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Ausgerechnet Quackstedt! Kriminalhauptkommissar Camillo Waldner hätte sich nicht träumen lassen, dieser Kleinstadt im Osnabrücker Nordland noch einmal einen Besuch abstatten zu müssen. Es sind nicht die besten Erinnerungen, die er mit diesem Ort verbindet, an dem er einen Teil seiner Kindheit verbracht hat. Doch um den Mord an einer Chefärztin des dortigen Krankenhauses soll sich nach Willen seiner Vorgesetzten jemanden kümmern, der sich vor Ort auskennt. Kein Wunder, dass die Wahl auf Waldner fällt, auch, wenn dieser alle andere als begeistert ist. Seine Ermittlungen vor Ort in dem schwer durchschaubaren Beziehungsgeflecht eines Krankenhauses beginnen alles andere als ermutigend. Weitere Todesfälle folgen. Erst langsam gelingt es Waldner, eine Mauer des Schweigen zu durchbrechen und am Ende muss er feststellen, dass die Dinge nicht immer das sind, was sie scheinen
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Seitenzahl: 511
Veröffentlichungsjahr: 2018
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Der Bauch des Kommissars
Vorwort
Quackstedt, der Ort, in dem diese Handlung spielt, wird man auf der Landkarte des Osnabrücker Landes vergeblich suchen. Es ist ein fiktiver Ort, genauso erdacht, wie diese Geschichte, die in ihr vorkommenden Personen, Orte und Begebenheiten. Auch, wenn der aufmerksame Leser auf den Gedanken kommen mag, die eine oder andere Beschreibung wiederzuerkennen oder gewisse Ähnlichkeiten zu ihm bekannten Personen zu beobachten, so sei ihm versichert, das alles, was er gelesen hat, frei erfunden ist.
Natürlich lässt sich nicht vermeiden, dass eine Geschichte, die in einer Region spielt, mit der man vertraut ist, Impulse von Land und Leuten erhält. Von Orten und Plätzen, von bestimmten Persönlichkeitstypen und mitunter schleichen sich in der Phantasie auch Dinge ein, die man irgendwo anders erlebt, beobachtet oder gehört hat. Das Leben wiederholt sich nicht ständig, aber manche Ereignisse und Muster begegnen und doch immer wieder, sowohl in Geschichten als auch in der realen Welt.
So ist auch Quackstedt, der frei ersonnene Ort, sicherlich nicht von Eigenschaften verschont geblieben, die man aus anderen Zusammenhängen kennt. Es gibt ein Krankenhaus, einen Bahnhof, Hotels, Menschen, die dort leben und arbeiten, Zeitungen, Straßen, alles Dinge, ohne die eine Stadt nicht auskommt und die es deshalb geben muss, damit diese Geschichte funktioniert.
Alle Handlungsträger dieser Geschichte sind mehr oder minder komplexe Figuren, denen ich Eigenschaften zuerkannt habe, weil Personen Eigenschaften brauchen. Natürlich habe ich mich dabei wie jeder Autor aus dem großen Potpourri an menschlichen Eigenarten bedient, das uns im normalen Leben umgibt. Und natürlich bestimmen eigene Erfahrungen und Erlebnisse das mit, was man ersinnt und niederschreibt.
Sollte es also Menschen geben, die dennoch der Meinung sind, irgendwen oder irgendetwas in dieser Geschichte wieder zu erkennen, so sei noch einmal ausdrücklich darauf hingewiesen: Das ist reiner Zufall, keinesfalls Absicht und wenn es doch auf irgendjemanden zutreffen sollte, hoffe ich, dass mögliche Parallelen zu noch lebenden oder bereits verstorbenen Personen nicht als diskreditierend oder verletzend empfunden werden.
Kapitel 1
„Was für eine Riesensauerei", entfuhr es Kriminalhauptkommissar Waldner laut vernehmlich, als er gegen 10:30 Uhr den Tatort besichtigte. Der Tag war noch nicht besonders alt, aber er wusste schon jetzt, dass der Morgen des 17. Oktober das Zeug dazu hatte, diesen Tag zu einem zu machen, den man am liebsten streichen würde. Waldner war mittlerweile einer der dienstältesten Kollegen bei der Mordkommission in Oldenburg und schon deshalb einiges gewohnt. Aber hier kam er nicht umhin, zu schlucken. Da hatte wohl jemand seinen besonders perversen Tag gehabt. „Wer hat sie gefunden?"
Franz Gromitzke, sein eher unscheinbarer und zugleich langjähriger Assistent, hatte alle Mühe, das Frühstück im Mund zu behalten. Aber immerhin, stellte Waldner neidvoll fest, hatte er schon die Gelegenheit zum Frühstück gehabt. Sein Gesicht, ohnehin stets einen Ton zu bleich und oft Anlass zu schlechten Witzen, hatte jegliche Farbe verloren. „Die Putzfrau", erwiderte er, halbwegs um Fassung bemüht. „Heute Morgen, viertel vor sieben! Da macht sie normalerweise sauber in den Arztzimmern"
„Hm" brummte Waldner, während er sich am Tatort umsah und ertappte sich dabei, wie er mal wieder auf seine Unterlippe biss. Das tat er besonders dann, wenn er nachdenken musste. „Und wann wurden die örtlichen Kollegen alarmiert?"
„Um halb neun", stammelte Gromitzke, der sich bemühte, nicht direkt in Richtung der Leiche zu blicken. In der Tat war die Tote kein Anblick für zarte Gemüter. Dabei war der gute Gromitzke durchaus kein Weichei, wie Waldner aus den Erfahrungen der gemeinsamen Jahre wusste. Aber das hier sah eher nach einer Schlachtung als nach einem normalen Tatort aus. Überall klebte Blut. Auf dem Boden, am Sessel neben der Toten, selbst an der Schreibtischfront, die eigentlich weit genug von der Leiche entfernt stand. Waldner wusste natürlich von den Gerichtsmedizinern, dass der menschliche Körper zwischen fünf und sieben Liter Blut enthielt. Aber die Menge, die hier verteilt war, hätte auch das Dreifache sein können.
„Da stinkt doch was zum Himmel", mutmaßte Waldner, der gerade dreimal nachgerechnet hatte, wie viel Zeit zwischen dreiviertel sieben und halb neun lag und jedes Mal zum gleichen Ergebnis kam. Immerhin fast zwei Stunden, die von Auffinden der Toten bis zur Alarmierung der hiesigen Polizei verstrichen waren. Da konnte man mehr als nur ein paar Spuren verwischen. „Wieso sind die Kollegen erst so spät informiert worden?"
„Technischer Defekt", erklärte sein Assistent und schien sichtlich erleichtert, etwas anderes tun zu können, als auf die Tote zu starren. „Es laufen gerade Wartungsarbeiten an der Telefonanlage. Seit gestern tut hier gar nichts mehr im Haus. Deshalb ist dann ein Pfleger rüber zur Polizeistation. Und die macht erst um diese Zeit auf…"
„Heilige Scheiße", stöhnte Waldner um einiges heftiger, als beabsichtigt. Aber eigentlich hätte er sich so etwas denken können. Denn schließlich wusste er nur zu gut, wo er sich mit seinem Team befand. Tötungsdelikt, Quackstedt, das hatte heute Morgen in seiner Einsatzorder gestanden. Quackstedt, das war ein Provinznest allererster Güte, eine Kleinstadt im wahrsten Sinn des Wortes, befand er. Und außerdem für Waldner alles andere als fremd. Gerade deshalb war Quackstedt für ihn auch die Verkörperung von all dem, was eine Stadt auf keinen Fall haben sollte. Natürlich waren seine Vorgesetzten der festen Überzeugung gewesen, dass es eine gute Idee war, ihn nach Quackstedt zu schicken. Originalzitat Polizeipräsident Dunkelmoser in der kurzen Dienstbesprechung heute Morgen: „Es ist gut, jemanden vor Ort zu haben, der sich auskennt…"
Waldner hatte gar nicht erst versucht, zu erklären, wie wenig er sich in der Gegend auskannte. Wenn Dunkelmoser von seiner Idee überzeugt war, brachten ihn niemand davon ab. Und Waldner war ohnehin nicht der Mensch, der Lust auf fruchtlose Diskussionen hatte. Lieber arrangierte er sich mit seinem Chef und zog es sicherheitshalber vor, mit dem Schlimmsten zu rechnen. Auf diese Weise ließ sich die Enttäuschung, wenn schon nicht ganz zu vermeiden, so doch zumindest in Grenzen halten. Meistens jedenfalls. Auf jeden Fall würde er auf Vieles, was er zuhause in Oldenburg zu schätzen gelernt hatte, verzichten müssen. Ein Polizeirevier, das durchgehend Tag und Nacht besetzt war, gehörte nicht zu den lokalen Selbstverständlichkeiten. Und Telefonanlagen, die sich kurzfristig reparieren ließen, erst recht nicht.
Im Allgemeinen machte Waldner zwar kein Staatsgeheimnis daraus, hier familiäre Wurzeln zu haben, aber nach Möglichkeit vermied er es, jemandem diesen Umstand ohne Not auf die Nase zu binden. Dass er in diesem Nest geboren wurde und einen großen Teil seiner Kindheit verbracht hatte, war lange her und auch nicht seine eigene Entscheidung gewesen. Aber wen interessierte das schon bei der Einsatzleitung in Oldenburg. Gefragt hatte ihn zumindest niemand. Jedenfalls hatte er sich heute Morgen nach der kurzen Einsatzbesprechung mit sehr gemischten Empfindungen auf den Weg gemacht und keine zwei Stunden später sah er sich in seinen Befürchtungen bestätigt. Zwangsläufig musste Waldner wieder einmal an die ersten 14 Jahre seines Lebens in der „Verbannung" denken, wie er diese Zeit zu nennen pflegte. Zumindest, wenn er sie nicht umhin kam, sie zu erwähnen...
„Passt auf, wo ihr hintretet", fauchte er die beiden Kollegen von der Spurensicherung in ihren Ganzkörperanzügen an, als ob sie das nicht von sich aus gewusst hätten. „Nun mach mal halblang, Camillo;" raunzte Majewski, der ältere der beiden, zurück. „Wenn du Stress hast, fang lieber wieder an, zu rauchen!"
Das saß. In doppelter Hinsicht. Majewski kannte Waldners Achillesferse. Er mochte seinen Vornamen, den er seiner italienischen Mutter zu verdanken hatte, nicht. Außerdem hatte er sich vor drei Wochen die letzte Zigarette angesteckt. In Momenten wie diesem fragte Waldner sich allerdings, ob das eine gute Entscheidung gewesen war. Wenn der Arzt nicht gesagt hätte… Waldner verscheuchte die Gedanken an seinen Hausarzt und konzentrierte sich wieder auf das Wesentliche. Die Leiche!
