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Kriminalhauptkomissar Waldner versteht sich selbst nicht mehr. In einem schwachen oder vielleicht doch eher bierseeligem Moment hat er sich überreden lassen, mit zum Heavy Metal Festival nach Wacken zu fahren. Eine Musik, die nicht die seine ist, auf einen Campingplatz, was ihm sowieso ein Gräuel ist und nicht zuletzt auf ein Festival, dass für seine Schlammschlachten berüchtigt ist, weil es offensichtlich immer regnet. Das alles nur, weil er nicht für sich behalten konnte, die bekannte Sängerin Cassandra Röschberger persönlich zu kennen. Dabei liegt das viele Jahre zurück und von einer besonders herzlichen Beziehung konnte selbst damals keine Rede sein. Es kommt, wie es kommen muss, einschließlich Regen, Schlamm und einem Mordfall, der Camillo Waldner mehr und persönlicher betrifft, als ihm lieb sein kann. Um einen alten Freund nicht im Stich zu lassen, riskiert er nicht nur Ärger mit der Polizei, sondern muß sich auf Dinge einlassen, die ihm völlig widerstreben...
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Seitenzahl: 383
Veröffentlichungsjahr: 2018
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Metal never dies
Revolution
Geboren alt, im Sterben jung
Im Herzen Furcht, die Seele wund
Getäuscht durch Worte, die gebrochen
Sind lang wir durch den Staub gekrochen.
Es treibt die Wut uns und die Not.
Allein die Hoffnung bringt kein Brot
Und satt sind wir von Lug und Trug
Die Zeit des Schweigens ist genug.
Uns trennen Mauern nicht aus Stein
Wir wollen wieder Menschen sein
Die stolz und aufrecht Lieder singen
und tapfer ihre Furcht bezwingen.
Wir sind stark, wenn wir zusammen gehen
hart wie Felsen, die in der Brandung stehen.
Tobt auch der Sturm und bricht die Nacht herein
wir werden nicht mehr mutlos sein!
Nimm dein Leben in die Hand
Trag den Aufruhr in das Land
Zerbrich die Ketten, die uns binden
Damit wir endlich Freiheit finden
Wirf ab das Joch der Tradition
Die Zeit ist reif für die Revolution...
Cassandra And The Peacemakers
live at Wacken, August 2014
Vorwort
Bevor jemand beim Lesen der folgenden Seiten auf die Idee kommt, dass sich die nachfolgenden Ereignisse in einem Paralleluniversum einer ungesendeten Fringe-Staffel abgespielt haben müssen, sind ein paar Bemerkungen zur Aufklärung angebracht. Natürlich weiß jeder, der beim Wacken Open Air 2014 dabei gewesen ist, dass dieses Festival nicht an einem Übermaß an Regen gelitten hat. Die Sonne zeigte sich fast durchgängig von ihrer besten Seite, was sich bei dem einen oder anderen Metalhead in einem kräftigen Sonnenbrand geäußert haben dürfte. Auf Wacken konnte man anlässlich des 25. Geburtstages viel erleben, aber nicht die in dieser Geschichte beschriebene Schlammschlacht. Die Fraktion der Heavy Metal – Anhänger scheint in jenem Jahr dort, wo über das Wacken - Wetter entschieden wird, ein besonders gewichtiges Wort mitgeredet zu haben. In anderen Jahren hat es jedoch durchaus Bäche und Seen auf dem Festivalgelände gegeben. wer das WOA von 2015 miterlebt hat oder wer sich Wacken 3D im Kino angesehen hat, hat da sicher eindrucksvolle Szenen und Momente vor Augen. Das Wetter gehört zu Wacken wie die Musik, die Offenheit und Freundlichkeit von Gastgebern und Besuchern, die Stimmung, die sich mit keinem anderen Festival vergleichen lässt, die grandiose Organisations- und Arbeitsleistung bei Vorbereitung und Durchführung und vieles mehr. Wenn es in dieser Geschichte zum 25. Jubiläum dennoch regnet, ist das der erzählerischen Freiheit zuzuschreiben. Das, was sich in diesem Buch an natürlich frei erfundenen Handlungen und Geschehnissen ereignet, passt besser zu Regen als zu strahlendem Sonnenschein.
Mag sogar sein, dass manches von dem, was beschrieben ist, an reale Ereignisse auf dem Wacken Open Air 2014 erinnert. Mitunter ist das nicht zu vermeiden, weil sich manche Dinge eben immer wieder in dieser oder ähnlicher Form wiederholen. Wie das WOA selbst, das das schon seit inzwischen 26 Jahren tut. Gönnen wir also dem fiktiven Wacken aus dieser Geschichte seinen Überfluss an Regen, in dem Wissen, dass das echte Wacken 2014 seine Fans mit Sonne verwöhnt hat. Und wer weiß, vielleicht ist der Gedanke mit dem Paralleluniversum ja doch gar nicht so weit hergeholt...
Kapitel 1
Mittwoch früh
Das Öffnen der Augen war an diesem Mittwochmorgen eine mühselige Erfahrung und dauerte etwa so lange, wie sich eine Ewigkeit anfühlen musste. Obwohl er mehrfach beschloss, sie ab sofort offen zu lassen, zog etwas so an den Augenlidern, dass sie immer wieder zuklappten. Die Nacht war, soweit er sich erinnern konnte, einfach zu kurz gewesen. Und der Schlaf nicht gerade besonders erholsam. Was wiederum nicht ganz überraschend war, wenn man bedachte, wann er zuletzt mit einer Luftmatratze zu kämpfen hatte. Ob er schon mal so schlecht geschlafen hatte, musste vermutlich für alle Zeiten ein ungelöstes Rätsel bleiben. Zumindest war er sicher, dass es noch nicht allzu oft der Fall gewesen sein konnte. Überhaupt, Schlafen war schon sehr wohlwollend ausgedrückt für den Wechsel von der linken Seite auf die rechte und umgekehrt, während es sich jedes Mal schlimmer anfühlte, als befände er sich auf einem Schiff mit Seegang. Dagegen war das vielfache Schnarchen um ihn herum, das monotone Brummen der Stromaggregate, die laute Musik und die nicht endenden "Wacköön" - Rufe nicht müde werdender Musikfans das kleinere Übel gewesen. Irgendwann fing man an, das nicht mehr zu hören. Im Nachhinein war es wohl keine von seinen klügsten Ideen gewesen, sich auf diese Wette einzulassen, dachte Waldner. Das hatte er einem gehörigen Maß an Blauäugigkeit und natürlich Tobias Wegener zu verdanken. Nicht allein, korrigierte er sich. Eigentlich gehörte auch noch eine ebenso große Portion Selbstüberschätzung dazu, die ihn verleitet hatte, sich auf eine Nacht wie diese einzulassen. Und, wie er befürchten musste, noch auf vier weitere Nächte in diesem riesigen Zeltlager, in dem man schon froh sein durfte, wenn man sein eigenes Zelt auf dem Rückweg vom Dixi-Klo wieder gefunden hatte. Das Wacken - Festival feierte in diesem Jahr seinen fünfundzwanzigsten Geburtstag, augenscheinlich waren auch noch andere Besucher auf den Gedanken gekommen, einen Tag früher anzureisen. Wenn man sich auf den Zeltplätzen umsah, hätte man meinen können, dass sowieso schon alle da waren, aber der ständige Zustrom an Autos auch die gesamte Nacht über verhieß etwas anderes. Auf jeden Fall würde das Festival, zur Freude der anderen vier Mitreisenden und zu seinem Leidwesen, einen Tag länger dauern als gewöhnlich. Aber was bedeutete hier schon „gewöhnlich“.
