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Eine ominöse Insel befindet sich im Zwiespalt. Solange keine Einigung zwischen den fünf Gebieten besteht, rüsten sich die Menschen für eine Schlacht oder für die Verteidigung des Gebietes auf. Damit die Menschen in Prästonia eine Chance haben, greifen sie zu übernatürlichen Menschen zurück, in denen ungeheure Kräfte schlummern. Jeder Mensch strahlt eine individuelle Aura aus; doch dann erscheint ein Junge, dessen Aura von den gewöhnlichen abweicht. Wie ist er ihr teilhaftig geworden? Was für einen Weg hat er eingeschlagen?
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Veröffentlichungsjahr: 2021
Glossar
Allgemeine Begriffe
Äther: Der Ort, in dem die immateriellen Dinge bestehen, und von dem aus die Energie fließt. Dorthin kehren alle sterblichen Wesen zurück.
Carpentum: Das ist der Name für zweirädrige oder vierrädrige Last- und Reisewagen im römischen Reich.
Carruca: Das ist ein vierrädriger Transportwagen im römischen Reich.
Triclinium: Ein steinernes oder hölzernes dreiliegiges Speisesofa in der Antike.
Themasi: Ein Ort, wo sich die Lernenden versammeln und unterrichtet werden.
Aspirant: Der erste Rang der Kämpfer in Prästonia.
Machit: Der zweite Rang der Kämpfer in Prästonia.
Suprema: Der dritte Rang der Kämpfer in Prästonia.
Primärauren
Blau: Intuition, Kreativität, Emphatie, Angst, Zurückhaltung
Rot: Energie, Kraft, Leidenschaft, Egoismus, Zorn
Gelb: Intellekt, Selbstbeherrschung, Selbstbewusstsein, Gedankenverloren, Aphatie
Sekundärauren
Orange: Humor, Mut, Sexualität, Willensschwach, Antiebslosigkeit
Rosa: Liebe, Freundschaft
Grün: Mitgefühl, Frieden, Bindung zur Natur, Hinterlist, Eifersucht
Braun: Heilung, Frieden, Bindung zur Erde, Selbstbezogenheit, Gier
Grau: Schwermut, Traurigkeit, Erschöpfung
Schwarz: Krankheit, bevorstehender Tod
Extrem seltene Auren
Lila: Hochgradige Spiritualität, Intuition
Weiß: Vollkommenes Gleichgewicht, Reinheit
Prolog
„Vater?“, fragte Gillroy, als der Kommandant Lubby an der offenen Tür vorbeilief. Tatsächlich hielt der Kommandant an, um anschließend ins Zimmer zu gehen, wo sein Sohn und seine Nichte schliefen.
„Ja?“, flüsterte Lubby und hielt sich einen Finger vor den Mund. Ein paar Schritte entfernt döste seine Nichte bereits. Eine Beugung zu seinem Sohn hielt er für angebracht, da er Helvira nicht wecken wollte.
Sein Sohn richtete an Lubby eine Frage: „Wie sind denn die Verhandlungen mit den Daimonern verlaufen?“
Vorher unterhielt sich die Familie am Tisch bei einem Mahl über alltägliche Dinge. Die Familie von Helvira war ebenfalls von der Partie. Die Erwachsenen vermieden es, vor den Kindern über das aktuelle Thema „Krieg“ zu sprechen. Erst, als die Kinder zu Bett geschickt wurden, wechselten sie das Thema.
Lubby bekam seinen Sohn Gillroy selten zu Gesicht, weshalb er ihm bei einem privat Gespräch gerne das nötige Thema unterbreitet hätte. „Nun; eigentlich laufen die Verhandlungen noch. Die momentane Lage sieht positiv aus“, sagte er, ohne zu viel zu verraten. „Die Einzelheiten werde ich dir ein anderes Mal mitteilen. Ich muss zurück zum dritten Bezirk.“
„Bekommen wir für unseren Triumph irgendetwas?“, richtete sich Helvira an ihn, die gerade ihren Sand aus den Augen wischte.
„Na gut“, erklärte Lubby sich bereit, ein Resümee vom jetzigen Stand zu geben. „Kinder und ihre Neugier. Ich mache es kurz: Weil Daimones uns den Krieg erklärte, welcher von Prästonia gewonnen wurde, bekommen wir sicherlich Ressourcen als Entschädigung. Dazu noch einige Soldaten für unsere Zwecke.“ Lubby beäugte beide kurz, bevor er fortfuhr. „Der alte König hatte - ich formuliere es mal so: Nicht alle Ziegel in der Mauer, also benötigt Daimones einen kooperationsfähigeren König; dazu ein verbessertes Regierungssystem. Das steht alles noch an.“ Die wegwerf Geste mit der Hand sollte das Ende unterstreichen. „Jetzt muss ich los.“
„Was für Ressourcen?“, fragte Gillroy.
„Wie sieht die Lage mit den anderen Territorien aus?“, warf Helvira ein.
