Mord in bester Lage - Hermann Brands - E-Book

Mord in bester Lage E-Book

Hermann Brands

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Beschreibung

Kriminalhauptkommissar Camillo Waldner hat einen sehr speziellen Ruf bei seinen Kollegen bei der Mordkommission in Oldenburg. Er ist hartnäckig, bisweilen sehr unorthodox in seinen Methoden und leider ohne besonders glückliche Hand, was Beziehungen angeht. Zudem hasst er alles, was mit Wasser und Meer zu tun hat. Doch ausgerechnet er wird dazu verpflichtet, einen ominösen Skelettfund auf Langeoog zu untersuchen. Alles andere als begeistert lässt er sich auf den Fall ein. Schnell zeigt sich, dass dieser scheinbar alte Fall Verbindungen zu hochaktuellen Ereignissen auf Langeoog hat. Auf der Insel, wo die Uhren anders ticken wie auf dem Festland, muss Waldner sich mit den Abgründen und Wirrnissen eines alten Familiengeheimnisses auseinandersetzen.

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Seitenzahl: 410

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Mord in bester Lage

Mord in bester Lage

Mord in bester Lage

Vorwort

Langeoog-Krimis gibt es mittlerweile in vielfältiger Ausgabe, jeder Autor, der schon einmal auf der Insel war, scheint irgendwann von diesem Ort so geflasht zu sein, dass er sich genötigt fühlt, diese Erfahrung schriftlich aufzuarbeiten. Mir ist es da nicht anders gegangen. Wenn man zu einem Ort eine Beziehung entwickelt, entsteht das Bedürfnis, ihn auf irgendeine Weise zu verewigen, ihm sozusagen einen persönlichen Stempel aufzudrücken. Das in etwa habe ich wahrscheinlich auch in dieser Geschichte versucht.

Wie oft ich schon auf der Nordseeinsel Langeoog gewesen bin? Ich habe es nicht nachgezählt. Vermutlich wäre es möglich, würde aber wenig ändern. Allein die letzten fünfundzwanzig Jahre bin ich regelmäßig als Teilnehmer an der ärztlichen Fortbildung auf der Insel gewesen. Die Kinder haben hier einen Teil ihrer Lebenszeit verbracht. Familientreffen haben hier stattgefunden. Zehntausende Fotos sind hier entstanden. Manchmal beschränkte sich die Anwesenheit auf einmal im Jahr, manchmal auf zweimal, vor ein paar Jahren habe ich es auf viermal innerhalb eines Jahres gebracht. Am ehesten könnte das vermutlich mein Vermieter und Gastgeber nachvollziehen, der über seine Gäste, wie ich weiß, akribisch Buch führt und für einige Stammgäste Kisten in Verwahrung nimmt, in denen sie Dinge hinterlassen, die sie nicht jedes Mal hin und zurück schleppen möchten. So eine Kiste haben meine Frau und ich auch.

Die Insel hat sich im Laufe der vielen Jahre gewandelt. Bürgermeister wechselten Kneipen, Restaurants und Geschäfte sind gekommen und wieder verschwunden, ich kann mich zum Beispiel noch an den alten „Dwarsloper“ an der Barkhausenstraße am Aufgang zum Haus der Insel erinnern. Oder an das alte „Stuurhus“ sowie die Schiffsmodelle im „Sturmeck“, vor denen sich mein Sohn bei seiner ersten Mutter-Kind-Kur die Nase am Fenster plattgedrückt hat. Ebenso an manche Dinge, von denen man gar nicht mehr erwartet hätte, dass sie irgendwann nicht mehr da sind, man denke nur an das alte Inselinternat, das noch Jahrzehnte nach seiner Schließung hinter einer immer höheren Hecke aus der hier heimisch gewordenen Kamtschatka-Rose im Dornröschenschlaf lag, bis es dann irgendwann doch noch recht überraschend verschwand.

Ebenso gilt das für den alten Seenotrettungsbeobachtungsposten am Dorfrand, dessen Rückbau leider nicht gerade zu einer Verschönerung der Landschaft geführt hat. Dort oben auf der Düne am Eingang zum Pirolatal wäre sicher noch Luft nach oben, wie man so sagt. Streiten kann man sich bestimmt auch darüber, ob die Insel den künstlichen Hügel inklusive Aussichtspunk zwischen Schniederdamm und Startbahn mit Blick auf Golfplatz und Flugplatz gebraucht hätte, aber jetzt, wo er schon mal da ist, bin ich natürlich oben gewesen. Ich bin überzeugt, es gibt markantere Punkte auf der Insel, die eine noch beeindruckendere Aussicht ermöglichen. Und immerhin bleibt das Rätselraten spannend, was wohl zu den Füßen begraben liegt…

Langeoog hat wunderschöne Flecken, zu meinen Favoriten gehört neben Flinthörn und Hafen eindeutig das Ostende mit seinem endlosen und zumeist menschenleeren Strand. Mindestens einmal pro Aufenthalt zum Ostende und dann über den Naturpfad zum Strand, das ist jedes Mal Pflicht. Und dass ein ausgedehnter frühmorgendlicher Strandspaziergang wunderbar geeignet ist, die Zeit zu vergessen und den Kopf frei zu bekommen, wird nicht nur meinem Protagonisten Waldner aufgegangen sein. Kurzum, Langeoog genießt, wie hoffentlich auch eventuelle Leser bemerken werden, meine ganz ganz große Sympathie.

Vielleicht auch deshalb ist es fällig gewesen, diese Geschichte um meinen Kommissar Waldner zu erdenken, der, wie ich versichern möchte, völlig frei erfunden ist, ganz genauso wie alle anderen handlungstragenden Personen in dieser Geschichte. Sollte sich der Eindruck ergeben, irgendjemand von diesen ersonnenen Figuren ähnelt jemandem, der tatsächlich auf dieser Insel lebt, ist das weder beabsichtigt noch gewünscht. Die Geschichte ist einfach nur eine Geschichte, geschrieben, um meiner Lieblingsinsel Langeoog ein persönliches Denkmal zu setzen und meiner Phantasie den Lauf zu lassen, den zu erlauben wir im normalen Alltag selten in der Lage sind.

Üblich ist es übrigens, sich bei Beendigung eines Buches zu bedanken. Ich tue das sehr gerne und möchte dabei die Reihenfolge nicht als Rangfolge für die Wichtigkeit verstanden wissen. Besonderen Dank verdient hat meine Tochter Lena, die sich Zeile für Zeile und Satzzeichen für Satzzeichen durch diese Geschichte kämpfen musste. Dank verdient darüber hinaus meine Frau Anette, die beinahe immer mit auf Langeoog gewesen ist und so manche Stunde darauf verzichten musste, mich ansprechen zu können. Danken möchte ich auch der Ärztekammer Niedersachsen, weil sie zum einen oft Anlass für meinen Aufenthalt auf der Insel gewesen ist und gleichzeitig die Vorlesungen so gestaltet hat, dass ich nebenbei noch Zeit zum Schreiben hatte. Wer behauptet, dass man als Mann nicht auch Multitasking kann? Dank letztendlich auch der Insel Langeoog, den Menschen auf der Insel, der einen oder anderen Kneipe und meinem Vermieter, der mir ermöglicht hat, auf dieser Insel ein Dach über dem Kopf zu haben.

Sollte es dennoch irgendjemanden geben, der sich in dieser Geschichte wiederzufinden glaubt, vielleicht sogar missverständlich dargestellt oder gar verunglimpft, ich bin gerne bereit, dies Fragen bei ein oder zwei Gläsern Jever, je nach Schwere des Problems, im Strandkrabbler persönlich aufzuarbeiten. Obwohl, da fällt mir gerade ein, den gibt es ja gar nicht, auch der ist völlig fiktiv und erfunden…..