Andererseits, durfte er sich überhaupt beklagen? Es hatte an Warnungen im Vorfeld nicht gefehlt. "Du - dahin fahren und zelten? Dafür bist du viel zu alt. Das hältst du keine zwei Tage aus". Was natürlich das Letzte war, das er hatte hören wollen. Und, wie er zugeben musste, vermutlich mehr der Wahrheit entsprach, als ihm lieb war. Vermutlich hielten ihn selbst die Kollegen, die nichts dazu gesagt hatten, für ziemlich durchgeknallt. Er konnte es ihnen nicht verdenken. Ihm wäre das im umgekehrten Fall vermutlich nicht anders gegangen, unter normalen Umständen jedenfalls. Wäre er nicht in seiner Bielefelder Zeit an Gert Henning Hansen geraten. Und wäre da nicht jener penetrant freche und unverschämt gut gelaunte Grünschnabel namens Tobias gewesen, mit dem er aus unerfindlichen Gründen auf Langeoog Freundschaft geschlossen hatte. Und natürlich diese Wette, die er so leichtfertig eingegangen war, wie ein unbedarfter Teenager. Die er jetzt vermutlich mit Pauken und Trompeten verlieren würde, wenn nicht ein kleines Wunder geschah. Und nach dieser Nacht mochte er an Wunder nicht mehr so recht glauben...
Anscheinend war er der erste wache Festivalbesucher weit und breit, dachte Waldner. Rundherum regte sich nichts. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm auch den Grund dafür. Es war noch nicht einmal halb sechs. Eine Zeit, zu der er normalerweise sich gerade ein weiteres Mal umdrehte, in dem instinktiven Wissen, dass es noch eine gute Stunde dauern würde, bis ihn der Wecker aus seinen Träumen riss. Normalerweise zumindest, zuhause, wo er ein echtes Bett hatte und nicht zehntausende Metaller und Metallerinnen darin wetteiferten, die Bäume an den Begrenzungen des Campingareals zu erledigen. In gewisser Weise hatte die Situation was Unreales und Bizarres, fand er. Nicht, weil er hier schlechter schlief, als zuhause, damit hatte er rechnen können. Aber ausgerechnet er, der seit Jahren völlig den Draht zur Musikszene verloren hatte und nicht einmal die gängigsten Stücke kannte, die im Radio liefen, versuchte sich auf einem Festival, dass bekanntermaßen von einer Szene beherrscht wurde, die, gelinde gesagt, exotisch war. Natürlich hatte er in den letzten Jahren schon mal davon gehört, dass es dieses Dorf in Schleswig - Holstein gab und dass es dort Jahr für Jahr eine Invasion von Musikfans gab, die wohl der Hardcore-Szene zuzurechnen waren und auf eine Musik standen, die ebenfalls diesen Namen verdiente. Bei einem seiner letzten Fälle hatte er sogar jemanden kennen gelernt, der von hier stammte, aber das hätte ihn nicht im Traum auf den Gedanken gebracht, selbst nach Wacken zu fahren. Und dennoch saß er hier heute in aller Herrgottsfrühe auf einer schlecht gefüllten Luftmatratze in einem ebenso schlecht aufgebauten Zelt, noch halb mit den Beinen in einem viel zu warmen Schlafsack und wunderte sich, was er hier tat.
Das hatte beinahe den Stoff zu einem Roman, zu einer Komödie, fand er, oder noch besser, zu einer Tragikomödie, ähnlich der von Mister Bean, der sich, eigentlich nur auf eine nette Urlaubsreise nach Frankreich aus, in ein totales Chaos verstrickt. Waldner in Wacken, dachte er, das besaß ähnliche Qualitäten. Mittlerweile hellwach hatte sich auch das Problem mit den Augen gelöst und er streifte den Schlafsack von seinen Beinen. Toby in der Kabine nebenan schien, wie es sich anhörte, seine Probleme nicht zu teilen. Weshalb auch, er kam ja auch schon seit Jahren hierher und war an extreme Bedingungen akklimatisiert. Und zudem auch noch begeisterter Musikfan. Hätte er sich nur nicht so weit hinausgelehnt im letzten Sommer mit seinen Beziehungen zu dieser Szene. Eigentlich hatte er nur mal auftrumpfen wollen und war auf staunende Gesichter aus gewesen. Was daraus entstanden war, hatte sich dann jeglicher Kontrolle entzogen.
So leise wie möglich rollte er sich von der knatschenden Luftmatratze und suchte sich in dem Haufen Kleidung neben sich etwas, dass nach einer sauberen Jeans aussah. Ebenso vorsichtig öffnete er den Reißverschluss seiner Zeltkabine, aber im Grunde hätte er sich nicht anstrengen brauchen. Auf Tobias Seite regte sich nichts. Die Ordnung in ihrem Vorzelt war etwa genauso kreativ wie die in seiner Kabine, vermutlich sah es bei Tobias nicht anders aus, sie hatten beide gestern Abend etwas Mühe gehabt, den Weg ins Zelt zu finden, ohne über Schnüre, Taschen und Campinggeschirr zu stolpern. Allerdings war es den anderen beiden Mitreisenden, Freunden von Tobias aus Oldenburg, wenig besser gegangen. Sowohl der rothaarige Riese mit dem irgendwie ungewöhnlichen, aber gleichwie passenden Namen Rainulf als auch der noch eher jugendlich und gegen Rainulf schmächtig wirkende Ansgar waren, soweit er sich zurückerinnerte, mehr gewankt als geradeaus gegangen. Irgendwie musste ja etwas gegen die gewaltigen Biervorräte getan werden, die sie mitgenommen hatten, dachte er und stellte fest, dass sein Kopf wider Erwarten weder brummte noch drückte, sondern klar war. Auch keine Spur von Schwindel oder Übelkeit, auf jeden Fall ein gutes Zeichen und wenigstens etwas Positives in diesem ganzen Schlam(m)assel.
Der Eingang zum Zelt war die Nacht über offen geblieben und von draußen schien schon die Sonne ins Zelt. Wenigstens kein Regen, dachte er erleichtert, das hätte ihm gerade noch gefehlt. Zelten und Regen, das ging zusammen noch viel weniger, als Zelten allein. Draußen roch es nach Fett und Gegrilltem sowie nach Bier, das jemand zu späterer Stunde vermutlich verschüttet hatte. Wahrscheinlich auch eine Art Überlebensreflex bei einem solchen Campingausflug. Damit stieg die Chance, den nächsten Tag halbwegs akzeptabel antreten zu können. Man lief hier leicht Gefahr, einfach zu viel zu trinken. Doch vielleicht war das ja für manche nicht die Gefahr, sondern der Reiz eines solchen Ereignisses. Ein paar Tage einfach mal so richtig einen draufmachen, bevor nach diesen Tagen der normale Alltag wieder das Leben diktiert. Wenn er es so recht bedachte, hatte ihnen gestern niemand ihre Biere unter Androhung von Zwang eingeflößt. Und wenn er weiterdachte und allmählich der Nebel über dem gestrigen Abend sich lichtete, war es ein guter Abend gewesen.
Sie hatten gegrillt und sich ziemlich gut unterhalten. Männergespräche halt, wie man sie nur bei seltenen Gelegenheiten führen konnte. Und dann waren auch noch die tschechischen Nachbarn vorbeigekommen, Pavel, Oleg und noch zwei andere, deren Namen er nicht behalten hatte. Man hatte sich Grill und Getränke geteilt, weil die Jungs vergessen hatten, Kohle zu besorgen. Ehrensache, dass man da aushalf. Und schließlich waren sie auch noch, da war er sich ziemlich sicher, bei den Zeltnachbarn rechts aus Österreich gelandet. Danach war irgendwann der Faden sehr dünn geworden, der sich durch den Rest des Abends gesponnen hatte. Mehr Ahnung, als echte Erinnerungen. Aber anfühlen tat es sich dennoch nach einem echt coolen Abend. So gesehen konnte man fast sagen, dass es sich gelohnt hatte, die Nacht nicht im eigenen Bett in Oldenburg zu verbringen...