Für einen Moment wusste Lubby nicht, wem er Antworten sollte, doch ging dann doch auf seine Nichte ein. „Die Römer und die Astonier stehen noch auf Kriegsfuß mit uns. Im Krieg gegen Daimones verloren wir viele Männer, was ein günstiger Moment für einen Angriff wäre.“ Er las eindeutig Interesse in den Gesichtern der Kinder. Noch benötigen sie Zeit zum Reifen. „Bereitet euch lieber auf den öffentlichen Unterricht vor, zu dem ihr gehen wollt“, lenkte Lubby ein. „Dort werdet ihr bestimmt alles erfahren. Noch seid ihr zu jung; ihr könnt euch in der Meditation üben - damit meine ich besonders dich, Gillroy -, um unserem Gebiet einen Dienst zu erweisen.“ Anscheinend verließ er das Zimmer ohne Einwände der Kinder. Über die Neugier der Kinder freute er sich, musste aber wichtige Vorkehrungen bezüglich einer Mission treffen, was ihm ungelegen kam. Schon lange nahm er sich vor, Gillroy zu schulen, vor allem im zarten Alter; denn Kinder unterliegt eine besondere Verbindung zur Zirbeldrüße: Dem Sitz der Seele. Sie ermöglicht übernatürliche Fähigkeiten wie Intuition oder Wahrsagerei. Da Lubby die Zeit fehlte, musste der öffentliche Unterricht, der Themasi genannt wird, dafür sorgen, den Kindern das nötige Wissen zu vermitteln.
Gillroy besitzt die Anlage, ein Auraseher und somit ein intuitiver Mensch zu werden. Bei einer Musterung stellten die Seher fest, dass Gillroy eine blaue Aura besitzt. Eigentlich ist eine blaue Aura häufiger beim weiblichen Geschlecht vorzufinden, wohingegen bei Männern entweder die Farbe rot oder gelb ausgeprägt ist. Die drei Farben rot, blau und gelb bürgerten sich wegen ihrer Häufigkeit als Primärauren ein. Die Aura eines Menschen ist etwas Persönliches, kann sich aber durch gezieltes Training oder der Lebenssituation verändern.
Das Gehirn ist in zwei Hemisphären aufgeteilt. Beim Training der linken Hälfte des Gehirns fördert der Betreffende seine geistigen Fähigkeiten; dazu gehören Logik und das analytische Denken. Ist die linke Hirnregion ausgeprägt, wirkt sich das auf die Aura aus; sie ist dann gelb. Beim Training der rechten Hirnhälfte, bei der die Kreativität und Intuition im Vordergrund stehen, bekommt die Person eine blaue Aura. Beim Heranwachsen wird es einsichtig, welche Hälfte des Gehirnes ausgeprägt ist. Einige Denker gingen davon aus, dass das Gleichgewicht der Hirnhälften die rote Aura förderten, was zu scharfer Kritik führte. Wenn jemand im Gleichgewicht ist, müsste die Person eine ungewöhnliche Aura an den Tag legen. Außerdem wusste niemand auf die anderen Farben der Aura zu antworten, weshalb die Theorie mit den Hirnhälften unvollständig ist. Deswegen assoziierten die Experten die Auren anhand des Chakra-Systemes.
Als die Tür ins Schloss fiel, fragte Helvira: „Notierst du dir noch deine Träume?“ Sie stützte ihre Ellbogen auf das Kissen.
„Ja. Oft“, gab Gillroy zurück. Seine Hände ruhten hinter dem Kopf.
„Ich nicht mehr. Dafür trainiere ich meinen Körper.“ Helvira fing an zu zögern, bis sie sich entschloss, ihrem Vetter ihr Geheimnis anzuvertrauen. „Ich werde eine Kämpferin, wenn ich groß bin.“
Ihr Vetter Gillroy regte sich nicht in seiner Position. „Aha“, setzte er an. „Eigentlich machen Frauen andere Sachen und kämpfen nicht.“
„Na und? Ich will nicht wie andere Frauen für das Haus oder das Kinder machen da sein.“ Als sie sich wieder hinlegte, verzog sie beleidigt den Mund. Am liebsten hätte sie es ihm verheimlicht.
„Ok“, sagte Gillroy schließlich. „Wenn das so ist, dann zeigst du mir später, was Frauen draufhaben. Kämpfe gegen mich.“
Obwohl sie mit Abneigung gerecht hatte, freute sie sich über das Gesagte von Gillroy und erklärte sich einverstanden. Für Gillroys Alter von zehn, gab er sich reif. Die Voraussetzung war: Sobald beide den Rang eines Machiten bekleiden, findet der Kampf statt. Dadurch konnte Helvira ihm Demonstrieren, dass Frauen gute Kämpfer sein konnten. Den nötigen Respekt würde sie vom Rest bekommen. Damit schlossen sie den Pakt.
Der Kommandant stolzierte nach Draußen, um zum dritten Bezirk zu gelangen. Das Gebiet Prästonia ist ausgesprochen groß und teilweise von einer Mauer umgeben. Den Rest umgeben riesige Klippen.
Zufälligerweise begegnete Lubby auf seinem Weg einem Aspiranten, der ihm Wichtiges mitteilte: „ Herr Kommandant; soeben nahmen wir einige Flüchtlinge fest. Sie liefen mit erhobenen Händen auf die Mauer zu und gaben sich harmlos, weshalb wir einschritten. Unter den Leuten befinden sich zwei ältere Herren, eine junge Frau und ein junger Mann.“
Heute kamen einige unerwartete Wendungen auf ihn zu. „Was haben sie gesagt?“
„Sie sind aus Astonia geflohen.“
„Danke für die Information. Dafür werden sich die zuständigen finden.“
„Natürlich, Kommandant. Ich dachte mir, ich sage es ihnen sicherheitshalber, als sie auf mich zugekommen sind.“
„Verständlich. Wir sprechen uns morgen. Haben die Leute eine Unterkunft, Speise und Trank?“
Der Soldat bejahte beflissen und vollführte den Kämpfergruß, bevor er kehrtmachte.
Lubby war nicht in Stimmung für weitere Ablenkungen nach einem anstrengenden Tag wie diesen. Seine Vorbereitungen für die Mission verlegte er auf morgen und zog sich in seine privaten Gemächer zurück.
Am darauffolgenden Tag wurde das Urteil über die Entflohenen verkündet: Die Astonier ließ man in Prästonia willkommen. Die Entflohenen waren ehrliche Leute, die ihren Beitrag durchaus leisten konnten.
