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Orphan X gegen seinen tödlichsten Gegner – die Wölfin
Evan Smoak, einst Orphan X – der gefürchtetste Auftragskiller eines geheimen Programms – und heute als »Nowhere Man« die letzte Hoffnung für Verzweifelte, steht am Wendepunkt: Eine persönliche Krise zwingt ihn zum Rückzug.
Doch als seine Nichte Sofia ihn bittet, ihren verschwundenen Hund zu finden, kann er nicht Nein sagen. Was wie ein harmloser Gefallen beginnt, eskaliert zum größten Einsatz seines Lebens. Die Spur führt in die Welt eines zurückgezogen lebenden Tech-Milliardärs, dessen KI-Imperium tief in das Leben von Millionen eingreift – und dessen nächster Schritt unumkehrbare Folgen hätte.
Gleichzeitig zieht eine mysteriöse Auftragskillerin – bekannt als die Wölfin – eine blutige Spur. Ihr nächstes Ziel: die Tochter ihres letzten Opfers. Und Evan selbst. Fähigkeit gegen Fähigkeit, Instinkt gegen Instinkt: Die Wölfin ist Evans Spiegelbild, nur ohne jeden Kodex.
Zwischen einem übermächtigen Tech-Tyrannen, einer mordenden Schattenfigur und einem Mädchen, das alles verlieren könnte, muss Evan Smoak entscheiden, wie weit er zu gehen bereit ist. An seiner Seite: die brillante und furchtlose Joey Morales.
Um die Wölfin zu stoppen, muss Evan das sein, was er nie wieder sein wollte – die tödlichste Waffe des Orphan-Programms.
Hochspannung, gnadenlose Action und ein Held, der keine Fehler verzeiht – Einsamer Wolf ist der Orphan X-Thriller, den Sie nicht verpassen dürfen.
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Seitenzahl: 549
Veröffentlichungsjahr: 2025
Cover
Titel
Widmung
Prolog
1. Fahles Nichts
2. Die alte Leier
3. Ein einst brutaler Mann
4. Der Arschgeier
5. Loco
6. Das elegante Bild eines Unfalltods
7. Orphan X und der Fall des verschwundenen Hunds
8. Gelächter
9. Der Mann höchstpersönlich
10. Wolfsartige Bedrohlichkeit
11. Stoische Weisheit
12. Seltsames Hexenwerk
13. Unsanfte Behandlung
14. Entweiht
15. Knorpelklumpen
16. Der Zorn Gottes
17. Greenscreen-Held
18. Zurück zu tödlich
19. Hallöchen, Officers
20. Die aufgewühlte Masse
21. Schachmatt
22. Kein Ausweg
23. Einmal noch wie in seinen besten Zeiten
24. Der schlimmste Albtraum seiner Vorstellung
25. Zu müde
26. Das Raum-Zeit-Kontinuum des Sprücheklopfens
27. Ha!
28. Keine Stimme
29. Der volle Bezos
30. Böse Dinge aus guten Gründen
31. Ein erstklassiger Manipulator
32. Unsichere Gefilde
33. Es geht mich nichts an
34. Home, Sweet Home
35. Eiskalter Inselbegabter
36. Massenkommunikation als Waffe
37. Angehender Hitler
38. Was auch immer für ’n Scheiß
39. Gnadenlos
40. Dauerhafter Schaden
41. Grelle Rottöne und verkohltes Schwarz
42. Mit aller nötigen Gewalt
43. Das Depot
44. Objektiv ernstere Scheiße
45. Hilfe beim Verscharren einer Leiche
46. Dieser scheiß Köter
47. Innerer Kampf
48. Die hypnotische Dauerbetäubung des amerikanischen Bewusstseins
49. Das zweitbeste Scharfschützenversteck in der Todeszone
50. Jede einzelne scheiß Bohnenkäferlady
51. Portal zu einem anderen Universum
52. Das wartende Nichts
53. Das Scheißding knacken
54. Dort will niemand sein
55. Psychologische Kriegsführung gegen Hugh
56. Deepfake
57. Beseitigung von lästigem Personal
58. In Gedanken durchspielen
59. Eine ausgebildete Auftragsmörderin, verstohlen wie ein Ninja
60. Sei einfach still und halt mich fest
61. Sch-sch-sch
62. Erwarte niemals Lob
63. Nachempfundene Einsamkeit
64. Ein Ort, an den er nicht gehörte
65. Zusammen
Epilog: Bitte nicht
Danksagung
Über den Autor
Weitere spannende Titel im Ronin Hörverlag
Die Orphan X-Reihe von Gregg Hurwitz
Die Tesseract-Reihe von Tom Wood
Impressum
Cover
Inhaltsverzeichnis
Titelseite
Inhaltsbeginn
Impressum
Einsamer Wolf
Gregg Hurwitz
Aus dem Amerikanischenvon Michael Krug
Für die Männer und Frauen an den Druckerpressen, die sie bedienen und warten. Für die Reinigungsmannschaften, die aufräumen, die Böden wischen und Platz für Produktivität und Konzentration schaffen. Für die Arbeiter:innen, die den Betrieb in den Lagerhäusern, bei der Postabfertigung und bei der Vorratsbeschaffung am Laufen halten. Für die Bestandsmanager:innen, die unsere Schmöker durch die Lebensadern der Branche schleusen, damit sie die Kultur füttern können. Für die Redakteur:innen und Redaktionsassistent:innen, die als Erste an Werke glauben und sie vom Rohentwurf bis zum Bücherregal betreuen. Für die Lektor:innen und Korrekturlesenden, die daran feilen und sie doppelt und dreifach prüfen. Für die Herstellungsleitenden, die ein Buch setzen, und für die Designer:innen, die Leser:innen dazu bringen, es nach dem Einband zu beurteilen. Für die Techniker:innen, die Netzwerke aufbauen, die Systeme fehlerfrei halten und E-Books codieren. Für die Übersetzer:innen und Koordinator:innen von Nebenrechten, die neue Augen und Ohren für die Geschichten erschließen. Für die Vertriebsmitarbeitenden, die mit Enthusiasmus handeln, der Währung der Branche. Für die Vermarkter:innen und Publizist:innen, die von unseren Geschichten berichten, damit die Welt sie wahrnimmt. Für die Personalverantwortlichen, die Abteilungen mit frischem Blut auffüllen. Für die klugen Köpfe im Finanz- und Rechnungswesen, die Lizenzgebühren berechnen, Rot in Schwarz verwandeln und den Karren in Richtung Wohlstand steuern. Für die Rechtsberater:innen, die das geistige Eigentum und die Urheberrechte schützen. Für die Programmverantwortlichen, Bereichsleiter:innen und Verlagsleiter:innen, die das Gefüge zusammenhalten. Für die Führungskräfte und Geschäftsführer:innen, die für ein Dach über dem Unternehmen sorgen und es mit ihren Visionen durch eine rasant verändernde Branchenlandschaft navigieren.
Euch allen gelten mein Dank und meine Bewunderung für die Hingabe, mit der ihr die Voraussetzungen dafür schafft, dass Worte in all ihren ehrgeizigen Absichten, ihrer Unvollkommenheit und gelegentlichen Pracht den Weg in die Welt finden.
Ihr seid einzigartig.
Die Welt zerbricht jeden, und nachher sind viele stark an den zerbrochenen Orten. Doch diejenigen, die nicht zerbrechen wollen, die werden getötet.
– Ernest Hemingway
Jeder Mensch trägt ein Geheimnis in sich. Viele sterben, ohne es je zu finden.
– Stéphane Mallarmé
Relevant war im Augenblick weder, wie Evan mit nacktem Oberkörper und blutbespritzt in einer Kellerbar gelandet war, noch warum er ein halbes menschliches Ohr in der Tasche hatte oder warum der stark verschwitzte, glatzköpfige Rausschmeißer mit einem Körperbau wie der Atlas Farnese fest entschlossen wirkte, Evan den Kopf abzureißen. Relevant war vielmehr, wie er angesichts der Dimension der auf den Straßen stattfindenden Jagd nach ihm die kostbaren nächsten Sekunden nutzen würde.
Evan stand dort, wo die lange unbefestigte Straße in kahlen, vor Hitze flimmernden Lehmboden überging. Er starrte zu einem breiten Mobilheim, in dem sein vermutlicher biologischer Vater lebte, den er noch nie zuvor gesehen hatte. Und Evan hatte Grund zur Annahme, dass sich der Mann gerade in jenen vier verwahrlosten Wänden aufhielt.
Er hatte den Geschmack von Erde und texanischem, von der Sonne ausgedörrtem Berglorbeer im Mund. Das Aroma einer ihm fremden Gegend und Lebensweise.
Das von Armut hingegen kannte er, obwohl er in seiner Kindheit die städtische Variante davon erlebt hatte. Etwas an den rissigen, zugluftanfälligen Betonblöcken, dem durchhängenden, Regen einsickern lassenden Dach und dem rosa, zu einem fahlen Nichts verblassenden Anstrich, den nie jemand auffrischen würde, kam ihm bekannt vor. Es handelte sich um die Art von Armut, die einem einen Spiegel mit seinen schlimmsten Seiten vorhielt und verdeutlichte, dass man um sich herum ein Sinnbild der eigenen Wertlosigkeit sah.
Der Briefkasten zeugte von Trunkenheit und Gleichgültigkeit. Den Holzpfosten hatte eine verirrte Stoßstange umgefahren.
Unmittelbar dahinter parkte auf einer verlotterten Schrägfläche, die in irgendeinem Paralleluniversum vielleicht einen gepflegten Rasen beherbergte, ein Ford F-150 ähnlich dem von Evan. Nur wies dieses Exemplar rostige Radkästen und eine Delle im rechten hinteren Kotflügel auf.
Die geschlossene Haustür hielt den sandpapierrauen Wind draußen. Ein schwarzer Müllsack, der eine Fensterscheibe ersetzte, flatterte wild, bevor er in der drückenden Hitze erschlaffte.
In Evans Magen regte sich eine fast vergessene Beklommenheit, eine persönliche Furcht vor persönlichen Folgen. Davor, eine Tür zu öffnen, die nie wieder geschlossen werden könnte.
Er betrat die Veranda. Die Sohlen seiner Stiefel schrammten über durchhängende Bohlen.