Waldner fühlte sich etwas verwirrt. Eigentlich war er sicher, dass dieses Leben im Zelt und die Nächte auf einem Festival gar nicht recht zu ihm passten. Mit Sicherheit war er nicht mehr jung genug für solche Eskapaden und wer konnte schon vorhersagen welche Folgen diese Nächte für seinen Rücken, seine Kondition und seinen Biorhythmus haben würden. Aber je klarer sich die Erlebnisse aus der letzten Nacht in seinem Kopf abzeichneten, umso lauter wurde auch eine Stimme in seinem Kopf, die was ganz und gar Entgegengesetztes zu sagen schien. Wenn dir etwas sagt, du bist zu alt, pfeif einfach drauf. Wenn dir etwas sagt, das tut dir nicht gut, pfeif einfach drauf. Wenn du dir Sorgen machst, was andere denken könnten, pfeif einfach drauf. Ganz genau genommen hatte diese Stimme nicht von "pfeifen" gesprochen, sondern sich noch einer etwas derberen Ausdrucksweise bedient. Aber das laut zu denken, soweit war er vielleicht doch noch nicht...
Mittlerweile war die Sonne höher gestiegen. Es war für die Uhrzeit erstaunlich warm, wenngleich er keinen richtigen Vergleich hatte, denn normalerweise war er um diese Uhrzeit nicht draußen. Eines hatte sich immerhin in der Zwischenzeit verändert. Er war nicht mehr die einzige wache Person auf diesem Platz. Irgendwo da draußen hatte jemand ähnlich wie er befunden, dass die Nacht vorbei war. Und dieser Jemand bewies dabei einen etwas skurrilen Humor. Anders war es nicht zu erklären, dass er oder sie den Platz mit einem Wecklied beschallte. "Guten Morgen, guten Morgen", erklang eine fröhliche Frauenstimme aus einer Anlage, die nicht allzu weit von ihnen entfernt stehen musste und von der Leistung her durchaus zu mehr in der Lage gewesen wäre. "Guten Morgen Sonnenschein...“ Irgendwoher kam ihm der Song bekannt vor. "Diese Nacht blieb dir verborgen, doch du darfst nicht traurig sein..." Ihm fiel gar nicht ein, traurig zu sein, zumal ihm diese Nacht immer weniger verborgen blieb. Aber während er sich noch über Sinn und Unsinn dieses Liedes Gedanken machte, schien an anderer Stelle schon wieder jemand wach geworden zu sein. Und wohl auch im Besitz einer nicht zu klein ausgelegten Musikanlage. Aber dieser Neuzugang entpuppte sich als Fan deutscher Marsch- und Militärrhythmen. Und von Minute zu Minute kamen weitere Lebenszeichen aus den verschiedensten Richtungen. Eine laute Schiffssirene, die sich mit lang gezogem Tuten über das Gelände ausbreitete, eine Art Jagdhorn, das ein lautes Signal von sich gab, vielleicht ein Signal zum Aufstehen, aber da kannte er sich nicht aus. Jedenfalls war er hier nicht nur von Langschläfern umgeben, die Nacht war endgültig verstrichen und das Leben kehrte in die Zelte zurück. Waldner beschloss, mit einer endgültigen Bewertung, ob er hierhin passte, zumindest noch eine weitere Nacht zu warten...
Knapp zwei Stunden später war der Biergeruch von dem Geruch nach frischem, einigermaßen heißem Kaffee überlagert, ein Umstand, der seine Laune um Klassen steigen ließ. Tobias hatte Brötchen von einem der Verkaufsstände erbeutet, Ansgar und Jörg waren irgendwo unterwegs auf der Suche nach einer Dusche. Von wegen, dachte Waldner, Duschen ist uncool auf Wacken. Es liefen pausenlos irgendwelche unausgeschlafenen Gestalten mit zotteligen Haaren und Duschutensilien über den Platz und einige hatte er auch schon zurückkehren sehen, mit nassen Haaren, frisch rasiert und den Geruch von Shampoo verströmend. Eine Sache zumindest, die ins Reich der Legenden gehörte. „Und?“ grinste Tobias unverschämt fröhlich. „Die erste Nacht überlebt?“ Waldner sparte sich eine Erwiderung. Stattdessen nahm er einen großen Schluck Kaffee und verbrannte sich beinahe den Mund daran. Spontane Kommentare waren nicht seine Stärke, das konnte Toby besser. „War alles ganz okay, bis auf dein lautes Sägen“, meinte er dann. „Sonst hätte ich noch etwas von der Musik gehört.“
Kleine Frozzeleien waren bei ihnen an der Tagesordnung, ansonsten verstanden sie sich bestens, musste er einräumen. Dass er Tobias kennengelernt hatte, war besonders in jener Zeit ein großer Vorteil gewesen, als seine Beziehung mit Sylvia zu Ende ging. An manchem Abend waren sie zusammen „ums Eck“ gezogen, wie Tobias das nannte, gar nicht mal, um viel zu reden, oft hatten sie einfach nur dagesessen, über den Lauf der Welt und das Leben an sich geplaudert. Oder auch einfach gar nichts gesagt. Irgendwie hatte das ihm leichter gemacht, das Kapitel mit Sylvia abzuschließen. Nicht, dass sie im Streit auseinandergegangen waren. Im Gegenteil sie telefonierten bisweilen und waren auch „danach“ noch ein paar Mal gemeinsam Essen gewesen. Einmal hatten sie sogar Sex danach. Irgendwie hatte er danach gehofft, dass sich die Dinge wieder einrenken würden. Hatten sie aber nicht.
Nachdem sie damals diese neue Aufgabe übernommen hatte, eine groß angelegte Kampagne für einen namhaftes Unternehmen der Energieversorgungsbranche zu begleiten, bei der es darum ging, dem Unternehmen ein neues grünes Image zu verpassen, blieb einfach keine Zeit mehr über, die sie miteinander teilen konnten. Am Ende nicht einmal mehr die Wochenenden. Das war, zumindest für ihn, auf Dauer zu wenig. Und als der kleine Vorrat an Gemeinsamkeiten aufgebraucht war, hatten sie eine Entscheidung treffen müssen. Wenigstens hatte er durch diese Erfahrung eines gelernt. Gelegentlich Tisch und Bett zu teilen, war nicht das, was ihn zufrieden machte. Selbst wenn er lange genug versucht hatte, sich das Gegenteil einzureden. Dass es einfacher war, wenn man keine Verpflichtungen einging. Wenn jeder sein eigenes Leben hatte. Und das man für gelegentliche nette Stunden zu Zweit nicht so komplizierte Dinge wie eine Beziehung führen musste. Frei nach der Devise: Willst du gelten, mach dich selten.
Noch vor einigen Monaten hätte er diesen Ausspruch wie so viele andere, die er je nach Lage der Dinge gebrauchte, seiner Oma Ginelli zugeschrieben. Das war zu einer Art „Running Gag“ geworden. Im Laufe der Jahre hatte er ihr sicher den ein oder anderen Satz angehängt, den sie niemals gesagt hatte. Auch, wenn es viele Dinge gab, die wirklich von ihr stammten. Aber bei diesem Satz war er sich inzwischen ziemlich sicher, dass er von jemandem anders sein musste. Ihre Worte waren immer ziemlich kluge und vorausschauende gewesen. Solche, die von Lebenserfahrung, von einem tiefen Verständnis für das zeugten was wichtig und richtig im Leben war. Das konnte man von dieser „Weisheit“ nicht gerade sagen. Sie hatte sich eindeutig als falsch erwiesen und somit alles andere als weise. Wer sich selten machte, der galt bald nichts mehr. So wurde zumindest ein Schuh daraus.
Überhaupt hatte er das Gefühl, dass, je älter er wurde, die Dinge umso mehr ins Fließen gerieten. Die Halbwertzeit von dem, was man zu wissen glaubte, wurde immer kürzer und wie auch immer die Entscheidungen, die man zu treffen hatte, ausfielen, es schien jedes Mal schwerer, es richtig zu machen. Vor der Zeit mit Sylvia war er absolut davon überzeugt gewesen, dass sich das Thema einer langfristigen Beziehung nach dem unbefriedigenden Ende seiner Ehe erledigt hätte. Zu sehr hatte er zusehen müssen, wie ihm diese entglitt, ohne etwas dagegen tun zu können. So war er zu dem Schluss gekommen, dass für ihn dauerhafte Verbindungen zu immer der gleichen Person auf Dauer nur schaden konnten. Allenfalls noch tolerierbar in Gestalt unverbindlicher Bekanntschaften. Jetzt stellte er fest, dass es bisweilen die Unverbindlichkeit war, die ihn am meisten störte. Darüber würde er noch mal nachdenken und reden müssen.