Ein älterer Mann hatte sich als Repräsentant für seine Leute gerechtfertigt; er hatte gesagt: „Wir sind entflohen, weil die Herrschaft von Astonia nicht unseren Vorstellungen entsprach. In diesem Gebiet missfällt uns das Regierungssystem zwischen Adeligen und Armen. Der Junge Izuya“, er spielte auf den Jungen an, welcher still neben seinen Kumpanen saß und ein Verband um sein linkes Auge trug, „verlor seine Mutter bei der Flucht. Weiteres kann ich euch erzählen, falls ihr einen Vorteil daraus gewinnen könnt. Sonst könnten meine Erzählung alte Wunden aufreißen.“
Ein hohes Mitglied des Rates, welcher sich des Verfahrens annahm, winkte ab. „Was veranlasst euch dazu, ausgerechnet nach Prästonia zu kommen?“
„Von allen anderen Territorien ist Prästonia empfänglicher für die Übernatürlichkeit. Daher schlossen wir die Römer und Ostzilier aus. Daimones befindet sich im Aufbau wegen der Niederlage und ist weiter entfernt.“
Erst nach der ausgiebigen Beratung mit den Aurasehern wurde die Entscheidung vollkommen. Wenn jemand gelogen hätte, würde sich einiges auf den Körper auswirken: Der Stimmlage oder der Haltung. Da Richter nie sicher sein können, ob die Person nervös ist oder lügt, ziehen sie Auraseher zu Rate. An der Veränderung der Aura erkennen die Seher einen Schwindler; denn ein nervöser büßt seine Schwingungen ein, wodurch seine Aura schwächelt; doch bei einem Lügner verändert sich die Aura. Meist durch ein dunkles Grün.
Einer der Auraseher war Raydon. Sein Ziel bei der Musterung richtete sich mehr auf den Jungen, von dem er verblüfft wurde: Zum einen war die Farbe blau, was bei männlichen Personen selten der Fall ist. Zweitens: Die Aura leuchtete nur blau, ohne eine Spur von grau zu zeigen oder niedrig zu schwingen, obwohl der Junge angeblich seine Mutter verloren hatte.
Nach dem Verfahren wurde den Flüchtlingen ein Aufenthalt in einem kleinen Dorf gewährt. Dort durften sie Wasser vom Fluss schöpfen und Nahrung von den verschiedenen Bäumen pflücken. Waren wie Brot oder Fleisch mussten käuflich erworben werden, weshalb die Flüchtlinge erstmal Arbeit brauchten. Für ein hohes Alter oder Unfähigkeit zur Arbeit bekamen die Betroffenen kleine Essensrationen verteilt. Häufig für Nahrungsgüter wie Brot, Gemüse oder Obst. Das Fleisch zählte zu den teuersten Waren. Eigentlich simpel für den Anfang.
Später sprach Raydon mit seinem Kollegen, der ebenfalls bei der Musterung dabei war, über den Jungen. „Mich stört die Aura von Izuya. Ist es dir aufgefallen?“
Beide ließen sich auf einer Treppe nieder. „Aber Hallo“, rief Dordin. „Du meinst die Tatsache, dass der Junge angeblich seine Mutter verloren hatte und seine Aura normal wirkte? Das ist mir entgangen“, fügte er sarkastisch hinzu. „Ich habe fast nicht auf den alten Opa geachtet, weil mir das so merkwürdig vorkam.“
„Diese Tragödie muss doch jeden mitnehmen.“
„Eigentlich schon. Die Jugend von heute, was?“
„Spielt für das Erste keine Rolle mehr“, sagte Raydon, selbst wenn er den Grund gewusst hätte. „Auf harmlose Leute trifft man nicht alle Tage.“
„Ja“, sagte Dordin knapp und stand auf. Offenbar wollte er gerade gehen, als ihm etwas einfiel und er sich wieder hinsetzte. „Bevor ich es vergesse. Bist du bereit für den morgigen Kampf? Ich bin gespannt, wer diesmal den Suprema Raydon herausfordert.“ Dabei legte Dordin einen Arm um seinen Kollegen.
In Prästonia gibt es drei Ränge für Rekruten zu erklimmen, falls diese sich für eine kämpferische Laufbahn entscheiden sollten. Der Begriff Legion etablierte sich in Prästonia dank der Römer, trotz der geringen Anzahl der Kämpfer. Die Kommandanten, die Armeen befehligen oder die darüber entscheiden, wer auf Einsätze geht, zählen nicht dazu.
Die Rekruten können sich im Alter von sechzehn zum Beitritt einer Legion entscheiden. Oft werden die übernatürlichen und die natürlichen Kämpfer voneinander getrennt; bei Missionen hingegen nicht. Beim Bestehen der ersten Prüfung wird der Rekrut Aspirant gennant. Der Aspirant ist ermächtigt, bei Einsätzen außerhalb des Territoriums mitzuwirken. Darunter fallen Aufgaben an wie Gebiete erforschen, Ressourcen sammeln oder Feinde beschatten. Nach langer Erfahrung, bestehen der Prüfung oder großartiger Fähigkeiten wie es bei Übernatürlichen ist, wird ein Aspirant zum Machit. Die Machiten bekommen, sofern sie möchten, eine braun-grüne oder blau-grüne Uniform ausgehändigt. Diese dient insbesondere zur Tarnung oder zur Unterscheidung vom Aspiranten. Eine weitere Besonderheit ist die Teamerstellung. Ein Machit braucht mindestens vier Personen für eine Mission. Ob dabei vier Aspiranten oder Machiten zum Einsatz kommen, spielt keine Rolle. Bei mehreren Machiten wird die Führungskraft vom Kommandanten bestimmt, wenn Uneinigkeit bei der Führung herrscht. Der letzte Rang gebührt dem Suprema, der die meiste Freiheit und den höchsten Status genießt. Ein Suprema ist aufgrund seiner Stärke dazu ermächtigt, eine Mission alleine durchzuführen, kann aber auch ein Team erstellen. Diesen Rang bekommen nur die besten und erfahrensten Kämpfer verliehen, die zusätzlich ein selbstgewähltes Team von Rekruten erstellen können, um sie bei ihrer Laufbahn tatkräftig zu unterstützen, falls die Rekruten einverstanden sind.