Sobald er angeklopft hätte, könnte er es nicht mehr ungeschehen machen. Evan nahm allen Mut zusammen, verlor ihn kurz, fand ihn wieder.
Er klopfte an.
Mehrere Sekunden Verzögerung zeugten von Überraschung darüber, dass ein unangemeldeter Besucher den langen Weg an diesen Rand der Zivilisation auf sich genommen hatte.
Dann näherten sich Schritte.
Das Überraschende daran, Waffen zu horten, war vor allem, wie verdammt heftig es ins Geld ging. Die Lamestream-Medien vermittelten einem den Eindruck, jeder inzüchtige, schwachsinnige Vollpfosten, dem der Sinn nach einem zünftigen Amoklauf stand, könnte sich ohne Weiteres ein persönliches Arsenal zulegen.
Aber dafür musste man sparen.
Fünfhundert und ein paar Zerquetschte für eine in Texas gekaufte Pumpgun ohne Registrierung. Fünfundsiebzig Mäuse für eine Schachtel Flintenlaufgeschosspatronen – mal zehn für eine 250er-Packung, wenn man überhaupt das Glück hatte, eine aufzutreiben. Sieben Hunnis für eine halbautomatische Schrotflinte von einer Waffenmesse in Arizona. Sechshundertfünfzig für eine Pistole, dreißig für jedes Magazin, hundert für eine 50er-Schachtel Hohlspitzpatronen. Noch mal fünfzig für ein Reinigungsset und fünfundzwanzig für einen Vorrat hochwertiger Federn. Tausendsiebenhundertfünfzig Dollar für einen 5,56-Millimeter-NATO-Karabiner mit Kastenmagazin, den er sich gerade in Reno besorgt hatte, um die restriktiven Waffengesetze in Kalifornien zu umgehen. Fünfzig Dollar pro Magazin, tausend für tausend Übungspatronen. Weitere zwei Riesen für eine Kiste mit tausend Hohlspitzgeschossen, die von Tag zu Tag schwieriger zu bekommen waren. Bis man fertig damit war, sich für den Selbstschutz auszurüsten, hätte man sich locker auch Anteile an einer Ferienwohnung in Palm Springs gönnen können.
Nicht so einfach, wenn man nur einen Job als Lagerarbeiter zum Mindestlohn für neunundzwanzig Stunden die Woche finden konnte – eine weniger, als man für eine Krankenversicherung und Sozialleistungen brauchte. Die Arbeitsbedingungen waren auch beschissen. Vergangene Woche hatte ein Vorarbeiter allen Ernstes vorgeschlagen, sie sollten während der Schicht Erwachsenenwindeln tragen, damit sie keine Zeit mit Klopausen vergeudeten.
Geboren in den USA, aufgewachsen in den florierenden 1990ern, mittlerweile dreiundvierzig, und das war es, was Martin Quinn vorzuweisen hatte – einen Job mit neunundzwanzig Stunden die Woche und Inkontinenzeinlagen. Ohne Aussicht auf Besserung.
Für ihn ergab die Welt keinen Sinn mehr.
Früher konnte man, wenn man malochte und nicht aufmuckte, genug verdienen, um die Miete und Kabelfernsehen zu bezahlen und vielleicht am Wochenende ein Mädel zum Essen und ins Kino auszuführen. Früher konnte man mit einem Highschool-Abschluss und ein paar Kursen am Community College einen Job finden, mit dem man über der Armutsgrenze blieb. Früher wurden von Arbeitgebern noch Leute geschätzt, die Englisch beherrschten und sich eine Autoversicherung leisteten. Früher konnte man sich als Amerikaner auch dann über Wasser halten, wenn man keine Ausbildung über den neuesten Computerkram besaß, nicht Daddys Geschäft erbte und keine Vorzüge dadurch genoss, mit was zwischen den Beinen oder einer bestimmten Hautpigmentierung geboren worden zu sein. Das mochte nicht unbedingt sein Recht sein, doch so war es in der Welt gelaufen, in der er aufgewachsen war.
Das alles galt nicht mehr. Mittlerweile gab es für ihn nur noch Verbitterung. Und Angst.
Er hatte das Gefühl, auf nichts mehr vertrauen zu können. Die Nachrichten waren nur noch reißerisch und beschissen, das Internet brachte jedermann um den Verstand, und aus Martins Sicht konnten sich beide politischen Parteien dorthin scheren, wo der Pfeffer wuchs. Wohin er auch schaute, es kam ihm vor, als würden ihm rund um die Uhr Schuldgefühle um die Ohren geklatscht. In jüngeren, dümmeren Jahren hatte er Dinge getan, die ihm mittlerweile nie in den Sinn kämen – in Hintern kneifen und anzügliche Bemerkungen fallen lassen, beispielsweise. So war er nicht mehr. Aber es fühlte sich an, als hegte die Welt einen alten Groll gegen ihn und wollte ihn mit aller Gewalt zurück in die schlimmsten Verhaltensmuster pressen, die er je gezeigt hatte. Wenn er den Fernseher einschaltete, erkannte er keine Schauspielerinnen und Schauspieler. Filme belehrten einen nur noch. Und selbst der letzte Depp schien sich als Influencer zu versuchen, was nach seiner Auffassung bedeutete, dass jemand krasse Bauchmuskeln oder hübsche Möpse besaß und stylische Fotos von sich schießen konnte, während er oder sie beim Yoga Kombucha auf dem Kopf balancierte oder als Gangsta posierte. Dann gab es noch andere – Freaks, die für Fettleibigkeit, irgendeine Geisteskrankheit oder dafür gefeiert werden wollten, dass sie aus einem Land stammten, von dem nie jemand gehört hatte. Man durfte öffentlich nicht mehr sagen, was man dachte, man durfte keine von der Mehrheit abweichende Meinung mehr haben, man durfte keine Wörter mehr benutzen, die man sein Leben lang verwendet hatte, und sogar die neuen und erlaubten änderten sich im Minutentakt. Das Ganze fand er so verdammt verwirrend, als liefe man barfuß durch ein Labyrinth aus Mausefallen. Und wenn er ehrlich sein wollte, kam er sich dadurch vor wie ein greiser Eskimo, der von seinem Stamm auf einer Eisscholle abgeschoben wurde, weil er nutzlos geworden war. Ein Teil von ihm vermutete dahinter den Sinn der Sache. Ihm aufzuzeigen, dass seine Zeit vorüber war.
Wenn die Welt so sehr aus den Fugen geriet, konnte das nur bedeuten, dass sie kurz davorstand, in sich zusammenzufallen.
Und er würde dafür gewappnet sein.
Wenn es jemand auf ihn abgesehen hätte oder man ihn zu weit triebe, würde er bereit sein.
Er kehrte in seine winzige Wohnung in Panorama City zurück, die einzige, die er sich leisten konnte. Am Fenster hing eine kaputte Klimaanlage, auf dem fadenscheinigen Teppich lagen Hanteln, eine Klimmzugstange klemmte im Türrahmen seines Schlafzimmers, und nebenan wohnten zwei Nutten, die ständig für ein Hämmern an den Wänden sorgten. Das einzige Dekor in dem Drecksloch beschränkte sich auf ein Foto, das Maryanne und ihn in glücklicheren Zeiten zeigte, mit Joshy wohlgenährt und strahlend lächelnd zwischen ihnen auf Martins Knie. Martin hatte es an der Schwanenhalslampe neben seiner auf dem Boden liegenden Matratze angebracht, damit er es als Letztes jeden Abend vor dem Einschlafen sah. Eine tröstliche Erinnerung daran, dass die Welt früher noch einen Sinn gehabt hatte.
Martin platzierte den neuen 5,56-Millimeter-NATO-Karabiner zwischen den Schrotflinten in der Halterung im Schrank. Durch die mächtige Waffe fühlte er sich sicher, geschützt und so, als wäre er doch etwas wert.
Auch wenn die Welt keine Pläne mehr für ihn hatte, er hatte noch welche für sie.
Als er sich aufrichtete und seinen Waffenvorrat bewunderte, bemerkte er die weibliche Gestalt nicht, die hinter ihm stand und einen zu einer Schlinge geformten Gürtel in den Händen hielt.
Martin Quinn baumelte von der praktischen Klimmzugstange. Die Spitzen seiner Carhartt-Stiefel streiften den Boden. Der Hocker war bereits platziert und lag umgekippt knapp außer Reichweite unter ihm. Die ersten Sekunden hatte er versucht, sich hochzuziehen und den Kopf zu befreien. Allerdings hatte sie die Metallstange mit Vaseline eingefettet, deshalb hatte es nicht lange gedauert, bis seine Muskeln schlapp gemacht hatten. Mittlerweile hing er schlaff herab, und der Gürtel drückte den Kopf nach links.
Karissa interessierte immer, in welche Richtung sich der Kopf beim Erhängen neigte. Dafür schien es irgendein seltsames Naturgesetz wie bei Wünschelruten und jenem Murmeltier in Punxsutawney zu geben. In ihrer persönlichen Wertung stand es sechs für links und sieben für rechts. Sie freute sich über den damit erzielten Gleichstand.
Quinn röchelte ein wenig. Seine Unterlippe glänzte nass von Speichel. Sein Gesicht war noch nicht bläulich angelaufen, aber das Blut staute sich darin, als wäre er verlegen. Was durchaus gerechtfertigt wäre, denn sie hatte seine Hose geöffnet und zu den Schienbeinen runtergezogen.
Karissa zog es vor, auf Schusswaffen zu verzichten, weil sie zurückverfolgt werden konnten. Sie wählte lieber verschiedene Methoden, um die Verbindung zwischen Aufträgen zu verschleiern. Erst vergangenen Monat hatte sie »mit einer angezündeten Zigarette eingeschlafen und bei einem Hausbrand gestorben« auf der Bingokarte abgehakt, als sie einen dreisten Buchhalter mit einem Hang zu Unterschlagung beseitigt hatte. An diesem Morgen würden bei einer ins Auge gegangenen autoerotischen Strangulation ebenfalls keine Spuren von ihr zurückbleiben.
Erst recht nicht, sobald sie Quinns Waffenarsenal entsorgt und ihren USB-Stick in Form einer Gummiente an seinen uralten Laptop angeschlossen hätte. Das Programm darauf würde aus seinem Suchverlauf alles im Zusammenhang mit Waffenbeschaffung entfernen und stattdessen einen mit einschlägigen SM-Videos hinterlassen.