Es war bewundernswert, wie locker Tobias, der seit ihrem gemeinsamen Einsatz auf der Nordseeinsel Langeoog eine Liaison mit Wiebke Jannings unterhielt, es nahm, dass er sie nur alle paar Wochen sehen konnte. Dann, wenn er mal keinen Dienst in der Klinik hatte oder ein paar Tage Urlaub. Oder nicht gerade mit Waldner in Wacken unterwegs. Aber schließlich war Toby noch gut zehn Jahre jünger. Und möglicherweise, lief die Zeit für ihn in einem anderen Tempo, hatte er bisweilen den Eindruck. „Keinen Hunger?“ unterbrach sein jüngerer Freund unsanft seine Gedanken, was ihm aber durchaus gelegen kam. „Wie kommst du darauf?“ erwiderte er und bediente sich dick aus der Butterdose und schnitt sich zwei kapitale Kanten Käse ab. „Und?“ ließ Tobias einfach nicht locker. „Sehen wir uns heute deine Freundin an?“ Da war es wieder, das Thema, mit dem er sich diese Suppe eingebrockt hatte, die sich nicht ohne Blessuren auslöffeln ließ, fürchtete er. Die Freundin, das war Cassie, mit bürgerlichem Namen Cassandra Röschberger, aber Fans kannten die „Princess of Metal“ wohl eher unter ihrem Künstlernamen. Cassie war mit ihrer Band „The Peacemakers“ in der Szene ein Idol, aber alles andere als eine Freundin von Waldner. Die Wahrheit war viel einfacher und profaner, und gleichzeitig auch irgendwie kompliziert.
Nicht Cassandra Röschberger, sondern ihr Bassist Gert Henning Hansen war es, mit dem ihn, in einem früheren Lebensabschnitt, eine freundschaftliche Beziehung verbunden hatte. Waldner überlegte, ob die Vergangenheitsform der Sache gerecht wurde. Richtig offiziell war diese Freundschaft nie beendet worden. Aber wie es im Leben so kam. Man verlor sich aus den Augen, zog woanders hin, tat andere Dinge und dann stellte man fest, dass es einfach nicht mehr so viel Verbindendes gab. Sie waren damals Nachbarn gewesen, in Bielefeld, vor über zwanzig Jahren. Zufällig hatten sie beide im gleichen Haus gewohnt und Gert spielte in einer damals allenfalls Insidern bekannten Band, „The Warriors“, die irgendwo zwischen Ruhrgebiet und Westfalen beheimatet war. Cassandra war Sängerin in dieser Band und natürlich hatte er sie auch persönlich kennen gelernt und getroffen, einige Male bei Gert. Damals war sie noch eine recht lokale Bekanntheit gewesen, ziemlich anders als die Frauen, die er als angehender Polizist für gewöhnlich kannte. Eine Konstellation, die schon per se schwierig gewesen war.
Gert und Cassandra waren in dieser Zeit ein Paar gewesen, zumindest immer wieder mal. Genauso häufig hatten sie sich nämlich auch des Öfteren getrennt. Privat lief es zwischen den beiden recht bewegt ab, wie er hautnah miterleben durfte. Musikalisch harmonierten sie offensichtlich besser, er hatte Gert vor Jahren getroffen, eher zufällig bei der Beerdigung eines gemeinsamen Freundes aus dieser Zeit. Um dabei zu erfahren, dass Gert noch immer als Bassist bei Cassandra spielte. Soweit die Geschichte, mit der er zu späterer Stunde hatte auftrumpfen wollen, als Tobias wieder einmal von diesem Festival geschwärmt hatte. Das war wohl ein Fehler gewesen, denn daraus hatte sich diese Wette ergeben, deren Einzelheiten er schon beinahe wieder vergessen hatte, als ihm Toby vor zwei Monaten die Karte unter die Nase gehalten hatte. Wettschulden sind Ehrenschulden, hatte er gesagt. Irgendwie war ihm dann kein plausibler Grund mehr eingefallen, sich vor dem Einlösen dieser Wette zu drücken…
„Habe ich denn eine andere Wahl?“ Tobias schüttelte erwartungsgemäß den Kopf. Die hatte Waldner gestern bereits nicht gehabt, als es auf den Festivalplatz gegangen war, um die Feuerwehrkapelle Wacken zu erleben. Nachdem sich sein Kopf sortiert hatte, war der ganze Abend wieder präsent. Schon Heavy Metal war für ihn alles andere als erste Wahl. Aber Blasmusik noch nicht einmal die dritte. Es hätte ihn gewundert, wenn irgendwer von den tausenden Menschen in ihren schwarzen Outfits in seiner Freizeit anders getickt hätte als er. Dennoch waren die „Wacken Firefighters“ anscheinend Kult auf diesem Festival, genauso wie dieser Zumba-Karl, der anschließend mit seinem Mischpult für Musik gesorgt hatte, die auf jedes Ernte- oder Schützenfest gepasst hätte. Und bei feucht-fröhlicher Stimmung hatten etliche der „Metalheadz“ mitgegrölt, nicht eben ton- oder textsicher, aber laut. Vielleicht musste man das nicht unbedingt mögen, aber die Stimmung war durchweg gut gewesen, niemand ärgerlich, wenn der Platz eng war oder ihn ein Nachbar anrempelte, oder mal Bier über die Kutten spritzte, es gab viele Umarmungen und Verbrüderungen, zwischendurch auch ein paar nackte Brüste, wenn er sich recht entsann, hatten sie sogar echte Ureinwohner aus dem Dorf kennen gelernt. Aber wie gesagt, es war ein feucht-fröhlicher Abend. Der nach ihrer Rückkehr auf den Zeltplatz in gleicher Weise weiter gegangen war und mit den hinreichend bekanntem Ergebnis geendet hatte, dessen Spuren sich an diesem Morgen allmählich verloren.
„Also gut“, erwiderte er und schenkte sich weitere Einwände. „Wie spät?“ Tobias zuckte mit den Achseln. Wie angekündigt, plante er, schon früher zu gehen, die Namen der Bands, die er sehen wollte, waren Waldner völlig unbekannt, weshalb dieser beschloss, darauf verzichten zu können. Und selbst wenn er heute noch unerwartet seine Liebe für lautes Schreien und dumpfe Rhythmen entdecken sollte, was Tobias zufolge „Death-Metal“ genannt wurde, man sollte Nichts übertreiben. Schließlich hatte er wohlweislich sein Mountainbike mitgenommen und schon eine Route über die Dörfer zum Nordostseekanal erkundet. „Wie wär´s gegen acht an der Bühne am Biergarten? Cassandras Konzert beginnt um neun, da bleibt noch genug Zeit.“ Damit konnte Waldner leben…
Kapitel 2
Mittwochvormittag
Waldner beglückwünschte sich zu seiner Entscheidung, bei der Anschaffung eines Rades Wert auf Reifen gelegt zu haben, die sich auch auf rutschigem Gelände bewährten. Obwohl, so ganz auf seinem Mist gewachsen war die Entscheidung doch nicht, musste er zugeben. Jemand anders hatte dabei nachgeholfen. Allein wäre er kaum auf den Gedanken gekommen, sich ein Fahrrad zuzulegen. Über lange Jahre hatte er Radfahren allenfalls als sportliches Ereignis wahrgenommen, eine Sportart, die nicht gerade zu seinen großen Leidenschaften gehörte, nicht einmal zu den kleinen. In Oldenburg ging er zu Fuß oder nahm den Bus. Wenn er dienstlich unterwegs war, gab es meistens einen Dienstwagen mit Fahrer. Radfahren war ihm vergleichbar überflüssig erschienen wie Autofahren oder Fliegen. Es ging gut ohne. Dass sich das zumindest beim Radfahren geändert hatte, war Sylvias Schuld oder besser gesagt, es war ihr Verdienst gewesen. Eine große Wahl hatte sie ihm allerdings auch nicht gelassen. Immerhin, seither konnte er dieser Art der Fortbewegung durchaus Vorzüge abgewinnen, mitunter hatte sich sogar ein Hauch von Genuss eingeschlichen, wenn er allein oder mit Sylvia unterwegs gewesen war. Und wenn das Wetter einigermaßen stimmte.