Da Raydon nichts erwiderte, bohrte Dordin weiter: „Weisst du überhaupt, gegen wen du antreten wirst?“ Den Arm um Raydons Hals legte er behutsam auf das Knie.
„Ich kenne ihn kaum“, sagte Raydon. „Angeblich hat er jahrelange Nahkampferfahrung.“
Dordins Kopf schwenkte zu Raydon. „Echt? Wenn er beim Greifen ungeübt ist, hast du jedenfalls einen großen Vorteil. Den ungeschlagenen Raydon mit nur einer Fähigkeit herauszufordern, kann nach hinten losgehen.“
„Wer weiss“, gab Raydon nachdenklich zurück. „Er hat bestimmt die Rüstung oder die Intuition erlernt, sonst würde er mich sicher nicht herausfordern. Man sollte seine Gegner nie unterschätzen.“
Helvira
Nachdem Helvira Gillroy gegenüber ihre Entscheidung - eine Laufbahn als Kämpferin einzuschlagen - kundgab, fasste sie den Mut zusammen, ihre Mutter ebenfalls einzuweihen. Das Gespräch mit ihrem Vetter gab ihr den Ausschlag, und es gab keinen Grund ihr Geheimnis hinauszuzögern.
Ihre Mutter zeigte darüber keine sichtlich Begeisterung; sie war sogar enttäuscht. „Wir haben gehofft, du würdest eine Familie gründen, mit der du dein Leben verbringst“, sagte ihre Mutter, was Helviras Befürchtungen bestätigte.
Dummerweise erwähnte sie den heutigen Kampf im Colosseum, bei dem Gillroy und Culvrin sie begleitet hätten. Auf dieses Ereignis freute sie sich schon seit Wochen; doch ihr Vater bekam das Gespräch mit und schaltete sich ein. „Warten wir erstmal ab, bis du erwachsen wirst. Im jungen Alter kannst du keine vernünftigen Entscheidungen treffen. Womöglich ändert sich deine Entscheidung noch.“ Sein Blick gewann an Härte. „Und zu dem Kampf gehst du unter gar keinen Umständen! Diese Gewalt wird deinem zarten Gemüt nicht guttun.“
„Ihr seid einfach unmöglich!“ Dann stürmte Helvira nach draußen und machte ihrem Zorn dadurch Luft, dass sie die Tür hart hinter sich zuschlug. Die Wut machte sich weiterhin in ihr breit. Obwohl Helvira felsenfest an ihrem Entschluss überzeugt war, ihren eigenen Weg zu beschreiten, nahmen ihre Eltern ihre Entscheidung ab. Sogar die Dreistigkeit, ihren Traum zu verbieten, besaßen sie. Ein bescheidenes Leben wollte Helvira einfach nicht führen, sondern die Welt erblicken, sich den Gefahren stellen.
Beleidigt lief sie in den Wald, den sie oft zur Beruhigung oder Bewegung betrat und kletterte auf einen hohen Baum. Frischer Wind wehte ihr um die Ohren.
Alles sah überschaubarer aus: Vom ersten Bezirk ragte das große Gebäude des Herrschers, wo wichtige Vorkehrungen mit dem Ältestenrat beschlossen wurden. Vom zweiten Bezirk konnte sie viele Häuser erblicken, Bäume mit Früchten, kleine Dörfer oder umherlaufende Menschen. Der dritte Bezirk war kaum sichtbar. Prästonia besaß eine eminente Größe und gehörte zu den mächtigsten Territorien neben Daimones, Astonia, Ostzilien und Rom. Sonst gab es verstreute Dörfer, wie sie in den Territorien vorkommen.
Gerade wollte Helvira hinabklettern, als sie in weiter ferne jemanden an einem Baum gelehnt sah, weshalb sie stockte. Sie entschied sich, zu der Person zu gehen, also kletterte sie vom Baum runter und marschierte dorthin. Beim Näherkommen wurden die blonden, langen Haare sichtbar. Da Helvira kaum Kontakt zu ihren vorherigen Freundinnen hatte und nur die Gesellschaft von Jungs genoss, versuchte sie eine neue Bekanntschaft zu schließen.
Selbstbewusst lief sie auf das Mädchen zu. Die Tatsache, dass Helvira beim Herannahen kaum Krach verursachte, fuhr das Mädchen erschrocken auf, obwohl Helvira nicht in ihrer Nähe stand. Helvira nahm entschuldigend die Hände in die Höhe. „Ich wollte dich nicht erschrecken“, brachte sie heraus und kam näher. „Du hast echt gute Ohren.“
„Ich habe dich gespürt“, korrigierte das Mädchen.
Dann entstand kurze Stille. „Du bist also eine intuitive Person?“ Helviras Interesse stieg kaum. Als das Mädchen nickte, fuhr Helvira fort: „Mein Name ist Helvira. Bist du oft hier?“ Sie setzte sich dem Mädchen gegenüber hin.