Auch die jüngere Kollegin von der Spurensuche beschäftigte sich gerade damit und fotografierte sie aus allen Positionen. Erstaunlich cool dabei, wie Waldner fand. Sie war erst vor einem halben Jahr zum Team gestoßen, ein Frischling sozusagen. Immerhin machte sie eine gute Figur, in jeder Hinsicht. Oder fast in jeder. Ihre langen dunklen Haare, die sie zum Pferdeschwanz gebunden hatte, hingen frei über den Rücken des Schutzanzuges und waren nicht vorschriftsmäßig unter das Haarnetz gesteckt.
Waldner übersah das geflissentlich und kniete sich an einer Stelle neben die Tote, an der sich zumindest optisch kein Blut befand. Dennoch spürte er, wie seine Schuhsohlen am Boden klebten. Der Oberkörper der Frau war unbekleidet und zwischen den immer noch ansehnlichen Brüsten klaffte ein großes Loch. Der Täter musste schwer gearbeitet haben, um die Rippen auseinander zu biegen. Das wohl Ungewöhnlichste war der silberne Teller auf dem Bauch der Toten. Gleich einer zeremoniellen Opfergabe lag ein blutverschmiertes Organ darauf und obwohl Waldner keine Ahnung von Anatomie hatte, hätte er jede Summe darauf gewettet, dass es ihr Herz war.
„Wer tut so etwas?" flüsterte Gromitzke, der schräg hinter ihm stand. Eine Antwort erwartete er wohl nicht und Waldner gab ihm auch keine. Stattdessen blickte er sich im Zimmer um. Eigentlich waren es zwei Zimmer, durch eine große zweiflügelige Schiebetür getrennt lag ein weiterer Raum direkt nebenan. Waldner hatte keine Ahnung, wie ein Arztzimmer sonst aussah, aber die Ausstattung erschien ihm recht komfortabel. Die Tote lag rechts neben einem wuchtigen Massivholzschreibtisch, möglicherweise Mahagoni, auf jeden Fall nicht in der Klasse, die Waldner sich leisten konnte.
Eine Sitzgruppe mit drei komfortabel aussehenden Sesseln stand in der linken Zimmerecke unter einer leichten Schräge. An den Wänden überall Regale, mit zahllosen Büchern, Holzskulpturen und Tonfiguren bestückt. Über dem Schreibtisch im Rücken desjenigen, der daran saß, hing ein riesiges Bild. Vermutlich Öl oder Acryl, so genau kannte Waldner sich nicht damit aus. Auf jeden Fall ein Original. Und abstrakt.
Im Nebenraum stand eine große schwarze Ledercouch, ebenfalls unter der Schräge. Mehrere bunte Kissen mit Fransen waren darauf drapiert. Der Raum hatte ein esoterisches Flair, fand Waldner. Indischer Stil oder zumindest das, was er sich darunter vorstellte. An den Wänden des ansonsten mit Möbeln eher spärlich ausgestatteten Zimmers hingen ebenfalls Bilder, allerdings deutlich kleiner als über dem Schreibtisch. Waldner nahm an, dass es sich ebenfalls um Originale handelte. Die Tote schien abstrakte Kunst gemocht zu haben.
Ungewöhnlich war das goldfarbene Namensschild auf dem großen Schreibtisch. In kantigen schwarzen Buchstaben stand darauf der Name der Besitzerin des Schreibtisches: Prof. Eva Maria Weidner-Nadolny. Das hatte er auch schon vorher gewusst, denn die Identifizierung war schon gelaufen. Die teilweise Namensähnlichkeit fiel ihm erst beim Nachlesen auf. „Ein Doppelname", dachte Waldner. Er war gespannt, welche Klischees die Tote sonst noch bediente.
Während die Spurensicherung schon damit beschäftigt schien, einzupacken, suchte Waldner nach Spuren eines Kampfes. Es gab keine. Die Tote lag lang ausgestreckt auf dem Boden, die Beine dicht beieinander, mit einem Kostümrock bekleidet. Im Gegensatz zum nackten Oberkörper schien die untere Körperhälfte nicht entblößt worden zu sein, soweit er das beurteilen konnte. Die Hände hatte die Tote gefaltet und stützte mit ihnen den Silberteller, auf denen der Mörder ihr Herz platziert hatte. Eine höchst symbolträchtige Handlung, wie Waldner fand, aber darüber sollten sich die Kriminalpsychologen Gedanken machen.
"Und die Tatwaffe?" fragte Waldner eher beiläufig und war umso mehr überrascht über Majewskis Antwort. "Haben wir nicht. Zumindest am Tatort keine Spur davon, aber wir bleiben dran." Irgendetwas passte da nicht, befand Waldner nachdenklich. Dass ein Täter sein Werkzeug verschwinden ließ, war in einem Mordfall nicht ungewöhnlich, aber bei einer doch augenscheinlich ritualverdächtigen Handlung wunderte es ihn doch. „Und was ist damit...?" Er deutete auf eine leere Teetasse auf dem Schreibtisch, aber Majewski winkte ab. „Schon asserviert. Ansonsten sind wir hier fertig. Wir kümmern uns jetzt um die Wohnung. Kann sie abtransportiert werden? Die Krankenhausleitung….."
„Mir ist scheißegal", unterbrach Waldner ihn, „was die Krankenhausleitung will. Irgendwas ist nicht richtig und solange ich nicht weiß, was, bleibt sie hier." Majewski zuckte nur mit den Achseln und auch niemand von den anderen Kollegen widersprach ihm. Waldner war mit seinen 49 Jahren lange genug bei der Polizei, um sich einen gewissen Ruf erworben zu haben. `Waldner löst die Fälle mit dem Bauch´, war so ein geflügeltes Wort auf der Dienststelle in Oldenburg und damit war nicht gemeint, dass er bei der Arbeit zu übermäßigem Essen neigte. Wenn Kriminalhauptkommissar Waldner ein komisches Gefühl im Bauch hatte, stellte sich oft genug heraus, dass etwas dran war.
Waldner verbrachte noch eine weitere halbe Stunde im Zimmer bei der Toten, nachdem die Spurensicherung abgezogen war. Jede Ecke, jeden Blutsfleck ging er noch einmal durch, aber er fand nichts, was ihm als Hinweis dienen konnte. Es schien, als hätte sich die Tote nicht gewehrt... die Lebende natürlich, korrigierte Waldner sich. Der Tod war schließlich erst der Folgezustand, kriminaltechnisch gesehen. Möglicherweise hatte sie den Mörder gekannt, es gab keinerlei Zeichen gewaltsamen Eindringens. Waldner hielt das sogar für sehr wahrscheinlich, denn einem Menschen sein Herz zu entreißen und es ihm sogar auf silbernem Tablett auf den Bauch zu legen, konnte nur Ausdruck einer sehr persönlichen Beziehung zwischen Täter und Opfer sein. Aber vermutlich schränkte das den möglichen Täterkreis nicht gerade ein. Frau Weidner - Nadolny machte selbst als Tote noch einen sehr aparten Eindruck, zu Lebzeiten war das sicher nicht anders gewesen.
Waldner hatte Gromitzke damit beauftragt, die letzten Kontakte zu recherchieren, die Frau Weidner in lebendigem Zustand gehabt hatte. Er war abgezogen wie ein geölter Blitz. Jede Aufgabe war ihm augenscheinlich lieber, als noch länger bei der Toten bleiben zu müssen. Zumindest am Nachmittag hatten mehrere Mitarbeiter die Professorin noch lebend gesehen. Sie hatte wie üblich ihre Sprechstunde abgehalten. Vornehmlich Privatpatienten, wie Gromitzke herausgefunden hatte. Einen Terminkalender suchte Waldner allerdings genauso vergeblich wie die mögliche Tatwaffe.
Es gehörte eine ordentliche Portion Kaltblütigkeit dazu, in dieses Krankenhaus zu spazieren, die Professorin zu ermorden, ihr das Herz (das hatte die Spurensicherung mittlerweile bestätigt) herauszunehmen und dann wieder unerkannt zu gehen. Wer das tat, musste sich zumindest ein wenig hier auskennen. Auch, wenn den genauen Todeszeitpunkt erst die Autopsie ergeben würde, Waldner glaubte nicht, dass die Professorin vor 22:00 umgebracht wurde. Zuviel Publikumsverkehr. Und noch zuviel Patienten auf den Fluren. Der Täter oder die Täterin war sicherlich klug genug gewesen, das zu bedenken.
Noch immer hatte er das Gefühl, etwas übersehen zu haben, irgendeine Kleinigkeit möglicherweise. Aber so sehr er auch den möglichen Hergang durchspielte, er kam einfach nicht darauf, was ihn störte. Schließlich stimmte er dem Abtransport der Toten in die Gerichtsmedizin zu. Dem Anschein nach hatte die Tote sich nicht gewehrt. Es galt zu klären, ob sie betäubt oder vergiftet worden war. Mehrfach hatte Waldner versucht, seine Oldenburger Kollegen auf eventuell ähnliche Fälle im Archiv anzusetzen. Leider gab es im gesamten Krankenhaus immer noch kein funktionierendes Telefon. Die Notleitungen hatte er, trotz Verweis auf diensthoheitliche Belange nicht benutzen dürfen. Rettungsdienstliche Erfordernisse, hatte der Verwaltungsleiter kaltschnäuzig beschieden. Und der nagelneue Motorola hatte auf dem Gelände keinen Netzempfang. Waldner hatte keine Lust zum Streiten und so lief die ganze Kommunikation mit der Dienststelle über den armen Gromitzke, der ständig zwischen seinem Chef und der nächsten Telefonzelle hin und her pendelte. „Quackstedt…" stöhnte Waldner zum wiederholten Mal.
Schließlich beschloss er, die Sache mit Oldenburg später weiter zu verfolgen. Zuerst einmal waren die Zeugenaussagen wichtiger. Gromitzke hatte dazu in der Zwischenzeit einen Sitzungsraum im Erdgeschoß requirieren können, wundersamer weise ganz ohne dass es diesmal Probleme mit irgendwelchen Klinikbelangen gab. Zwar hatte der Raum keine richtigen Fenster, aber er bot Platz genug und, was ebenso wichtig war, er verfügte über einen Kaffeespender. Die heutige Nacht war ebenso wie die letzten wieder wenig erholsam gewesen. Keine Stunde am Stück hatte er geschlafen, immer wieder war er wach geworden, als hätte er geahnt, was für eine unerfreuliche Sache heute auf ihn zukommen sollte. Außerdem war es zu warm in seiner Wohnung, die Heizung ließ sich nicht regeln. Und sein Husten… bislang hatte es noch gar nichts genützt, dass er nicht mehr rauchte. Warum kam dieser verfluchte Husten nur in der Nacht, sobald er sich hinlegte? Waldners Laune sank auf den Tiefpunkt.