Im Regelfall nutzte er jedoch bei seinen Ausflügen ein anderes Gelände. Auf keinen Fall ging es quer über Felder und Wiesen. Wobei „Wiese“ für dieses Gelände ein eher schmeichelhafter Ausdruck war. Dort, wo die Zelte und Pavillons standen, war der Untergrund dicht mit Gras bewachsen, dass die Bauern vermutlich erst in den letzten Tagen abgemäht hatten. An den Seitenrändern und teils auch in den Spuren für die Fahrzeuge ließ sich beim besten Willen keine Grasnarbe mehr erkennen. In manchen Abschnitten, wo der Boden wohl ohnehin noch feucht gewesen war, hatten sich tiefe Spuren in die Erde gegraben, die vermutlich bei der Abreise für kleine Fahrzeuge ein echtes Hindernis sein mochten. Dementsprechend hatte er auf den Zeltplätzen bisweilen Probleme, auf dem Weg zu bleiben. Stellenweise musste er sein Rad durch die Zeltgasse lenken, was durch den immer reger werdenden Fußverkehr nicht einfacher wurde.
Er hatte erwartet, als Radfahrer eine Ausnahme auf dem Festival zu sein, aber zu seiner Überraschung kam ihm schon auf dem nächsten Feldweg ein Pärchen auf Rädern entgegen, das ihm freundlich zuwinkte. Anscheinend hatten mehr Menschen Lust, ihren Radius nicht auf den Campingplatz zu beschränken. So gut es ging, versuchte er, sich markante Punkte am Weg zu merken, aber spätestens nach der Überquerung des nächsten Zeltplatzes musste er einsehen, dass ihm das nicht weiterhalf. Irgendwie sahen sich die Plätze und Wege allesamt sehr ähnlich und kaum hatte er gemeint, ein besonders auffälliges Zelt an einer markanten Ecke gesehen zu haben, fiel ihm wenige hundert Meter ein scheinbar identisches Zelt auf. Es musste wohl reichen, sich den Buchstaben seines Zeltplatzes zu merken, vorsichtshalber hatte er ihn auch auf seiner Karte notiert. Das Wetter meinte es an diesem Vormittag gut mit den Metallern, es war sommerlich freundlich und das Fehlen dichterer Wolken versprach Wohlwollendes für den restlichen Tag. Somit auch für seine Radtour, dachte er. Obwohl es noch nicht einmal Mittag war, stieg an zahlreichen Zelten Rauch vom Grill auf, stellenweise geriet ihm der Geruch von bereits fertigem Grillgut in die Nase. Vermutlich war es angesichts der vielen Bands, die hier auftraten, ökonomisch sinnvoller, Frühstück und Mittag zusammenzulegen, die eingesparte Mahlzeit ließ dann umso mehr Raum für Musik und andere festivaltypische Events. Zudem schien es auch noch ganz Hartgesottene zu geben, die sich das mit der Ökonomie besonders zu Herzen nahmen und gleich auf den Luxus einer festen Mahlzeit verzichteten. Stattdessen ging die Tendenz dazu, sich flüssig zu ernähren.
Irgendwann hatte er es geschafft, das Gewirr von Gassen und Zelten hinter sich zu lassen und gelangte auf eine schmale asphaltierte Straße, die zu beiden Seiten durch hohe Absperrgitter begrenzt war. Vom Asphalt war allerdings nicht das Meiste zu sehen, der Verkehr auf diesem Weg hätte mühelos mit jeder städtischen Rushhour konkurrieren können. Anscheinend reisten noch immer zahlreiche Besucher an, ein nicht endender Strom schwitzender Gestalten mit schweren Rucksäcken, Bierpaletten auf den Armen, vereinzelt auch im Besitz eines Bollerwagens oder anderer Hilfsmittel kamen ihm entgegen. Dazwischen auch voll gepackte Autos, die sich im Schritt-Tempo zwischen den Fußgängern bewegten. Zu seinem großen Erstaunen wirkte die Szenerie nicht hektisch, die Menschen zeigten weder Ungeduld noch gab es übermäßiges Drängeln und Schieben. Dafür wurde schon mal das Gewicht der mitgeschleppten Paletten um einige Bierdosen verringert und immer wieder erklang zwischendurch der mittlerweile sattsam bekannte Ruf: "Wackööön!" Auch Waldner blieb nichts übrig, als sich diesem Tempo anzupassen und sein Rad zu schieben.
Erst nach einigen hundert Metern wurde der Weg breiter, das Gedränge ließ nach und er konnte wieder aufs Rad steigen. Zu seiner Linken lag als Teil eines Bauernhofes ein offener Stall mit Kühen oder Bullen, so genau konnte er den kleinen, aber gewichtigen Unterschied nicht erkennen, immerhin wusste er, dass es einen gab. Riechen konnte er die Tiere umso besser, obwohl sie den Menschen gegenüber zahlenmäßig weit in der Minderzahl waren. Fast tröstlich, dachte er, dass selbst hundert Metaller es in punkto Geruchs nicht mit einem einzelnem Rindviech aufnehmen konnten. Bis eben wäre er sich da nicht so sicher gewesen. Einige hundert Meter nach dem Bauernhof kam er an eine größere Querstraße. Im Mündungsbereich der Straße befand sich eine Absperrung, an der mehrere Ordner in orangefarbenen Signalwesten die Anreisenden kontrollierten. Vor dem Checkpoint hatte sich eine lange Autoschlange gebildet, die sich weit auf die Querstraße zurück staute. Wer hier hereinwollte, brauchte vermutlich mehr als eine gehörige Portion Geduld. Waldner war froh, dass er mit Tobias und seinen Freunden bereits gestern in aller Frühe angekommen war. Schon da hatten sich Schlangen an den Kontrollpunkten gebildet, aber sie waren erstaunlich schnell auf ihren Zeltplatz geleitet worden. Glücklicherweise war Toby, was das Festival anging, ein alter Hase.
Sein Gefühl riet ihm, nach links abzubiegen, die Richtung, aus der die meisten Autos kamen. Dort vermutete er den Ortskern von Wacken, das erste Ziel seines Ausfluges heute Morgen. Zumindest waren sie gestern von dort gekommen. Allerdings war er noch nie besonders gut darin gewesen, sich Wege zu merken. No risk, no fun, dachte er und folgte der Straße quasi antizyklisch, denn in diese Richtung bestand der Verkehr gerade mal aus einigen Radfahrern und sporadisch aus ein paar Transportern. Allerdings war auch auf der Gegenseite nur wenig Bewegung zu erkennen, es ging kaum voran, die Menschen in den Autos hatten ihre Scheiben heruntergekurbelt, hörten laute Musik, zeigten mit den Händen ihre obligate Pommesgabel oder die Bierdose, die sich gerade in der anderen Hand befand. Und klärten den Rest der Welt pflichtschuldig darüber auf, wo man sich gerade befand. „Wackööön…!" Gut, dass er noch einmal daran erinnert wurde…
In einigen Gärten zu beiden Seiten der Straße sah Waldner Zelte stehen, vereinzelt auch Wohnwagen mit dem WOA-Emblem, selbst Schilder mit der Aufschrift "Zimmer zu vermieten". Anscheinend war das riesige Campinggelände nicht für alle Metal - Fans das "Holy Land", manche mochten es wohl doch unspektakulärer und ruhiger, wofür auch Waldner durchaus Sympathien gehabt hätte. Weitere Seitenstraßen, die vermutlich ebenfalls aufs Gelände führten, waren mit Gittern abgesperrt, zum Teil von Security-Personal bewacht. Er beobachtete, wie einige Helfer mit einer Art überdimensionalem Handy telefonierten, vermutlich professionelle Sprechfunkgeräte, mit denen man unabhängig vom Handynetz der offiziellen Betreiber war. Bei einem der Streckenposten hielt ein vierrädriges Motorrad an, ein so genanntes Quad, wie er schon mal gehört hatte. Der Fahrer stieg ab, entledigte sich seines Helmes und gestikulierte lebhaft mit dem Angesprochenen. Worüber, da hatte Waldner so seine Phantasie. Anscheinend waren auch die Organisatoren nicht glücklich über den langen Rückstau. Aber da in diesem Jahr die Einlasskontrolle erstmals mit Vorlegen des Personalausweises erfolgte, dauerte die Prozedur entsprechend länger. Vermutlich wurde gerade darüber diskutiert, inwieweit man nicht doch darauf verzichten konnte.
