Der Bericht des Polizisten - Georges Simenon - E-Book

Der Bericht des Polizisten E-Book

Georges Simenon

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Beschreibung

Ein Mann wird am Rand einer Landstraße vom Auto erfasst, liegt schwer verletzt im Graben, der Fahrer flüchtet. Wer sich um ihn kümmert, ist Étienne, der seiner Ehefrau Joséphine auch von dem Fund des Geldkoffers berichtet, den der Unbekannte bei sich trug. Die Polizei bittet die Familie, den Verletzten zunächst bei sich unterzubringen, seine Überlebenschancen stehen schlecht. Doch ein Zettel, den man bei dem Mann entdeckt, weist darauf hin, dass dieser ohnehin ihr Gehöft zum Ziel hatte. Wer ist der vermeintlich Unbekannte? Was hat es mit dem vielen Geld auf sich? Und warum wollte Joséphine den Zettel vergeblich verschwinden lassen? Die Familie hüllt sich gegenüber der Polizei in Schweigen.

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Georges Simenon

Der Bericht des Polizisten

Roman

Aus dem Französischen von Markus Jakob

Atlantik

1

Die beiden Frauen waren gerade auf dem vorderen Dachboden beschäftigt, demjenigen mit dem Rundfenster zur Straße, der als Obstlager genutzt wurde. Die Mutter, Joséphine Roy, saß auf einem niedrigen Stuhl, nahm Äpfel aus einem Korb und rieb sie mit einem rot karierten Tuch ab; die wurmstichigen legte sie beiseite, die guten reichte sie Lucile weiter.

Lucile legte die Früchte fein säuberlich nebeneinander auf den Gitterregalen längs der Wände aus. Für die oberen Reihen musste sie auf einen Schemel steigen.

Sie hatten damit gleich nach dem Geschirrspülen begonnen, und nun war es schon vier Uhr vorbei. Man hätte anhand ihrer Bewegungen das Vergehen der Zeit messen können, so regelmäßig waren diese, und um sie herum herrschte eine solche Stille, dass man den Eindruck hatte, das eintönige Leben in ihrem Innern zu hören, so wie man, wenn man in die Küche kam, das Ticken im Innern der Wanduhr hörte. Sogar der Regen draußen fiel leise, sachte, ruhig, wie ein Flor, der sich gleichzeitig mit dem Abend auf das Gehöft senkte.

All das sollte Stunden später nochmals Erwähnung finden, nämlich in dem trockenen Bericht eines Wachtmeisters der Gendarmerie.

Seit Stunden schon rieb Joséphine Roy Äpfel ab, sonderte sie aus; und seit Stunden legte Lucile, ihre Tochter, sie nach Sorten geordnet auf die Regale des Obstlagers.

Immer wenn sie an der kleinen Fensterluke vorbeikam, immer oder jedenfalls fast immer – solche Dinge lassen sich hinterher nicht mehr mit letzter Sicherheit sagen –, warf sie gedankenlos einen Blick auf das Stück nass glänzender Straße vor dem Haus, auf die grüne Böschung, die daran anschloss, und dann sah sie den fahlen aufgerissenen Stamm des Nussbaums, der in der Nacht umgestürzt war, und das dramatische Gewirr seiner gekrümmten Äste.

Der Herbststurm hatte sich erst im Morgengrauen ganz gelegt, und danach hatte dieser Nieselregen eingesetzt, der immer noch anhielt. Vater und Sohn Roy waren hinausgegangen, um sich den Baum anzusehen, der seit vielleicht zweihundert Jahren hier gestanden und dem Hof seinen Namen – Gros-Noyer – gegeben hatte und der nun vom Sturm gefällt worden war. Um die Straße wieder freizulegen, hatten sie einige Äste absägen müssen.

Der Alte war nun mit dem Vieh beschäftigt, im Kuhstall oder auch bei den Pferden. Étienne Roy war wie jeden Samstag in Fontenay-le-Comte.

In einer Viertelstunde, allerhöchstens einer halben, würde es zu dunkel sein, um Äpfel zu verlesen, und die beiden Frauen würden hinuntergehen.