Gegen 12:15 vernahm Waldner seine erste Zeugin. Frau Pellenwessel war seit vielen Jahren Abteilungssekretärin. Waldner hätte gerne auch die Putzfrau befragt, die die Tote gefunden hatte, aber sie lag seit heute Morgen im Krankenhaus, mit einem Nervenzusammenbruch, wie es hieß. Bedauerlich, aber doch verständlich, fand Waldner. Frau Pellenwessel war eine etwas vorgealterte Endvierzigerin mit erstaunlich wenig femininer Ausstrahlung. Ihre geblümte Bluse kontrastierte unvorteilhaft mit dem karierten Rock. Das schmale Gesicht trug eine Spur zuviel Make-up, sie hatte keinen Ring am Finger, wie Waldner registrierte. „Ledig" las er im Vernehmungsbogen. Gromitzke leistete wie immer ausgezeichnete Vorarbeit. Das schätzte er an ihm.
Waldner bot Frau Pellenwessel einen Stuhl an, so dass sie ihm gegenüber am Tisch saß. Der Blickkontakt schien ihr unangenehm zu sein, sie senkte die Augen und vermied es, ihn direkt anzuschauen.
„Die arme Frau Professor", schluchzte sie immer wieder, was die Vernehmung etwas schwierig machte. „Wer kann so etwas nur tun?" Auch, wenn sich Waldner schon allein von Berufes wegen die gleiche Frage stellte, hatte er wenig Lust, immer wieder das gleiche zu hören.
„Das wollen wir ja herausfinden", unterbrach er sie so höflich, wie er konnte, aber dennoch bestimmt, worauf Frau Pellenwessel ihren Mund einstweilen nicht wieder zubekam.
„Wir brauchen ihre Hilfe bei der Rekonstruktion des Tathergangs", beschwichtigte Waldner die Abteilungssekretärin. „Jede, wirklich jede Einzelheit ist hilfreich, mag sie ihnen auch noch so unwichtig vorkommen." Waldner fragte sich, wie oft dieser Satz schon aus seinem Mund gekommen war. Frau Pellenwessel hatte mittlerweile ihre Fassung wieder gewonnen.
„Seit fünfunddreißig Jahren arbeite ich jetzt in diesem Haus, aber so etwas ist noch nie vorgekommen. Das ist schließlich ein christliches Haus. Aber Frau Professor meinte ja, diese Leute behandeln zu müssen….."
„Was für Leute?" wollte Waldner wissen, während Gromitzke fleißig schrieb. Nicht zum ersten Mal fragte Waldner sich, weshalb sich sein Assistent derart standhaft weigerte, ein modernes Diktiergerät zu benutzen, aber alle Versuche, ihn davon zu überzeugen, waren vergebens gewesen, Gromitzke hatte sogar mit einem Versetzungsantrag gedroht.
„Ich weiß nicht, ob ich das sagen darf…", Frau Pellenwessel sah sich etwas ängstlich um. „In einem Krankenhaus, da gilt doch die Schweigepflicht…"
„Nicht in einem Mordfall", klärte Waldner sie auf, natürlich wider besseres Wissen, denn im Grunde war das gar nicht so einfach mit Vernehmungen im Krankenhaus.
„Also…Frau Professor hatte ein paar Patienten…. Ich habe die Berichte geschrieben für sie… die hatten es mit dem Gericht zu tun…", mühsam rang die Pellenwessel nach Worten. Schon jetzt war Waldner klar, dass die Abteilungssekretärin kaum ein gutes Haar an ihrer toten Chefin lassen dürfte, wenn man sie nur lange genug befragen würde.
„Sie behandelte also delinquente Patienten…?" stellte Waldner fest. Solche Fälle waren ihm bekannt. Manchmal verhängten Gerichte Therapieauflagen bei Haftverschonung und wenn der Betroffene nach der Therapie ein positives Gutachten erhielt, brauchte er seine Haftstrafe nicht mehr anzutreten. Meistens waren das aber Ersttäter und die Straftaten minderschwer. Aber das ließ sich nachprüfen, solche Therapien mussten besonders dokumentiert werden.
„Genau!" stimmte die bislang schüchterne Sekretärin mit ungewohntem Eifer zu. „Das waren Kriminelle. Kinderschänder und Brandstifter. Die hätten eigentlich in den Knast gehört. Jetzt sieht man ja, was davon kommt!"
„Sie glauben also, einer dieser Patienten hätte sie umgebracht?" hakte Waldner vorsichtig nach.
„Wer den sonst? So etwas tun doch nur Perverse. Ich habe das nie verstanden, warum sich Frau Professor mit solchen Leuten abgegeben hat. Unser alter Chef hat das nie getan, der wusste besser, was er von denen zu halten hatte."
Frau Pellenwessel entpuppte sich im Gespräch als Verfechterin eines eher klassischen Strafvollzuges, stellte Waldner fest. Wegsperren und nicht mehr herauslassen, schien ihre Devise. Zumindest generell wollte Waldner das aber trotz der Dinge, die er im Laufe seines Berufslebens gesehen hatte, nicht unterstützen. Aber das behielt er in der Vernehmung lieber für sich. Schließlich wollte er sie nur befragen, nicht bekehren. Leider konnte Frau Pellenwessel bis auf ihre deutlichen Ansichten zu Kinderschändern und Brandstiftern nichts Wesentliches zur Tataufklärung beitragen.
Zuletzt hatte sie ihre Chefin um 16:00 lebend gesehen, als diese einige von ihr mit Berichten besprochene Kassetten hereinreichte. Nach ihrer Überzeugung habe die Frau Professor so wie immer gewirkt, in Gedanken wohl bei anderen Dingen, aber nicht verängstigt oder belastet. Um 16:15 hatte Frau Pellenwessel das Abteilungsbüro abgeschlossen und Feierabend gemacht. Ob einer der besagten Patienten danach noch einen Termin bei Frau Weidner - Nadolny gehabt habe, vermochte sie nicht zu sagen, Frau Professor habe sich bei ihren Terminen nicht reinreden lassen, die habe sie immer selbst gemacht.
Frau Professor schien überhaupt alles anders gemacht zu haben wie ihr Vorgänger, war Waldners Eindruck, als er Frau Pellenwessels Aussage rekapitulierte. Und hatte damit nicht immer vor dem gestrengen Auge ihrer persönlichen Sekretärin bestehen können.
„Wissen sie, wir sind ein Christliches Haus", betonte sie nachdrücklich. „Früher, da haben hier auch die Nonnen aus dem Schwesternhaus Dienst getan. Aber die sind ja alle alt mittlerweile. Aber ich sage ihnen, manche Dinge, die gab es damals nicht!"
Waldner hatte nach dem Ende der Vernehmung viel gelernt über den zunehmenden Sittenverfall im ehedem christlichen Haus. Dass die Schwestern zu freche Trachten trugen, welche vor allem männlichen Patienten herausfordern mussten. Und dass Ärzte mit Schwestern… und umgekehrt. Und dass die armen schwerkranken Menschen, die auf der Psychiatrie behandelt wurden, neuerdings arbeiten gehen mussten, in der Käserei, auf dem Gemüsehof "Soundso" oder anderswo, wo sie den normalen Quackstedter Bürgern Angst einjagten.
Frau Weidner-Nadolny hatte sich wohl durch recht fortschrittliche Therapieansätze ausgezeichnet und damit nicht nur Zustimmung im Hause erfahren. Aber deshalb würde sie wohl kaum jemand auf diese Weise umbringen. Vergiften, ja, das hätte Waldner noch für möglich gehalten, wenn hier mehr Personal vom Schlage Frau Pellenwessels arbeitete. Vergiften von Gegnern hatte bei Christenmenschen ja eine Jahrhunderte alte Tradition, dachte Waldner anzüglich. Aber er hütete sich, das seiner Zeugin gegenüber zu erwähnen…
Gegen 12:30 saß Waldner seiner nächsten Zeugin gegenüber. Frau Krämer war von anderem Schlag als ihre Vorgängerin. Regelrecht wohltuend anders, wie Waldner empfand. 47 Jahre alt, etwas angegraut, aber die schulterlangen Haare mit Henna nachgetönt. Das musste aber schon einige Zeit her sein, denn der Grauton wuchs am Haaransatz wieder durch. Seit mehr als zwanzig Jahren an der Anmeldung in der Krankenhauspforte beschäftigt, kannte Frau Krämer jeden Mitarbeiter und viele der ein und ausgehenden Patienten. Sie konnte sich an 2 Personen erinnern, die sich nach 16:00 bei ihr zur Professorin durchgefragt hatten. Es waren Patienten gewesen, die einen Ambulanztermin hatten. Einer der beiden war schon öfter da gewesen, wie Frau Krämer sich erinnerte. Und der Zweite hatte sich sogar mit Namen vorgestellt. Die Personenbeschreibungen, die sich zu Protokoll gab, waren mehr als gut. Waldner beauftragte Gromitzke damit, die Beschreibungen an die Kollegen herauszugeben.
„Die sahen ganz unauffällig aus", fuhr Frau Krämer mit ihren Beobachtungen fort. „Besonders der Zweite war sehr nett. Hatte so einen bayrischen Akzent. Um 19:30 habe ich ihn wieder gehen sehen. Da hat die Frau Professor aber noch gelebt. Ich habe noch ein Telefonat zu ihr durchgestellt." Waldner war irritiert. „Ich dachte, die Telefonanlage ist auch gestern schon defekt gewesen?"
„ War sie auch. Aber manchmal klappte es dann doch für ein paar Minuten wieder. Und dann ging für Telefonate von außerhalb wieder gar nichts", erklärte Frau Krämer mit beeindruckender Engelsgeduld. „Das war ein ziemliches Durcheinander gestern. Die Patienten kamen alle unangemeldet, die Standleitung zur Rettungsleitstelle war völlig überlastet und die Hausärzte draußen stocksauer. Nur innerhalb des Hauses, da konnte man telefonieren."
„Wissen sie denn noch, wer Frau Weidner - Nadolny angerufen hat?" „Natürlich", strahlte Frau Krämer mit einem gewinnenden Lächeln, das Waldners Miene ebenfalls etwas weicher werden ließ. "Das war Dr. Dependahl. Der ist Oberarzt in der Anästhesie. Aber momentan ist er in Italien auf einem Kongress. Montagnachmittag abgereist. Zumindest war die Nummer eine mit Auslandsvorwahl. Das konnte ich auf dem Display erkennen. Ich habe mich noch gewundert, weshalb er anruft, obwohl er gar nicht mehr im Dienst war". Waldner war immer mehr von der Beobachtungsgabe seiner Zeugin angetan. „Hat denn Dr. Dependahl gesagt, warum er die Frau Doktor noch sprechen wollte?"
„Das hat er mir nicht verraten. Vielleicht ging es ja um was Dienstliches. Er hatte schon die Nacht vorher Dienst auf der Intensivstation und den Tag über auch noch. Da haben die beiden mehrfach miteinander telefoniert."