Die Strangulation selbst musste langsam vonstattengehen, damit sie für die Spurensicherung und den Gerichtsmediziner schlüssig wäre. Und so brauchte Karissa es, denn dann würde niemand vermuten, sie könnte die Hand im Spiel gehabt haben.
Mit hinter dem Rücken verschränkten Händen stand sie vor Quinn und musterte ihn. Es war eine seltene menschliche Erfahrung, jemandem aus nächster Nähe beim Sterben zuzusehen. Sie tat es mit unerschöpflichem anthropologischem Interesse, als beobachtete sie Wanderfalken bei der Paarung oder einen Oktopus dabei, wie er eine Krabbe zerpflückte, um an das Fleisch zu gelangen.
Quinns Blase leerte sich. Ein gelbes Rinnsal lief innen an seinem nackten Oberschenkel herab. Vergeblich kratzten seine Fingernägel an den Rändern des Ledergürtels und krallten an seiner Kehle. Er versuchte, die Zehen in den Teppich zu stemmen und Luft durch die zugeschnürte Luftröhre einzusaugen. Seine Augen starrten sie flehentlich an. Dabei gab er quietschende Laute von sich.
Die Menschen gaben den seltsamsten Scheiß von sich, bevor sie starben. Karissa sammelte letzte Worte. Die meisten brachten Angst oder Bedauern zum Ausdruck. Einige auch Wut oder Trotz. Fast alle bettelten. Der häufigste Tenor lautete: Warte. Das belustigte sie immer wieder. Warten worauf?
Quinn röchelte erneut. Seine allmählich blau anlaufenden Lippen versuchten, Worte zu bilden.
Karissa wurde neugierig.
Mit dem Fuß zog sie eine der Fünf-Kilo-Hanteln von der Fußleiste und rollte sie zu ihm hinüber. Seine Füße suchten daran Halt. Als sie ihn fanden, konnte er sich darauf ein paar Zentimeter höher hieven.
Die Worte drangen so leise aus ihm, dass Karissa direkt vor ihn hintreten musste. Durch ihre Körpergröße von 1,62 Meter musste sie das Gesicht nach oben neigen, bis sie seinen Atem auf den Wangen spürte. Sie besaß den flachbrüstigen, schlanken, athletischen Körperbau einer Turnerin. Ihre Kraft überraschte die meisten Menschen. So auch Martin Quinn.
Er wankte prekär. Die Hantel rollte unter seinen Zehen hin und her. »Sag ... Joshy ... hätte ... gern mehr Zeit mit ... hoffe ... richtig ... bei ihm gemacht ...«
Nur das Übliche.
Karissa trat einen halben Schritt näher, nahm die von Quinns Körper abgestrahlte Wärme und seinen Uringestank wahr. Ihre Lippen kamen sich fast nah genug für einen Kuss.
Stattdessen setzte sie den Fußballen an der Hantel an und rollte sie langsam unter Quinns Zehen weg. Seine Augen quollen aus den Höhlen. Ein Blutgefäß war darin geplatzt und hatte auf der Lederhaut ein Muster wie ein roter Blitzeinschlag hinterlassen. »Warte ...«, stieß er röchelnd hervor, während seine Füße den Halt auf der Hantel zu bewahren versuchten. »Warte ...«
Dieselbe alte Leier, und sie hatte an diesem Tag noch einen Termin. Mit einem kräftigen Schubs beförderte sie die Hantel unter ihm weg.
Orphan X war verschwunden.
Seit drei Tagen war Evan Smoak noch tiefer unter den Radar abgetaucht als für ihn üblich, und Joey lenkte sich mit Wut auf ihn davon ab, sich um ihn zu sorgen.
Er ging nicht an sein RoamZone-Telefon, was in der gesamten Zeit, die sie ihn kannte, genau null Mal vorgekommen war. Noch nie, seit er einst auf einer Mission über sie gestolpert war und sie sich gegenseitig an der Backe hatten. X kümmerte sich gewissermaßen um sie und sie sich umgekehrt um ihn. Denn auf sich selbst gestellt, wäre er hoffnungslos überfordert, wenn es darum ging, in irgendetwas digital einzudringen ... oder etwas Zwischenmenschliches zu bewältigen. Außerdem musste irgendjemand dafür sorgen, dass sich der gefährlichste Auftragsmörder der Welt nicht blamierte.
Obwohl sie siebzehn war und er so ungefähr Ende dreißig, hatten sie einiges gemeinsam. Zum Beispiel waren sie beide aus kaputten Pflegefamilien für das streng geheime Orphan-Programm rekrutiert worden – von Männern von mit drei Buchstaben abgekürzten Behörden, die sie zu austauschbaren Waffen hatten formen wollen. Joey war früh daraus ausgestiegen. Denn während sie sich als Hackerin auszeichnete, hatte sich herausgestellt, dass die Beseitigung von Staatsfeinden unter Missachtung des Völkerrechts weniger ihr Ding war. X wiederum hatte etliche Ziele in etlichen Zeitzonen ausgeschaltet, ehe er sich aus dem Programm verabschiedet hatte. Nur hatte sich herausgestellt, dass er selbst nicht so einfach zu beseitigen war, wie sich das die Penner von der Regierung vorgestellt hatten.
Was sie nicht daran hinderte, es weiterhin zu versuchen.
Seit Evan allein arbeitete, übernahm er unentgeltlich Aufträge und nannte sich Nowhere Man, der – Achtung, Filmtrailerstimme – den Machtlosen und Unterdrückten half, die sich an niemanden sonst wenden konnten.
Eine geheime Telefonnummer wurde von einem Klienten an den nächsten weitergegeben: 1 – 855 – 2-NOWHERE. Wenn jemand sie im schlimmsten Moment seines Lebens wählte, wurde der Anruf in digitale Pakete aufgeteilt und durch eine Vielzahl verschlüsselter VPN-Tunnel auf verschiedenen Kontinenten gefiltert, bevor er das RoamZone zum Klingeln brachte.
Das Einzige, worauf man sich in dieser verkorksten Welt verlassen konnte, war, dass der Nowhere Man antworten würde.
Nachdem er zweiundsiebzig Stunden lang nicht rangegangen war, hatte Joey deshalb am Ende ihrer wachsenden Besorgnis nachgegeben und war bei ihm eingebrochen, um nachzusehen, was um alles in der Welt vor sich ging. Die Eingangstür mit ihrem Gewirr an innenliegenden Riegeln, einem Wasserkern zur Abwehr von Rammböcken und einer regelrechten Phalanx hochsicherer Schlösser schreckte ziemlich effektiv Menschen ab, die nicht sie waren. Joey hatte sie schon einmal geknackt. Allerdings hatte es eine halbe Stunde gedauert, und sie hatte Schlagschlüssel in zwei Größen gebraucht, einen Bohrmuldenspanner von Dangerfield, einen 0,6-Millimeter-Halbdiamanten und eine großzügige Portion dünnflüssiges Sprühschmiermittel – Letzteres bot sich wunderbar für einen derben Männerwitz an. Deshalb hatte sie bei ihrem nächsten Besuch, als sich Evan zum Meditieren auf sein Schwebebett zurückgezogen hatte, einen Abdruck seines Schlüssels angefertigt, um künftig Zeit zu sparen.
Nun befand sie sich allein in dem verlassenen Penthouse.
Seit vielleicht zehn Minuten stand sie wie erstarrt auf dem Betonboden und versuchte zu verarbeiten, was ihre Augen dem Gehirn meldeten.
Das RoamZone.
Auf der Kücheninsel.
Von X genauso zurückgelassen wie sie selbst.
Ihr Magen fühlte sich schwerelos an, als ginge es bei einer Achterbahnfahrt steil nach unten und als könnte ihr Körper nicht mit den Regeln der Physik mithalten.
X war zuverlässig.
X stand zu seinem Wort.
X hatte jenes Telefon immer bei sich.
Das Zweite Gebot besagte es: Wie man etwas tut, so tut man alles.
Daran hielt sich Evan genauso zwanghaft, wie er auf makellose Ordnung und Sauberkeit in seinem Penthouse achtete.
Der Nowhere Man nahm sich keine Auszeiten. Das durfte er nicht. Allein der Gedanke kam einem auf den Kopf gestellten Naturgesetz gleich.
Joey wurde bewusst, dass sie den Atem angehalten hatte. Sie saugte tief die Luft ein und löste den Blick schließlich von dem zurückgelassenen Telefon.
Wie bei Evan selbst war auch in der sechshundert Quadratmeter großen Eigentumswohnung alles auf maximale Effizienz ausgelegt. Fliesen, Stein, Armaturen aus Edelstahl. Die raumhohen Fenster betonten sowohl die Höhe als auch das asketische Flair der Wohnung. Das Penthouse ähnelte einem skandinavischen Baumhaus zwanzig Stockwerke über dem Wilshire Boulevard. Durch die unscheinbar gepanzerten Jalousien und den begehbaren, verglasten Kühlraum für Wodka wirkte es in der Regel kühl und modern.
An diesem Tag fühlte es sich mehr wie eine Gruft an. Ihre Beine wurden taub.
Was um alles in der Welt konnte nur in Evan gefahren sein? Was hatte ihn bewogen, zu verschwinden?
Seine letzte Mission war verrückter gewesen als die meisten. Im Anschluss daran war er nach Texas gereist, um seinen Erzeuger zu suchen, den er nie kennengelernt hatte, einen ehemaligen Rodeo-Cowboy namens Jacob Baridon. X hatte sich dagegen verwehrt, doch Joey hatte den Mann hinter seinem Rücken für ihn ausfindig gemacht.
Hatte er mit seinem Vater gesprochen?
Hatte ihn das aus der Bahn geworfen? Oder hatte sich etwas Schlimmeres ereignet?
Und falls sein Verschwinden mit seinem biologischen Vater zu tun hatte, ging es dann auf ihre Kappe?