Hermann Brands

Im Juni 2018

Kapitel1

Mittwochabend

Die Insel hatte vergessen, dass es Sommer werden sollte. Das Wetter war lausig kalt, viel zu kalt für Anfang Juni. Den ganzen Tag über hatte sich die Sonne rar gemacht, nur gegen Abend schien sie genügend Mut gefunden zu haben, sie sich ein wenig zwischen den dunklen Wolken hervorzuwagen und ein wenig Farbe in den trüben Tag zu bringen. Der Wind, der unentwegt irgendwo zwischen Windstärke 2 und 4 herum lavierte, ließ die 11 Grad, die das Thermometer an der Apotheke anzeigte, noch um einige Grade kälter erscheinen. Es war so kalt, dass niemand Lust hatte, draußen zu sitze. Nicht einmal die Spatzen, die sonst keine Gelegenheit ausließen, um das, was von den Tischen fiel, zu stibitzen, ließen sich sehen. Als die Finger begannen, steif zu werden, während sie das Bierglas hielten, hatte Wegener sich beeilt, einen freien Tisch im Innenraum des Strandkrabblers zu ergattern, als sich die Gelegenheit dazu ergab. Es war ein Vierertisch auf der Empore, an dem sie auch zu fünft Platz fanden. Von hier aus konnte man bequem durch das große Fenster auf die Straße blicken, auf der immer noch zahlreiche Passanten jeglichen Alters und Geschlechts hin und her eilten, um sich vor dem einsetzenden Regen in Sicherheit zu bringen. "Schietwetter", brummte Kalle Häring zu seiner Rechten, der noch dichter am Fenster saß und schon den ganzen Tag über bei eher schlechter Stimmung war. "Inselwetter", korrigierte Matze Wassmann seinen Kollegen, nicht weniger einsilbig als dieser. Mittenhöfer und Uhlendorf nickten zustimmend und Wegener stellte eine ungewohnte Einigkeit an ihrem Tisch fest.

Da ohnehin nicht das Meiste gesprochen wurde, ließ Wegener seinen Blick weiter durch die Kneipe schweifen. Der neue Anstrich war ihm schon vor zwei oder drei Jahren aufgefallen, ansonsten waren es eher Kleinigkeiten, die sich geändert hatten. Der Strandkrabbler war eines der konstanten und verlässlichen Dinge auf dieser Insel, die sich in den letzten Jahren mit zunehmender Geschwindigkeit zu verändern schien. Anders als bei seinen vier Kollegen war dies nicht sein erster Aufenthalt hier. Er war in Wittmund geboren und schon deshalb öfter auf der Insel gewesen. Und als Kind auch schon einmal vier Wochen lang in den Genuss einer Kinderkur gekommen, in einem der Häuser am Süderdünenring. Zudem hatte er schon sieben oder achtmal an den Kursen für ärztliche Fortbildung teilgenommen, die jedes Jahr auf der Insel stattfanden. Genau konnte er das nicht sagen, aber er nahm sich vor, das bei Gelegenheit genau nachzuzählen, um in Zukunft für ähnliche Fragen gewappnet zu sein.

Der Gastraum war für die Uhrzeit ungewöhnlich leer, nicht einmal jeder Tisch war besetzt. Normalerweise drängten sich während des "Dämmerschoppens" viel mehr bierdurstige Besucher in der Kultkneipe, um sich bei etwas reduzierten Preisen den einen oder anderen Krug mehr zu gönnen. Das war schließlich auch der Grund, weshalb Wegener und seine Freunde hier saßen. Wang brachte eine neue Lage Bier an ihren Tisch. "Prost", sagte Matze und griff als erster zu seinem Krug. "Wir sind schließlich nicht zum Spaß hier". Eigentlich hatte Wegener bislang genau das Gegenteil angenommen. Er bezweifelte, dass sich Wassmann übermäßig mit seinem Bier quälen musste. "Zum Wohl", erwiderte er deshalb mit breitem Grinsen, während die anderen es ihm gleichtaten. Es war Mittwoch und somit schon wieder der vorletzte Abend ihrer gemeinsamen Kurswoche. Drei von ihnen planten schon für Freitag ihre Abreise. Wegener hatte seine Wohnung bei Hinnerk Steffens wie in jedem Jahr bis zum Sonntag gemietet, Kalle Häring fuhr am Samstag. Dann würde diese Woche bereits wieder Geschichte sein, im Grunde viel zu schnell dafür, dass sie mehrere Jahre gebraucht hatten, um sich endlich einmal alle auf dieser Insel zu treffen. Aber schließlich war dieser Abend noch nicht vorbei und der Letzte noch nicht einmal angebrochen. Das bedeutete auch noch einen weiteren Dämmerschoppen für ihre gemeinsame Fünferrunde. Und noch eine ganze Reihe von diesen Halbliterkrügen mehr, dachte er und nahm einen weiteren kräftigen Schluck.

Allmählich bekam Wegener Hunger, die einzige Mahlzeit heute war ein eher spärliches Frühstück vor der Vorlesung gewesen, die er, anders als seine vier Kollegen, besucht hatte. Und ein Crêpe in der Barkhausenstraße, irgendwann um die Mittagszeit, aber der zählte kaum und war ohnehin nur lauwarm gewesen, der Käse innen nicht einmal halbwegs geschmolzen. Glücklicherweise begann in ein paar Minuten die Pizza-Hour, sozusagen die Fortführung des Dämmerschoppens mit anderen Mitteln. Wie er seine Freunde kannte, ging es ihnen und ihrem Bauch ähnlich wie ihm. Das hatte an den letzten Abenden dazu geführt, dass sie einfach sitzen geblieben waren, um die hauseigene Pizzakarte durchzutesten. Alle zumindest, bis auf Kalle Häring, der unverständlicherweise etwas gegen Pizza zu haben schien. Dafür schwor er auf den Labskaus, der hier serviert wurde, eine zumindest optisch schwer definierbare rote Masse mit Fischaroma, womit wiederum Wegener nach dem dritten Abend allmählich seine Probleme hatte. Er zog es jedoch vor, das für sich zu behalten. Leben und leben lassen war in dieser Woche die Devise.

An ihrem Tisch herrschte seit einigen Minuten Stille, was er im Augenblick nicht einmal als unangenehm empfand. Wenn man sich schon über so eine lange Zeit kannte, wie es bei seinen Freunden und ihm der Fall war, brauchte es nicht unbedingt Worte, um sich etwas mitzuteilen. Und so viel gab es im Augenblick auch wohl nicht zu sagen. Wieder ging Wegeners Blick durch den verwinkelten Raum. Er beobachtete Wang bei seiner Arbeit. Langsam begannen sich die Tische mit Gästen zu füllen. Der Strandkrabbler war nicht besonders groß, bot vielleicht Platz für etwa dreißig bis vierzig Personen im seinem Innenraum. Bei gutem Wetter konnten noch einmal doppelt so viele Gäste Platz unter der überdachten Terrasse finden, was heute auch den besonders Hartgesottenen keinen rechten Spaß bereiten dürfte. Bei gutem Wetter allerdings hatten Wang und seine Kollegen richtig Stress. Im Augenblick schien das Arbeitstempo noch eher ein gemütliches, wie Wegener fand. So wie gestern Abend, als sich einer der Kellner fast eine halbe Stunde zu ihnen gesetzt hatte. Einen Namen hatte er auch gehabt, Gerd oder Georg, oder so ähnlich, es war schon zu späterer Stunde gewesen. Heute war er anscheinend nicht da. Hoffentlich hatte er ihrethalben keinen Ärger bekommen, dachte Wegener mit einem Anflug von Besorgnis.

„Wollen noch eine letzte Lunde?“ Wang sorgte gut für sie, in wenigen Minuten war es sechs Uhr, das Ende des Dämmerschoppens. Einmütig nickten alle fünf, obwohl mittlerweile keiner von ihnen des Durstes wegen trank. Der war bei dem kalten Wetter ohnehin nicht so groß gewesen. Aber, dachte Wegener grinsend in Abwandlung des bekannten Werbespruches, wie das Bier, so die Leute… Er hatte mit den vier anderen zusammen studiert, vor vielen Jahren, fast schon nicht mehr wahr, wenn man es genau nahm, in einem ganz anderen Leben. Auf jeden Fall mehr als fünfzehn Jahre her, denn so lange arbeitete er schon als Chirurg und schon über 10 Jahre am evangelischen Krankenhaus in Oldenburg. Aber der Kontakt zu den alten Studienkollegen war nie abgerissen, auch, wenn sie über ganz Deutschland verteilt waren.