„Und eine Idee haben sie nicht, was er von Frau Weidner- Nadolny gewollt hat?" Frau Krämer schüttelte den Kopf. „Man erfährt zwar viel, wenn man an der Pforte sitzt, aber alles auch wieder nicht. Vielleicht ging es noch um das Konsil, das er angefordert hat. Darum geht es meistens, wenn sich jemand von der Intensivstation bei den Psychiatern meldet. Dann liegt dort in der Regel ein Patient, der versucht hat, sich umzubringen. So was kommt schon häufiger mal vor". Waldners Kenntnisse in Latein stammten noch aus Schulzeiten und die lagen weit zurück. Aber an manche Vokabeln erinnerte er sich erstaunlicherweise noch heute, manchmal sogar besser als damals, wie er fand. Konsil kam mit Sicherheit von "consilium", was Rat oder Plan bedeutete. Sein Lateinlehrer konnte stolz auf ihn sein, fand er. Ein Konsil war vermutlich eine Art eine Art fachlicher Beratung von Arzt zu Arzt. So, wie wenn er sich vom Gerichtsmediziner beraten ließ. Doch so wichtig, dass er noch mal nachfragen wollte, erschien ihm das nicht.
"Ist ... äh, ich meine, war es denn üblich, dass die Frau Professor so lange gearbeitet hat? Bestimmt hat sie doch auch ein Privatleben gehabt." Frau Krämer durchschaute seine Frage natürlich sofort. "Sie meinen, was sie so privat gemacht hat? Davon kann ich nicht viel berichten. Nur das, was so geredet wurde. Sie war mal verheiratet, heißt es. Daher wohl der „Nadolny". Aber ansonsten hat man hier wenig von ihr gewusst. Und sie wissen ja, an der Pforte..." Sie brach ab, als Waldner abwinkte. Mittlerweile wusste er ja, dass man an der Pforte so einiges erfuhr.
Etwas, aber nicht sehr enttäuscht fuhr Waldner fort, sie zum gestrigen Nachmittag zu befragen. Frau Krämer beschrieb den Tagesablauf so genau, als hätte sie sich alle Einzelheiten aufgeschrieben. Von 14:00 bis 21:00 Uhr hatte sie bis auf zwei kleine Pausen an der Pforte gesessen. „Das ist die normale Nachmittagsschicht. Danach beginnt die Nachtschicht, die dauert dann bis 7.00 Uhr morgens." Waldner nickte, während sie weiter berichtete. Mit fast exakter Uhrzeit beschrieb sie, wann welche Patienten aufgenommen wurden oder der Rettungswagen ausrückte. „Es war bis auf die Sache mit dem Telefon eigentlich ein ruhiger Tag." Bis 18:00 hatte sie Gesellschaft von zwei Technikern einer Telefonfirma, denn die Telefonanlage war im Nebenraum untergebracht. Die beiden hatten mächtig geschwitzt und geflucht, konnte sie sich erinnern. Sie hatte ihnen zwischendurch einen Kaffee besorgt, darüber war man ins Gespräch gekommen. Aber fertig hatten sie die Anlage nicht bekommen, sondern nur eine Notleitung eingerichtet. Deshalb konnte sie sich an die wenigen Anrufe gut erinnern.
„Ist es denn bei ihnen üblich, dass alle Telefongespräche über die Pforte laufen", wunderte sich Waldner. Auf der Dienststelle in Oldenburg hatte er die Nummern der meisten Nebenstellen im Kopf. Und es gab ein Telefonverzeichnis. Niemand würde auf die Idee kommen, sich mit einem hausinternen Teilnehmer verbinden zu lassen. „Kommt immer darauf an, welche Nummer das ist", erklärte Frau Krämer. „Wir haben über 300 Anschlüsse im Haus mit allen Stationen, Arztzimmern und was da sonst zugehört. Die kann sich keiner alle merken. Und weil besonders unsere Doktoren doch mal wechseln, gibt es eine ganze Reihe Leute, die immer wieder nachfragen. Selbst manche, die schon lange da sind…", Frau Krämer lächelte vor sich hin, „es gibt eben Leute, die können sich bis auf ihren Namen gar nichts merken."
Waldner bemühte sich gar nicht erst, sein Grinsen zu unterdrücken. Die Unterhaltung mit Frau Krämer war die erste nette Abwechslung an diesem Tag. Vermutlich auch die einzige, befürchtete er. Die meisten Zeugenbefragungen verliefen eher trocken bis zäh. Viele der Befragten versuchten, alles herunterzuspielen, was sie womöglich gesehen haben könnten, um Ärger zu vermeiden. Oder aber sie machten sich besonders wichtig und hatten schon eine vollständige Theorie, die sie bereitwillig präsentierten. Frau Pellenwessel, seiner erste Zeugin, gehörte sicher zu der letzten Gruppe. Frau Krämer dagegen hatte Charme und Witz, verstand sich aufs Beobachten und auf eine feine Ironie. Waldner konnte sich auch ohne weitere Erklärung gut vorstellen, dass es Dr. Dependahl sein musste, der sich bis auf seinen Namen gar nichts merken konnte. Aber leider konnte auch Frau Krämer trotz allen Charmes genauso wenig Aufschluss darüber geben, wer die Professorin zuletzt lebend gesehen hatte, wie die vorherige Zeugin.
„Wie war denn eigentlich Frau Weidner - Nadolny so als Ärztin und Mensch? Haben sie sich mal näher mit ihr unterhalten?" Frau Krämer schüttelte den Kopf. „Nicht wirklich. Doch sie hat zumindest immer freundlich gegrüßt. Das tun hier längst nicht alle. Und anscheinend konnte sie sich durchbeißen, was man gehört hat. Aber das musste sie wohl auch. Hatte es nicht leicht, als sie vor 4 Jahren bei uns anfing. Im Vorstand lauter Männer so vom Typ Alpha - Tier, alle über sechzig, zwei davon auch noch Pastoren. Die waren wohl noch ziemlich verwöhnt vom Dr. Strodtmann, dem früheren Chef hier. Eine Frau, die resolut und selbstbewusst auftritt, kommt da schnell in den Ruf, ein Besen zu sein."
Waldner nickte zustimmend. „Und was sagte man denn sonst so über sie hier im Haus? Ich meine, so inoffiziell…? Bestimmt ist doch mal das eine oder andere Wort gefallen…" Es fiel ihm schwer, zu glauben, dass über eine Frau mit Frau Weidner-Nadolnys Eigenschaften nicht das eine oder andere Gerücht kursierte. Wo viele Menschen zusammenarbeiteten, wurde immer geredet, das war sicher auch hier im Krankenhaus nicht anders. Hin und wieder lohnte es sich durchaus, sich mit diesen inoffiziellen Kanälen zu befassen. Es lag in der Natur des Menschen, Wissen nicht für sich allein zu behalten. „Könnte es irgendjemanden geben, der ein besonderes Interesse haben könnte, ihr etwas Schlechtes zu wünschen", fragte er vorsichtig.
„Sie meinen... ob jemand hier aus dem Haus ihr das angetan sein könnte…?" Sie schien einen Moment zu überlegen. "Ich schätze mal, es gibt schon Leute, die haben sie nicht gerade geliebt haben. Aber sie umbringen? Wer kann schon sagen, zu was Menschen fähig sind. Aber … es würde mich schon wundern." Waldner hatte sich in seinen fast 30 Berufsjahren das Wundern abgewöhnt. Meistens zumindest. Es war schwer, ihn in Erstaunen zu versetzen. Immer wieder taten Menschen das, was man ihnen absolut nicht zutraute. Und manchmal sogar noch mehr. Aber er hütete sich, das laut auszusprechen...
„Das war sehr hilfreich", bedankte sich Waldner, auch, wenn das vielleicht eine Spur übertrieben war. Aber Frau Krämer war eine nette Zeugin und verdiente es, einigermaßen höflich verabschiedet zu werden, fand Waldner. „Wenn ihnen noch etwas einfällt…", er war im Begriff, ihr eine von seinen leider etwas zerknitterten Visitenkarten in die Hand zu drücken, …unter dieser Nummer können sie mein Büro erreichen. Auch, wenn ich nicht persönlich…"
„Da wäre noch etwas, Herr Kommissar", unterbrach ihn Frau Krämer mit einer Spur von Ungeduld in der Stimme. „Frau Weidner-Nadolny... sie war sehr unglücklich über den Ausfall der Telefonanlage. Gestern hat sie mich mehrfach gebeten, eine bestimmte Telefonnummer zu wählen. Insgesamt dreimal hat sie sich im Laufe des Nachmittags erkundigt, ob ich etwas erreicht hätte. Ich hatte den Eindruck, dass ihr etwas, - wie sagt man bei ihnen -, unter den Nägeln brannte".
Weidner wurde hellhörig. „Und..? Hat es noch geklappt mit dem Telefonat?" Ihre Antwort wäre nicht nötig gewesen, Waldner biss sich ohnehin fast auf die Zunge. Natürlich, die Telefonanlage. Hatte er für einen Moment vergessen. Da lebte man im 21. Jahrhundert und konnte rund um die Welt telefonieren, in Sekundenschnelle auf die anderer Seite der Erde chatten und bis weit in den Weltraum hinausgucken und wenn dann mal so eine Telefonanlage ausfiel, war man abgeschnitten wie auf einer einsamen Insel. „Sie hat den Namen der Person nicht zufällig genannt, die sie sprechen wollte?"
„Hat sie nicht." Frau Krämer schüttelte bedauernd ihren Kopf. Aber ich habe mir das da gemerkt…." Sie schob Waldner seine zerknitterte Visitenkarte zurück, nachdem sie etwas darauf geschrieben hatte. Es waren sechs Zahlen. Eine Telefonnummer. Eine Ortsnetznummer. „Sie sind ein Schatz", entfuhr es Waldner unwillkürlich und für einen kurzen Augenblick lang hatte er den Eindruck eines verschwörerischen Lächelns im Gesicht von Frau Krämer. Vielleicht war es ja auch eine Täuschung gewesen, denn beim nächsten blick sah sie wieder aus wie man sich eine freundliche Dame vorstellte, die an der Pforte Dienst tat, freundlich und unverbindlich….
Mittlerweile war es früher Nachmittag geworden, kurz nach 15:00 Uhr, stellte Waldner mit einem Blick auf seine Armbanduhr fest. Er trug eine altmodische Casio mit Uhrzeiger, im Glasdeckel einen Sprung von der Zwölf zur Drei. Eine Erinnerung an eine der Festnahme, die nicht ganz friedlich abgelaufen war. Er hätte sich längst eine neue kaufen sollen, aber er hing an der Uhr, weil sie noch mechanisch aufzuziehen war und ein Zifferblatt besaß. Digitalanzeigen waren ihm ein Gräuel, deshalb zog er eine solche altmodische Uhr vor. Über sechs Stunden war dieser Fall nun schon alt, etliche Tassen Kaffe, eine weniger warm als die andere, fünf Zeugenvernehmungen, die üblichen Griffe zur nicht vorhandenen Zigarettenpackung und leider war er bislang ohne wirklich weiterführende Erkenntnisse geblieben. Immerhin, er war nicht mehr von der Außenwelt abgeschnitten. Die Techniker von der Telekommunikationsfirma hatten das Wunder vollbracht, die Telefonanlage wieder in Gang zu bringen. Waldners Laune besserte sich etwas. Ein Tatort, von dem aus man nicht telefonieren konnte, war ein Alptraum.