Nein. Sie würde sich nicht die Schuld an Evans Entscheidungen umhängen. Nicht mal, falls sie aufkommende Panik bei dem Gedanken verspüren sollte, dass er verschwunden sein könnte. Denn er war eindeutig wohlbehalten zurückgekommen und hatte sein Telefon zurückgelassen. Wahrscheinlich würde er demnächst mit irgendeiner bescheuerten Ausrede hereinschlendern und übellaunig werden, wenn sie versuchte, ihn darüber auszuquetschen, was passiert war.
Sie würde im Penthouse warten und ihm Zeit bis zum Einbruch der Dunkelheit geben. Obwohl sie alles andere als erfreut darüber war. Tatsächlich war sie so sauer, dass sie es unter der Haut brodeln spürte.
Sie stapfte hinüber zum RoamZone und änderte mit zornigen Daumenbewegungen seinen Klingelton in etwas, das er todpeinlich finden würde. Dann ließ sie den mürrischen Blick über all die irritierend staubfreien Flächen und die penible Präzision wandern.
Sie riss die Schränke auf und brachte die Anordnung der nach Höhe sortierten Gläser völlig durcheinander. Danach mischte sie Salatteller und Essteller so, dass jeder Stapel schief aufragte, was Evan hibbelig werden lassen würde.
Schließlich ging das mittägliche Tageslicht in zerlaufende Schattierungen von Orange und Gold über. Die Sonne scherte sich nicht wirklich um die willkürliche Frist, die sie Evan für die Rückkehr nach Hause gesetzt hatte.
Joey betrat den verglasten Kühlraum und trank direkt aus der Flasche einen Schluck Wodka, eine Sorte, die mehr als das monatliche Durchschnittseinkommen eines Normalbürgers kostete und vermutlich zigfach durch Pandahaut gefiltert worden war.
Schmeckte nicht übel.
Danach lief sie wieder rastlos auf und ab. Die Dämmerung setzte ein.
Sie holte eine Schachtel Büroklammern aus einer Küchenschublade und ging damit ins Schlafzimmer zum Schwebebett, das von unten durch Neodym-Magnete, von oben durch Stahlkabel gestützt wurde. Nachdem sie die Büroklammern auf dem Boden aufgereiht hatte, schnippte Joey eine nach der anderen in das Magnetfeld, wo sie sich unsichtbar an den magischen Unterbau des Betts hefteten.
Als ihr die Geschosse ausgingen, warf sie sich mehrfach wuchtig auf die Matratze, um herauszufinden, ob sie die Kabel zum Schwanken bringen könnte.
Fehlanzeige.
Durch das nach Norden weisende Fenster beobachtete Joey, wie das letzte reflektierte Licht von den Scheiben entlang des Wilshire Corridor verschwand, als die Nacht den Himmel eroberte.
Sie konnte sich nicht vorstellen, wie ihr Leben aussehen würde, wenn X wirklich verschwunden wäre. Er mochte ein Sturschädel und eine gewaltige Nervensäge sein, aber er war auch der Einzige, der sie verstand, der die harte Schule kannte, die sie durchlaufen hatte, und der die Ecken und Kanten nachvollziehen konnte, die ihr davon geblieben waren. Ihr Gehirn konnte nicht abschätzen, wie einsam sie sich fühlen würde, wenn er letztlich draufgegangen wäre.
Oder wenn er abgehauen wäre und sie verlassen hätte, wie es alle ständig taten.
Rasant stieg eine vertraute Wut in ihr auf. Sie riss die Schubladen der Kommode auf. Seine Socken lagen eng gefaltet wie Handgranaten und mit mathematischer Präzision aufgereiht darin. Joey zog sie auseinander und stopfte einzelne in seine Hemdschublade, andere verstreute sie über den Boden. Als Nächstes spielte sie mit dem Gedanken, mit seiner Zahnbürste das Klo zu putzen. Aber sie dachte an jenen Ausdruck in seinem Gesicht, wenn sich Fältchen um seine Augenwinkel bildeten und er sich unwillkürlich so sanftmütig verhielt, wie es nur ein einst brutaler Mann konnte.
Dann heulte sie. Scheiße.
Hässlich noch dazu – mit Rotz und allem Drum und Dran.
Joey gestand sich fünf Minuten dafür zu. Sie brauchte nur drei davon.
Dann durchquerte sie das Badezimmer, kam an der verlockenden Zahnbürste vorbei und betrat die Dusche. Dort legte sie die Hand auf den Warmwassergriff und wartete, während das Venenmuster ihrer Handfläche abgetastet wurde. Nach einem kaum merklichen Vibrieren drehte sie ihn in die falsche Richtung und schwang die nahtlos in die Fliesenanordnung integrierte Geheimtür auf.
Sie betrat den sogenannten Tresor.
Das Heiligtum des Nowhere Man, ein verborgener Raum, den er zum Nervenzentrum für seine Operationen umgebaut hatte. Gerade mal vierzig Quadratmeter, randvoll mit Server-Racks, Computerhardware, Waffenschränken und einem L-förmigen Schreibtisch aus Blech. Die unverkleideten Balken entsprachen dem Muster der öffentlichen Treppe zum Dach, und die Decke, die den vergessenen Lagerraum verbarg, hatte es nie in den Bauplan geschafft.
Abgesehen von X war Joey die Einzige, die ihn je gesehen hatte.
Sie ließ sich auf seinen Stuhl plumpsen, klickte mit der Maus und erweckte die versteckt an den drei Betonwänden um den Schreibtisch herum montierten Mikro-OLED-Bildschirme zum Leben. Zwei zeigten die Bilder angezapfter Kameras im Gebäude, intime Einblicke in die Räume und Gänge des Castle Heights Residential Tower. Der dritte enthielt die kümmerliche Akte, die Joey über Evans »Vater« zusammengestellt hatte – ein paar Kreditkartenbelastungen um Blessing herum, die wohl am texanischsten klingende Stadt in ganz Texas.
Erneut bereute sie gründlich, Jacob Baridon recherchiert zu haben, obwohl Evan sie aufgefordert hatte, es bleiben zu lassen. Wegen des vierten der zehn Gebote, nach denen X lebte – Es ist nie persönlich – mied er solche Telenovela-Dramen wie der Teufel das Weihwasser. Trotzdem ging es nicht immer auf. Vor einiger Zeit war er kurz seiner Mutter begegnet und hatte erfahren, dass er einen Halbbruder namens Andre Duran hatte, der seine Hilfe brauchte. Wie sich herausgestellt hatte, waren Evan und Andre vor einer Ewigkeit sogar zusammen in einer Pflegefamilie gewesen, ohne je zu ahnen, dass sie miteinander verwandt sein könnten. Falls Joey je herausfände, dass sie ein Halbgeschwisterchen hatte, würde sie voll drauf abfahren. Nicht so X. Zwar hatte er Andre geholfen, seither jedoch hatte er keinen Kontakt mehr zu ihm, obwohl der Mann ebenfalls in Los Angeles lebte und eine niedliche Tochter hatte.
Es ist nie persönlich.
So war Evan.
Und dennoch hatte Joey ihn dazu gedrängt. Sie hatte den ungefähren Aufenthaltsort seines Vaters ermittelt. Und Orphan X damit direkt in das einzige Terrain geführt, für das er keine Ausbildung besaß.
Sie rieb sich die Augen. Dann spürte sie, dass jemand sie beobachtete.
Evans kleine Aloe-Vera-Pflanze, Vera III., blickte Joey vom Schreibtisch entgegen, schummrig erhellt vom künstlichen Licht der OLED-Monitore. In ihrer Schale mit bunten Glaskugeln war sie Evans einzige Gesellschaft im Penthouse. Wahrscheinlich, weil sie an ihn so wenige Ansprüche stellte wie er an sie.
»Ich weiß nicht, wo er ist«, wandte sich Joey an sie.
Vera wirkte besorgt, während sie Kohlendioxid in Apfelsäure umwandelte. »Na schön«, sagte Joey. »Ich rufe Tommy an.«
Tommy Stojack, neunfingriger Waffenschmied mit einer Werkstatt nah dem Strip im echten Las Vegas, war Evans vertrauenswürdigster Kontakt. Tommy betrieb nicht nur Forschung und Entwicklung für regierungsnahe geheime Gruppierungen, sondern fertigte auch Phantomwaffen für eine Handvoll regierungsfremder Leute an, darunter X. Über die Jahre hatte es sich zwischen ihm und Evan so ergeben, dass sie sich aufeinander verließen.
Sie rief eine von ihr persönlich verschlüsselte Software für Videotelefonie auf und wählte Tommys Nummer.
Es klingelte dreimal, fünfmal, siebenmal.
Dann ging er ran, seine Knollennase groß im Bild, als er wie der volle IT-Analphabet aufs Display schielte. Er fuhr gerade irgendwohin, hatte das Handy ruckelnd auf einem Knie. Die Oberlippe säumte ein Biker-Schnurrbart, die untere wurde durch eine Portion Skoal nach außen gewölbt. »Feinkost Straßenaas. Darf’s was zum Mitnehmen oder zum hier Essen sein?«
»Widerlich.«
Er schaute genauer hin und bemerkte verspätet, dass es sich um Joey handelte. Seine Basset-Augen mit den hängenden Tränensäcken wirkten erfreut, sie zu sehen, auch wenn der Mund dabei nicht mitzog. »Was willst du?«, fragte er über den Motorlärm seiner Karre hinweg.