Es würde die Sache des Wachtmeisters sein, im Rückblick den genauen zeitlichen Ablauf zu bestimmen, und erstaunlicherweise sollte ihm das auch gelingen, indem er wieder und wieder die Leute ausfragte und ihre Aussagen miteinander verglich.

Der Erste, der die Straße entlangkam, war Serre, der Pferdehändler aus La Rochelle; er fuhr mit seinem Auto und dem mit einem gelben Dreieck markierten Anhänger vorbei. Lucile blickte zum Wagen hinunter, ohne Serre am Lenkrad zu sehen, aber sie sah das Pferd, ganz durchnässt, das sich auf dem schwankenden Anhänger mühsam im Gleichgewicht hielt. Sie bemerkte auch, dass das Gefährt etwas langsamer wurde, vermutlich weil der Fahrer einen Blick auf den umgestürzten Baum werfen wollte.

Es war halb fünf. Das ließ sich leicht feststellen, denn Serre hatte das Café du Marronnier in Maillezais um Viertel nach vier verlassen, und für die fünf Kilometer brauchte er erfahrungsgemäß nicht länger als eine Viertelstunde.

Noch eine Reihe Äpfel, je Reihe dreißig Stück … Wie viel war das, in Sekunden gerechnet? … Das Dachfenster lag gleich neben dem Ende des Regals … Lucile sah nochmals hinaus, kniff die Augen zusammen, denn nun lag dort, neben dem umgestürzten Nussbaum, eine menschliche Gestalt.

Sie sagte nichts. Sie redete nicht viel mit ihrer Mutter.

»Ich dachte, es sei ein Betrunkener …«, sagte sie später aus. »Es kommt oft vor, dass die Männer samstags, wenn sie vom Markt zurückkommen, ein wenig angesäuselt sind …«

Und doch war es für sie wie ein Schock. Sie geht einen Korb Äpfel holen, kommt zurück, blickt nochmals hin und sieht, dass neben dem Mann ein Fahrrad liegt.

Sie hatte gleich ein ungutes Gefühl und musste an die Katze denken. Eine alte Geschichte, die schon zehn Jahre zurücklag. Sie war damals zwölf. Sie kam von der Schule nach Hause. Sie machte in der Küche ihre Aufgaben. Ihre Mutter war am Gemüseputzen, und es wurde Abend, genau wie heute.

Die fuchsrote Katze, die seit Tagen um das Gehöft herumschlich und der die Männer vergeblich mit Mistgabeln nachgesetzt hatten, stand plötzlich, nachdem sie einen entsetzlichen Schrei von sich gegeben hatte, auf dem Fenstersims. Ganz nah hinter der Scheibe sah man sie, und auch sie starrte entsetzt die Gesichter an, die sich ihr zugewandt hatten.

Sie musste in eine Falle geraten sein und hatte sich nur wieder befreien können, indem sie ihre Haut halb zerfetzt hatte. An die offenen Wunden hatte sich schon Ungeziefer gemacht. Grüngoldene Fliegen saßen darauf.

»Geh, mach deine Aufgaben, Lucile …«

Die Mutter war hinausgegangen und hatte versucht, das Tier zu verscheuchen, aber es hatte sich umso dichter ans Fenster gepresst. Der alte Roy war nach Sainte-Odile seinen Schoppen trinken gegangen. Sein Sohn war auf dem Viehmarkt.

Fast eine Stunde mussten sie auf ihn warten. Draußen war es inzwischen dunkel geworden. Vor der Schwärze des Fensters leuchteten die Katzenaugen. Endlich hörte man den Karren heranrattern.

»Étienne! Die Katze ist hier …«

Schritte, dumpfe Schläge, haarsträubendes Miauen, und endlich war der Vater hereingekommen.

»Wasch dir die Hände …«

Wie oft schon hat sie an die Katze gedacht und immer versucht, die Erinnerung zu verscheuchen, jenes Bild, das sie mehrmals am Einschlafen gehindert hatte? Sie hat genau drei Reihen Äpfel gelegt. Ein Auto fährt vorbei, mit brennenden Scheinwerfern, obwohl es noch nicht ganz dunkel ist. Lucile kennt das Fahrzeug, es ist der Lieferwagen von Ligier, dem Geflügelhändler aus Sainte-Odile. Er hat angehalten. Ligier steckt den Kopf zur Wagentür heraus. Man könnte meinen, er rede mit jemandem, aber man hört nichts, denn der laufende Motor übertönt alle Geräusche.