Die Besitzerin der Telefonnummer hatte Gromitzke bereits ermitteln können, eine gewisse Sylvia Fraise. Waldner überlegte, ob er den Namen schon einmal gehört hatte. Unter der Nummer meldete sich lediglich ein Anrufbeantworter. Der allerdings mit der klaren frischen und glockenhellen Stimme einer höchstens Enddreißigerin vom Typ dynamisch und jung geblieben. Diese Frau Fraise, wer immer das auch sein mochte, so hatte Waldner sich vorgenommen, würde er persönlich befragen, wenn es sich einrichten ließe. Vielleicht bei einem zur Abwechslung mal heißen Kaffee, stellte er sich vor, während er eher lustlos den kalten Rest aus seiner Tasse schlürfte. Mit einem mehr als grottenschlechten Geschmack im Mund wendete er sich einem neuen Zeugen zu.
Der nächste auf der Liste war der Verwaltungsleiter, von dem sich Waldner mehr Informationen über das Krankenhaus und vielleicht auch über die Tote erhoffte. Allerdings dauerte die Hoffnung nur so lange, bis er ihm direkt gegenüberstand. An Waldners Alter gemessen war er ein junger Schnösel und zudem von ziemlich aufgesetzt unechter Freundlichkeit, was ihn in Waldners Augen einige Sympathiepunkte kostete. Dass er ihm heute Morgen die Notleitungen verweigert hatte, kostete ihn den Rest. Es würde keine besonders herzliche Unterredung werden, das hatte Waldner schon im Gefühl. "Diplomvolkswirt" stand in Kapitälchen geschmückten Buchstaben auf stilvoll designter Visitenkarte, die mit Sicherheit von einem Imageberater entworfen worden war. Auch das unpassend gelbe Poloshirt mit dem unübersehbaren grünen Reptil war nicht geeignet, Waldners Einschätzung positiver ausfallen zu lassen. Roland F. Kleemann selbst, das stand zumindest auf der gereichten Visitenkarte, gab sich leider auch wenig Mühe, Waldners Eindruck zu widerlegen.
Fragen nach der Toten wich er immer wieder mit Floskeln aus. Die Frau Professor sei sicherlich eine hochkompetente Frau gewesen, die nicht nur in der Abteilung eine Lücke hinterlasse, die schwer zu schließen sei. Aber über die Chefärzte der Abteilungen könne er sonst nichts sagen, dafür sei der ärztliche Direktor zuständig. Der sei aber noch im Urlaub. Waldner traute seinen Ohren nicht. „Hat denn niemand versucht, ihn zu erreichen?" Es hatte augenscheinlich wirklich niemand versucht. „Das verstehen sie doch", entschuldigte Kleemann sich. „Der Schock…. Da denkt man an so etwas eben nicht…" Unter Professionalität stellte Waldner sich etwas anderes vor. Es kostete ihn einiges an Mühe, das Herrn Roland F. Kleemann nicht direkt unter die Nase zu reiben.
"Sie verstehen sicher, dass diese Angelegenheit eine äußerst delikate ist und wir im Interesse unseres Hauses um Fingerspitzengefühl bitten dürfen." Waldner sagte vorerst nichts und der junge Verwaltungschef schien das als Zustimmung auszulegen. "Wissen Sie, wir sind der größte Arbeitgeber vor Ort und es unseren Mitarbeitern und Patienten schuldig, negative Publicity zu vermeiden". Waldner sagte noch immer kein Wort. Wer ihn näher kannte, hätte das als das schlechte Zeichen verstanden, das es auch war, nicht aber der junge Mann ihm gegenüber. Auf höchstens vierzig schätzte Waldner ihn ein, musste sich aber nach einem Blick auf die Vernehmungsliste korrigieren. Roland F. Kleemann war schon 43 Jahre alt.
"Häuser wie das unserige haben es in der gegenwärtigen Lage schwer", fuhr er mit zunehmend jovialerem Unterton fort. "Sie können das nicht wissen, aber es gibt viel Konkurrenz im Markt und die Politik ist kleineren Krankenhäusern auch nicht gerade wohl gesonnen. Dürfen wir also davon ausgehen, dass sie bei den Ermittlungen auch an den Ruf unseres Hauses denken?" In solchen Momenten wünschte Waldner sich die Kaltschnäuzigkeit seines Fernsehkollegen Stöver, der zu seiner aktiven Zeit nie um eine Antwort verlegen war. Aber dazu musste man wohl Schauspieler sein oder das Drehbuch kennen.
Waldner war in der Regel nicht gerade nicht auf den Mund gefallen. Früher einmal war sein größtes Handicap gewesen, dass er zu schnell impulsiv reagierte. Das war der Halbitaliener in ihm, pflegte, nicht ohne eine Spur von Stolz, seine Mutter zu sagen. Wer in ihm nun wirklich dafür verantwortlich zeichnete, war ihm letztlich egal. Er hatte lernen müssen, diese Eigenschaft in den Griff zu kriegen. Mit den Jahren war ihm das gelungen. Nachdem er zweieinhalb Mal durchgeatmet hatte, sagte er so ruhig, wie es ihm nur möglich war: "Eigentlich interessiert mich nur, wer die Chefin ihrer Psychiatrie so bestialisch umgebracht hat".
Natürlich entging Waldner nicht der Hauch von Frost, mit dem sich das Klima zwischen Roland F. Kleemann und ihm schlagartig abgekühlte, die joviale Freundlichkeit war dahin. Dennoch fühlte er sich gleich um einige Stimmungslagen besser. Diesen Verbrüderungsversuch hatte er erfolgreich abgewehrt. Viel besser hätte Manfred Krug das wohl auch nicht gekonnt.
„Wenn Sie erlauben", erwiderte Kleemann, inzwischen sehr reserviert, „möchte ich mich zurückziehen. Die Fürsorgepflicht für unsere Mitarbeiter… Sie verstehen… Da stehen noch viele unter Schock…. Wenn sie noch Fragen haben, mein Büro steht ihnen gerne zur Verfügung." Etwas geistesabwesend und nicht wirklich interessiert stimmte Waldner zu. Kleemann hatte bei ihm eine Art Schalter betätigt. Mit seinen Gedanken geschah gerade etwas, das er zwar kannte, aber ihm umso weniger passte. "Siehst du, Junge", hatte er das Gefühl, seinen Stiefvater zu hören. "Das ist der Grund, weshalb du schon so lange Kommissar bist und wohl auch immer einer bleiben wirst. Dir fehlt die Gelassenheit. Du musst immer sagen, was du denkst. Manche wollen das nicht hören..."
Karl Waldner, seit dem 14. Lebensjahr sein Stiefvater, war schon immer ein eher bedächtiger Mann gewesen, Lehrer an städtischen Gymnasium, einer von denen, die ihre Arbeit mit tiefster Überzeugung verrichteten. Gerade das hatte ihm in der ersten Zeit eher Minuspunkte beim jungen Camillo Ginelli eingebracht. Gerade 13 Jahre alt geworden und als uneheliches Kind noch den Nachnamen seiner Mutter tragend, war Waldner nicht sehr erfreut gewesen, als ein fremder Mann plötzlich in sein und das Leben seiner Mutter eindrang. Bis dahin hatte es nur sie beide gegeben und natürlich ihre italienische Familie, den Großvater Dino und seine Onkels, Tanten und Cousins, die in Quackstedt eine Eisdiele und eine Pizzeria betrieben, das, was man damals als Italiener eben tat.
Sein leiblicher Vater… nun, er wusste zumindest, wo er beerdigt lag. Sein Grab besucht hatte er nie. Ohne Gründe dafür benennen zu können, es hatte nie einen Anlass dazu gegeben. Darüber nachgedacht, warum das so war, hatte er schon oft. Aber bis Karl Waldner ein neues Kapitel im Leben seiner Mutter aufschlug, schien es einfach richtig zu sein, dass er mit seiner Mutter allein war. Waldner senior war 14 Jahre älter als sie, eher das Gegenteil von ihr und die Ginellis hatten damals nicht verstanden, wieso eine temperamentvolle Italienerin sich mit einem so viel älteren Mann zusammentat, der neben ihr fast wie eine Schlaftablette wirkte. Aber neben dem Umstand, dass Waldner seinem Stiefvater einen nichtitalienischen Nachnamen und seine jüngere Schwester verdankte, hatte dieser Mann vor allem Ruhe in sein Leben gebracht, eine ganz unspektakuläre Ruhe, für die Waldner auch heute noch dankbar war. Viel Zeit war seit diesen Tagen vergangen und mittlerweile war der neue Mann im Leben der Mutter ein alter Mann von 84 Jahren geworden, im Herzen immer noch Lehrer und vermutlich würde er auch in zwanzig Jahren seinen Stiefsohn noch „Junge" nennen. Aber inzwischen pflegte dieser darüber nur noch zu grinsen und „Ja, Papa" zu sagen…
Kleemann hatte zwischenzeitlich den Raum verlassen, was Waldner nur beiläufig und ohne jedes Bedauern registrierte. Es gab nun mal Menschen, denen er nicht unvoreingenommen begegnen konnte. Kleemann gehörte dazu. Möglicherweise fehlte es ihm ja wirklich an Gelassenheit für solche Momente. Aber schließlich war er Polizist und nicht Politiker geworden. Kopfschüttelnd verscheuchte Waldner seine Gedanken. Schon nach 16.00, zeigte seine Uhr an. Und immer noch eine ganze Reihe Zeugen, die zur Vernehmung anstanden. Und ein Riesenloch, das in seinem Bauch darauf wartete, gestopft zu werden, stellte Waldner fest. Den ganzen Tag über hatte er noch keine richtige Mahlzeit gehabt. Der Kaffee fing an, ihm Sodbrennen zu verursachen. Ob Frau Weidner-Nadolny zu schätzen gewusst hätte, was er für sie aushalten musste, fragte Waldner sich insgeheim.
Ungeachtet Sodbrennen und Loch im Bauch beschloss er, die Vernehmungen mit Anstand zu Ende zu bringen. Mit einem Fingerzeig auf die Liste signalisierte er Gromitzke, den nächsten Zeugen beizubringen. Jetzt eine Zigarette, dachte Waldner sehnsüchtig. Und wenn er dafür die ganze Nacht hätte husten müssen, hätte sie ihm jemand angeboten…. Nein, das hätte ihn um Wochen zurückgeworfen. Dann lieber alter Kaffee, beschloss er und schenkte sich unter dem entsetzten Blick seines Assistenten den Rest aus der Kanne ein.