»Evan ist verschwunden«, teilte Joey ihm mit. »Seit drei Tagen.«
»Woher weißt du, dass er verschwunden ist? Und nicht bloß irgendwo er selbst ist?«
»Sein RoamZone ist hier im ...« Sie bremste sich. Evans Einsatzsicherheitsprotokolle sahen vor, dass nicht mal Tommy erfahren durfte, wo er wohnte. »Er hat’s zurückgelassen.«
»Was? Er hat das RoamZone zurückgelassen? Das Ding klebt sonst an ihm wie Scheiße an ’ner Mistgabel.«
»Deshalb rufe ich an.«
»Und was denkst du?«
»Keine Ahnung«, erwiderte Joey. »Was, wenn er unsere Hilfe braucht? Wenn er in Schwierigkeiten steckt? Wenn er durch ein bizarres Missgeschick bei ’ner Gender-Reveal-Party draufgegangen ist?«
»Dann hätten wir wenigstens was zu lachen.«
»Tommy!«
»Ach komm, Kleine. Gib’s zu, den Scheiß würdest du genauso gern auf seinen Grabstein meißeln.«
»Ich ... ich glaube, er ist los, um seinen Vater aufzusuchen.«
»Wie kommst du darauf?«
Schuldgefühle ließen sie zögern. »Könnte sein, dass ich ’nen Ort für ihn ausgegraben habe. Vielleicht hat ihn aus der Bahn geworfen, was auch immer dort abgegangen ist.«
»Wenn du so besorgt bist, warum suchst du nicht einfach nach ihm?«
»Oh, klar. Den Nowhere Man aufspüren. Kinderspiel.«
»Du kennst ihn ziemlich gut. Frag dich, was er sich dabei gedacht haben könnte, dass er sein Telefon zurückgelassen hat.«
»Es hat sich noch kein Mensch gefragt, was Evan Smoak wohl tun würde.«
»Hast du schon seine Unterschlupfe überprüft?«
Joey zögerte einen Sekundenbruchteil zu lange. »... jaaa.«
Warum hatte sie nicht daran gedacht? Ihre Finger bewegten sich bereits und riefen nacheinander die Bilder von Innenkameras in dem ungefähren Dutzend Unterschlupfen auf, die Evan über den Großraum Los Angeles verteilt unterhielt.
East L. A. – nichts. Westchester – nichts.
Boyle Heights – nichts. Tarzana ... Heilige Scheiße.
Dort saß er auf der Couch des spärlich eingerichteten Bungalows und starrte ... offenbar ins Leere. Und schwankte dabei leicht. Auf dem Boden vor ihm standen mehrere Wodkaflaschen. Leer, wie sich bei einer raschen Bildvergrößerung und -optimierung herausstellte.
»Hab ihn.« Sogar für ihre eigenen Ohren hörte sich ihre Stimme trocken und angespannt an. »Ich melde mich wieder, wenn ich bei ihm bin.«
»Werd dir mit angehaltenem Atem die Daumen drücken, an dich denken und beten.« Tommy spuckte durch seine Zahnlücke einen Strahl Tabaksaft aus dem Fenster und legte auf.
Joey musterte Evan noch eine Weile mit ungläubig offenstehendem Mund. Er war betrunken.
Nicht von zwei Fingerbreit Wodka, destilliert von Kriegerköniginnen der Amazonen in Nordanatolien, eingeschenkt über einen geodenförmigen Eiswürfel. Sternhagelvoll.
Unfassbar. Eine Schande.
Evan hörte, wie ein Dietrich im Schloss der Eingangstür seines Unterschlupfs in Tarzana kratzte. Als die Tür aufschwang, schien kaltes, hartes Licht in den Bungalow herein, und seine Pupillen zogen sich zusammen. Der grelle Schein schmerzte in den Augen.
Er hatte die ARES 1911 angehoben und auf die Tür gerichtet. Es überraschte ihn nicht annähernd so sehr, wie er gedacht hatte, als Joey mit zornigen Schritten in ihren Doc Martens hereinstapfte. Der Diamantanhänger funkelte an ihrer Brust, ein Zugeständnis an Eleganz und ein auffallender Kontrast zu ihrem Flanellhemd und ihrer finsteren Miene, beides eine Nummer zu groß.
»Was zum Arschgeier ist los mit dir?«, fragte sie.
Er ließ die Pistole sinken. »Ausdrucksweise.« Seine Stimme klang brüchig, trocken.
Sie warf ihm etwas zu. Es prallte – unsanft – gegen seine Brust und landete auf seinem Schoß.
Sein RoamZone.
»Dir steht nicht zu, einfach so zu verschwinden, ohne das Nowhere Man-Telefon bei dir zu haben«, sagte sie. »Was, wenn dich jemand gebraucht hätte und du nicht rangegangen wärst?«
Obwohl sie die Tür wuchtig hinter sich zugeknallt hatte, spürte er noch die Nachwehen des gleißenden Tageslichts, als wäre ein Eispickel durch seine Hornhaut gefahren. Als er auf der Couch das Gewicht verlagerte, stieß er mit dem Stiefel eine leere Flasche Cîroc um. Laut klappernd fiel sie auf den Parkettboden und rollte in einem quälend langsamen Bogen vor Joeys Füße.
Sie blickte darauf hinab, als wäre damit alles gesagt. Vielleicht stimmte es.
Sie stemmte die Hände in die Hüften, selten ein gutes Zeichen. »Weißt du, es geht nicht nur um dich. Du trägst Verantwortung für ... für andere, klar?«
Allmählich verebbte die Wirkung des Alkohols. Zurück blieb ein dumpfer Schmerz in Evans Schädel. Vergangene Nacht hatte er sich einmal übergeben. Auf die saubere Art, bei der man den Fusel hinunterkippte, der Magen mit einem klaren Nein sein Veto dagegen einlegte und ihn prompt in der Form zurückschickte, in der er unten angekommen war.
Er hob leicht das Kinn und deutete damit auf den Kühlschrank. »Kochsalz.«
Als sie in die Küche ging, polterten ihre Stiefel etwas weniger vehement über den Boden – eine vielversprechende Entwicklung. Sie stöberte durch die Kartons von der Essenslieferung neben dem Spülbecken. »Du«, sagte sie, »hast Mist auf der Arbeitsplatte rumstehen lassen. Ist das nicht eins der Vorzeichen der Apokalypse?« Obwohl sie scherzte, verriet das Zittern in ihrer Stimme ihre Besorgnis. »Außerdem solltest du keine Plastikstrohhalme verwenden.« Sie hielt das anstößige Utensil hoch.
Das Pochen in seinem Schädel wurde schlimmer. »Die waren in der Tüte dabei.«
»Als echter Weltverbesserer solltest du dir eigene zulegen. Du weißt schon, aus Bambus oder Stahl, damit an dem Plastikmist keine Schildkröten ersticken.«
»Sie waren in der Tüte mit der Essenslieferung«, wiederholte er. »Was hätte ich denn machen sollen? Mir einen Strohhalmhund zulegen, der sie erschnüffelt?«
»Einfach in die Tüte gucken«, konterte sie zornig. »Und sie rausnehmen.«
»Ich schicke einen Scheck an die Liga gegen Schildkrötenerstickung.«
»Gibt’s so was?«
»Nein.«
Joey lehnte sich in den Kühlschrank, kramte in der Gemüseschublade und holte einen Infusionsbeutel daraus hervor. »Weißt du, Tommy hat sich Sorgen um dich gemacht.«
»Tommy«, wiederholte er skeptisch.
»Ja, Tommy. Du lässt dein Telefon nicht einfach so zurück. Nie. Das ist irgendwie der Deal.«
Sie kam herüber und warf ihm den Beutel mit Kochsalzlösung zu. Er traf ihn etwas weniger wuchtig als das RoamZone an der Brust.
»Ich brauche auch das ...«, begann er.
Ihre andere Hand schnellte vor. Das Infusionsset landete auf seinem Schoß.
Es kostete ihn etwas Konzentration, aber es gelang ihm, den Schlauch am Beutel anzubringen. Dann lehnte er sich stöhnend zurück und hängte ihn an den Knauf der Halogen-Stehlampe neben ihm. Er ließ die Flüssigkeit durch die Leitung laufen, beseitigte die Luftbläschen daraus und tastete anschließend seinen Arm nach einer guten Vene ab.
»Was ist passiert?«, fragte Joey. »Wo bist du gewesen?«
»Texas.«
Er hob eine geleerte Flasche auf, neigte sie, spähte hinein und begutachtete den Rest des Wodkas unten am Flaschenboden.
»Hast du deinen Dad gefunden?«
Er träufelte ein paar Tropfen auf die Ellenbeuge, um sie zu desinfizieren, riss die Tüte mit dem sterilen Katheter auf, entfernte mit den Zähnen die Abdeckung von der Nadel und führte sie in eine Vene ein. »Nichts«, sagte er. »Ich habe nichts gefunden.«
»Keine Ahnung, was das bedeutet.«
Er lehnte sich zurück, starrte an die Decke und wartete darauf, dass die Infusion begann. »Ich auch nicht, Josephine.«
Sie zögerte. Im Halbdunkel wirkte ihre Iris durchscheinend, beinah wie Jade. Ihre langen Wimpern klimperten, die Augen blitzten. Das dichte schwarz-braune Haar hatte sie rechts zu einem Undercut rasiert. Lange lockige Strähnen hingen dort über ihre Wange. Links an der Nase funkelte ein kleiner Smaragd. Sie sah taff aus, war zugleich wunderschön und wirkte plötzlich zerbrechlich.
Joey holte ihr Handy heraus. »Ich rufe Tommy an.«
»Vergiss nicht die Filter.«
»Ich weiß, wie ein verschlüsselter Anruf geht, X. Ich hab deine lausige Verschlüsselung aufgemotzt.«
Evan spürte, wie die Kochsalzlösung in seinen Kreislauf gelangte und sofort Wirkung zeigte. Seine Kopfschmerzen verflüchtigten sich, seine Adern schwollen an, und ein dringend nötiger Energieschub folgte.
Dann hatte er Tommy vor dem Gesicht. Durch die extreme Nahaufnahme auf dem Display von Joeys Telefon wirkte sein Oberlippenpelz überdimensional wie der von Teddy Roosevelt.
»Himmel«, sagte Tommys Schnurrbart. »Du siehst ja aus wie meine Eier von unten.«
»Ich glaub, er hat so was wie ’ne Midlife-Crisis«, warf Joey ein. »Was ... ihm nicht zu Gesicht steht.« Sie hielt sich das Handy so an die Brust, dass beide Evan entgegenstarrten.
»Okay«, wandte sich Tommy an ihn. »Du hast also Papa Schlumpf ’nen Besuch abgestattet, und jetzt fühlst du dich wie ’ne zerknüllte Dose Arschwasser. Klärst du uns auf den billigen Plätzen darüber auf?«
»Nein«, sagte Evan.
Kurz drehte Joey das Telefon so, dass Tommy und sie einen irritierten Blick wechseln konnten, bevor sie es zurück zu ihm schwenkte.