„Ich bin Lacia“, stellte sie sich vor. „Hier ist der Ort, an den ich mich zurückziehe. Deine...“ Ein zögern entstand, bis Lacia es doch herausbrachte. „Deine Aura ist dunkelrot. Fühlst du dich nicht gut?“
Über diese Frage war Helvira überrascht. Der vorherige Streit mit ihren Eltern machte sich an ihrer Aura bemerkbar, weshalb sie Unbehagen verspürte, einer noch fremden Person davon zu berichten. Den Nutzen dieser Gabe bemerkte sie jetzt, auch wenn sie sich nicht dafür interessierte. „Ich habe mich mit meinen Eltern gestritten“, beichtete Helvira. Ihre Arme faltete sie unwillkürlich vor die Brust. „Du hast bestimmt eine blaue Aura.“ Ihr wurde mehrfach gesagt, dass Frauen häufig eine blaue Aura haben und eine rote Aura für Frauen eher ungewöhnlich ist.
Das Mädchen bejahte.
„Wie lange kannst du das schon?“
„Seit einem Jahr.“
„Und warum übst du an deiner Gabe?“
Helvira sah ihr das Unwohlsein an. Anscheinend hatte Lacia ebenfalls einen Traum. „Ich möchte meine Gabe nutzen, um dem Gebiet zu helfen.“
„Aha“, antwortete Helvira breit lächelnd. „Du willst eine Kämpferin in einer Legion sein.“ Auf Lacias unsicheren Blick sagte Helvira: „Ich auch.“ Für Helvira war es eine deutliche Erleichterung, jemanden mit demselben selben Ziel zu treffen. In der Regel engagierten sich beachtlich wenige Frauen für einen Weg als Kämpferin.
Die Freude spiegelte sich auf Lacias Gesicht.
„Nur meine Eltern“, fuhr Helvira mürrisch fort, „verbieten mir diesen Weg.“ Entschlossen wandte sie sich an Lacia. „Ich werde ihn trotzdem gehen.“ Ein starker Tatendrang überkam Helvira, die sich aber gedulden musste und ihr stattdessen eine andere Idee kam, bei der sie aktiv werden konnte. „Kennnst du dich gut mit Auren aus?“
„Nicht besonders viel“, gestand Lacia ihre Unkenntnis.
„Dann lass uns zur Bücherei gehen“, schlug Helvira vor. Als Lacia ihre Zustimmung gab, schoss Helvira aus ihrer Sitzposition und zerrte Lacia auf die Beine, woraufhin sie zur Bücherei liefen.
Den Wald hinter sich gelassen und zehn Minuten spaziert, waren sie angekommen. Sie standen vor einem maroden Gebäude, in dass sie eintraten. Viele Besucher hatte die Bibliothek nicht, nur die zwei Mädchen befanden sich dort; der Verleiher mit eingerechnet. Er würdigte sie keines Blickes, als sie durch die Gänge streiften und die Vielzahl an Büchern ihnen entgegenkamen.
Helvira bemerkte, wie Lacia förmlich in Trance die Bücher überflog. Es waren Titel wie Geist und Materie, Seelenreise oder mystische Wesen. Nach Auren oder Ähnlichem wurden sie nicht fündig. Eine Frage an den Verleiher wollten sie sich nicht entgehen lassen, falls sie etwas übersehen haben. Der verantwortliche Mann las vertieft in einem Buch; er hatte lange, graue Haare und einen Bart. Beide seiner Augen unterscheiden sich von der Farbe. Das eine war heller als das andere Auge.
„Entschuldigung“, sprach Helvira den Mann an.
Der Mann schaute sie unverwandt an. „Ja?“
„Haben sie noch Bücher über Auren; wir haben keine gefunden.“
„Wenn ihr penibel nachgeschaut habt und keine aufgefunden habt, sind derzeit keine vorhanden. Moment“, forderte er auf und schlug ein Buch auf, in dem er Blätterte. Sein Finger glitt über die ausgeliehenen Bücher. „Zwei Bücher über Auren und das Chakrasystem fanden ihre Ausleiher.“
„Oh, schade“, bedauerte Lacia.
„Eines der Bücher sollte bald wieder hier sein, da der Junge - so eifrig wie er ist - die Bücher innerhalb weniger Tage wieder zurück bringt.“ Das Kundenbuch schlug er zu.
Bei Helvira klingelten die Alarmglocken. „Ein Junge? Vielleicht kennen wir ihn“, überlege sie. „Wie heisst er denn?“
Der Mann lächelte in Gedanken an etwas. „Sein Name ist Mao.“
Verlegen rieb sich Helvira den Hinterkopf. „Ich kenne ihn nicht. Du Lacia?“
„Nein“, sagte sie und schüttelte den Kopf.
„Wenn ihr es eilig habt“, teilte der Mann mit. „Dann empfehlen ich euch, zur Taguri-Anhängerschaft zu gehen. Die Leute kennen sich gut damit aus.“
Auf das Einverständnis der Mädchen hin erklärte der Mann den Weg dorthin. Die Taguri-Anhängerschaft zu finden, gelang ihnen auf Anhieb, ohne eine falsche Spur zu verfolgen. An manchen Abzweigungen fragten sie sicherheitshalber Menschen, bis sie den erwähnten Waldabschnitt fanden, in dem die Anhängerschaft seine Position besaß.
Die Dauer betrug in etwa fünfzehn Minuten, und bei ihrer Ankunft konnten sie die kleine Mauer sehen. Alles wirkte einladend. Sogar das Tor stand weit offen, was Fremden wie Lacia oder Helvira das Zutrauen ermöglichte, mutigen Schrittes einzutreten.
Die jungen Mädchen sahen sich hinter der Mauer um. Entweder übten die Mitglieder der Anhängerschaft an ihren Kampftechniken oder meditierten an den Bäumen.