Dann fährt er wieder los, in Richtung Sainte-Odile.

Tatsächlich saßen, Lucile wird sich später daran erinnern, zwei Männer vorn in dem Lieferwagen. Es war der junge Ligier, der sich vorgebeugt hatte. Die Gestalt, die man auf der andern Seite erkennen konnte, war vermutlich der alte Ligier gewesen, der seinen Sohn samstags gewöhnlich begleitet.

Der Unbekannte liegt nicht mehr dort, wo er vorher gelegen hat. Er liegt jetzt direkt auf der Straße, etwas weiter rechts, kaum einen Schritt von den Ästen des umgestürzten Nussbaums entfernt.

Lucile öffnet den Mund, um etwas zu sagen. Aber was? Sie weiß nicht, was sie sagen soll, und so schweigt sie.

Joséphine Roy erhebt sich, schüttelt ihre Schürze aus. Es ist zu dunkel, um weiterzuarbeiten, und es ist Zeit, die Suppe aufs Feuer zu setzen.

»Was ist denn das?«, murmelt sie und bleibt vor der Fensterluke stehen.

»Ich weiß nicht … Ligier hat mit ihm gesprochen …«

Sie gehen hinunter. Vom ersten Stock an ist die Treppe gebohnert. In der geräumigen Küche wird Licht gemacht.

Es ist nicht kalt genug, um den Ofen anzufeuern, und Joséphine Roy bückt sich vor dem Herd; das Streichholz flammt blau auf, mit einem leichten Schwefelgeruch, dann wird die Flamme hell, die feinsten Ästchen des Reisigs fangen Feuer und beginnen zu knacken.

Lucile macht das Hühnerfutter bereit. Auf dem Hof Gros-Noyer weiß jeder, was er zu tun hat. Lucile denkt immer noch an den Mann, der auf der Straße liegt.

Die Wanduhr schlägt fünf. Wenn sie einmal nachgeht, dann höchstens fünf Minuten. Man hört, wie ein Pferd angetrabt kommt.

»Ist das Gatter offen?«, fragt Joséphine Roy.

Lucile schiebt die Gardinen beiseite, um in den Hof zu sehen.

»Ja …«

Die Stute bleibt stehen. Étienne Roy steigt vom Karren und schüttelt sich wie ein nasser Hund.

Die Mutter öffnet die Küchentür. Draußen ist es dunkel.

»Hast du nichts gesehen auf der Straße?«

»Wo denn?«

»Gleich beim Nussbaum …«

Die Schritte entfernen sich. Roy hat noch die Peitsche in der Hand. Seine Frau wartet unter der Tür und blickt zum Gatter, dessen Sprossen sich schwarz wie Tuschstriche vor dem dunkelgrauen Himmel abzeichnen.

Dann kommt Roy zurück. Auf dem Weg bis zur Tür sagt er nichts. Sein Atem riecht leicht nach Alkohol, wie immer am Samstag, betrunken ist er allerdings nie.

In seinem rötlichen Schnurrbart hängen Wassertröpfchen, und sein Blick ist unstet. Er schaut sich suchend in der Küche um und sagt:

»Man sollte ihn wohl besser hereinholen … Ich glaube, er ist …«

Und er starrt auf seine rotverschmierte Hand, das Blut ist vom Regen schon wieder halb aufgelöst.

 

Der Ort, Sainte-Odile, liegt bloß dreihundert Meter vom Hof Gros-Noyer entfernt. Man sieht ihn nur nicht, weil die Straße eine Kurve beschreibt und der niedrige Kirchturm hinter Eschen verborgen bleibt.

Während der alte Roy abschirrt, hat sich Étienne mit dem Fahrrad auf den Weg zur Post gemacht. Er beugt sich über den Schalter vor. Seine Schnurrbarthaare zittern.

