchen mit der Zeit, der Muße und der Persönlichkeit, sich etwas nicht anzueignen, weil es zweckmäßig, effektiv oder nützlich war, sondern der schieren Schönheit wegen.
Und das wollte sie.
Wenn es ihr gelänge, könnte auch sie sich schön fühlen.
Miss De Vries klatschte zweimal zackig in die Hände. »Mozart, Menuett in C-Dur.«
Gut zum Aufwärmen. Kurze, einfache Tonartvorzeichnung, kein zu kompliziertes Überkreuzen der Hände, nicht allzu viele Akzidenzien mit unverhofften Halbtonerhöhungen und -erniedrigungen. Und Joey hatte sich bereits die Phrasierung so zurechtgelegt, dass sie weder roboterhaft noch stümperhaft klang.
Sie spielte das Stück durch.
»Das war ordentlich«, lobte Ms De Vries.
»Aber nicht großartig.« Wie so oft ging Joey das Zweite Gebot durch den Kopf: Wie man etwas tut, so tut man alles. »Die Fingerhaltung meiner linken Hand ist immer noch nicht richtig, und meine Gruppierung war falsch.«
Ms De Vries entgegnete: »Die Gruppierung war schon in Ordnung. Wollen wir zum nächsten Stück übergehen, das du ausgewählt hast?« Sie zog ein Notenblatt aus Joeys Mappe. »Ah. Ben E. King. Gute Wahl.« Sie platzierte es auf dem Notenständer.
»Aber«, sagte Joey und blätterte zurück zu Mozart, »sie könnte besser sein.«
»Das ist erst die zweite Woche, die du das Stück übst.«
»Mag sein, aber ich muss es nur spielen. Mozart hat es komponiert, als er fünf Jahre alt war.«
Ms De Vries musterte Joey durch ihre runde Brille mit dem durchscheinenden kastanienbraunen Gestell. »Du gehst ziemlich streng mit dir ins Gericht.«
Lady, dachte Joey, du hast ja keine Ahnung.
In die Lani Hall passten etwas mehr als hundert Personen, und alle Plätze waren besetzt. Joey huschte hinein, schloss sachte die Tür, blieb im Hintergrund und hoffte, niemand würde sie bemerken.
Auf der Bühne spielte ein Neuling mit rosigen Wangen in einem schlecht sitzenden Anzug gerade Strawinsky und Joey dachte: Wow.
Danach beobachtete sie, wie er sich im Applaus sonnte und strahlend vor all den Gesichtern und klatschenden Händen stand.
Als Nächstes sang ein supercool aussehendes Mädchen mit zweisträngigen Dreads »Fallin’« von Alicia Keys, und Joey dachte: Heilige Scheiße.
Für den Auftritt gab es stehende Ovationen.
Joey stellte sich vor, dort oben die Finger über die Tasten zu bewegen. Nicht um verstohlen in irgendein digitales System einzudringen, was sie zu einer Kunstform erhoben hatte, sondern für etwas, das die Menschen sehen, fühlen und genießen konnten.
Für etwas, das sie bewundern konnten.
Der Auftritt endete.
Als das Mädchen von der Bühne kam, wurde es von einer großen Familie umringt – allem Anschein nach die Eltern, Geschwister und Cousinen. Ihre Mutter reichte ihr einen Strauß lila Schwertlilien.
Joey lächelte hinten im Saal, während sie die Umgebung auf sich wirken ließ.
Sie bemerkte einen Jungen mit rosigen Wangen, der von seinen Eltern umarmt wurde.
Und all die anderen Interpreten in ihren jeweiligen Gruppen aus Angehörigen und Freunden.