Ein älterer Mann kam - als ob er sie gewittert hat - aus einem der vielen Häuser heraus. „Habt ihr eine Einladung, hier aufzukreuzen, junge Damen?“ Sein Bart war mittellang und sein Kopf kahl.
„Ja“, nahm Helvira das Gespräch auf. „Das ist meine Freundin Lacia und ich bin Helvira. Wir möchten etwas über Auren lernen. Können Sie uns etwas darüber erzählten, bitte?“
„Mein Name ist Domati, wenn ich mich vorstellen darf. Ihr geht noch nicht zum Themasi, sonst würdet ihr dort lernen“, stellte er fest. „Wir kriegen nicht oft besuch von Leuten, die nicht der Taguri-Anhängerschaft angehören.“ Nachdenkliches nicken folgte vom Mann. „Ich werde euch einen knappen Einblick gewähren.“
Helvira hat schon wegen der Wartezeit Schlimmeres befürchtet.
Domati dreht sich um. „Kommt mit.“
Die Mädchen folgten ihm in ein Haus hinein, wo sie sich auf Kissen setzten und auf Domati warteten, der nach einer Weile mit ein paar Tassen Tee in den Raum kam, in dem er ihnen eine Tasse anbot. Beide erklärten sich einverstanden und die Tassen wurden auf dem niedrigen Tisch abgelegt. Die Teekanne wurde anschließend geholt und ebenfalls auf den Tisch gelegt. „Das ist Kräutertee“, informierte er. Da keiner von beiden etwas erwiderte, schenkte er ein. Helvira nahm stumm die warme Tasse in die Hände.
Als der alte Mann sich nun setzte, fing er an: „Was genau wollt ihr wissen?“
„Am besten so viel wie möglich“, gab Helvira zurück.
„Das Thema ist viel zu ausführlich. Außerdem wollte ich euch einen lakonischen Überblick verschaffen.“ Er nahm ein Schluck von seinem Tee, was Helvira gleichtat. „Uns Menschen sind mit der Zeit besonders drei häufige Auratypen aufgefallen. Wir nennen sie Primärauren: Dazu zählen die Farben rot, blau und gelb. Die Taguri-Anhängerschaft vertritt die Chakra-These, die besagt, dass jeder mehrere Auren hat, wobei eine besonders stark heraussticht.“ Es entstand eine Pause, damit jeder an seinem Tee nippen konnte. „Wenn wir uns nach den Chakren richten steht rot für das Wurzelchakra, blau für das dritte Auge und gelb für das Solarplexus-Chakra. In dem Themasi richtet ihr euch nach den drei Primärauren, welche für sich charakteristische Eigenschaften mitbringen: Rot steht für das Materielle. Die Personen sind meistens energisch oder neugierig. Die Kehrseite wäre beispielsweise Zorn oder Destruktivität. Blau wird für die spirituelle Wahrnehmung gehalten, was eine klare Sicht und einen Hang zur Intuition ermöglicht. Durch das dritte Auge ist man in der Lage, Auren zu sehen. Wir haben hier auch festgestellt“, führte Domati aus und nahm noch einen weiteren Schluck, „dass einer von Schwermut überkommener eine graue Aura ausstrahlte. Das trifft eher die Menschen mit der blauen Aura, die sich dann in sich zurück ziehen.“ Jetzt zupfte er nachdenklich am Bart. „Zum Schluss wäre da noch die gelbe Aura; sie steht für Wissen und Rationalität.“
Als er eine Pause einlegte, nutzte Lacia die Gelegenheit aus, um eine Frage zu stellen: „Kann dann die Aura geändert werden, wenn es viele Chakren gibt?“
„Gute Frage.“ Er trank seinen Tee beinahe aus, bevor er antwortete. „Eigentlich sagt die Aura vieles über die Seele aus: Ist der Mensch emotional, rational oder materiell veranlagt. Jede Seele hat ihre eigene Persönlichkeit.“ Für mehr Deutlichkeit hob er den Zeigefinger. „Aber man kann mit Hilfe des Geistes einen gewissen Einfluss ausüben. Ein emotionaler Mensch kann rationaler werden. Wir benutzen hier den Spruch: Ein weiser Mensch wird nicht geboren, sondern entwickelt sich zu einem. Fazit wäre: Der Mensch hat einen großen Einfluss, wohin er oder sie die Seele biegt wie einen kleinen Baum, der in die gewünschte Richtung wächst; dennoch gibt es einen eingeschweißten inneren Kern. Vielleicht irre ich mich auch.“
Helvira konnte sich eine Frage nicht verkneifen: „Gibt es auch eine schwarze Aura oder etwas Ähnliches?“
Das Zupfen des Bartes hatte Domati sich angewöhnt, da er es wieder tat. „Das habe ich bisher bei sterbenden erlebt. Ich habe Menschen getroffen, die eine rosane Aura hatten. Liebende, wenn ihr das genau wissen wollt oder eine grüne Aura, bei dem das Herzchakra ausgeprägt war; er hatte eine starke Verbindung zur Natur.“
Nachdem sie einiges über Auren herausgefunden hatten, bedankten sich die Mädchen und verließen den Ort. Helvira musste ihr neues Wissen erstmal verarbeiten, bevor sie Lacia beim Gespräch folgen konnte. Die Erzählung über die Auren machte deswegen Sinn, da Helvira tatsächlich nicht die klügste Person war, aber auch nicht komplett bescheuert. Ihre Interesse bezog sich nicht auf die Intuition oder Klugheit, sondern körperliche Kampfkraft. Bei diesen Gedanken stupste Lacia sie an. „Verzeih. Was hast du gesagt?“
„Da ist ein Junge, der drei Bücher in der Hand hält.“ Lacia deutete in die Richtung.