»Ich hab dich schon öfter trinken sehen, als ich’s zählen kann, ohne die Schuhe auszuziehen«, sagte Tommy. »Trotzdem hab ich dich noch nie besoffen erlebt.«
Evan justierte mit der Rollklemme den Durchfluss der Infusion in seine Vene. Seine Sicht wurde schärfer, und er verspürte den ersten Anflug von Klarheit seit ungefähr einem Tag. »Ich mich auch nicht.«
Joeys finsterer Blick verhärtete sich. »Was immer bei deinem Vater passiert ist oder nicht, du musst den Scheiß wegpacken und dich zu gegebener Zeit damit auseinandersetzen.« Sie ergriff das robuste Telefon neben ihm und warf es ihm auf den Schoß. »Du bist X. Reiß dich gefälligst zusammen.«
»Hör auf die Zuckerschnute«, steuerte Tommy bei. »Und von mir kriegst du auch ’ne Dosis Wahrheit um die Ohren geklatscht.«
»Ich bin nicht in der Stimmung für ...«
»Schnauze. Drauf geschissen. Ein Freund hat das Recht, es einem zu sagen, wenn man auf dem Holzweg ist.« Tommy hatte die Handykamera irgendwie so unerklärlich positioniert, dass nur ein Auge eindringlich vom Display glotzte. »Also sperr die Lauscher auf, Macker. Was dich auch aus der Bahn geschmissen hat, du musst drüber wegkommen und dich auf die Beine rappeln. Und du weißt, wie’s geht. Fang klein an.«
»Klein?«, hakte Evan nach. »›Klein‹ gibt’s bei mir nicht.«
Plötzlich dröhnte es aus seinem Schritt. DONCHA WISH YER GIRLFRIEND WUZ HAAAWT LIKE ME?!
Das RoamZone. Mit einem von Josephine Morales geänderten Klingelton. Ihre Lippen teilten sich leicht. Die hauchdünne Lücke zwischen ihren Vorderzähnen kam zum Vorschein. Evan funkelte sie an. »Du hast’s echt für nötig gehalten ...«
DONCHA WISH YER GIRLFRIEND WUZ HAAAWT LIKE ME?!
Joey deutete mit den Fingern auf die Ohren. »Sorry. Kann dich nicht hören. Vielleicht solltest du rangehen, wie’s deine gelobte Pflicht ist.«
Elend platzierte Evan das RoamZone auf seinem Knie und tippte auf LAUTSPRECHER. Sosehr er sich bemühte, Energie aufzubringen, er klang tonlos. »Brauchen Sie meine Hilfe?«
»Ja«, antwortete die Stimme eines kleinen Mädchens. »Mein Hund ist verschwunden.«
Joey starrte Evan an. Auf ihrem Handy verdrehte Tommy das sichtbare Auge, bevor das Display dunkel wurde, als er die Verbindung kappte.
Evan seufzte. Das RoamZone fühlte sich schwer an seinem Oberschenkel an. »Woher hast du diese Nummer?«
»Oh«, machte das Mädchen am anderen Ende der Leitung. »Ich bin Sofia. Andres Tochter.«
Sofia Duran, die elfjährige Tochter von Evans Halbbruder.
Dem Halbbruder, der zu viel trank und sich – wie die meisten Menschen, die in Pflegefamilien aufgewachsen waren – schwer damit tat, sich aus Schwierigkeiten herauszuhalten. Dem Halbbruder, den Evan bei einer früheren Mission gerettet und mit seiner Tochter wiedervereint hatte. Dem Halbbruder, den Evan seither weitgehend ignoriert hatte.
Sofia lebte bei ihrer Mutter Brianna Ramirez, Andres Ex. Evan war der Kleinen nur ein einziges Mal begegnet, und soweit er wusste, hatte sie keine Ahnung, dass sie verwandt waren. Obwohl Evan und Andre zusammen im Pride House Group Home aufgewachsen waren, hatten sie erst unlängst von ihrer Blutsverwandtschaft erfahren. Sie hatten einander inmitten tödlicher Wirren wiedergesehen, was für die meisten Menschen seltsam gewesen wäre, für Evan jedoch relativ normal.
Evan zog die Nadel aus seinem Arm und stand auf. »Sofia, du kannst nicht einfach diese Nummer anrufen. Die ist nicht für dich vorgesehen.«
»Warum nicht? Ich hab Dad reden gehört, und er hat gesagt, sie ist für Leute, die traurig sind ...«
»Sie ist nicht für Leute, die traurig sind.«
»... und Loco ist weggerannt, und ich finde ihn nicht.«
Evan kniff sich den Nasenrücken, als seine Kopfschmerzen zurückzukehren drohten. Wer taufte seinen Hund mit dem spanischen Wort für »verrückt«? »Loco.«
»Dad hat ihn mir für dann besorgt, wenn er nicht bei mir sein kann. Er ist mein ... wie heißt das noch mal? Entgangsobjekt.«
Evan beugte den Arm und übte Druck auf die Einstichstelle aus. »Übergangsobjekt.«
»Nur ist er kein Objekt. Er ist mein Hund und vor zwei Tagen weggelaufen, und ich kann ihn nicht finden, und was, wenn ihn ein Kojote oder ein Falke erwischt hat?«
Ihre Stimme zitterte, und Evan dachte: Na bravo.
Joey hatte die Stirn in tiefe Falten gelegt. Ihre Mimik war selten subtil, derzeit jedoch eines Auftritts in einem Stummfilm würdig.
Evan wandte sich von ihr ab und schaltete mit dem Daumen die Lautsprecherfunktion des Telefons aus. »Ich bin kein Hundefänger.«
»Aber Dad hat gesagt, du hilfst Leuten.«
»Ich helfe Leuten, die wirklich Hilfe brauchen. Keinen Kindern mit verschwundenen Haustieren.«
»Er ist kein Haustier«, gab Sofia zurück. »Er ... er ist mein bester Freund.«
Und dann weinte sie. Evan drückte das RoamZone fester an die Wange und hoffte, die Geräusche dadurch zu dämpfen. Ein Blick über die Schulter zeigte ihm Joey mit vor der Brust verschränkten Armen und Enttäuschung im Gesicht.
»Du, es tut mir leid«, sagte Evan ins Telefon. »Aber so was mache ich nicht.«
Sofern Sofia ihn gehört hatte, ließ sie es sich nicht anmerken. Sie schluchzte nur herzzerreißend, unterbrochen von schweren, zittrigen Atemzügen.
Evan stand eine lange Weile mit dem kühlen Telefon an der Wange und Sofias Geräuschen im Ohr da. Er presste die Lider zu und biss sich auf die Unterlippe, um eine sich anbahnende Unflätigkeit zu bremsen, bevor sie seinen Mund verlassen konnte. Als er die Augen öffnete, pochte sein Schädel wieder, das Mädchen schluchzte unverändert, und Joey starrte ihn erwartungsvoll an.
Joey warf die Hände mit gespreizten Fingern hoch, und ihre Lippen formten: Klein anfangen.
Auf keinen scheiß Fall, gab er in selber Weise zurück.
Joey grinste breit und erwiderte: Ausdrucksweise.
Selbst auf Fotos war Loco der hässlichste Hund, den Evan je gesehen hatte. Ein knochendürrer, winziger Pinscher-Chihuahua-Mischling mit borstigem, ungleichmäßigem Fell, Fledermausohren, gefletschten Zähnen und psychotischem Blick. Oben auf der Schnauze wucherte ein Gewächs, das aussah, als könnte es jeden Moment explodieren. Mit geübten Daumenbewegungen scrollte Sofia durch digitale Fotos und Videos und stellte damit die Liebesgeschichte zwischen einem Mädchen und einem Hund zusammen. Loco eingerollt auf ihrem Schoß, während sie lernte. Loco, wie er sich eine Fritte direkt von ihren Lippen schnappte. Loco zu Halloween als Marienkäfer verkleidet, das gruselige Gesicht unverändert unter den gefederten roten Fühlern.
Der Hund liebte sie, so viel stand fest. In einem permanent hibbeligen Zustand dackelte er um sie herum und beruhigte sich nur dann, wenn sie ihn hochhob und festhielt. Sein unförmiger kleiner Kopf bewegte sich ständig ruckartig hin und her, während die vorquellenden Augen nach imaginären Bedrohungen Ausschau hielten, und er gab kehlige Laute von sich, die nach einem verschleimten Knurren klangen.
Als Sofia dem Köter sanft ins Gesicht blies, was ein häufiges Ritual zu sein schien, entspannte er sich, schloss die Augen und genoss die laue Brise. Sonst verhielt er sich nur so, wenn er oberhalb ihres Kopfs auf dem Kissen schlief und die zottigen Vorder- und Hinterbeine ihr Gesicht umrahmten – wie unzählige Selfies zur Schlafenszeit belegten.
Seit zwanzig Minuten saß Evan mit Sofia in der ordentlichen Wohnung auf der Couch, während Brianna geschäftig im Hintergrund hantierte, Geschirr spülte, staubsaugte, Sofias Lunchpaket für den nächsten Tag vorbereitete und anschließend an einem klapprigen Schreibtisch in der Ecke Rechnungen bezahlte. Das Arbeitspensum einer alleinerziehenden Mutter am Ende eines Arbeitstags schien endlos zu sein, doch Brianna ließ sich davon nicht unterkriegen und erledigte effizient eine Aufgabe nach der anderen.
»Okay«, sagte Evan zu Sofia und ihrem hyperaktiven iPhone-Finger. »Ich denke, das ist genug Material, um den Hund zu identifizieren.«
»Warte.« Sofia öffnete gekonnt ein weiteres Video. »Ich muss dir zeigen, wie ich ihn mal im Schwimmbad ins Becken geschmuggelt habe und er wegen seinem kaputten Bein im Kreis geschwommen ist.«
Das Füllhorn des digitalen Bildmaterials von Loco erwies sich als unerschöpflich. Sofia hatte ihn noch kein Jahr, dennoch schien sein persönliches Archiv bereits das der meisten Präsidenten der Vereinigten Staaten in den Schatten zu stellen.