»Wollen nicht lieber Sie reden?«, sagt er zur Schalterbeamtin, Mademoiselle Picot.

»Hallo! … Doktor Naulet in Maillezais? … Ist dort Maillezais? … Ich habe die Nummer sechs verlangt … Spreche ich mit dem Arzt? … Wie? Er ist nicht zu Hause? … Ja, bitte versuchen Sie ihn zu erreichen, es ist dringend … Wahrscheinlich sitzt er beim Skat im Commerce … Er soll sofort nach Sainte-Odile kommen … Beim Hof Gros-Noyer ist ein schwerer Unfall passiert … Hallo, Maillezais! … Geben Sie mir die Gendarmerie … Ja, meine Liebe … Ich weiß auch nicht … Ein Mann, den man halb tot auf der Landstraße aufgelesen hat … Polizei? … Hier Sainte-Odile …«

Sie ist im Element, schaut Roy an, als wollte sie sagen:

›Sehen Sie, wie einfach das ist!‹

Draußen wird Étienne Roy gleich wieder von der Dunkelheit verschluckt, und beinahe hätte er sein Fahrrad vergessen; er muss kehrtmachen, um es zu holen. Hier und dort ein Lichtschein im Fenster eines niedrigen Häuschens. Es regnet noch immer. Roy betritt das Wirtshaus.

»Einen Rum …«

Er schaut seine Hand an. Vier Kartenspieler richten ihre Blicke auf ihn. Wenn er etwas sagt, werden sie gleich alle zum Bauernhof gelaufen kommen. Und trotzdem möchte er gern reden.

»Guten Abend …«

Einige behaupten, er sei verschlossen, er halte immer mit etwas hinter dem Berg, als habe er etwas zu verheimlichen. In Wirklichkeit ist er einfach auf der Hut. Wäre es nicht besser gewesen, er hätte mit dem Vater den Mann auf den Wagen geladen und nach Maillezais gebracht? Stattdessen haben sie ihn hochgetragen ins vordere Zimmer, das der Mutter, als sie noch lebte, aber hinfällig war und sich nicht mehr in den Haushalt einmischte.

Er schiebt sein Fahrrad mit einer Hand. Er hat keine Eile. Lieber lässt er sich etwas Zeit, damit der Arzt und der Wachtmeister vor ihm eintreffen. Der Wachtmeister kommt sicher auf die Idee, beim Arzt im Auto mitzufahren, statt das Rad zu nehmen.

Wer ist dieser Mann, der da ausgerechnet vor seinem Haus im Straßengraben gelandet ist? Roy kennt ihn nicht. Er sieht nicht aus wie einer von hier. Er ist angezogen wie ein Seemann, trägt eine fast neue Matrosenjacke aus sehr dickem blauem Tuch. Wie blutverschmiert sein Gesicht und sein Kopf waren, als sie ihn hinauftrugen …

Ganz selbstverständlich hebt Étienne Roy, als er nach Hause kommt, das Fahrrad des Unbekannten auf und stellt es neben das seine an die Außenmauer der Küche.

Der alte Roy steht da, in schweren Holzschuhen, wie er sie normalerweise nicht tragen würde, denn die roten Fliesen sind blitzblank. Sein Sohn sieht ihn fragend an. Der Alte antwortet:

»Ich glaube nicht, dass er schon tot ist …«

Étienne würde es gerne wissen … Er lauscht … Seine Frau ist oben, beim Verletzten … Étienne nutzt die Gelegenheit, um leise den Schrank zu öffnen und die Cognacflasche herauszunehmen …

Er schenkt ein Glas voll, reicht es seinem Vater, füllt es dann für sich selbst nach, bevor er es unter dem Wasserhahn abspült und an seinen Platz stellt.

Ein Auto. Scheinwerfer im Hof. Sie leuchten in die offene Stalltür, wo man kurz die Kruppe einer Kuh sieht.