Beinahe wäre es Helvira nicht eingefallen. „Das muss dieser Mao sein.“ Mit den Büchern konnten sie nichts mehr anfangen, es sei denn, sie wollen ihr Wissen vertiefen. Helvira machte den entscheidenden Schritt, indem sie geradeaus auf ihn zu lief und ihn ansprach: „Hallo. Bist du Mao?“
Der Junge wirkte nicht überrascht. „Ja, und wer seid ihr?“
Schon das dritte Mal, bei dem sich Helvira vorstellen musste. Das fing schon an zu nerven. „Ich bin Helvira.“
„Und ich bin Lacia“, vervollständigte Lacia die Vorstellung.
„Wir wollten uns vorhin das Buch über Auren ausleihen, kamen jedoch zu spät.“
„Wenn ich es zurückbringe“, machte er den Vorschlag, „könnt ihr euch das Buch ausleihen.“
„Nein“, winkte Helvira ab. „Wir haben uns schon informiert. Ein Mann hat uns vieles erzählt.“
„Ok.“
„Den Rest erfahren wir im Themasi. Vielleicht sehen wir uns dort.“
Mao blickte starr vor sich hin, bis er sagte: „Mein Themasi ist zuhause. Um öffentlichen Themasi zu bekommen, brauche ich die Erlaubnis meiner Eltern.“
Ohne groß zu konversieren, verabschiedeten sie sich und überließen den Jungen sich selbst.
Helvira empfand teilweise Verständnis für die Situation des Jungen; denn auch ihre Eltern waren deutlich strenger und sie wusste überhaupt nicht, ob sie eine Kämpferin werden könnte.
In der Begleitung von Lacia vermittelte Helvira ihre Meinung. „Der Junge tut mir leid. Seine Eltern sind ziemlich streng. Alleine zu Hause zu lernen, muss doch langweilig sein ohne Mitschüler.“
„Ja, der Arme.“
„Kam er dir irgendwie starr vor.“
„Ja“, pflichtete Lacia ihr bei. „Er ist ein rationaler Mensch, wie der Mann es gesagt hatte.“ Dann lächelte Lacia. „Wenn wir ein Team wären, bist du die Rote, er der Gelbe und ich die Blaue.“
Das verstand Helvira sofort. Sie hatten einiges über Auren gelernt, doch es kam Helvira so vor, als ob das Gelernte nur der Beginn einer wundervollen Skulptur war.
Gillroy
Der erwartete Kampf zwischen Raydon und Miltenes, zu dem Helvira nicht die Befugnis hatte zu gehen, findet in wenigen Stunden statt. Kindern ab zehn Jahren, dessen Alter Gillroy und sein Freund Culvrin vorweisen konnten, war das Zusehen erlaubt, obwohl viel Gewalt bei solchen Kämpfen verherrlicht wurde und es im Colosseum zu Todesfällen kam. Meistens wurden die Kämpfe sportlich gehandhabt und Kämpfer kamen mit üblen Schmerzen davon, sei der Schmerz - geflissentlich oder nicht - verursacht worden. Das Gesetz sah momentan die blutigen Kämpfe als hilfreiche Abhärtungsmethode. Die Jugend sollte dadurch weniger Angst bei blutigen Kämpfen entwickeln und mehr Zorn für den Feind haben, da jederzeit ein Krieg ausbrechen könnte, bei dem der Tod selbstverständlich ist. Vor allem für diejenigen, die beim Themasi sich zu Kämpfern bilden lassen, werden solche Kämpfe empfohlen.
„Raydon wird Miltenes auseinander nehmen“, schwärmte Culvrin, als ob er keine Widerworte dultete, während er sich mit Gillroy zur Arena machte. „Er ist schließlich ungeschlagen. Sechzehn Siege in Folge; der Mann weiss, was er tut.“
„Es gibt für alles ein erstes Mal, oder?“, konterte Gillroy, der aufgeregt seinen ersten Kampf erwartete.
Keine zehn Minuten, schon standen sie vor der großen Arena, in die sie gefolgt von vielen Menschen eintraten. Einige Wachen sprachen sie am Eingang wegen des Alters an, gestatteten ihnen aber den Eintritt, sobald sie das Alter vorweisen konnten. Plätze gab es genug, also ließen sie sich möglichst nahe am Kampfgeschehen nieder. Die Befürchtung, keine guten Plätze zu finden, zersplitterte wie ein Spiegel. In der Arena konnten sie sich gut zwischen die Leute quetschen.
Gillroy war einfach fasziniert vom Umfeld und der Lautstärke. Dadurch wuchs das Gefühl der Zugehörigkeit. Viele Menschen unterhielten sich heiter und kaum jemand sah abfällig zu den Jungs herüber.
Nach der Wartezeit von zwanzig Minuten brachte ein Mann den Stein ins Rollen; er lief in die mitte der Arena und schrie: „Ich heiße sie herzlich willkommen.“ Die Menschen mäßigten die Lautstärke. „Seid ihr bereit für den lang ersehnten Kampf zwischen Raydon und Miltenes?“
Die Menge jubelte ihre Zustimmung.
„Das dachte ich mir; ich nämlich auch! Dann wollen wir keine Zeit verlieren. Hier kommt Raydon.“ Er richtete seine rechte Hand in die Richtung eines Einganges.
Raydon erschien und schaute unauffällig zu den Menschen in der Arena. Dieser trug eine dunkelgrüne Hose, dazu ein schwarzes Kurzarmshirt. Seine braunen Haare waren schulterlang. Ein trainierter Fels von einem Mann. Die Brust wurde vom Shirt verziert.