Pia Salzsieder hieß die Schwester, die in der letzten Nacht gewacht hatte. Ein etwas ungewöhnlicher Name, fand Waldner. Der Schock darüber, dass ein solches Verbrechen fast unter ihre Augen stattfinden konnte, stand ihr im Gesicht geschrieben. Es war ein junges Gesicht, Mitte Zwanzig laut Protokoll, eher jünger wirkend. Die Augen standen etwas schräg, möglicherweise asiatische Einschläge, beobachtete der Kriminalkommissar in ihm. Eigentlich ganz hübsch, etwas fürs Auge, dachte Waldner, wenn man in der richtigen Stimmung war.
War er aber nicht und auch die Aussage von Pia Salzsieder machte sie nicht besser. Während der Nacht war ihr nichts aufgefallen, keine verdächtigen Geräusche noch fremde oder zumindest für diese Uhrzeit ungewohnte Personen. Zwar lag das Arztzimmer der Toten nicht direkt auf der Station, sondern mit dem Sekretariat und anderen Funktionsräumen in einem kleinen Nebentrakt, aber auch Schwester Pia bezweifelte, dass ein Fremder unbemerkt von ihr oder ihren Kolleginnen hätte eindringen können. Der Mörder musste schon im Haus gewesen sein, schlussfolgerte sie, denn ab 22:00 waren die Türen verschlossen. Für die Folgenacht hatte Schwester Pia sich krank gemeldet.
Auch die nächsten beiden Nachtschwestern gaben ähnliche Aussagen zu Protokoll, einzig Schwester Karin, eine etwas stämmigere Frau mittleren Alters meinte, im Obergeschoss ein Geräusch gehört zu haben, wie von einem verrücktem Möbelstück oder wenn jemand seinen Stuhl zurückschiebt. Das müsse so um Mitternacht gewesen sein. Von woher das Geräusch genau gekommen war, vermochte sie nicht mit Bestimmtheit zu sagen. Nachgeschaut habe sie deshalb nicht, weil sie sich nichts dabei gedacht habe. Interessant, dachte Waldner etwas lakonisch, was in einem Krankenhaus alles geschehen konnte, ohne dass sich jemand etwas dabei dachte. Angst vor der nächsten Nacht, die hatte weder Schwester Karin noch ihre Kollegin von der Nachbarstation. "Wer auch immer das gewesen ist, kommt heute Nacht gewiss nicht wieder......"
Kapitel 2
Gegen 19:30 hatten Waldner und Gromitzke endlich ihre Sachen gepackt und waren im Begriff, das Krankenhaus verlassen. Fast gespenstisch empfand Waldner die Leere in den weiten Hallen und Fluren, die einer wie der andere aussahen. Nicht zum ersten Mal fragte Waldner sich, wie sich Menschen in einem Krankenhaus zurecht finden konnten. Nicht nur, dass es viel mehr Türen und Abzweigungen gab, als Waldner sich merken konnte, es gab auch mehrere Etagen, die beinahe wie ein Ei dem anderen glichen. Ohne die zahlreichen Wegweiser an den abgehenden Gängen hätte er sicher die ganze Nacht nach dem Ausgang gesucht. Einmal hörte er eine Tür zuschlagen, ein anderes Mal ein paar Schritte, ganz von weitem, ansonsten jedoch wirkte das Krankenhaus wie ausgestorben. Für fast dreihundert Mitarbeiter und mehr als doppelt soviel Patienten schon erstaunlich, fand Waldner. Als ob sie sich pünktlich zu Feierabend in Luft aufgelöst hätten. Im Geiste stellte er sich die Kranken vor, Reihe um reihe akkurat in ihren Betten geparkt. Ein leiser Schauer überkam ihn. Dabei wusste er natürlich, dass es keine Krankensääle mehr gab. Glücklicherweise!
Es roch eigentümlich in den Gängen, die sie durchqueren mussten. Fremdartig, undefinierbar und irgendwie doch typisch, so, wie es nur in einem Krankenhaus riechen konnte. Fast schien es, als tauchte man in eine andere Welt ein. Die wenigen Menschen, denen sie begegneten, schienen eher davonzulaufen und über all dem lag eine geradezu gespenstisch anmutende Stille, die sich bis in die große Eingangshalle erstreckte. Einzig am Ausgang tummelten sich noch einige Gestalten in hellblauen fliegerseidenen Jogginganzügen, vermutlich hatten sie sich noch am Kiosk auf der anderen Straßenseite mit dem "Nötigsten " eingedeckt. Möglichen Zuschauern den Rücken zugekehrt standen sie im Kreis beieinander. Alle hatten sie die Hände unauffällig in den Taschen ihrer Anzüge vergraben. Vermutlich war das der Hauptgrund dafür, dass es diese Anzüge überhaupt gab. Ästhetische Gründe waren es jedenfalls nicht und zum Joggen waren sie erst recht nicht zu gebrauchen. Als geübtem Beobachter entgingen Waldner natürlich nicht die flaschenförmigen Ausbuchtungen im Stoff. Die obligatorische Zigarette im Mund erinnerte Waldner unbarmherzig an seine eigene Versuchung. Seine neugierigen Blicke wurden damit kommentiert, dass der Kreis noch enger gezogen und die Hand mit der Flasche darin noch tiefer in der Tasche versenkt wurde.
Erst, als gesichert schien, das Waldner weder Arzt noch Pfleger war, ließ die Wachsamkeit nach, die Männer, fünf an der Zahl, wandten sich wieder einander und ihrem Gespräch zu und gelegentlich fand sogar eine der versteckten Flaschen den Weg aus dem Verborgenen zum Mund. Waldner bemühte sich, dezent wegzuschauen.
Hinter der gläsernen Abtrennung der Pforte saß zu Waldners Erstaunen diesmal keine Frau, sondern ein drahtiger junger Mann, jünger zuminderst im Vergleich zu Waldner. Vom Körperbau her schien er hinter der Glasscheibe irgendwie fehl am Platz, eher der Typ Bademeister. Mit den breiten Schultern und muskulösen Oberarmen hätte er auch bei Baywatch eine gute Figur gemacht, dachte Waldner. Im Vorbeigehen grüßte der junge Mann freundlich, so freundlich, dass Waldner spontan überlegte, wo er ihn eventuell schon mal verhaftet haben könnte. Auf diese Weise hatte er schon viele Bekanntschaften geschlossen und seltsamerweise war der Anteil derer, die ihn danach nichts als die Pest an den Hals wünschten, erstaunlich gering. Bei dem jungen Mann hatte er jedoch beim besten Willen keine Idee. Aber vielleicht war er einfach nur von Natur aus freundlich.
Endlich aus dem Krankenhaus heraus hatte Waldner gleich das Gefühl, viel freier durchatmen zu können. Natürlich eine Illusion, denn die Luft blieb hier wie da die Gleiche. Aber die Perspektive, heute Abend den schalen Kaffeegeschmack mit dem von ein oder zwei Weizenbier wettzumachen, beflügelte ihn in seiner Entscheidung, wohin er Gromitzke und sich lotsen würde. Heute Nacht noch zurückzufahren, um morgen in aller Herrgottsfrühe wieder nach Quackstedt aufzubrechen, das war selbst für einen notorischen Heimschläfer wie Waldner zuviel. Es war immerhin Ende Oktober, da gab es Nebel, Blätter auf den Straßen und vielleicht schon den ersten Nachtfrost. Gromitzke war es ohnehin egal, wo er schlief. Böswillige Kollegen mit arg spitzen Zungen munkelten, er könne (und würde) sogar im Stehen schlafen. Die Kollegen der hiesigen Dienststelle hatten allerdings ein Zimmer im Oldenburger Krug reserviert, so dass Gromitzke heute Nacht im Liegen würde schlafen können. Ein Doppelzimmer, leider, aber mehr gaben die Spesen einfach nicht her. Aber vorher, der Entschluss war den ganzen Nachmittag über gereift, gab es noch Knoblauchpasta bei Cesare Ginelli. Vielleicht auch noch eine Pizza als kleinen Nachschlag. Mit Kapern und Sardellen. Zum Abschluss einen doppelten Espresso spezial. Schon der Gedanke daran half, Waldners Laune anzuheben. Wozu hatte man schließlich einen Cousin mit der der ersten Pizzaadresse am Ort........
Das Restaurant von Cesare Ginelli hatte eine gute Lage, recht zentral im Bereich der Mündung der Kleinen Wiesenstraße in die Große Straße. Es war nicht weit zum Marktplatz, dem Zentrum der Stadt, wo sich neben Rathaus und Finanzamt auch mehrere Banken befanden. Anfangs hatten alle mit Kopfschütteln registriert, dass Großvater Ginelli das alte Druck- und Verlagshaus Puter kurz vor dem Abriss erworben hatte, für wenig Geld, aber mit dem richtigen Riecher, den der alte Fuchs Zeit seines Lebens für gute Geschäfte gehabt hatte. Nach dem Konkurs waren die Erben vermutlich froh gewesen, den alten Kasten überhaupt noch loswerden zu können. Es gab wesentlich schönere Häuser in Quackstedt. Aber die Lage machte es heute unbezahlbar. Der Anstrich war vermutlich in den letzten Jahren einmal erneuert worden, aber Wind und Wetter hatten schon wieder fleißig daran gearbeitet, ihre Spuren zu hinterlassen. Nachdenklich stand Waldner auf der anderen Straßenseite und versuchte, zu ergründen, weshalb er nicht einfach die Straße überquerte und mit einem einfachen „Hallo, da bin ich wieder" die Sache hinter sich brachte. So entschlossen er eben noch gewesen war, so wenig gefiel ihm jetzt das Gefühl in seinem Bauch.
Das Restaurant hatte geöffnet, etwas anderes hätte Waldner auch gewundert. Es war Dienstag, der Tag, an dem die meisten Restaurants ihren Ruhetag hatten. Nicht so bei den Ginellis. „Lasst die andern sich ausruhen, wenn wir unser Geld zählen" war eines der zahlreichen Mottos von Großvater gewesen. Er hatte nahezu für jede Lebenslage einen Wahlspruch parat gehabt, nach Waldners Eindruck einen für jede Stunde eines jeden Wochentages und für die Stunden am Wochenende sogar zwei. Und dabei immer verschmitzt gegrinst, während ihm sein schlohweißes zurückgekämmtes Haar wieder einmal ins Gesicht gefallen war.