»Kommen Sie herein, Doktor … Ich habe mir schon gedacht, Wachtmeister, dass Sie auch gleich im Auto mitfahren würden … Wegen dieser komischen Geschichte … Vielleicht gehen wir am besten gleich hinauf? …«

Die Treppe ist schon schmutzig geworden. Keiner denkt daran, sich die Schuhe abzuputzen. Joséphine Roy macht leise die Tür auf. Sie hat Tücher, Waschschüsseln und Wasserkrüge hergebracht, eine Flasche Wasserstoffperoxyd, wie man sie immer im Hause hat.

Es sind eigentlich zu viele Leute in dem Zimmer mit dem Mahagonibett, das hoch wie ein Katafalk ist.

»Geh hinunter, Lucile …«

Der Arzt gibt Anweisungen:

»Kochen Sie Wasser auf, so viel wie möglich …«

Das Zimmer riecht nach Naphthalin, denn seit dem Tod der Mutter Roy werden dort, im großen Schrank, abgelegte Kleider, Leintücher und Überzüge aufbewahrt. Doktor Naulet, der seine Pfeife immer noch im Mund hat, zieht sein Jackett aus und krempelt die Ärmel seines Hemds zurück.

»Wurde er von einem Auto angefahren?«, fragt er.

»Ich weiß es nicht …«

»Sie haben nicht gesehen, wie es passiert ist?«

Der Mann liegt leblos da und zeigt keine Reaktion, als ihm der Arzt mit seinen großen Händen den Schädel abtastet.

»Es sind Reifenspuren auf seiner Hose«, bemerkt der Wachtmeister, der schon sein Notizbuch aus der Tasche gezogen hat. »Ist er tot?«

»Noch nicht … Hören Sie, Wachtmeister … Es wäre gut, wenn Sie Doktor Berthomé in Fontenay anrufen könnten … Die Nummer hundertachtzehn … Er soll gleich sein Besteck mitbringen …«

Während etwa einer Stunde kommen sie sich alle vor wie körperlose Gespenster in einer fremden Umgebung. Schon füllt sich dieses Zimmer, das sonst kaum je betreten wird, mit Arzneigerüchen.

Lucile hat sich angeschickt, den Ofen in der Küche anzufeuern. Damit es schneller geht, hat sie Petroleum dazugegossen. Im Hof hält ein zweiter Wagen, das Luxusauto Doktor Berthomés, des Chirurgen aus Fontenay-le-Comte.

Die beiden Ärzte bleiben lange mit dem Verletzten allein. Manchmal geht die Tür einen Spaltbreit auf, und sie rufen herunter, um sich dies oder jenes zu erbitten. Joséphine Roy hat schon mal die Cognacflasche auf den Tisch gestellt, für den Wachtmeister, der mit der Abfassung seines Berichts begonnen hat.

Ein Kommen und Gehen, vom Schein einer Lampe in den der nächsten, und dann wieder hinaus in die feuchte Dunkelheit des Hofs oder der Landstraße.

Der alte Roy hat im Pferdestall die Sturmlaterne geholt. In ihrem Lichtschein haben sie die Stelle untersucht, wo der Verletzte gelegen hatte. Nichts zu finden.

»Madame Roy, bitte … Oder Ihr Mann, es spielt keine Rolle …«

Joséphine geht hinauf. Doktor Naulet, bei dem sie mehrmals in Behandlung gewesen ist, spricht leise auf sie ein. Sie stehen auf dem Treppenabsatz. Die Frau antwortet:

»Wenn Ihnen damit geholfen ist …«

»Ihr Mann wird doch nichts dagegen haben?«

Sie erwidert nichts, begnügt sich mit einem beschwichtigenden Zeichen. Jedermann weiß, dass sie hier das Sagen hat. Schon im Hinuntergehen verkündet sie:

»Er ist im Moment nicht transportfähig und bleibt ein oder zwei Tage hier … Lucile, der Herr Doktor möchte gern …«

Man weiß nicht einmal mehr, wie viele Leute sich eigentlich im Haus befinden, und ans Essen denkt schon gar niemand.