Kalle Häring, außer ihm der einzige Norddeutsche, schaffte in Berlin an der Charité. Er war in Emden groß geworden, eigentlich ein Katzensprung von hier, eigentlich hätte er sich mit diesem Wetter auskennen sollen, aber gerade er schien momentan besonders genervt davon zu sein. Klaus Mittenhöfer kam von besonders weit weg, ihn hatte es in eine Praxis in Ludwigsburg verschlagen. Er sprach schon beinahe wie ein echter Schwabe und zeigte auch vom Gemüt her eine gewisse Ähnlichkeit mit diesen. Lutz Uhlendorf und Matze Wassmann waren beide in Hannover geblieben, der Stadt, in der sie gemeinsam studiert hatten. Und gefühlt seit über zehn Jahren hatten sie schon geplant, gemeinsam an dieser Fortbildungswoche teilzunehmen, von der Wegener ihnen immer wieder vorgeschwärmte. Gar nicht mal des Lernens wegen, dazu gab es Kongresse und andere Möglichkeiten. Vielmehr deshalb, um in diesem Rahmen mal wieder die alten Zeiten aufleben zu lassen und jenes Gefühl, dass diese Zeit damals zu einer besonderen, irgendwie weniger beschwerlichen und einfacheren gemacht hatte. Was ihnen allerdings doch mehr Probleme bereitete als gedacht, wie sie hatten feststellen müssen. Das Bier trieb sie inzwischen schneller zur Toilette als früher, wo es mehr oder weniger zu den Grundnahrungsmitteln gehört hatte. Gestern waren sie mit dem Rad zum Ostende der Insel gefahren und auf dem Rückweg hatten sie sich ganz schön gegen den ablandigen Wind abrackern müssen. Klaus hatte sich den Hintern wund gesessen. Auch sonst hatte die Zeit ihren Tribut gefordert. Matzes Gesicht hatte sich weit bis auf seinen Hinterkopf ausgedehnt, bei Kalle begannen Bart und Schläfen einen unübersehbaren Silberschein anzunehmen und Lutz… nun, der hatte von ihnen allen den größten Zugewinn gemacht, zumindest, was sein Gewicht anging.

Dennoch, trotz des Inselwetters, das eher in den April gehörte, wund gewordenen Körperstellen in ungünstiger Lage und des gehäuften Ganges zur Toilette, der Gedanke, übermorgen schon wieder auseinanderzugehen, stimmte traurig. Alle waren sie Anfang bis Mitte vierzig, ein Alter, in dem man feststellen musste, dass die biologische Uhr lief, unaufhaltsam und leider ohne Nachsicht. Derzeit vernahm man ihr Ticken noch nicht übermäßig laut, aber es war auch nicht mehr zu überhören. Keiner von ihnen war von Blessuren verschont geblieben, zwei aus ihrer Mitte hatten bereits eine Scheidung hinter sich und nur noch Wassmann beide Eltern. Kalle Häring musste vor ein paar Jahren eine echte Lebenskrise durchmachen, die ihm bisweilen auch heute noch anzumerken war. Er sprach nicht viel darüber, eigentlich überhaupt nicht und auch Wegener erinnerte sich höchst ungern an diese Episode, die auch ihm als Freund viel abverlangt hatte. Da waren diese Abende auf der Insel etwas Besonderes, ein Innehalten, so, als hätten sie die Uhr für eine kurze Zeit angehalten. Und das war mit Sicherheit jede der Runden wert gewesen, die sie sich hier von Wang und seinen Kollegen hatten servieren lassen, dachte Wegener.

Aus irgendeinem Grund kam ihm unvermittelt Albert Einstein in den Sinn. In den Dreißigerjahren des letzten Jahrhunderts hatte dieser die Relativitätstheorie entwickelt, die unter anderem besagte, dass die Zeit umso langsamer verging, je mehr man sich der Lichtgeschwindigkeit näherte. Ganz richtig begriffen hatte Wegener diese Theorie nie, aber er fragte sich, ob Einstein seinerzeit geahnt hatte, dass es hier, bei wesentlich weniger Aufwand, ein ähnliches Phänomen gab…

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Ohne den Hauch eines Erbarmens schien das Tageslicht in Wegeners Gesicht. So sehr, dass er es nicht mehr ausblenden konnte. Wenngleich er genau das schon seit geraumer Zeit versucht hatte. Er hatte wohl beim Heimkommen vergessen, die Vorhänge zuzuziehen. Noch etwas weiter entfernt von seiner normalen Denkgeschwindigkeit brauchte er entsprechend lange, bis er das Problem begriff. Zum ersten Mal in dieser Woche hatte Wegener verschlafen, aber dafür nicht nur die Frühvorlesung, sondern auch den Beginn seiner Arbeitgruppe. Er fluchte laut und sprang aus dem Bett, was er besser gelassen hätte. Der Stuhl mit seiner Kleidung von gestern Abend lag direkt auf der Seite neben seinem Bett und sein kleiner Zeh hatte zielsicher eines der liegenden Stuhlbeine getroffen. Als der erste Schmerz vorbei war und Wegener sich vergewissert hatte, dass der Zeh noch in die gleiche Richtung zeigte wie immer, sprang er nach kurzer Katzenwäsche in Socken und Jeans. Dann fischte er ein frisches T-Shirt aus dem Koffer, den er praktischerweise gar nicht erst ausgepackt hatte. Das machte er schon seit einigen Jahren so, nachdem er entdeckt hatte, dass unabhängig von der Größe des Koffers die meisten mitgebrachten Kleidungsstücke ohnehin ungebraucht die Rückreise antraten. Deshalb ließ er alles im Koffer und nahm nur heraus, was er gerade benötigte. Auf die letzten Jahre hochgerechnet war so mit Sicherheit eine Zeitersparnis von mehreren Stunden zusammengekommen und was im Koffer Knitterfalten erwarb, wurde im Verlauf des Tragens durch die Wärme des Körpers von selber wieder glatt.

Glücklicherweise waren die Schnürsenkel locker gebunden, das hatte er sich auf den Festivals angewöhnt, die er regelmäßig besuchte. Er konnte so in seine Schuhe hineinschlüpfen, ohne sich bücken zu müssen. Nach Frühstück stand ihm ohnehin der Sinn nicht, mit einer Hand griff er seinen Rucksack, mit der anderen seine schwarze Fleecejacke, die seltsamerweise nicht an der Garderobe hing, sondern unachtsam fallengelassen neben selbiger auf dem Boden lag. Kopfschüttelnd kramte er in seiner Erinnerung, aber Einzelheiten hinsichtlich seines Heimkommens blieben im Dunkel verborgen. Gut möglich, dachte er mit einem leisen Seufzer, dass sie es gestern ein wenig übertrieben hatten. Selten genug, dass er sich nicht mehr recht erinnern konnte. Selbst der Andere, der ihm aus dem Spiegel neben der Garderobe mit kleinen Augen entgegenblickte, konnte ihm im Augenblick nicht weiterhelfen. Er war gespannt, mit welchen Blessuren seine Freunde die Nacht überstanden hatten. Mit etwas Widerwillen dachte er daran, dass sie sich gegen 14 Uhr schon wieder auf ein Bier im Strandkrabbler verabredet hatten, das hatte er nämlich nicht vergessen. Aber einstweilen wollte er noch den Rest seines Vormittagsprogramms retten, soweit das möglich war. Und dann... Man würde sehen müssen...

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Es gab Tage, da lief einfach alles schief, dachte Wegener angenervt. Gerade hatte er sich eine Ermahnung von einem jungen Dorfpolizisten anhören müssen, sicher 10 Jahre jünger als er, weil er mit seinem Rennrad durch die verkehrsberuhigte Zone gefahren war. Zugegeben mit etwas mehr Speed, aber schließlich hatte er gute Bremsen. Dennoch hatte er sich vordergründig zerknirscht gegeben, um den Beamten zufrieden zu stellen. Mit nur teilweisem Erfolg, zwar hatte er kein Bußgeld zahlen müssen, seinen Namen und Adresse hatte sich der Beamte jedoch notiert. "Für den Wiederholungsfall", hatte er erklärt.

Das Seminar war schon weit fortgeschritten, als Wegener endlich bei der Spöölstuv angelangt war, eigentlich eine Art Kindertagesstätte, aber während der Tagungswoche fanden auch hier Kurse für Ärzte statt. Nicht zuletzt lag die Verspätung auch daran, dass er auf dem Platz vor dem Haus der Insel einen Kollegen aus Oldenburg getroffen hatte. Glücklicherweise waren die Bremsen an seinem Rad optimal gewartet und frisch eingestellt, so dass es bei einem symbolischen Treffen blieb. Und zu ihrer beider Glück hatte der Kollege noch rechtzeitig und laut genug gebrüllt, um Wegener aus seiner Lethargie zu reißen. Und zu Wegeners Glück hatte ihn der Kollege gleich nach dem ersten Schreck erkannt, was ihm zumindest den Rest der nicht gerade schmeichelhaften Schimpftirade ersparte. Mit einer hastig dahin gemurmelten Entschuldigung und dem Solidarbonus unter Kollegen war dieser Teil rasch geklärt, aber dafür kam er nicht umhin, sich hinsichtlich des aktuellen Kliniktratsches auf den neuesten Stand bringen zu lassen. Aber das konnte er schlecht als Erklärung für sein spätes Erscheinen anbringen, fand er.