Er passierte ein Ortsausgangsschild. Ohne es zu wissen, war er durch Gribbohm gefahren, ein Name, den er schon mal früher gehört hatte. Eine ältere Sache, in diesem Zusammenhang hatte er erstmals etwas von Wacken gehört, ohne sich jemals träumen zu lassen, selbst einmal hier zu sein. Gut, dass man nicht immer im Voraus wusste, was einem für die Zukunft blühte. Ein paar Minuten später mündete seine Straße erneut auf eine Querstraße, noch immer staute sich der Verkehr, diesmal zu beiden Richtungen. Wieder hielt er sich links, weil aus dieser Richtung auch größere Gruppen von Menschen zu Fuß kamen. Diese Abbiegung hatte sogar einen gewissen Wiedererkennungswert, wenngleich er das auch nicht mit absoluter Gewissheit hätte beschwören können. Die Sicherheit nahm allerdings zu, als er auf der linken Seite den zentralen Busbahnhof erblickte, ein abgesperrtes Gelände mit einer Vielzahl Haltebuchten, der ihm bereits gestern Morgen aufgefallen war. Ein Teil der Parkbuchten war besetzt, aber im hinteren Bereich flatterte ein rotes Signalband, an dem sich eine ganze Reihe Menschen drängten. Waldner meinte, auch Kollegen in Uniform dazwischen zu sehen und verlangsamte die Fahrt. In der Tat standen dort eine Reihe Polizisten hinter dem Band und versuchten, Schaulustige von selbigem fernzuhalten. Es standen auch einige Dienstfahrzeuge mit Blaulicht auf dem Platz. Spätestens jetzt dämmerte ihm, dass es einen besonderen Grund für die Präsenz der Kollegen geben musste. Und wenn er auch als Privatmensch auf dem Festival war, so blieb er doch genug Polizist, um sich die Sache einmal von Nahem ansehen zu wollen.
Glücklicherweise trennte er sich selten von seinem Dienstausweis, es hatte nun mal durchaus Vorteile, wenn man ihn vorzeigen konnte. So auch hier, nachdem er sich eine Lücke zwischen den immer noch in Schlange stehenden Autos gesucht hatte, um die Straße zu überqueren. Ein Ordner im klassischen orangefarbenen Outfit wollte ihn an der Einfahrt zum Busbahnhof abweisen, aber wieder einmal wirkte der Ausweis Wunder. Waldner machte sich keine Illusion, in kurzer Hose und seiner eher festivalangepassten Bekleidung sah er auch nicht vertrauenserweckender aus als die übrigen Anwesenden. Aber ein Dienstausweis war in diesem Land noch etwas wert, da konnte man über Äußerlichkeiten hinwegsehen. Auch die Kollegen an der Absperrung musterten ihn allenfalls kurz erstaunt, dann ließen sie ihn durch. „Waldner, Kripo Oldenburg", stellte er sich überflüssigerweise vor, denn dasselbe stand schließlich auf seinem Ausweis. „Was ist hier passiert?"
Zum Teil beantwortete sich die Frage schon von selbst, denn auch Waldner erkannte, dass er vor einem ausgebrannten Bus stand. Wobei „ausgebrannt" eine Beschreibung war, die dem Anblick kaum gerecht wurde, dachte er. Vom dem Bus war nur noch das nackte, verkohlte und teils geschmolzene Metallchassis geblieben, sämtliche Teile aus anderem Material waren augenscheinlich ein Opfer des Feuers geworden. Das Fahrzeug stand auf den nackten Felgen, keine Spur mehr vom Gummi der Reifen oder den Fensterdichtungen. Glasscherben lagen verstreut umher und der Boden war im Umkreis von einigen Metern völlig verbrannt. Es war hier wohl ziemlich heiß geworden. „Heilige Scheiße", stöhnte er und schüttelte den Kopf. Ihm schwante Böses. „Ist wer dabei zu Schaden gekommen?" erkundigte er sich mit einem Kloßgefühl im Hals bei einem der nebenstehenden Beamten und spürte regelrecht, wie ihm ein dicker Stein vom Herzen fiel, als dieser den Kopf schüttelte. So, wie der Bus aussah, war das nicht unbedingt zu erwarten gewesen.
Einige Beamte in weißen Overalls untersuchten das Skelett des Fahrzeuges, feuerfeste Handschuhe und die Vorsicht, mit der sie sich bewegten, verrieten, dass der metallene Torso des ehemaligen Busses noch nicht völlig erkaltet war. Und eine zweite Sache war ebenfalls klar. Wo die Spurensicherung am Werk war, erübrigte sich die Frage nach Fremdverschulden. „Was war das für ein Fahrzeug?", erkundigte er sich bei dem Polizeibeamten, der neben ihm stand. Anfangs schien der Mann unsicher, ob er überhaupt etwas sagen sollte, aber wieder erwies sich der Dienstausweis als Segen. „Das war der Tourbus einer Band aus Krefeld, die hier spielen wollen. Sind gestern Abend angekommen. Eyeless Gatekeeper heißen die, soweit ich weiß. Hab noch nie davon gehört, aber das ist ja bei den meisten Bands der Fall, die hier auftreten". Waldner nickte. „Waren die denn nicht im Bus?" Der Polizist schüttelte den Kopf. „Glücklicherweise nicht. Die schlafen im Landgasthof „Zur Post". War gestern Abend zu spät, um sie noch in den VIP-Bereich zu lotsen. Deshalb haben die den Bus hier stehen gelassen. In der Post halten sie immer ein paar Zimmer frei für solche Fälle.“ Anscheinend ein Kollege aus der Region, stellte Waldner fest, oder zumindest jemand, der sich mit den Gepflogenheiten hier auskannte. Er beschloss, sich den Kollegen warm zu halten.
„Kann ich etwas für sie tun?", wurde er unvermittelt von der Seite angesprochen, so dass er unwillkürlich zusammenzuckte. Ein Mann und eine Frau hatten sich quasi in seinem Windschatten „angeschlichen“, als er mit dem Polizisten beschäftigt war. Es war der Mann, der ihn angesprochen hatte. Beamte in Zivil, dachte Waldner, mit Sicherheit von der Kriminalpolizei. Mit den Jahren lernte man, seine Kollegen sozusagen an der Nasenspitze zu erkennen. Die Frau mochte etwa zwischen fünfunddreißig und vierzig sein, hochgestecktes blondes Haar, schlank mit etwas herbem Gesichtsausdruck. Um ihre Mundwinkel hatten sich bereits Falten eingegraben, von denen Waldner annahm, das sie nicht vom übermäßigen Lachen stammten. Sie musterte ihn aufmerksam, ohne etwas zu sagen. Der Mann wirkte jünger, allenfalls Mitte Dreißig, schlank, vermutlich Marathonläufer oder Anhänger einer anderen modernen Extremsportart. Er hatte dunkle, sehr kurze Locken, die ihm fast ein mediterranes Aussehen verliehen. Dem Auftreten nach einer der Kollegen, die sich frühzeitig feste Ziele für ihre Karriere gesetzt hatten.