Waldner versuchte, sich von den Gedanken an seinen Großvater abzulenken. Auf Sentimentalitäten hatte er wenig Lust, er wusste ja, wo das hinführte. Zumindest nicht zu jener Stimmung, die er sich für heute Abend gewünscht hätte und die sich von Minute zu Minute mehr ins Gegenteil verkehrte. Etwas nervös schaute er sich in der Straße um, etwas Anderes fiel ihm nicht ein. Im dem sich vermischenden Licht aus Dämmerung und Laternenschein wirkte die Straße leer, von einer kleinen Gruppe von drei oder vier Personen abgesehen, die etwa hundert Meter weiter vor dem Eingang eines benachbarten China - Restaurants standen und die Speisekarte studierten. Das Restaurant musste noch recht neu sein, bei seinem Besuch vor einigen Jahren war es ihm nicht aufgefallen. Früher hatte dort das das alte Verlagshaus der Kreiszeitung gestanden, Grundriss und Fassade sahen aber völlig anders aus. Vermutlich abgerissen und neu aufgebaut, dachte Waldner.
Noch etwas weiter auf der rechten Straßenseite hatte das Realgymnasium gestanden, wo er bis zu seinem 14.Lebensjahr zur Schule gegangen war. Schon bei seinem letzten Besuch war die Schule neuen Wohnblöcken gewichen. Vereinzelt parkten Autos am Bürgersteig, obwohl laut Verkehrsschild Parkverbot bestand. Das Straßenbild hatte sich ziemlich verändert, stellte er fest. Die alten Geschäfte aus seiner Kindheit gab es nicht mehr. Zum Beispiel der Zigarrenladen nebenan. "Soziales Kaufhaus" stand jetzt über dem Eingang. Eine Art "Second Hand" - Discounter für Harz IV - Empfänger und andere Leute mit wenig Geld, wie Waldner wusste. In Oldenburg hatte er von solchen Einrichtungen schon mehrfach in der Zeitung gelesen.
Beinahe hatte er während seiner Gedankengänge Gromitzke vergessen. Der stand noch immer stillschweigend und ohne erkennbare Regung an seiner Seite. Nicht zum ersten Mal fragte Waldner sich, woher dieser seine Geduldig nahm. Er kannte seinen Assistenten jedoch gut genug, um zu merken, dass auch sein Verständnis für Waldners Zaudern zusehends geringer wurde… So bemühte sich Waldner, seine zwiespältigen Gefühle zu beiseite zu schieben. Es war mittlerweile viertel vor neun und wenn sie nicht beide mit vor Hunger lauthals protestierendem Magen zu Bett gehen wollten, musste er durch diese Tür...
Waldner hatte das „Da Cesare" ganz anders in Erinnerung. Sauber zwar, dafür hatte Tante Sofia immer gesorgt. Aber mehr wie eine klassische Pizzeria. Etwas verkitscht, die Luft verraucht von Zigaretten und dem Steinofen, der von der Restaurantseite aus beheizt wurde. An den Wänden in kaum nachvollziehbarer Anordnung die üblichen italienischen Utensilien oder zumindest solche, die deutsche Gäste dafür halten konnten. Nichts von alledem gab es mehr, musste er feststellen, als er jetzt durch die Tür trat. Es war ein ganz anderes Lokal als das, welches er in seiner Erinnerung hatte. Toskana - Stil, helle pastellfarbene Rose- und Ocker - Töne, eine offene Glastheke am Ende des Raumes mit Frischgemüse und Fisch und eine abgetrennte Küche, von der man im Gastraum kaum etwas riechen konnte. Alles wirkte gediegen und fast fein, wie von einem Innenarchitekten durchgestylt.
Im Restaurant spielte leise Musik und nur wenige Tische waren besetzt. Üblicherweise war schon ab 17:30 geöffnet, ganz so, wie in Italien. Dafür war das Hauptgeschäft auch schon um 22:00 vorbei. Ein paar der Gäste drehten kurz den Kopf zu ihnen herüber, aber das Interesse legte sich rasch, vermutlich, weil die Neuankömmlinge niemandem bekannt vorkamen. Für einen kurzen Augenblick war er versucht, das Restaurant wieder zu verlassen, aber mit einem Seitenblick auf seinen Assistenten steuerte er auf einen freien Tisch zu, an dem er mit dem Rücken zur Wand Platz fand. Gromitzke setzte sich ihm gegenüber. Eine hoch gewachsene junge Frau, die gerade mit einem Tablett aus der Küche kam, lächelte ihnen freundlich, allerdings auch etwas müde zu. Waldner betrachtete ihre Züge, während sie das Tablett bei einem jungen Pärchen ablieferte. Die Nase war etwas scharfkantig, die dunklen, zum Pferdeschwanz gebundenen Haare und der dunkle Teint verrieten südländische Herkunft, Waldner fragte sich, ob sie möglicherweise zur Familie gehörte.
Von seinem Cousin Cesare oder seiner Frau war nichts zu sehen, vielleicht standen sie in der Küche. Die dunkelhaarige Bedienung brachte die Speisekarten und einen Korb mit Pizzabrötchen, dazu gab es, wohl als Service des Hauses, einen leicht knoblauchigen Dip. Waldner bestellte ein großes Hefeweizen, Gromitzke bevorzugte ein normales Bier und schaute seinen Chef erwartungsvoll an. Trotzdem brachte er es nicht auf Anhieb fertig, nach seinem Cousin zu fragen. Auch mit der Auswahl tat er sich schwer, erst als die junge Frau zum dritten Mal wiederkam, fasste er sich ein Herz.
„Ist Cesare auch da?" Die Worte klangen etwas heiser und gepresst und Waldner musste gegen einen großen Kloß im Hals ankämpfen. „Feigling", schalt er sich selbst. Vor was hatte er eigentlich Angst. Er hatte sich lange nicht mehr sehen lassen bei seinen Verwandten, mehr als zehn Jahre lag die Beerdigung des alten Gino Ginelli, seines Großvaters, zurück, das konnte man ihm natürlich negativ auslegen. Aber sie waren Italiener und da galt Familie als heilig. Es hatte keinen Streit gegeben und früher einmal waren sein Cousin und er unzertrennlich gewesen. Cesare war nur ein halbes Jahr älter als er und hatte ihn oft genug vor den größeren Cousins in Schutz genommen. Waldner versuchte, sich auszumalen, worauf er sich schlimmstenfalls einzustellen hatte, aber bevor er damit weit gekommen war, hörte er, wie in der Küche jemand in Baritonlage seinen Namen rief. Mit mehr Schwung als vermutlich vorgesehen ging die Tür auf und während sie noch mehrfach hin und her pendelte, fanden einige Kleidungsstücke, vermutlich Mütze und Schürze, den Weg in die Küche zurück.
„Camillo, Camillo, was für eine Freude" brüllte ein mit den Jahren sichtlich kräftiger gewordener Cesare und breitete seine Arme aus. Waldner fand kaum Zeit, sich richtig vorzubereiten, als ihn die Arme fest umschlossen. „Junge, Junge, wo bist du so lange gewesen. Doch nicht immer im Dienst…" Waldner hatte das Gefühl, als sei ihm eine Zentnerlast vom Herzen gefallen und auch, wenn er in der Umarmung kaum Luft bekam, fühlte er sich befreit und konnte nicht anders, als in Cesares Lachen einzustimmen.
„Erdrück mich nicht, du alter Mafioso", prustete er. „Sonst muss mein Kollege dich gleich verhaften." Im Augenblick machte der Kollege allerdings wenig Anstalten, seinen Chef vor dem ungleich größeren und stämmigeren Cesare zu retten. Fast hatte Waldner den Eindruck, als müsste Gromitzke mit Mühe ein Lachen unterdrücken, dabei wusste jeder auf dem Revier, dass Gromitzke gar nicht lachen konnte. Immerhin gab ihn Cesare wieder frei und holte sich vom Nebentisch einen Stuhl, auf den er sich fallen ließ.
„Lange her, mein Junge", brummte Cesare und steckte sich ungeachtet des seit kurzem geltenden Rauchverbots eine Zigarette an. Waldner lehnte kopfschüttelnd ab, als Cesare ihm auch eine anbot. Gromitzke schüttelte ebenfalls den Kopf. „Hast lange nichts von dir hören lassen. Wie geht´ s Tante Francesca und Onkel Carlo?"
„Immer noch das Übliche", erwiderte Waldner. „Sie hält ihn jung und er sie im Zaum". Carlo, das stand für Karl, seinen Stiefvater. Diesen Latinismus hatte er sich gefallen lassen müssen dafür, dass er eine Italienerin geheiratet hatte. Die Rollen hatte Waldner treffend beschrieben, das wusste sein Cousin ebenso gut wie er. Waldners Mutter war in mehrerlei Hinsicht eine echte Herausforderung für die Familie gewesen. Wild und rebellisch, in allen Dingen das Gegenteil von dem, was man von einem jungen Mädchen in den sechziger Jahren erwartete. Mit 17 Jahren schwanger und wild entschlossen, das Kind auch noch zur Welt zu bringen. Eigentlich eine Riesenkatastrophe in einer Familie, die einerseits italienisch, andererseits auch noch katholisch war. Erst recht unter den damaligen Umständen, denn sein Vater… nun, meistens dachte Waldner nicht so viel über ihn nach. „Er hat nichts getaugt", dieser Ausspruch hatte sich tief in sein Gedächtnis eingegraben.
Gesagt hatte das Großvater Ginelli, der Patron der Ginelli - Familie, zu der auch Waldner zumindest dem Blut nach gehörte. Eigentlich wäre zu erwarten gewesen, dass sich der alte Ginelli sich nach dieser "Schande" von seiner Tochter und deren „Balg" abwenden würde. Aber weit gefehlt. Dino Ginelli hatte seine einzige Tochter über alles geliebt. Vielleicht sogar ein wenig zu sehr. Seine Liebe hatte er auch auf ihn als seinen Enkel übertragen. Der Großvater war ein Fixpunkt in Waldners Leben gewesen. Wenn er wieder einmal Stress hatte mit Lehrern, mit Mitschülern, mit Cousins, mit seiner Mutter oder mit wem auch immer… Großvater Ginelli hatte ihn beiseite genommen und die Dinge wieder gerade gebogen mit seinem italienischen Charme und manchmal, so vermutete Waldner zumindest, auch mit mehr als damit… „Was auch immer sie sagen oder tun mögen, Camillo, du bist etwas ganz Besonderes…" Nicht alle seiner Cousins hatten diese Ansicht geteilt, im Gegenteil, unter manchen hatte er genauso gelitten wie unter deutschen Mitschülern. Für die einen der „Itaker", hatte die andere Seite ihn den „Tedesco" geschimpft. Nur Cesare hatte immer zu ihm gehalten und dem einen oder anderen Jungen auch mal ein blaues Auge verpasst.
"Urso", so war Cesares Spitzname gewesen, schon damals war er allen größer und stärker vorgekommen, wie ein Bär eben. Groß war er immer noch, aber mit den Jahren hatte er sich einen großen Bauch zugelegt, der sich unter seinem Hemd spannte. Bei seinem Anblick musste Waldner insgeheim mehr an ein Walross denn an einen Bären denken. "Der hängende Schnauzbart", dachte er. Daran musste es liegen.