Wäre es nach ihm gegangen, hätte er seinen Platz in der Runde so unauffällig wie möglich eingenommen und für die letzte halbe Stunde komprimierte Aufmerksamkeit an den Tag gelegt. Leider gab es Wünsche, die sich schneller als unerfüllbar herausstellten, als es einem lieb war. Davon zeugte schon die plötzliche Stille, die sich abrupt im Seminarraum ausbreitete, kaum, dass er die Tür hinter sich geschlossen hatte. "Guten Morgen," begrüßte ihn die junge Kursleiterin und die plötzliche Aufmerksamkeit aller Kursteilnehmer ließ seine Gesichtsfarbe in ein kräftiges Rot umschlagen. Vielleicht lag es aber auch nur daran, dass es im Raum deutlich wärmer war als draußen. Halblaut murmelte er etwas von einem "anderen Termin", wohl wissend, dass ihm das kaum jemand abnehmen würde. Aber es klang besser, als zugeben zu müssen, dass er verschlafen hatte, weil er die Menge Alkohol am Vorabend nicht vertragen hatte.

Schon nach den ersten Minuten seiner Anwesenheit war die Hoffnung dahin, dass sich das Aufstehen trotz der erschwerten Startbedingungen an diesem Morgen gelohnt hatte. Je länger er sich bemühte, den Ausführungen der Kursleiterin zu folgen, umso mehr hatte er das Gefühl, sich in einem Raum zu befinden, in dem nach und nach sämtliche Jalousien heruntergingen. Die junge Frau mochte sich vielleicht redlich abmühen, aber ihr Vortrag war grottenschlecht. Symptomkontrolle in der Schmerztherapie hatte das Thema gelautet. Davon hatte er sich einiges mehr erwartet, war das Fazit am vierten Kurstag. Selbst wenn man berücksichtigte, dass er selbst nicht gerade optimal in diesen gestartet war. Aber schließlich war dies nicht seine erste Fortbildung und ihm fiel nichts ein, was ihn jemals ähnlich wenig berührt hatte. Sein augenblickliches Gefühl mit Enttäuschung zu beschreiben, traf es nicht. Es fühlte sich noch anders an, darüber musste er noch nachdenken. Immerhin, er bezahlte dafür. Er opferte seine Zeit. Er saß hier mit noch immer etwas dumpfen Druck im Kopf und dazu mit der Unsicherheit, ob das den Rest des Tages anhalten würde. Wobei zumindest für letzteres die junge Frau vor ihnen nicht verantwortlich war. Aber auch das half nicht, seine Laune zu bessern.

Nach einer knappen Stunde zeichnete sich ein Licht am Ende des Tunnels ab, heute Morgen mehr als an jedem anderen der bisherigen Kurstage dringlichst ersehnt. Zu seinem Leidwesen jedoch wieder einmal später als vorgesehen. Wie an jedem der bisherigen Vormittage schaffte es die Kursleiterin mit erstaunlicher Konsequenz, das Seminar um zehn Minuten zu überziehen. Wobei das in erster Linie nicht ihr selbst anzulasten war, sondern einigen Teilnehmern, die besonders fortbildungseifrig waren - oder sich einfach nur gerne reden hörten. Wegener selbst hatte sich noch nie merken können, wer wann in welcher Publikation eine abweichende Meinung vertreten hatte, aber einige Kollegen konnten das. Zufällig auch immer dieselben. Glücklicherweise war er nicht der einzige, der entnervt mit den Augen rollte, sonst hätte er womöglich anfangen müssen, an sich zu zweifeln. Besonders die grauhaarige Kollegin aus Süddeutschland, neben die er sich heute hatte setzen müssen, warf ihm einen verzweifelten Blick zu. In einer der Kaffeepausen hatte er sich schon mal mit ihr unterhalten, daher wusste er ihren Blick zu deuten. Er zuckte vielsagend mit den Schultern, zog es aber vor, sich dem Unvermeidlichen zu ergeben. Beinahe fühlte er sich in einen Film versetzt, den er kürzlich, auch zum wiederholten Mal, gesehen hatte. Ein misanthroper Reporter musste in einer winterlichen Kleinstadt über das Murmeltier Phil berichten und erlebte an jedem Morgen mit dem Weckerklingeln den gleichen Tag aufs Neue. Ganz wie in diesem Kurs, dachte er missmutig. Als die Kursleiterin endlich mit allmittäglichen Erstaunen feststellte, dass die Zeit wohl um sei, beeilte sich Wegener, an die frische Luft zu kommen, bevor er Gefahr lief, sich in einer weiteren Zeitschleife zu verfangen. Seine grauhaarige Kollegin tat es ihm gleich. "Ein äußerst bemerkenswerter Kurs, nicht wahr?", raunte sie ihm im Vorbeigehen zu, gerade noch laut genug, dass es die meisten Anwesenden hören konnten. Wegener verzichtete wohlweislich auf einen Kommentar, aber immerhin war alle Müdigkeit verflogen. "Einen schönen Tag noch", rief er, bereits in der Tür, mit einem Blick zurück den Kollegen im Kursraum zu. Es war einfach nicht zu fassen, aber diese waren immer noch lebhaft mit ihrer Diskussion beschäftigt.

Endlich im Freien, musste er zuerst einmal tief durchatmen. Was, nach einigen Litern frischer Nordseeluft, auch seinem Kopf zugutekam. Er spürte, wie der Druck nachließ, so dass er wieder Hoffnung für den Rest des Tages zu schöpfen begann. Zum ersten Mal an diesem Morgen registrierte er, dass es nicht mehr regnete und die Luft nahezu still geworden war. Fast konnte man den Eindruck gewinnen, dass sich das Wetter nach den letzten leidigen Tagen entschlossen hatte, Wiedergutmachung an den Inselgästen zu leisten. Warum ihm das nicht schon auf dem Weg zum Kurs aufgefallen war, blieb vorerst ein Rätsel. Vielleicht waren seine Antennen noch im "Standby" gewesen. Das begann sich gerade zu ändern. Der Geruch von Salz begann, in seine Nase zu steigen. Er wagte einen Blick zum Himmel. Der war überwiegend blau, ein paar Schäfchenwolken sorgten für die nötige Abwechslung und wo kein Wind war, wärmte die Sonne sogar ein wenig. Irgendwo da draußen hörte er einen Hubschrauber. Vielleicht ein Inselrundflug, weil es nach Tagen endlich wieder gute Sicht gab. Oder ein Urlauber, der rasch aufs Festland ins Krankenhaus musste, das kam öfter vor, wie er wusste. Hier auf der Insel ließen sich nur die banalen Krankheiten versorgen. Und nach Langeoog kamen auch viele ältere Gäste. Das mit dem besseren Wetter war auch Anderen nicht verborgen geblieben, wie Wegener bemerkte. Deutlich mehr Menschen als in den letzten Tagen waren unterwegs. Vor allem Eltern mit kleinen Kindern, die mit selbigen in voll bepackten Bollerwagen über die rot gepflasterten Wege dünenaufwärts in Richtung Strand zogen, beherrschten das morgendliche Bild. Oder vielleicht doch eher das mittägliche, korrigierte er sich mit Blick auf die Uhrzeit. Wobei ihm plötzlich einfiel, dass er immer noch nichts gegessen hatte.

Wegener war mehr als erstaunt, wie viele Dinge sich in weniger als zwei Stunden erledigen ließen. Er begann, eher aus einem spontanen Bauchgefühl heraus, mit einem Crepe am Stand an der Barkhausenstraße, gefüllt mit Käse und Schinken. Diesmal, wie er wohlwollend feststellte, war der Käse anständig geschmolzen. Genau so musste ein Crêpe zu schmecken, fand er und fühlte sich wenigstens zum Teil wieder versöhnt. Direkt im Anschluss folgte ein Fischbrötchen oder zumindest etwas, das unter diesem Titel angeboten wurde. Er glaubte, Seelachs herauszuschmecken. Und natürlich Remoulade in nennenswerter Menge, was ihn gegenwärtig nicht sonderlich störte, weil etwas in ihm ungewohnt heftig nach etwas Salzigem verlangte. Den Preis fand er, für Inselverhältnisse, recht moderat, da war er durchaus Anderes gewohnt, wenn der gewöhnliche Langeooger die Touristensaison nutzte, um sich seinen Anteil an dem zu sichern, was die Touristen in ihren Taschen trugen. Immerhin kam außerhalb dieser Zeit sonst kaum etwas in die Kasse.