»Er hat doch schon gesagt, dass er genug gesehen hat«, rief Brianna vom Schreibtisch über die Schulter. »Du musst nicht jeden mit endlosen Aufnahmen von diesem verrückten Hund zupflastern.«
Als es an der Tür klopfte, katapultierte sich Sofia von der Couch. »Dad!«
Jäh schaute Brianna auf, die Lesebrille weit unten auf der Nase. »Du hast deinen Vater eingeladen?«
»Äh, ja,«, antwortete Sofia und deutete auf Evan. »Er ist Dads Freund.«
Evan räusperte sich. »Ich würde nicht unbedingt sagen, dass wir ...«
Sofia riss die Tür auf und sprang ihrem Vater in die Arme. Der ächzte gespielt und tat so, als wankte er unter ihrem Gewicht. Dann brach er mit ihr auf den Teppich zusammen.
»Spielt so was nicht«, mahnte Brianna. »Sonst schlägt sich noch jemand einen Zahn aus. Und wir wissen ja, wer dann die Zahnarztrechnung blechen muss.«
»Schon gut, schon gut.« Andre stand auf und zupfte seine Kleidung zurecht. Er war etwas dünner als Evan und trug ein ölfleckiges Mechanikershirt, dazu eine blau-weiße Jeans, die tief an den Hüften hing – nicht so sehr wie früher mal, trotzdem reichte es, um einen Streifen der Unterhose zu zeigen. »Wie geht’s meiner Kleinen?«
»Wird mir besser gehen, sobald Evan meinen Loco gefunden hat.«
Evan erhob sich. Unbeholfen standen sich Andre und er im Wohnzimmer gegenüber. »Und, läuft’s?«, fragte Andre.
»Jo, läuft.« Die Antwort rutschte Evan heraus, bevor er sie bremsen konnte.
In Andres Gegenwart ertappte er sich immer wieder, in die Straßenumgangsformen ihrer Jugend zurückzuverfallen. Erinnerungen an die Vergangenheit, die er hinter sich gelassen hatte, brachten ihn mental durcheinander. Sie lösten etwas in seiner DNA aus und erweckten alte Empfindungen in seinem Körper. Den Geruch von Schimmel an den Wänden. Das Scheuern von schlecht sitzender Kleidung. Die schreckliche Leere im Magen, wenn sich der Scheck vom Staat verspätete und es tagelang nur billige Kartoffelchips in schlichten weißen Schachteln mit schwarzer Blockschrift gegeben hatte. Am schlimmsten war die unter der Haut kribbelnde Scham gewesen, wenn ein Rudel von ihnen einen Laden betreten und die Angestellten sie mit argwöhnischen Blicken bedacht hatten. Oder beim Anblick von Eltern, die mit normalen Kindern in Kombis vorbeigefahren waren. Oder über die gesprungenen Teller, von denen sie matschige Makkaroni mit Käse gegessen hatten. Und über die undichten Plastikgläser, aus denen beim Trinken Wasser über die Knöchel gelaufen war. Pleite, machtlos. Und nutzlos. Außer Evan, der das Glück gehabt hatte, für ein Programm ausgewählt zu werden, das entbehrliche menschliche Waffen erschaffen sollte, um die sich niemand scherte und die niemand vermissen würde.
Er hatte mit Jack Johns, dem Betreuer, der ihn ab seinem zwölften Lebensjahr großgezogen hatte, das große Los gezogen. Jacks Ansichten, abwechselnd pragmatisch, weise und hemdsärmlig philosophisch, waren bis zum Tod des Mannes für Evan das Maß der Dinge gewesen. Einen härteren und zugleich besseren Menschen hatte Evan nie kennengelernt. Er hatte ihm als Erster Respekt entgegengebracht, indem er hohe Ansprüche an ihn gestellt hatte. Jack hatte von ihm mehr erwartet, als Evan in sich zu haben geglaubt hatte. Und er hatte ihm einen Platz in der Welt gegeben. Jack hatte ihm nicht nur den Umgang mit Schusswaffen, Nahkampf verschiedener Art und Techniken der psychologischen Kriegsführung beigebracht, sondern seinem jungen Kopf auch die wichtigste Lektion von allen eingebläut.
Und die hatte gelautet, dass es nicht am schwierigsten war, Evan zu einem Auftragsmörder auszubilden, sondern es so hinzubekommen, dass er dabei menschlich blieb.
Jeder Tag war ein Kampf zwischen gegensätzlichen Instinkten gewesen – auf der einen Seite das Streben nach Perfektion und Isolation, auf der anderen Seite das nach emotionalem Bewusstsein mit dessen unendlich verwirrenden Grautönen. Evan spürte all das in jenem Augenblick durch die Abneigung gegen alles, was Andres Erscheinungsbild in ihm ausgelöst hatte, und in den nagenden Schuldgefühlen darüber, dass er rechtzeitig den Ausstieg geschafft hatte, während die meisten anderen aus dem Pride House mittlerweile tot waren, im Knast saßen oder sich mit Ach und Krach durchs Leben schlugen. Sein noch von Wodka benebelter Schädel und die Nachwehen seines Besuchs in jenem Mobilheim in Texas waren auch nicht gerade hilfreich.
»Schön, dass du zugesagt hast«, meinte Andre.
Evan entgegnete: »Hab ich nicht.«
»Woher kennst du Dad noch mal?«, fragte Sofia.
Wir haben dieselbe Mutter, obwohl wir’s lange nicht gewusst haben.
»Wir kennen uns von damals, als wir klein waren«, sagte Evan.
»Wie war Dad als Kind?«
»Er hat viel gezeichnet«, antwortete Evan. »Und noch mehr geredet.«
Andre lachte. »Und was ist mit dir, Mann? Du hast dich mit deinem spindeldürren Gestell auf dem Spielplatz rumgetrieben und musstest ständig aufpassen, nicht vermöbelt zu werden.«
Brianna war am Schreibtisch sitzen geblieben. Sie behielt den Kopf unten und kritzelte in einem Scheckbuch. Andre spähte erst einmal kurz zu ihr hinüber, dann erneut.
»Wie geht’s dir, Bri?«, fragte er.
»Das weißt du«, gab sie zurück.
»Nö. Sonst würd ich nicht fragen.«
Seufzend legte sie den Stift weg. »Hat ’ne Menge Arbeit gemacht, als du den verlotterten Hund hier angeschleppt hast ...«
Sofia verschränkte gekränkt die Arme vor der Brust. »Er ist nicht verlottert.«
»... und noch mehr Arbeit ist es, das Kind Tag und Nacht zu trösten, seit er ausgebüxt ist.«
Mit beschwichtigend erhobenen Händen wich Andre zurück. »Langsam, langsam. Das bringen wir ja in Ordnung. Stimmt’s, Evan?«
Unwillkürlich knirschte Evan mit den Zähnen.
Brianna gab ein M-hm von sich, ehe sie sich wieder ihrer Arbeit widmete, und Andre setzte sich zu Evan auf die Couch. Sofia war mit einem perfekten Spagat wie eine Ballerina auf den Teppich gesunken. Sie war Tänzerin, wirbelte ständig herum und trug das Haar im Nacken zu einem fransigen Dutt zusammengebunden.
»Was kannst du mir noch über Loco erzählen?«, fragte Evan.
Sofia drehte sich leicht in eine Pose, bei der sie einen Arm wie einen Regenbogen über den Rumpf streckte, sich elegant dehnte wie eine weich fließende Karamellstange. »Er ist allergisch gegen Äpfel. Davon muss er sich übergeben ...«
Brianna schaute immer noch nicht auf, als sie einwarf: »Auf meinen Teppich.«
»... und er schaut so putzig schuldbewusst drein, wenn ihm versehentlich ein paar Tröpfchen rauskommen ...«
»Auf meinen Teppich.«
»... und er rollt die Zunge ein, wenn er gähnt wie ...«
»Halt«, bremste Evan sie. »Ich meine, durfte er allein nach draußen? Ist er schon mal weggerannt? Ist er je von hier verschwunden?«
»Nein, nein und nein. Wir sind rüber zu Leela, weil wir in den Park wollten. Sie wohnt in den noblen Apartments gegenüber vom Del Taco, weil ihre Ma bei Disney arbeitet – im Studio, nicht beim Space Mountain. Und ihre Ma ist allergisch gegen Hunde. Deshalb konnte Loco nicht mit rein. Ich hab seine Leine an den dicken Pfosten unten an der Treppe gebunden und bin raufgegangen, um Leela zu holen. Als ich zurückgekommen bin, war er weg.«
»Die Leine auch?«
»Nein. Die war noch da. Mit seinem Halsband. Nur leer.«
»Also hat er das Halsband abgestreift.«
»Und da ist seine Marke dran. Niemand wird wissen, wie er uns erreichen kann.« Sofia setzte sich aus dem Spagat auf und schlang mit geröteten Wangen die Arme um die Knie.
Um Tränen vorzubeugen, setzte Andre ein breites Grinsen auf, klatschte in die Hände und rieb sie wie ein Kellner, der Sandbutt mit Parmesankruste zum Abendessen anpreisen wollte. »Also, E, wo fangen wir an?«
»Ist der Hund gechippt?«, erkundigte sich Evan.
»Ne«, antwortete Andre. »Hab ihn auf der Straße hinter ’nem Müllcontainer gefunden.«
»Tja, dann sollten wir wohl erst mal die Tierheime abklappern ...«
»Echt jetzt?«, streute Sofia ein. »Dort hab ich schon so ungefähr hundertmal nachgefragt.« Sie warf ihrem Vater einen Seitenblick zu. »Hast du nicht gesagt, er ist gut mit so was?«
Evan sagte: »Ich sehe mich mal dort bei den Wohnungen um.«
»Warte.« Mit einer durchgehenden Bewegung hopste Sofia wie ein Springteufel auf die Beine. »Mom hat bei der Arbeit Flugblätter für mich machen lassen.«
Von Brianna kam mit unverändert gesenktem Kopf: »Erwähnt mir bei der Weihnachtsfeier bloß niemand vor Mr Olmeda, dass ich unerlaubt den Kopierer im Büro benutzt hab.«
»Komm, Mom. Holen wir sie aus dem Auto.«
Brianna stieß sich vom Schreibtisch ab und folgte ihrer Tochter nach draußen. An der Tür schaute sie zu Evan und Andre zurück. »Stellt ja keine Dummheiten an, hört ihr?«
Damit schloss sich die Tür. Betretene Stille setzte ein. Evan spähte aus dem Fenster. Müll übersäte den Bürgersteig auf der anderen Straßenseite. Ein rostiger Einkaufswagen lag umgekippt auf der Seite, irgendjemandes Habseligkeiten hatten sich daraus auf den rissigen Asphalt ergossen. Die Pandemie war für die Bewohner der Stadt brutal gewesen. Überall waren Obdachlosenlager aus dem Boden geschossen. Unter jeder Unterführung und überall auf den Bürgersteigen sah man Gestrauchelte kampieren. So viel an die Oberfläche gespültes Leid, und er war im Begriff, die Suche nach einem Haustier in Angriff zu nehmen.