So zum Beispiel, in fünfzehn Jahren erfolgreicher Leiter einer Kriminalinspektion oder besser noch, Kriminaldirektor zu sein. Die Elite von Morgen sozusagen. Mit der er so seine Probleme hatte. „Waldner", stellte er sich vor, „Kriminalhauptkommissar von der Kripo Oldenburg". Sein Gegenüber musterte ihn mit skeptischem Blick. „Und was machen Sie hier?" Soviel zum Thema Höflichkeit, dachte Waldner. Was den Namen der Kollegen anging, war er eindeutig im Nachteil. „Ich bin eigentlich privat hier. Aber Sie kennen das bestimmt, mitunter kann man als Polizist nicht privat bleiben, ". Ob sein Gegenüber das kannte, verriet er nicht. Aber immerhin besann er sich darauf, dass es unter Kollegen gewisse Regeln gab. "Deitermann", stellte er sich nun endlich seinerseits vor. "Polizeidirektion Itzehoe. Das ist meine Kollegin Smieters. Abteilung Kriminalität und Gewaltdelikte. Ich leite die Ermittlungen bei dieser unschönen Sache."
Zwei Dinge hatte Waldner somit erfahren. Zum Einen, dass Deitermann in dem Duo wohl die Hosen an hatte. Seine Kollegin hielt sich im Hintergrund und schien eher an der Arbeit der Uniformierten interessiert und überließ es Deitermann, dem Kollegen aus Oldenburg auf den Zahn zu fühlen. Waldner hätte es lieber umgekehrt gehabt. Die zweite Information las er zwischen den Zeilen heraus. Wie es schien, war der junge Beamte noch nicht Hauptkommissar, sonst hätte er sich mit Sicherheit unter Angabe seines Dienstrangs vorgestellt. Das mochte zu einem Problem werden, wenn er mit seiner Einschätzung des Kollegen richtig lag. Jüngere aufstrebende Kollegen und ältere, für die das von geringerer Bedeutung war, harmonierten nicht gut. Diese Erfahrung hatte er in der Vergangenheit zur Genüge gemacht. Unabhängig davon war es sehr interessant, dass der Kollege bereits offiziell von Ermittlungen sprach. Das ließ darauf schließen, dass es mehr gab als einen bloßen Anfangsverdacht und der Bus nicht von selbst in Flammen aufgegangen war. Wenn höhere Ermittlungsbeamte vor Ort waren, gab es entweder stichhaltige Indizien oder ein besonderes übergeordnetes Interesse. Oder, fügte er noch in Gedanken hinzu, womöglich sogar von beidem etwas. Eigentlich hätte er sich diskret zurückziehen können, schließlich war er, wie er selbst bereits festgestellt hatte, als Privatmann vor Ort und zudem stand der Nordostseekanal auf seinem Plan. Aber irgendein undefinierbares Gefühl hielt ihn davon ab, das zu tun, was dem jüngeren Kollegen vermutlich recht gewesen wäre. Es war so eines von diesen Bauchgefühlen, die immer dann auftauchten, wenn der Kopf schon dabei war, eine andere Entscheidung zu treffen. Und, darauf konnte er sich verlassen, sein Bauch war mit Sicherheit nicht der schlechteste Ratgeber. Inwiefern sein Kollege aus Itzehoe das zu schätzen wissen würde, blieb vorerst abzuwarten.
Aber das Leben war schließlich kein Ponyhof. Und er war geschickt genug, nicht gleich mit der Tür ins Haus zu fallen. "Ermitteln Sie denn schon in eine bestimmte Richtung?“ fragte er und bemühte sich, seiner Stimme so beiläufig wie möglich klingen zu lassen. Deitermann schien unsicher, wie er mit der Frage umgehen sollte. „Bislang ermitteln wir in verschiedene Richtungen“, antwortete er mit deutlicher Zurückhaltung. „Es ist noch zu früh, um mehr dazu zu sagen. Das kennen Sie doch sicherlich von der Arbeit in Oldenburg.“ Die Antwort war natürlich nichts anderes als ein freundlich verpacktes „Das geht Sie gar nichts an“. Etwas anderes hatte Waldner auch nicht erwartet. Schließlich hatte der Itzehoer Kollege hier Hausrecht und hätte ihn formal sogar des Platzes verweisen können. Aber genau dafür hatte er noch sein Ass im Ärmel. „Wenn ich sie bei der Arbeit störe, sagen Sie das ruhig. Als Kollege von auswärts hat man sicher nicht den richtigen Blick dafür, wie die Dinge vor Ort laufen. So empfindlich bin nicht. Aber vielleicht kann ich ja nützlich für Sie sein, wenn ich mich ein wenig auf dem Festival umhöre. Man kriegt inkognito ja so einiges mit. Entscheiden müssen Sie das natürlich..."
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Später fragte sich Waldner, wann Deitermann bemerkt hatte, dass er ihm auf den Leim gegangen war. Natürlich hätte er das Ansinnen Waldners rundherum ablehnen können und möglicherweise wäre ihm daraus nicht einmal ein Vorwurf entstanden. Aber es war eine Sache, jemanden, der nervte, abzuwimmeln. Ungleich schwerer war es, jemandem eine Abfuhr zu erteilen, der bereits im Vorfeld sein Verständnis geäußert hatte. Und richtig groß war das Problem dann, wenn man es mit dem freundlichen Hilfsangebot eines älteren und dienstgradhöheren Kollegen zu tun bekam, der eigentlich keinen Grund hatte, sich diesen Stress überhaupt anzutun. Natürlich hätte Deitermann immer noch "Nein" sagen können. Das hatte Waldner einkalkuliert. Aber so viel Chuzpe, insbesondere vor den anwesenden Kollegen der Schutzpolizei, hatte der jüngere Beamte wohl nicht gehabt. Deshalb war Waldner jetzt mit im Boot. „Meinetwegen“, hatte Deitermann nach kurzer Überlegung zugestimmt. „Sie können ja mal schauen, was Sie in Erfahrung bringen“. Für die anwesenden Kollegen in Uniform war das genau das Signal, das Waldner beabsichtigt hatte. Von ihnen konnte er jetzt das erfahren, was ihm Deitermann vermutlich nicht so ohne weiteres mitteilen würde. Zumindest, solange er diesem keinen Anlass gab, ihn aus dem gemeinsamen Boot wieder zu entfernen.
So war es möglich, sich Informationen von den Umstehenden vor der Absperrung zu verschaffen, ohne dass ihn jemand daran hinderte. Die Besitzer des ausgebrannten Busses, die Band „Eyeless Gatekeeper“, waren sozusagen eines der Zugpferde dieses Festivals, neben den internationalen Acts, deren Namen Waldner ebenso wenig sagten, wie die Vertreter der einheimischen Szene. Ob sich die Band nun dem „Progressive Metal“ zurechnen ließ oder eher „Speed Metal mit orchestralem Einschlag“, das war für ihn erheblich weniger bedeutungsvoll wie für die beiden Fans, die das auf seine Frage hin intensiv miteinander diskutierten. Immerhin wusste er jetzt, dass die Songs der Band von mittelalterlichen Sagen und Mittelerde-Epen aus dem Tolkien-Universum handelten. Was ihm nicht wirklich weiterhalf. Ob Deitermann für diese Hinweise Verwendung hatte, blieb ebenfalls zu bezweifeln. Es tauchte die Frage auf, welche Folgen es für das Festival haben mochte, dass die gesamte Ausstattung der Band in Flammen aufgegangen war. Ein Gedanke, der sich nach einem interessanten Hinweis anhörte. Sabotage am Festival wäre durchaus ein plausibles Motiv für einen möglichen Brandanschlag. Genauso natürlich wie eine Abrechnung innerhalb der Szene, aber das schlossen die beiden langhaarigen Metal-Experten, mit denen er sprach, unisono aus. „Das tut hier keiner. Die sind hier alle eine große Familie.“ Dass Waldner auch schon mit Familien schlechte Erfahrungen gemacht hatte, behielt er lieber für sich.