Mittlerweile hatte Cesare Wein und Antipasti organisiert und dass Cesare etwas vom Essen verstand, zeigte sich nicht nur an seinem Bauchumfang. Obwohl Waldner heute Abend eigentlich auf ein oder zwei frische Weizenbiere eingeschworen war, ließ er sich ohne allzu großen Widerstand von der Aussicht auf ein Schätzchen aus Cesares Weinkeller verführen. Gromitzke übrigens auch und mochte anfangs auch noch ein Rest von Vernunft zur Vorsicht gemahnen und auf Uhrzeit und den morgigen Tag verweisen, war augenscheinlich die Verführung der Vernunft überlegen, nichts war mehr in der Lage, das Verhängnis aufzuhalten......
Als Waldner die Augen aufmachte, tat er das anfangs mit großer Vorsicht. Erst nur einen kleinen Spalt, dann etwas mehr und schließlich wagte er es, sie ganz aufzureißen. Entgegen seiner Befürchtung blieb er überraschenderweise von Kopfschmerzen verschont, das Licht war nicht greller als sonst und auch der Schwindel hielt sich in Grenzen, als er sich aufrichtete. Cesare musste einen wirklich guten Wein ausgesucht haben. Beherzt entstieg Waldner dem Bett und fragte sich, ob er das laute Quietschen der Matratzenfedern heute Nacht schon registriert hatte. Sicher war er sich da nicht.
In Bruchstücken vermochte er sich an die letzten Stunden zu erinnern. Nach der ersten Flasche Wein hatte es eine Zweite gegeben und eine Dritte und irgendwann hatten sie gesungen. Waldner mit Cesare in Italienisch, Gromitzke auf deutsch oder zumindest in einer Sprache, die so ähnlich klang. Immer wieder hatte Cesare ihn in die Arme geschlossen, je später es wurde, umso heftiger, Waldner konnte die Stellen gut merken, an denen seine kräftigen Hände auf seinem Rücken gelegen hatten.
"Diese Italiener", fluchte Waldner, als sich beim Räkeln seine Schultern unangenehm in Erinnerung brachten. Aber vielleicht war daran ja auch weniger Cesare als die Hotelmatratze schuld. Mittlerweile etwas wacher geworden, versuchte er, den gestrigen Abend Revue passieren zu lassen. Zumindest bei den späteren Momenten hatte er einige Mühe. "Selbst Schuld", dachte er. "Wer keine zwanzig mehr ist, sollte sich nicht so weit aus dem Fenster hängen." Dunkel erinnerte er sich an den Heimweg. Da war ein Auto gewesen, ein Taxi, da war er sich recht sicher. Mehrmals hatte er gestern Nacht schon darin gesessen, um dann aus irgendeinem Grund, der ihm zumindest gestern Abend plausibel erschienen war, wieder im Restaurant zurück zu kehren. Irgendetwas hatte Cesare gesagt, was ihm wichtig erschien, aber er kam trotz allen Nachdenkens nicht darauf. Vielleicht hatte ja Gromitzke….
Gromitzke! Siedend heiß durchfuhr es Waldner beim Gedanken an seinen Kollegen. Er hatte keine Ahnung, warum war es ihm nicht schon längst aufgefallen war, aber es war absolut still im Zimmer. Dabei konnte er sich noch dunkel daran erinnern, wie ihn Gromitzke Schnarchen gestört hatte, als er, endlich im Bett, die Augen schließen und hinfort schlummern wollte. Ein Blick zum Bett seines Kollegen verriet ihm den Grund dafür. Es war leer. Angestrengt suchte Waldner in seiner Erinnerung, ob Gromitzke etwas gesagt hatte. Eigentlich war es nicht Gromitzkes Art, sich davonzuschleichen, ohne seinen Chef zu informieren.
Fluchend nahm Waldner seine Armbanduhr vom Nachtschrank. Zwanzig nach neun. Im Grunde nicht einmal spät für eine lange italienische Nacht, dachte Waldner, aber leider zu spät für seinen Zeitplan. Schon um acht hatte er ursprünglich die Vernehmungen im Krankenhaus fortsetzen wollen. Nicht, dass er sich viel davon versprach, aber er hatte nun mal eine Liste abzuarbeiten. Und dann war da auch noch diese Frau Fraise, auf deren Telefonnummer sie gestern bei ihren Recherchen gestoßen waren. Wieder hatte Waldner das unbestimmte Gefühl, als müsse ihm etwas einfallen. Vielleicht hatte es ja mit diesem Namen zu tun. Doch so sehr er sich auch anstrengte, es wollte ihm partout nicht gelingen.
Erneut ging ihm ein Fluch über seine Lippen. Zuerst, beschloss er, war es Zeit, sich eine heiße Dusche zu gönnen. Danach einen starken Kaffe und eventuell, wenn der Speisesaal noch offen war, ein Frühstück. Seltsam, dachte er, dass er nach dieser Nacht an Essen denken konnte, dass ihm nicht einmal eine Spur übel war. Hin und wieder trank er schon ein oder zwei Weizenbier mehr, als er Durst hatte, gelegentlich auch mal für sich allein eine halbe Flasche Wein zur Pasta oder Pizza. Was man eben so tat, wenn der Tag zu Ende ging, man abends mit sich allein zuhause saß und zufällig gerade keine Betriebsversammlung, Weihnachtsfeier oder Dienstveranstaltung anlag. Waldner hatte sich mit dieser Art, zu leben, arrangiert. Seinen Idealvorstellungen von einem Privatleben kam das allerdings in keiner Weise nahe. Selbst mit einem schnarchenden Gromitzke ein Hotelzimmer zu teilen, bot da deutlich mehr an Geselligkeit.
Leider konnte man von der Dusche alles Mögliche sagen, nur nicht, dass sie heiß war. Dünnstrahlige Duschen in kalten Badezimmern, die es bei maximalem Thermostatanschlag gerade mal auf lauwarm brachten, grenzten nach Waldners Empfinden an die Verletzung von Menschenrechten. Immerhin war der Kaffee gut, heiß, stark und schwarz, so wie er ihn liebte. Ein wenig versöhnt verließ Waldner das Hotel und stieg ins Taxi, das der junge Mann an der Rezeption bestellt hatte. Gromitzke hatte das Hotel auf dem gleichen Wege verlassen, da war ein Anruf vom Krankenhaus gewesen, wie Waldner erfuhr. Loyal wie gewöhnlich hatte er seinem abwesenden Chef einen Magen - Darminfekt attestiert, was die erstaunten Blicke erklärte, als er die Riesenportion Rührei und den Kaffee vertilgte. "Spontanheilung", dachte Waldner und konnte sich ein spontanes Grinsen nicht verkneifen.
Neben dem Buffet lag das örtliche Lokalblatt, „Quackstedter Anzeiger" stand in Großbuchstaben auf der ersten Seite. Nicht erst seit heute morgen musste er dabei unwillkürlich an das „Entenhausener Tageblatt" denken. Die Zeitung war schon durch mehrere Hände gegangen, bereits durch Kaffeeflecken und Fettspuren „veredelt", zuhause hätte sie das fürs Altpapier qualifiziert. Aber Polizeiarbeit fing nun mal mit dem Lesen der Tagezeitung an, deshalb überwand Waldner seine Abneigung. Mit spitzen Fingern, fast wie bei einer kriminaltechnischen Spurensicherung, schlug er die Zeitung auf.
„Makabrer Mord im Krankenhaus"! Eine andere Schlagzeile auf der Titelseite hätte ihn verwundert. Eine Tote im Krankenhaus war um Klassen interessanter als die erneute Wiederholung des drohenden Staatsbankrottes Griechenlands oder wie Ratingagenturen die Kreditwürdigkeit anderer Euroländer beurteilten. Zumindest, wenn man nicht Grieche war oder im Finanzsektor arbeitete. „Quackstedter Ärztin las er mit Erstaunen. Augenscheinlich war der Schreiber schon weiter mit seinen Ermittlungen als die Kriminalpolizei. Bis auf die reißerische Aufmachung war der Artikel jedoch gut geschrieben, stellte Waldner beim Lesen fest. „Tragisch und unfassbar fand das Leben der in Quackstedt gut bekannten Ärztin Eva Weidner-Nadolny ein Ende. Gestern Morgen wurde sie im Dienstzimmer ihrer Abteilung, auf makabre Weise zugerichtet, tot aufgefunden. Gegenwärtig hüllt sich die Polizei über Hintergründe und Motive der Tat noch in Schweigen. Aber wie aus verlässlicher Quelle zu erfahren war, kann aufgrund der besonderen Tatumstände auch eine Beziehungstat nicht ausgeschlossen werden". Da hätte man ja gleich ein Foto von der Toten mit dem Herz zwischen ihren Brüsten in die Zeitung setzen können, dachte Waldner verärgert. Das war schon fast das Niveau der Zeitung mit den vier roten Buchstaben, die angeblich niemand las, aber die täglich zwanzigmillionenfach über den Ladentisch ging.
Immerhin, tröstete sich Waldner, hatte der Schreiber nicht von einem Ritualmord oder Menschenopfer gesprochen, wenngleich die Sache mit dem Herzen solche Phantasien beflügeln könnte. Aber für besonders wahrscheinlich hielt Waldner diese These nicht, obwohl er daran natürlich auch schon selber gedacht hatte. Zu einer rituellen Tötung passte, wie es aussah, weder das Opfer noch ihr Umfeld. Interessiert las er weiter. Entweder hatte der Autor, ein gewisser Werner Beckmann, mit Augenzeugen gesprochen oder jemanden bei der Kripo befragt, stellte Waldner angesichts der detaillierten Informationen fest. Dass manche Reporter einen guten Draht zu Polizei hatten, war nichts ungewöhnliches, man half sich manchmal gegenseitig und Waldner nahm sich vor, den Herrn Beckmann bei Gelegenheit zu kontaktieren. „Man fragt sich nicht nur, wie eine solche Tat überhaupt in Quackstedt geschehen konnte, sondern auch, wie sie in an einem Ort wie diesem möglich ist", führte der Autor weiter aus. „Das Vertrauen in die Institution Krankenhaus ist durch die Umstände dieser Tat zumindest erst einmal in nicht unerheblichem Maße beschädigt worden". Dem konnte Waldner nicht widersprechen. „Die Ermittlungen führt die Mordkommission der Kriminalpolizei Oldenburg unter Kriminalhauptkommissar Waldner, dem Vernehmen nach Spezialist für besondere Fälle". Fast blieb ihm der letzte Bissen Rührei im Halse stecken, als er seinen Namen in der Zeitung las. Augenscheinlich waren die Kontakte von Herrn Beckmann noch besser, als Waldner gedacht hatte. Neu war ihm allerdings, dass er Spezialist für besondere Fälle sein sollte. Umso mehr war er gespannt darauf, was dieser Herr Beckmann ihm berichten konnte.