»Du kommst mir angespannt vor, Mann«, bemerkte Andre.
»Bin ich nicht.«
»Weißt du, wer so was sagt? Jemand, der angespannt ist.« Andre schnalzte mit der Zunge und deutete mit dem Kinn zur Decke. »Du musst loslassen und auf Gott vertrauen, verstehst du?« Dann legte er den Kopf schief und musterte Evans Miene. »Was ist?«
»Hatte vergessen, wie schnell du mich nervst«, antwortete Evan.
»Ne, Mann. Nervig sind die Christen, die ihr Leben lang die Bibel geschwungen haben. Wer wissen will, ob Jesus was Interessantes zu bieten hat, sucht sich ’nen Loser wie mich, der zu Gott gefunden hat, weil er’s musste. So jemand kann’s dir wirklich sagen.«
»Levitikus 17:11?«, fragte Evan.
»Hä?«
»Nichts.«
Andres gutmütiges Grinsen erschwerte es ein wenig, verärgert über ihn zu bleiben. »Du, ich bin dir echt dankbar, dass du für Sofia hergekommen bist. Der Hund ist ihr Ein und Alles. Hab ihn ihr besorgt, weil ich so wenig für sie da sein kann, verstehst du? Ich reiße mir den Arsch auf, hab drei Jobs, um über die Runden zu kommen. Ist brutal da draußen, Mann. Echt brutal.«
»Verstehe«, sagte Evan.
»Und ich hab’s bei Bri immer noch nicht aufgegeben, aber weißt du, was sie zu mir gesagt hat? Sie würde nicht mal dann zu mir zurückkommen, wenn die Welt von Pisse überschwemmt wäre und ich als Einziger ein Baumhaus hätte.«
»Heftig.«
»So sind Frauen nun mal.«
Die Haustür flog auf. Sofia kam mit einem telefonbuchdicken Stapel Fotokopien hereingerannt. »Die kannst du für mich aufhängen.«
Sofia hielt Evan die Flugblätter hin, während Brianna zu ihrem Platz am Schreibtisch zurückkehrte. Er starrte darauf.
»Ich verteile keine Flugblätter«, sagte er. »Häng du sie auf.«
Brianna meldete sich zu Wort. »Sie hat eine Tanzaufführung.«
Evan bedachte Andre mit einem finsteren Blick. Der schwenkte abwehrend die Hände. »Kannst du knicken. Ich fahr heute Abend für Lyft. Ab zehn gibt’s ’nen Zuschlag für Fahrten hintereinander, also werd ich die ganze Nacht betrunkene weiße Mädels durchs hippe Echo Park kutschieren.«
Sofia ließ die strahlende Aufmerksamkeit auf Evan gerichtet. Das Lächeln in ihrem Gesicht wirkte einstudiert. Sie hatte Grübchen. Die ihm angebotenen Flugblätter hingen zwischen ihnen.
Schließlich erklärte Evan: »Ich brauche die Adresse, von der er verschwunden ist.«
Sie tippte auf den Stapel. »Steht auf dem Flugblatt.«
Er senkte den Blick darauf. Tatsächlich.
»Bitte, Evan«, sagte sie. »Du hast gesagt, du gehst sowieso dorthin.«
Sie bearbeitete mit den Zähnen die Unterlippe. Einen Moment lang strahlte ihre Miene reine Verletzlichkeit aus. Flüchtig nahm Evan in ihrem Gesichtsausdruck etwas von seinen eigenen Zügen wahr, und er spürte, wie sein Herz einen Schlag aussetzte.
Meine Nichte.
Ich habe eine Nichte.
Dann nahm er die vermaledeiten Flugblätter entgegen und ging davon.
Anwuli Okonkwo fühlte sich verdammt gestresst.
Als sie vergangenes Jahr zur Leiterin der Softwareentwicklung befördert worden war, hatten ihre Eltern eine Party für sie geschmissen. Allerdings wohl weniger, um sie zu feiern, sondern eher, um vor diversen Tanten und Cousinen damit zu protzen. Ein alter Scherz besagte, dass man als Okonkwo vier Möglichkeiten hatte – Anwalt, Arzt oder Techniker werden oder nicht bei Familientreffen aufkreuzen.
Um bestehende Big-Data-Analysetechniken zu beschleunigen, ließ Anwuli zwei Spezialteams Ansätze zum Aufbau einer revolutionären Mess-Engine im Petabyte-pro-Minute-Bereich prüfen. Das Ziel bestand in der Optimierung prädiktiver Analysen des Kundenverhaltens im E-Commerce. Durch den neuen Job hatte sie mit allerhand Chads in der Technik und Chelseas im Marketing zu tun. Die meisten hatten ihr überschwänglich und regelmäßig Komplimente zu ihrem Haar unterbreitet. Bis sie es kurzerhand hatte abschneiden lassen, um morgens Zeit zu sparen und ihren Kopf als Gesprächsaufhänger für übereifrige »Verbündete« aus dem Spiel zu nehmen.
Die Arbeit war in jeder guten Hinsicht anspruchsvoll, Anwulis Aufstieg kometenhaft. Seit Kurzem hatte sie die Freigabe für die Teilnahme an Strategiebesprechungen auf Unternehmensleitungsebene erhalten, was Tuchfühlung mit den besten und klügsten Köpfen des Konzerns hinter verschlossenen Türen bedeutete. Die Einladung zum Brainstorming über vertrauliche Firmenangelegenheiten fühlte sich an, als würde ihr endlich der Schlüssel zum Königreich ausgehändigt. Daher konnte sie trotz ihres schier unvertretbaren Arbeitspensums unmöglich ablehnen.
Das alles wäre irgendwie zu bewältigen gewesen, weil sie eine Okonkwo war und ihre Eltern keine olodo großgezogen hatten. Dann jedoch hatte sich der Alzheimer ihres Vaters sprunghaft verschlimmert, und zu allem Überfluss war ihre Mutter gestürzt und hatte sich die Hüfte gebrochen. Nur eine Woche später war das Transportunternehmen ihres Bruders in die Pleite geschlittert, und er hatte Schulden bei den falschen Leuten. Auf einmal fehlte es allen an Zeit, Geld und Ressourcen. Und es schien, als läge es an ihr, mehr von allem aufzutreiben.
Deshalb hatte sie sich an diesem Tag nach der Arbeit vierzig Minuten nur für sich genommen, bevor Amar aus der Buchhaltung ihr zur Durchsicht den Bericht über die Investitionsaufwendungen mailen würde. Randvolle Badewanne aus Mineralguss, eine Butterball-Badekugel von Lush, aus dem Samsung Edge Conflict of a Man von ERIMAJ. Sie entspannte sich im seifigen Wasser, nahm einen gesunden Zug OG Kush aus ihrem Vape Pen, um lockerer zu werden, und lehnte sich auf ihr aufblasbares Nackenkissen zurück. Auf dem Waschtisch hatte sie Entspannungskerzen angezündet. Trotzdem kehrten ihre Gedanken immer wieder zu der mächtigen Stange Geld zurück, die nötig wäre, um ihre Eltern zu versorgen und ihren Bruder aus der Klemme zu holen. Sie zermarterte sich das Hirn nach Ideen, wie sie eine solche Summe auftreiben könnte.
Letztlich entschied sie, dass sie eine Augenpause brauchte, um ihrem überlasteten Verstand eine Auszeit zu gönnen. Sie setzte eine Schlafmaske aus Seide auf und sank in der Wanne tiefer, bis ihr das warme Wasser bis ans Kinn reichte.
In jenem Moment betrat Karissa mit einem ausgefransten Verlängerungskabel das Badezimmer.
Im Foyer hatte sie die Schuhe ausgezogen und bewegte sich lautlos in Socken über den Fliesenboden, eine zusätzliche Vorsichtsmaßnahme für den Fall, dass die aus dem Samsung Edge dröhnende Musik verstummte. Es roch herrlich nach einem Schaumbad mit Kakaobutter und nach Minze-Vanille von den Kerzen. Nach ihrem langsamen Vormarsch hielt sie an der freistehenden Badewanne inne. Ihr Spiegelbild zeichnete sich wabernd in der leicht schaumigen Wasseroberfläche ab.
Okonkwo wiegte den Kopf hin und her, während sich ihre Lippen zum Text des Songs bewegten. Durch ihren Kurzhaarschnitt schieden sowohl ein Föhn als auch ein Lockenstab aus. Allerdings hätte Karissa wohl ohnehin auf beide Möglichkeiten verzichtet. Durch die eingebauten Fehlerschutzschalter waren solche Geräte neuerdings heikel geworden. Am verlässlichsten ließ sich ein Stromschlag mit einem Toaster erzielen. Nur kam akuter Heißhunger auf Pop-Tarts beim Baden zu selten vor, um einem Gerichtsmediziner einen Toaster neben der Wanne glaubhaft zu verkaufen.
Daher das ausgefranste Verlängerungskabel. Nach der Tat würde sie das Samsung-Ladekabel an die Steckdosenleiste anschließen und so das geschmeidige Bild eines Unfalltods zeichnen. Leicht bekiffte Führungskraft lädt beim Baden mit verheerenden Folgen ihr Handy.
Karissa liebte solche Augenblicke. Diese Nähe zu einer anderen Seele kurz vor dem Abgang ins Jenseits. Das Blähen der Nasenflügel, das Heben und Senken des Brustkorbs, jeder kostbare Atemzug etwas Bedeutsames. Die geballte Macht, die sie in sich spürte wie einen in ihrer Brust gefangenen Gott.
Mittlerweile summte Okonkwo leise. Einige Zehen tauchten auf und tappten den Takt gegen den Rand der Wanne. Im trüben Wasser zeichneten sich nur die Schlüsselbeine und die Oberarme ab, der Rest des nackten Körpers verschwand wie bei einem Zaubertrick.