Von den Polizisten erhielt er weitere Hinweise auf den genauen Zeitablauf. Gegen 23:00 war die Band angekommen und hatte aus organisatorischen Gründen über Nacht einen provisorischen Parkplatz auf dem zentralen Busbahnhof bekommen. Normalerweise gab es auf dem Festivalgelände einen eigenen VIP-Bereich mit genügend Parkplätzen und komfortablen Unterkünften, aber dass ein Tourbus mal zwischengeparkt wurde, kam wohl öfter vor. Mit Taxis waren die Bandmitglieder erst einmal in der „Post“, wie der Polizist den Gasthof nannte, untergekommen, wohl auf eigenen Wunsch und nur für diese Nacht, weil die Band das in früheren Jahren wohl schon so gehandhabt hatte. In der „Post“ hatte die Band nach Aussage des Beamten noch einige Zeit die Post abgehen lassen, aber gegen 2.00 seien die Mitglieder alle in ihre Zimmer verschwunden gewesen und, nach Einschätzung der Wirtin, auch nicht mehr in der Lage gewesen, irgendetwas anderes zu tun. „Die Jungs haben sich wohl gnadenlos die Kante gegeben“, meinte der Polizist mit dem Anflug eines Grinsens. Irgendwann gegen 4:00 sei dann der Alarm bei der Feuerwehr und kurz danach auch bei der Polizei eingegangen, da habe der Bus aber schon lichterloh gebrannt. Anwohner hätten sich über den Feuerschein und den Brandgeruch gewundert. Als die Löschfahrzeuge eintrafen, sei das meiste schon vorbei gewesen. Zu retten sei da ohnehin nichts mehr gewesen.
Mehr erfuhr er auch von den anderen Zaungästen, die er befragte, nicht. Nachdem er noch unter einer halbwegs plausiblen Begründung Namen und Handynummer des Beamten mit dem Insiderwissen notiert hatte, beschloss er, seinen ursprünglichen Weg fortzusetzen. Weshalb Waldner überhaupt das Bedürfnis verspürte, sich um diesen ausgebrannten Bus kümmern zu müssen, anstatt sich ein paar freie Tage zu machen, darauf hätte er bis auf jenes Gefühl im Bauch keine passende Antwort gewusst. Und dieses Gefühl war allenfalls eine sehr vage und unbestimmte Ahnung. Wäre er medial veranlagt und würde er überhaupt an so etwas glauben, was er definitiv nicht tat, man hätte es eine Vorahnung nennen können. Eine Vorahnung darüber, dass die Sache mit dem Bus, so bedauerlich der Vorfall für Band und die Fans auch war, nicht das einzige bleiben mochte, was am Ende unangenehm in Erinnerung bleiben könnte. Aber vielleicht hatte er ja einfach nur zu schlecht geschlafen und war übersensibel nach der letzten Nacht. Von Natur aus neigte er zwar eher zur Vorsicht, aber er war nicht der typische Schwarzseher. Und wenn sich am Ende seine Ahnung als falsch herausstellen sollte, würde er auch damit zweifellos leben können. Spätestens am Sontag, da war er sicher, würde man Genaueres wissen…
Kapitel 3
Immer noch Mittwochvormittag
Vom zentralen Busparkplatz war es geschätzt etwas weniger als einen Kilometer bis in den Ort. Je näher er diesem kam, umso reger wurde das Treiben am Straßenrand, der zu beiden Seiten durchgehend mit Gittern von der eigentlichen Straße abgesperrt war. Deshalb hatte er keine Chance, auf den Radweg rechts von ihm zu gelangen und so blieb er auf der Straße. Links von ihm standen die Autos immer noch und er nahm an, dass der Stau bis auf die andere Seite des Dorfs reichte oder vielleicht noch weiter. Allenfalls im langsamen Schritttempo bewegte sich die Schlange, um dann einfach wieder stehen zu bleiben. Von der linken Seite kamen aus verschiedenen Seitenstraßen und Einfahrten immer mehr Menschen in der typischen Kluft, vielfach sah er auch Männer mit nacktem Oberkörper oder Frauen mit knappen Bikinis. Dass man hier nichts zu sehen bekam, konnte man wirklich nicht behaupten. Eine junge Frau trug statt Bikini einfach breite Klebestreifen an den passenden Stellen und er fragte sich, ob das Ausziehen nicht sehr unangenehm sein musste. Einige Gestalten trugen recht exotische Kostüme, er sah fellbekleidete Wikinger und einen großen gelben Vogel unter den Menschen, die alle in Richtung Dorf marschierten.
Viele trugen Rucksäcke oder Taschen bei sich, er nahm an, dass es im Ort einen Supermarkt gab, bei dem sich die eindeckten, die nicht den Komfort hatten, mit dem eigenen Auto anzureisen. Obwohl, im Augenblick ließ auch dieser Komfort durchaus zu wünschen übrig, die Autoschlange hatte sich zu einer Art Stillleben entwickelt. Gerade in diesem Augenblick wurde er von zwei weiteren Radfahrern überholt, die zwar schneller fuhren als er, der eine der beiden aber mit sehr viel Platzbedarf zu beiden Seiten. „Hermann, das Rad lässt sich nicht richtig lenken“, jammerte der Fahrer laut. „Das Vorderrad wackelt total…“ Die Stimme verriet, dass er an diesem Morgen schon etwas früher den Kaffee gegen Bier eingetauscht hatte. „Sollen wir absteigen?“ rief der mit Hermann angesprochene hintere Radfahrer seinem Kumpel zu. „Lass mal. Geht schon…“, wiegelte der Fahrer auf dem widerspenstigen Rad ab. Waldner fragte sich, ob das die klügste Entscheidung war, denn es sah einstweilen nicht so aus, als würden Rad und Fahrer schnell zu einer harmonischen Einheit finden. Aber dann waren Hermann und sein Freund im Gewühl verschwunden und er sah auf der weiteren Strecke keine Anzeichen dafür, dass ihnen ein Unglück passiert war.
An der linken Straßenseite tauchte ein großer schwarzer Turm auf, auf dem weithin sichtbar das Wacken-Emblem prangte. Die Menschen standen hier dichter gedrängt, einige versuchten, ins Innere des Gebäudekomplexes zu gelangen, der zum Turm gehörte. „Wacken Info Office“ stand über der Eingangstür. Ein dicht umlagerter Getränkepavillon stand direkt daneben. Die Getreidesilos im Bereich hinter der Straße verrieten, dass die Anlage einem speziellen Zweck diente und der Turm nicht allein für das Festival gebaut worden war. Soweit ging die Liebe der Wackener Bürger zu ihrem Festival dann doch noch nicht. Natürlich hatte Waldner eine Vorstellung davon, was eine Raiffeisengenossenschaft war. Schließlich hatte er vor einigen Jahren den Mord an einem Vorstandsmitglied der Raiffeisengenossenschaft in Edewecht aufklären müssen. Allerdings war die beherrschende Farbe dort Grün gewesen. Aber vielleicht war Schwarz ja nur ein besonders intensives Grün…
„Sünde!“, hörte er plötzlich aus einer Menschenansammlung in der Nähe des Getränkepavillons. Anfangs glaubte er, sich verhört zu haben. „Sünde!“, erklang es ein zweites Mal. Und ein Drittes. Waldner stoppte sein Rad und stieg ab. Auch bei näherem Hinhören klang es noch immer wie „Sünde!“ Was ihn zu näherem Hinschauen veranlasste. Von einigen Metalfans umringt stand dort ein älterer Mann, in ziemlich abgetragener Kleidung, der mit beiden Händen ein Pappschild in die Höhe hielt. „Das jüngst Gericht kommt“ schrie der Mann in die Menge der umherstehenden Metaller. „Kehret um! Die Gottlosen werden in die Hölle kommen!“ Waldner hatte ein mulmiges Gefühl. Immerhin war der Mann alleine, die anderen wesentlich zahlreicher und die Botschaft des Alten nicht gerade populär. Und besonders sensibel vorgetragen wurde sie auch nicht. Seine Befürchtungen erwiesen sich jedoch als unbegründet. Einige der Umherstehenden bemühten sich, den Mann in ein Gespräch zu verwickeln, ohne rechten Erfolg. Andere machten sich einen Spaß daraus, sich vor dem Schild fotografieren zu lassen. „Jesus wird kommen“ stand darauf. Nun, dachte Waldner, wenn Jesus das passende Outfit wählte, würde er hier unter diesen Menschen nicht einmal auffallen. Der Alte jedenfalls ließ sich von niemandem aus der Fassung bringen. „Bereuet!“ rief er mit lauter Stimme, die für Waldner um einige Nuancen zu kreischend klang. „Der Teufel ist um euch! Betet, dass ihr gerettet werdet!“