Im Vorbeigehen leistete er sich noch einen "coffee to go" im Inselcenter, so ziemlich das einzige, was es sich dort seiner Überzeugung nach zu kaufen lohnte. Allerdings schienen das viele Menschen anders zu sehen, dachte er, während er in der Schlange vor der Kasse stand. Das Inselcenter war eine Art Andenken- und Souvenirladen, vollgestopft mit Porzellanwassertürmen, Plüschseehunden und allen Dingen, auf denen sich das Logo von Langeoog unterbringen ließ. Also alles das, was kein Mensch brauchte, sah man einmal von Zahnpasta und Wasser in PET – Flaschen ab. Und von dem Kaffee natürlich, der tatsächlich richtig gut war. Aber wie gesagt, die Menschen vor ihm an der Kasse teilten seine Meinung offensichtlich nicht. Mit dem Kaffee noch in der Hand, weil er nicht nur gut, sondern auch anständig heiß war, betrat er danach Iseneckers Feinkostmarkt. Der allerdings, wie er sich korrigieren musste, gar nicht mehr „Isenecker“ hieß, sondern jetzt offensichtlich von einer Familie Krupp betrieben wurde. Aus Gewohnheit und weil es eben immer „Isenecker“ gewesen war, hatte er sich noch nicht an den neuen Namen gewöhnen können.

Er hatte für eventuelle Notfälle und nächtliche Hungerattacken nichts mehr in seiner Wohnung, also deckte er sich mit ein paar Dingen für den Kühlschrank und einem Sixpack Jever ein. Genau genommen war das natürlich ebenfalls etwas für den Kühlschrank. So bepackt erreichte er schließlich seine Wohnung. Schon beim Öffnen der Tür schlug ihm ein unangenehm penetranter Geruch entgegen, der ihm heute Morgen wohl entgangen war. Beinahe beängstigend, dass eine Person in einer kurzen Nacht zu solchen Emissionen fähig war, aber es erschien höchst unwahrscheinlich, dass jemand in seiner Abwesenheit heimlich eingedrungen war und alte Socken unter seinem Bett versteckt hatte. Rasch riss er alle Fenster auf und beseitigte die gröbste Unordnung, um dann bei wohlwollender Berechnung festzustellen, dass ihm noch etwa eine halbe Stunde für die Mittagsruhe blieb. Das konnte man wenig finden oder nicht, aber wenn man eine kurze Nacht hinter sich hatte, mithin eine Chance, die man sich an einfach nicht entgehen lassen durfte...

...................

Da war etwas, das nicht richtig war. Anfangs nur ganz wenig, aber es wurde immer mehr und irgendwann empfand er es als so störend, dass er die Augen aufmachen musste. Als er endlich in der Lage war, einen halbwegs klaren Gedanken zu fassen, fühlte es sich an, als wären nur wenige Minuten vergangen. Ein Blick auf sein Handy, das vor ihm auf dem Couchtisch lag, belehrte ihn eines Besseren. Er hatte fast eine Stunde zu lange geschlafen. Allmählich begann ihm zu dämmern, dass das seltsame Summen und Brummen in seinem Traum von den Versuchen seines Handys stammte, ihn zu wecken, wie er es einprogrammiert hatte. "Sch..." entfuhr es ihm. Beinahe drei Uhr. Und zwei Anrufe in Abwesenheit. Von wem, konnte er sich denken. Heute war wohl der Tag der verpatzten Termine. Und wenn er sich jetzt nicht ziemlich beeilte, vermutlich auch noch der Tag der aufgekündigten Freundschaften. Worauf er es nicht ankommen lassen wollte, beschloss er und schaffte es in rekordverdächtiger Zeit, sich mittels eines frischen T-Shirts und ein wenig Hilfe aus der Deo-Dose salonfähig zu machen. Zumindest etwas Gutes hatte diese verlängerte Auszeit, stellte er nebenbei fest. Die Schar kleiner Leute, die seit heute Morgen mit Hammer und Spitzhacke im Inneren seines Kopfes tätig gewesen war, hatte sich zur Ruhe begeben. Nicht einmal der Gedanke an die wohl unvermeidlichen nächsten Runden beim heutigen Dämmerschoppen konnten ihm das gute Gefühl nehmen. Das war heute Mittag noch anders gewesen. Langsam, so schien es, kam seine alte Form zurück....

Wegener hätte allen Grund gehabt, sich bei Hinnerk Steffens über die zentrale Lage seiner Ferienwohnung zu bedanken. Er hatte kaum hundert Meter Fußweg zum Strandkrabbler, weshalb er knapp zehn Minuten später mit seinen Freunden am Tisch saß. Oder zumindest mit beinahe allen, denn er war nicht der einzige, der durch Abwesenheit glänzte. Kalle Häring, von dem man es am allerwenigsten erwartet hätte, fehlte ebenfalls. Und anders als bei Wegener war auch sein Handy augenscheinlich nicht im Netz. "Der Teilnehmer ist vorübergehend nicht erreichbar", plärrte es aus dem Lautsprecher von Wassmanns Handy, das offensichtlich nicht zu den neuesten Modellen gehörte. "Wenn sie eine SMS mit der Bitte... ", Wassmann hatte ein Einsehen und schaltete den Lautsprecher ab. “Hat einer von euch ´ne Idee, wohin Kalle abgetaucht ist?" fragte er missmutig.

Generelles Achselzucken beherrschte die Runde. Niemand konnte sich einen Reim darauf machen, denn gerade Häring war in dieser Woche immer derjenige gewesen, der als erster am Tisch saß und ihnen den besten Platz freigehalten hatte. Keiner konnte sich daran erinnern, dass er gestern etwas Gegenteiliges gesagt hatte. Allerdings kam es Wegener so vor, als sei seine Erinnerung zumindest an die letzte halbe Stunde des gestrigen Abends ein wenig getrübt. Und wie es aussah, war er in dieser Hinsicht nicht alleine. Da niemand etwas Besseres wusste, schwiegen sie sich an, aber auch die Kraft ihres Schweigens reichte nicht aus, den verschollenen Häring herbei zu zaubern.

"Vielleicht hat er ja ganz überraschend abreisen müssen. Oder ist krank geworden", warf Mittenhöfer ein und schaffte es gerade noch, das "s" nicht allzu sehr wie ein "sch" klingen zu lassen. "War ja geschtern doch ziemlich spät". Spätestens jetzt hatte der schwäbische Einfluss doch triumphiert. Was nichts an der Skepsis änderte, die seine Idee bei den anderen hervorrief. Häring gehörte nicht zu den Menschen, die leicht umfielen, wenn der Wind etwas rauer wurde. Das sah man allein schon an seinem Äußeren, er war gut einen halben Kopf größer und eine halbe Schulter breiter als seine Kollegen. Mit rötlich blond schimmernden, leicht lockigen Haaren hätte er problemlos einem Wikinger in einem nordischen Abenteuerfilm alle Ehre machen können. Jemand wie Kalle wurde nicht einfach krank. Oder reiste einfach ab. Erst recht nicht, ohne seinen Freunden Bescheid zu sagen. Wenn er nicht da war, dann hatte er dafür sicher einen guten Grund. Blieb allerdings die Frage, dachte Wegener, während sich in ihm immer noch eine Spur des Zweifels regte, welcher Grund ihn augenblicklich daran hindern mochte, ihnen Bescheid zu geben. Und wenn ihm doch etwas zugestoßen war? Da gab es doch laufend diese Warnung vor dem Betreten der Sandbänke. Von denen man nicht mehr runterkam, wenn die Flut einsetzte. Oder den plötzlich einsetzenden Seenebel, in dem man die Orientierung verlor. Wegener verscheuchte diese Gedanken. Allmählich begann seine Phantasie, Purzelbäume zu schlagen. Das hier war eine Insel und dazu eine recht überschaubare. Was sollte hier schon geschehen? Häring war erwachsen und hatte sicher schon schlimmere Dinge überstanden als den Alltag auf einer Nordseeinsel. Es würde sich alles aufklären, sicherlich schon ziemlich bald, das war gewiss. Wohin sollte ein Mann schon gehen, wenn vier seiner durstigsten Freunde in der Kneipe auf ihn warteten...