Culvrin stieg in den Jubel mit ein.
„Der bisher ungeschlagene Kämpfer“, fuhr der Mann fort. „Sechzehn Siege in Folge hat er sich errungen und steht seinem neuen Herausforderer entgegen. Dieser Herausforderer besitzt den Rang eines Machiten, doch das soll nichts besagen. Je hungriger der Wolf, desto blutrünstiger ist er. Falls Raydon zu Fall kommt, wird ihm der Suprema-Rang verliehen. Meine Damen und Herren, hier ist Miltenes.“ Die linke Hand zeigte zum entgegengesetzten Eingang.
Es folgte wieder Jubel, der diesmal leiser ausfiel.
Miltenes war ein blonder Mann mit Bart, der ein überlegenes Grinsen trug. Er beteiligte sich wie Raydon ohne Waffen am Kampf. Spontan warf Gillroy Miltenes ein Blick auf die Stirn, bis er leichte, orangene Umrisse erkennen konnte. Diese Entdeckung verschlug ihm die Sprache. Daran übte er seit Wochen, indem er auf seine Stirn gestarrt hatte, um seine Aura zu erkennen, was ihm nicht gelang; doch ausgerechnet jetzt gelang es ihm. Vorher wollte er das Aurasehen erzwingen und jetzt nahm er ruhig anlauf, woraufhin das Sehen durch sein drittes Auge funktionierte. Innerlich freute er sich darüber, und er stand kurz davor, das Meditieren aufzugeben, und Konzentrieren auf die Zirbeldrüse gleich dazu.
Bevor der Kampf anfing, dachte Gillroy an den Charaktertyp der orangenen Aura, was ihm nicht einfiel. Als sich beide Gegner gegenüber standen, wurde Gillroy unterbrochen. Der Kampfrichter kam hinzu, um den Start anzukündigen. Beide Kontrahenten nahmen die Kampfposition ein.
„Und los!“, brüllte der Kampfrichter. Überall machte sich Aufregung breit.
Miltenes tastete sich als erster heran. In Raydons Radius angekommen, folgten drei schnelle Hiebe, denen Raydon problemlos auswich und selbst einen Schlag bei Gelegenheit versuchte. Bei Raydons Kinnhaken wich Miltenes zurück. Der Kampf verlief in einem Wechsel von Angriffen, bei dem jeder Hieb ins Leere ging.
„Vortrefflich!“, rief ein Mann hinter Gillroy. „Beide verfügen über die Intuition.“
Das Gesagte beschäftigte Gillroy, weil er die Bedeutung ahnte. Wie sein Vater ihm einst erzählte, ist die Intuition bei Missionen unentbehrlich. Falls sich eine Gefahr nähert, spüren die intuitiven Menschen diese und können der Gefahr entrinnen oder sich zu einem Gegenangriff rüsten. Deshalb ist es von Vorteil, einen intuitiven Kämpfer im Team zu haben. Meistens besitzen die Kämpfer mit der blauen Aura diese Fähigkeit, aber sie könnte von anderen Auratypen erlernt werden, wodurch sie schwächer ausgeprägt ist als bei den Blauen. In diesem Kampf benötigen die Kämpfer die Intuition dafür, um die Angriffe des Gegners vorauszusehen.
Für beide wird der Kampf langsam anstrengend. Miltenes macht den ersten Treffer, indem seine Faust Raydons Auge erwischt. Der plötzliche Konter von Raydon trifft Miltenes' Magengrube, sodass Miltenes sich nach vorne beugt und Raydon ihn den Arm um den Hals schlingt. Als Erwiderung zieht Miltenes Raydons Beine weg, woraufhin Raydon stürzt. Der Kampf geht am Boden weiter; beide kämpften um die Oberhand, die ganz eindeutig Raydon aufgrund seiner Erfahrung gewann. Er schaffte es nämlich, Miltenes' Kopf und rechten Arm in seine Beinschere zu bekommen, wodurch Miltenes gewürgt wurde. Das hektische hin und her winden, entfaltete keine Wirkung, was Miltenes zur Aufgabe zwang, da er fast das Bewusstsein verlor.
„Der Kampf ist beendet“, verkündete der Kampfrichter.
Die Menge feierte den Sieg.
Raydon stand auf und klopfte seinem knieenden Gegner freundschaftlich auf den Rücken. Dann sah er sich um und fing Gillroys Blick auf, von dem er sich wieder abwandt, um sein Weg aus der Arena einzuschlagen.
„Fandest du den Kampf nicht spannend, Levos?“, fragte eine Frau einen Mann hinter ihm.
„Ich fand ihn außerordentlich spannend. Leider kommt es mir vor, als ob Raydon sich zurückgehalten hatte. Möglicherweise besitz er noch einen Trumpf, den er nicht eingesetzt hatte“, ließ der Mann namens Levos verlauten.
„Merkwürdig. Sonst benutzt Raydon oft ein Schwert.“
„Boah, Raydon war beim Bodenkampf zu stark“, merkte Culvrin an, erst nachdem sie die Arena verließen, da das Gedränge und der Krach eine Konversation erschwerten. „Wenn ich älter bin, möchte ich so gut Kämpfen können wie Raydon.“
„Das wäre cool“, stimmte Gillroy zu.
„Schade, dass Helvira nicht dabei war; sie wäre beim Ende bestimmt ausgeflippt. Hoffentlich kommt sie zu den anderen Kämpfen.“
„Ja. Nur sind ihre Eltern streng, was die Kämpfe angeht.“
„Zum Glück ist...“, setzte Culvrin an, als plötzlich Raydon vor ihnen erschien wie ein dunkler Schatten.