Die anfängliche Gewissheit wurde mehr und mehr zur Erwartung. Die sich dann mit der Zeit zur Hoffnung wandelte. Um dann, noch um einiges später, zur Enttäuschung zu werden. Auch zwei Stunden später hatte sich nichts geklärt. Kalle Häring blieb verschwunden, quasi spurlos, wie vom Erdboden verschluckt. Keine Nachricht, Anruf, keine SMS, was für sich gesehen schon sehr ungewöhnlich war. Stillschweigend saßen sie vor ihrem Bier, das mit Ausnahme von Matze Wassmanns Glas nicht leerer werden wollte. Irgendwie schmeckte es einfach nicht und nicht einmal die mitleidigen Blicke von Kellner Wang konnten daran etwas ändern. Irgendwann war der Dämmerschoppen vorbei, ohne das jemand etwas grundlegendes gesagt geschweige denn ein weiteres Bier bestellt hatte. Außer Wassmann natürlich. „So geht das nicht“, nuschelte Uhlendorf, der vermutlich vermeiden wollte, dass die Besucher am Nachbartisch mithören konnten. Wir können doch nicht einfach hier herumsitzen. Man muss doch etwas tun." Niemand widersprach. „Die Polizei“, meinte Mittenhöfer. „Die ist doch für so etwas zuständig." Mangels besserer Ideen versuchten sie ihr Glück mit der Telefonnummer, die Wang ohne nachzudenken im Kopf hatte. „Polizeistation Langeoog“, klang es recht laut aus dem Handy von Mittenhöfer, so dass sich auch niemand mehr Sorgen um den Nachbartisch machen musste. „Unsere Außenstelle ist von 17:00 bis zum folgenden Tag um 08:00 nicht besetzt. In dringenden Notfällen erreichen Sie die Dienststelle in Wittmund unter folgender Nummer…“ Wassmann schrieb mit. „Für den Notfall“, meinte er, während Wegener sich fragte, wie denn ein Notfall auszusehen hatte. Er hatte den Eindruck, das der inzwischen eingetreten war. Was die Polizeistation in Wittmund allerdings anders sah, als sie nach weiterer Diskussion dort angerufen hatten.

„Wenn ihr Kollege seit ein paar Stunden nicht aufgetaucht ist, sollten sie ihm mal seinen Spaß lassen“, fertigte die Polizistin in der Leitung sie ab. „Wenn er in 48 Stunden nicht wieder aufgetaucht ist, kann ich die Sache aufnehmen. Ich käme ja sonst gar nicht aus dem Schreiben raus…." Mittenhöfer hatte danach Probleme, seinen Mund wieder zu zu bekommen. „Was nun“, sprach er aus, was alle dachten. „Wir werden suchen gehen“, verkündete Wassmann nach kurzer Überlegung. „Wir teilen uns auf. Alle Kneipen auf Langeoog. Und seine Wohnung. Und den Strand. Und du…“, er wandte sich an Wegener. „Du kennst doch die Familie ganz gut. Du rufst Kalles Mutter an. Ganz unverfänglich natürlich. Und mit der nötigen Sensibilität." Immerhin blieb Wegener noch die Zeit zum Nicken…

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Kapitel 2

Donnerstagmorgen

Peter Cassens hatte schon so eine Vorahnung gehabt, dass dieser Morgen Probleme machen würde, spätestens seit ihn ein Möwenschiß auf den linken Oberarm getroffen hatte und dessen Spritzer auch den Rest seiner neuen Regenjacke beschmutzt hatten. Er hatte für Möwen wenig übrig und wenn es nach ginge, gäbe es das ganze Gedöns um Ruhezonen und Schutzgebiete während der Brutzeit nicht. Dadurch wurden es nur noch mehr Vögel, die sich im Sturzflug auf alles stürzten, was man gerade in der Hand hielt und ihre Exkremente auf der ganzen Insel verteilten. Zum Beispiel auf seiner neuen Jacke, die er erst vor wenigen Tagen im Strandläufer gekauft hatte. Zwar im Sonderangebot, aber dennoch nicht gerade billig. Es sollte etwas Gutes sein, regendicht und trotzdem durchlässig für den Schweiß, den er täglichen auf dem Rad literweise produzierte. Erst recht, wenn der Wind von vorn kam, was praktisch immer der Fall war. Wenn er Pech hatte, war die Jacke nun komplett ruiniert. Möwenschiß war eine ziemlich ätzende Sache, da brauchte man sich nur manche Dächer anzuschauen. Weshalb hatte die Möwe ausgerechnet ihn getroffen und nicht seinen Kollegen, mit dem er sich, wie seit über einer Woche jeden Morgen auf dem Weg zur Meierei befand. Frederico hatte nur blöd gegrinst und einen noch blöderen Spruch auf Lager gehabt, was Cassens Laune umgehend schlechter werden ließ. Sein Kumpel war mitunter eine ziemliche Dumpfbacke, aber dafür beim Putzen und Verfugen richtig unschlagbar. Was eine Erklärung dafür war, dass sie meist zusammen losgeschickt wurden. Peter Cassens verstand sich aufs Mauern, da machte ihm niemand etwas vor. Aber Verputzen, das war nicht sein Ding. Dafür gab es halt Frederico.

Als ob die Sache mit der Möwe nicht gereicht hätte, fing es auch noch an, zu regnen, kaum dass sie den Dorfrand passiert hatten. Cassens, der gerade abgestiegen war, um ein paar Büschel Grass vom Wegesrand abzurupfen und wenigstens den gröbsten Schmutz zu entfernen, fluchte laut. Er schwang er sich wieder auf sein Rad und hetzte Frederico hinterher. Viel Zeit blieb nicht, sie hatten, Wetter hin oder her, noch ein gehöriges Tagespensum zu erfüllen. Bereits gestern hatte es schon ziemlichen Verzug gegeben, es hatte mehr Mühe gekostet als gedacht, die alte Zisterne freizulegen. Fast ein Meter Sand hatte darauf gelegen, war also wohl schon länger her, dass irgendwer nach dem Ding geschaut hatte. Mochte der Teufel wissen, weshalb Wiebke Jannings gerade jetzt auf die Idee gekommen war, das Ding wieder in Betrieb zu nehmen. Mochte ja sein, dass das Trinkwasser auf der Insel irgendwann mal knapp wurde. Aber bestimmt nicht in diesem nassen Sommer, dachte Cassens, während er sich abmühte, mit seinem alten klapprigen Rad den Anschluss an Frederico wiederzukriegen.

Der Regen entpuppte sich nur als kurzer Schauer, der zum einen bewies, dass seine neue Jacke Regen abhielt, zum anderen half, die Möwenexkremente einigermaßen abzuwaschen. Frederico dagegen wurde ziemlich nass. Es gab doch noch Gerechtigkeit auf der Welt, dachte Peter Cassens, als er mit deutlich besserer Laune und einem inzwischen mürrisch gewordenen Kollegen, der ein wenig aus der Kleidung tropfte, bei der Meierei ankam. Wiebke Jannings hatte schon auf sie gewartet, mehr aus Sorge denn aus Ungeduld. „Kommt erst mal rein Jungs, damit ihr trocken werdet“, begrüßte sie die Handwerker. In der Tat konnte man nichts gegen Wiebke Jannings als Arbeitgeberin sagen, fand Cassens. Es gab ein gutes Frühstück, anständiges Mittagessen und in der Pause zwischendurch auch mal ein kaltes Bier oder bei Bedarf etwas zum aufwärmen. Sowohl Frederico als auch er kamen gern hierher. Wäre da nicht der elendig lange Weg gewesen. Und diese uralte Zisterne, die unter Tonnen von Dünensand verborgen gelegen hatte. Die ganze letzte Woche hatten sie Sand abgefahren, statt das zu tun, wofür sie eigentlich hier waren. Nun gut, solange das bezahlt wurde, war ihm im Grunde egal, was sie taten. Aber man hatte als Handwerker ja schließlich auch seine Ehre. Sand schleppen konnte jeder. Eine alte bröckelige Zisterne zu reparieren, dafür brauchte es Fachleute. Wenigstens würden sie heute einen Einblick bekommen, was sie im Inneren des Wasserspeichers erwartete.

Gut einen Sanddorngrog später und nachdem sich Frederico etwas Trockenes von Wiebke aus den Beständen ihres Ex-Mannes organisiert hatten, standen sie an der Zisterne. Sie lag an der Rückseite des Wirtschaftsgebäudes, dass sich wie ein „L“ an das Haupthaus anschloss, Richtung Ostende. Halb war das unterirdische Bauwerk unter einer Düne vergraben gewesen und Cassens hatte anfangs über die Ausmaße gestaunt. Aber in früheren Zeiten hatte die Meierei eine Menge Vieh beherbergt, dass auch im Winter ausreichend mit Wasser versorgt werden musste. Als das Vieh weg war, hatte man die Zisterne nicht mehr benötigt, für die Menschen gab es unter der Insel genug Süßwasser für das ganze Jahr. Zumindest bislang war das immer so gewesen. Doch auf einmal behaupteten die Leute aus dem Rathaus, dass das Wasser nicht mehr ausreichte. Dass man sparsamer damit umgehen müsse. Bislang hatte Cassens nichts davon gemerkt. Die vielen Tausend Inselbesucher halfen bestimmt nicht, weniger Wasser zu verbrauchen, wenn sie alle täglich die Duschen und Toiletten benutzten. Und das Hallenbad war vor wenigen Jahren noch aufwendig vergrößert worden. Auch beim Bau ständig neuer Hotels merkte man nichts von knappem Wasser. Aber wahrscheinlich waren die Leute, die sich Sorgen um das Wasser machten, ohnehin die gleichen, die Ruhe- und Schutzzonen für die Möwen eingerichtet hatten. Egal, so gab es wenigstens Arbeit für ihn, bei der er sich etwas dazu verdienen konnte. Und ein anständiges Mittagessen obendrauf, da konnte man Wiebke nichts nachsagen.

Gestern hatten sie bereits den Deckel der Zisterne freigelegt, heute wollten sie ihn mit Hilfe des Treckers anheben, der auf der Meierei sozusagen sein Gnadenbrot bekam. Ein alter Deutz, den Ubbo noch angeschafft hatte, wusste Cassens. Immerhin mit einem Frontlader ausgestattet. Der Deckel war ziemlich groß und für reine Muskelkraft zu schwer. Cassens war sich nicht einmal sicher, ob die Hydraulik des alten Deutz diese Last würde stemmen können. Einen ersten Versuch hatten sie gestern abbrechen müssen, weil der alte Veteran nicht angesprungen war. Eine Nacht am Ladegerät hatte der Batterie hoffentlich auf die Sprünge geholfen. Andernfalls war das heute wieder ein verschenkter Tag. Aber, wie gesagt, solange sie das bezahlt bekamen, konnte ihm das ja im Grunde egal sein. Doch zumindest heute gab es kein Geld fürs Nichtstun, stellte er fest, als er das laute Rumpeln und Poltern des Deutzmotors aus der Scheune hörte. Offensichtlich hatte der Batterie tatsächlich nur der Strom gefehlt. Eine schwarze Qualmwolke kam aus der offenen Stalltür und wehte zu ihnen herüber und noch bevor sich die Wolke am Inselhimmel verzogen hatte, kam Wiebke auch schon mit dem blassgrünen D 40 aus der Scheune gefahren. In besseren Zeiten war das Grün mit Sicherheit um ein Vielfaches kräftiger gewesen, aber die rauhe Seeluft hatte im Laufe der Jahre ihren Tribut gefordert. Selbst auf der alten Qualmschleuder, stellte Cassens anerkennend fest, machte Wiebke immer noch eine ziemlich gute Figur. Weiß der Teufel, weshalb ihr Mann keine Lust hatte, bei ihr zu bleiben. Wäre er, Cassens, zwanzig Jahre jünger, er hätte sich das nicht lange überlegen brauchen.

Wiebke und ihr Traktor ließen ihm keinen Raum für weitere Phantasien. Gekonnt lenkte sie die Maschine so dicht an die Zisterne heran, dass der Frontladerarm direkt über dem Deckel stand, ohne dass die Reifen auf der möglicherweise mürben Decke der Zisterne standen. Sie hatte dazu eine Ecke zwischen ihre Vorderreifen genommen, clever überlegt, fand Cassens. Glücklicherweise war in den großen Betondeckel ein Ring eingelassen, er hoffte nur, dass dieser die Last halten konnte. Vorsichtig sog er die Kette durch den Ring und befestigte sie an der Frontladerschwinge. Jetzt war Wiebke dran. Mit Quietschen und Jaulen arbeitete sich die alte Hydraulik zentimeterweise nach oben. Erst geschah gar nichts, als die Kette Spannung bekam. Dann knarrte es, so laut, dass Cassens befürchtete, etwas könnte zerreißen oder der Traktor in die Zisterne einbrechen. Dann aber regte sich der Deckel, langsam, beständig, aber unaufhörlich folgte er dem Frontlader nach oben…

Nicht nur bei Cassens machte sich Erleichterung breit, auch Wiebkes Gesicht verriet, dass ihr ein Stein vom Herzen gefallen war. Ihre Finger glitten so sanft über das Lenkrad, als wollte sie ihre Dankbarkeit in Form von Streicheleinheiten abarbeiten. Selbst Frederico atmete erkennbar tief durch, als der Deckel in gehörigem Abstand zu der Zisterne zu Boden gelassen wurde. Cassens war der erste, der einen Blick in den bis dahin verschlossenen Schacht werden konnte. Er sah nichts. Es war stockdunkel in dem unterirdischen Hohlraum. Etwas Anderes wäre allerdings auch erstaunlich gewesen. Wiebke hatte vorgesorgt und einen großen Scheinwerfer bereitgestellt, aber obwohl der Lichtkegel recht ordentlich streute, war in der Zisterne nicht viel zu erkennen. Auch damit hatte Cassens gerechnet. Wohl oder übel würde jemand in die Grube hinabsteigen müssen. Natürlich mit allen Vorsichtsmaßregeln, mit Kerze und Sicherungsseil, auch die Leiter stand schon bereit. Allerdings waren er und Frederico sich bislang nicht einig geworden, wem die Ehre dieser Heldentat gebührte. Sein italienischer Kollege hatte panische Angst vor Ratten, die sich eventuell dort tummeln mochten. Und Cassens… nun Ratten waren ekelhaft, wenn sie einem über die Füße liefen. Aber viel größer war sein Problem mit einer ganz anderen Gattung, die sich in der Tiefe heimisch fühlen mochte. Peter Cassens litt Todesangst, wenn es um Spinnen ging…

Manchmal gewann man, manchmal auch nicht, in diesem Fall traf es glücklicherweise Frederico. Der Ausdruck in seinen Augen verriet mehr, als alle Worte, die er bei seinem sonst großen Mitteilungsbedürfnis hätte machen können. Allein der Umstand, dass Wiebke ankündigte, sonst selbst herunterzugehen, trieb ihn auf die Leiter, nachdem er mit Seil um den Brustkorb gesichert worden war. Die Zisterne konnte nicht allzu tief sein, das hatten sie inzwischen mit ein paar Steinen ausgetestet. Ab etwa drei Metern traf eine Dachlatte auf weichen Widerstand. Eine Kerze, die sie mit einer Gartenlaterne herabgelassen hatten, brannte ohne Probleme weiter, mit irgendwelchen Gasen war offensichtlich nicht zu rechnen. Vermutlich war die Grube mit Sand ausgefüllt, dachte Cassens gequält, weil ihm klar war, was das für die nächsten Tage bedeuten würde. Besser jedenfalls, als wenn es dort drinnen von kleinen Tieren mit acht Beinen wimmelte. Er nahm sich vor, Frederico an Mut nicht nachzustehen, wenn diese Sache geklärt war.

Fast tat ihm der Italiener leid, als der wie ein Bergmann ausstaffiert mit hohen Schnürstiefeln und Stirnleuchte in den Schacht stieg. Aber irgendwer musste nun mal der erste sein. Wiebke ließ es sich nicht nehmen, direkt am Schachtrand zu stehen und das Seil zu führen. Die ganze Zeit bemühte sie sich, ihn mit Fragen und kleinen Neckereien abzulenken. Sie war schon eine besondere Frau, dachte Cassens nicht zum ersten Mal, während er hinter ihr das Seil in seinen Händen hielt. Augenscheinlich gab es weder Ratten noch Spinnen. „Alles gut hier“, rief Frederico herauf. „Viel Sand. Die Steine sehen noch gut aus, wird trotzdem eine Scheißarbeit werden. Hier ist die Wand etwas eingedrückt…“, dann verstummte er plötzlich. Ein oder zwei Sekunden zumindest, dann erklang ein unverständlicher italienischer Fluch und dann ein Schrei. Bevor Wiebke oder Cassens die Chance hatten, sich nach seinem Wohlergehen zu erkundigen, wurde das Seil angespannt, dann lies die Spannung wieder nach und um etliches schneller, als Frederico in dem Loch verschwunden war, stand er wieder auf dem oberen Ende der Leiter. Sein Gesicht sah nicht besonders gut aus, eine Mischung zwischen Blässe und fast grünlich anmutender Farbe sowie stark zuckenden Lippen, so als müsste er etwas mit Gewalt zurückhalten, verriet, dass dort unten etwas war und Cassens hätte jede Wette angenommen, dass es sich weder um Spinnen noch um Ratten handeln konnte. „Nicht heruntergehen“, verstand er. Und etwas, das sich wie „Polizei“ anhörte, auf jeden Fall etwas nicht Gutes. „Da liegt wer“, gewann Frederico die Kontrolle über seine Aussprache wieder. „Da sind Knochen und ein Schädel…“

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So schnell würde es wohl nichts mit der Zisterne, da war sich Cassens, der jenseits des Absperrbandes stand, ziemlich sicher. Mittlerweile hatten sich eine ganze Reihe Menschen um den Einstieg zur der alten Zisterne versammelt. Knapp vier Stunden waren vergangen, Stunden, in denen Frederico und er nichts hatten tun können, als abzuwarten und zuzusehen, wie unter anderem der Hubschrauber mit den Leuten in weißen Overalls gelandet war. Nur einmal hatte er darüber nachgedacht, ob sie diese Zeit wohl auch bezahlt bekamen. Frederico hatte sich mittlerweile beruhigt und Cassens alles berichtet, so dass er noch eher im Bilde gewesen war, als Jan Bünting, der junge Polizist der Inselgemeinde. Wiebke war trotz des ganzen Trubels erstaunlich ruhig geblieben, hatte postwendend die Polizei angerufen. Frederico einen doppelten Sanddornschnaps verabreicht, selbst ebenfalls einen guten Schluck genommen und natürlich war auch Cassens nicht leer ausgegangen. Etwas erstaunt war er schon gewesen, wie schnell sich die Dinge hier entwickelt hatten, das kannte er so nicht von seiner sonst eher behäbigen Insel. Aber schließlich fand man auch nicht jeden Tag ein Skelett in einer Zisterne.

Mehrere Menschen in auffälligen Schutzanzügen waren bereits unten in der Zisterne gewesen, wie es aussah, in voller Atemschutzmontur. Dabei hatte Frederico doch bewiesen, dass das unnötig war. Aber danach hatte niemand gefragt. Dafür nach allen anderen möglichen Dingen, so dass Cassens schon fast versucht war, zu glauben, man unterstelle ihnen, für das Skelett dort unten verantwortlich zu sein. „Die tun nur ihre Arbeit“, hatte Wiebke ihn und Frederico beruhigt. Bestimmt kannte sie sich damit besser aus als er. Aber seltsam war es doch. Glücklicherweise hatte Wiebke die Flasche mit dem Sanddornschnaps frisch angebrochen, so dass das Warten dadurch etwas angenehmer gestaltet werden konnte. Immerhin, es war schließlich auch ihre Zeit, die sie hier vertrödelten mussten, statt etwas Sinnvolles tun zu können. Cassens hatte sich bereits so seine eigenen Gedanken über das gemacht, was sie da gefunden hatten.

Die Zisterne war alt, bestimmt war es lange her, dass jemand den Deckel abgenommen hatte. Und bis ein Mensch zum Skelett wurde, dauerte es lange, das war klar. Also musste die Person, die dort unten lag, schon länger dort gelegen haben. Länger jedenfalls, als ein paar Jahre. Und soweit er sich zurückerinnern konnte, wurde hier niemand vermisst. Er war mittlerweile fast fünfzig Jahre und hatte die letzten zwanzig davon hier auf der Insel verbracht. Wäre da etwas gewesen, davon hätte man gehört. Spätestens im Winter, wenn die Männer in der Kapstube zusammen saßen, weil es sonst nichts zu tun gab. Niemand hatte von jemandem erzählt, der plötzlich weg gewesen war. Zumal Cassens die meisten kannte, die hier lebten. Und wenn ein Fremder hier vermisst worden wäre, hätte das auffallen müssen. Niemand kam ungesehen auf die Insel oder konnte hier verschwinden, dafür sorgte schon die Kurkarte, die jeder bekam, der einen Fuß auf die Fähre setzte. Nein, der oder die Tote musste schon lange dort liegen. Mehr als zwanzig Jahre. Da war diese alte Geschichte. Weit über dreißig Jahre her. Aber das war nicht seine Sache, beschloss er. Da wollte er sich nicht die Finger verbrennen. Das war Sache der Polizei. Also hielt er die Klappe, als Jan Bünting ihm mit irgendwelchen Fragen auf die Pelle rückte. Bestimmt waren da auch noch andere, die den gleichen Gedanken hatten. Sollten die sich doch den Stress machen…

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Jan Bünting war genervt. Natürlich war es aufregend, endlich mal im Mittelpunkt des Geschehens zu stehen. Wesentlich aufregender, als Radfahrer zu kontrollieren, die sich in Bahnhof- und Barkhausenstraße nicht an die Regeln hielten. Immerhin war er nicht Polizist geworden, um sich auf das Disziplinieren von Pedalrittern zu beschränken. Aber hier an der Meierei hatte er das Gefühl, dass er nur eine Statistenrolle innehatte. Die Kollegen vom Festland hatten alles an sich gerissen und er hatte noch nicht einmal die Chance bekommen, sich das ominöse Skelett selbst anzusehen. Dabei hatte er eine vollwertige Ausbildung für die Laufbahn bei der Kriminalpolizei absolviert, auch wenn er hier auf der Insel als Dorfpolizist arbeitete. Vielleicht war es doch ein Fehler gewesen, sich auf diese Stelle zu bewerben, dachte er nicht zum ersten Mal. Damals erschien ihm das als eine gute Idee. Aber bisweilen hatte er das Gefühl, auf einem Abstellgleis zu stehen. Meistens schoben sie auf dem hiesigen Revier zu zweit ihre Dienste, in den Sommermonaten kamen noch zwei Kollegen vom Festland hinzu. Auch, wenn er Revierleiter war, große Karrieresprünge waren nicht zu erwarten.

Jedenfalls hatte er die Zeit genutzt, sich um Peter Cassens und Frederico Castellani zu kümmern, aber die beiden waren ohnehin nicht die hellsten und schienen keine Ahnung davon zu haben, worauf sie hier gestoßen waren. Bünting hatte da schon eher eine Idee. Schließlich war er hier geboren und bis zum Besuch des Gymnasiums auf der Insel aufgewachsen. Und auch während seiner Zeit im Internat in Esens war die Verbindung hierher nicht abgerissen. Er kannte die Geschichten und die Menschen auf der Insel besser als die ganzen fremden Leute hier. Da gab es so eine alte Sache, in der ein Cousin seiner Oma eine Rolle gespielt hatte. Lange her. Aber etwas, über das noch immer erzählt wurde. Inselgeschichten konnten sehr langlebig sein. Besonders, wenn es um Menschen ging, die jeder kannte. Aber um sicher zu sein, hätte er einen Blick auf die Skelettteile werfen müssen. Womöglich hätte das weitergeholfen. Aber ihn fragte ja niemand. Und wenn er fragte, bekam er keine Antwort. Was frustrierend war. Doch gedachte er nicht, das so einfach hinzunehmen. Schließlich hatte auch ein Dorfpolizist so seine Möglichkeiten. Vor allem, wenn er zu einer Familie gehörte, in der ein paar Leute etwas zu sagen hatten. Nicht, dass er viel dafür konnte, meistens war ihm das eher peinlich. Aber in diesem speziellen Fall vielleicht auch mal von Nutzen. Er kannte eine Person, von der er sicher war, dass sie die richtige für diesen Fall war. Und genau diese Person wollte er liebend gerne auf diese Sache angesetzt sehen…

Vielleicht, dachte er, nachdem er von Wiebkes Telefon aus mit seinem Onkel telefoniert hatte, war seine Idee doch nicht die allerbeste gewesen. Sein Onkel hatte ihm ein paar Dinge berichtet, die ihn hatten nachdenklich werden lassen, aber egal, wenn man sich für etwas entschieden hatte, konnte man nicht zurück. Außerdem hatte er gewisse und aus der Erfahrung heraus nicht ganz unbegründete Bedenken, das es den Kollegen aus Aurich am nötigen Fingerspitzengefühl mangeln mochte, diese Sache auf Langeoog richtig anzupacken. Man sprach es nicht unbedingt offen aus, aber mancher unter den Festlandskollegen hielt die Kollegen von den Inseln für "Schönwetterpolizisten". So, wie viele Bewohner des Festlandes in den Insulanern immer noch eine Art Hinterwäldler sahen. Oder, um den geografischen Gegebenheiten gerecht zu werden, als Hinterwattler. Das allerdings hatte er Onkel Rupert gegenüber nicht erwähnt. Als Polizeischüler war Bünting vorübergehend in Oldenburg gewesen. Dort hatte er Vorträge von einem gewissen Kommissar Waldner besucht, ein Geheimtipp unter jüngeren Polizeischülern. Ein etwas schräger Typ, aber ziemlich tough mit seinen Methoden. Der hatte ein paar legendäre Fälle gelöst, nicht solche von der Stange, sondern welche mit Historie. Solche eben, wie jener, der sich ihm gerade auf seiner Heimatinsel darzubieten schien. Das hatte er irgendwie im Gespür. Onkel Rupert, der älteste Bruder seiner Mutter, war sein Trumpf in dieser Sache, der ihm weiterhelfen sollte. Begeistert war er nicht gerade gewesen, als Bünting Waldners Namen genannt hatte. Was, wie er im Verlauf heraushörte, auch mit Begegnungen zu tun hatte, die Onkel Rupert mit diesem Kommissar Waldner gehabt hatte. Er hatte sich seine Wahl jedoch nicht ausreden lassen.