»Was haben Sie gesagt, Mademoiselle? …«

»Ich weiß nicht genau, wie spät es war, aber es fing gerade an, dunkel zu werden …«

»Moment mal … Sie sagen, es wurde dunkel … Sah man noch genug, oder musste man schon Licht machen? … Womit waren Sie gerade beschäftigt?«

»Wir haben oben auf dem Dachboden Äpfel verlesen, meine Mutter und ich …«

»Dann hörten Sie einen Wagen, der von Maillezais herkam … Sie sahen zum Fenster hinaus …«

»Nicht dass ich extra hingeschaut hätte, aber ich habe das Auto von Monsieur Serre erkannt …«

»Hielt er an? … Fuhr er sehr schnell? …«

»Ich hatte den Eindruck, er fuhr langsamer …«

»Moment mal … Sie hatten den Eindruck … Trat er auf die Bremse, wie wenn man zum Beispiel plötzlich ein Hindernis auf der Straße sieht?«

»Nicht so heftig …«

»Aber er trat doch auf die Bremse?«

Étienne Roy traut sich nicht, Platz zu nehmen, weiß aber auch nicht recht, wo er sich hinstellen soll. Er sieht niemandem ins Gesicht. Er streicht umher, bleibt stehen, drückt sich wieder in eine andere Ecke, unruhig wie ein Tier bei einem Gewitter. Wenn er sich unbeobachtet glaubt, wirft er einen Blick auf seine Frau, die ihre Ruhe bewahrt. Der Alte ist die Kühe melken gegangen.

»Herr Wachtmeister …«

Einer der Ärzte ruft ihn von oben.

»Das wird Sie interessieren … Kommen Sie, wir haben eine Überraschung für Sie …«

Als Wachtmeister Liberge wieder herunterkommt, trägt er über dem Arm die Kleider des Verletzten.

»Wir machen gleich weiter … Erst will ich mir aber seine Papiere ansehen …«

Er durchwühlt die Taschen. Aus der einen nimmt er ein ziemlich dickes Bündel Banknoten, die durch ein breites rosarotes Gummiband zusammengehalten werden, ein Stück Gummischlauch.

Es sind Tausendfrancscheine, sechzig an der Zahl.

»Ich werde gleich die Nummern herausschreiben …«

Ein Taschentuch und ein Messer mit drei Klingen. Keine Pfeife, keine Zigaretten, keine Streichhölzer – offensichtlich ist der Verletzte Nichtraucher.

Étienne Roy hebt die Augen und sieht seine Frau neben dem Tisch stehen, den Blick starr auf die Hände des Gendarmen gerichtet, der immer noch die Taschen durchwühlt.

»Acht Franc Kleingeld … Mich wundert nur, dass da weder eine Brieftasche noch irgendein Ausweis zu finden ist …«

Die nassen, dreckverschmierten Kleider liegen in einem unförmigen Haufen auf dem Küchentisch. Aus dem Zimmer oben hört man das Hin und Her von Schritten. Die Tür geht auf.

»Haben Sie noch siedendes Wasser?«

Madame Roy zu Lucile:

»Bring einen Krug Wasser hinauf … Oder nimm gleich den Wasserkessel …«

Étienne Roy, der sich schon seit einer Weile gerne noch einen Cognac einschenken würde, nähert sich vorsichtig dem Tisch. Da liegt etwas auf dem Boden, neben dem Tischbein, ein Blatt Papier. Er hebt es nicht auf, denn seine Hand greift schon nach der Flasche, seine Frau schaut gerade nicht her.

Er schenkt ein … Eben will er das Glas ansetzen … Er sieht nicht hin, aber er merkt doch genau, dass Joséphine sich bückt, als hätte sie etwas fallen gelassen … Das Stück Papier ist in ihrer Faust verschwunden …

Roys Glas – er hält es noch immer in der Hand – zittert ein wenig. Er muss sich anstrengen, um nicht zu wanken. Er hört die Stimme des Wachtmeisters:

»Was haben Sie da gefunden?«

Roy ist sicher, er würde seinen Kopf darauf verwetten, dass seine Frau die Absicht hatte, den Zettel zu verstecken. Er ist sicher, dass sie eine Sekunde zögert, bevor sie die Hand öffnet.

»Geben Sie her … Das kleinste Indiz kann in diesem Fall …«

Dieses Wort, »Fall«, wird sich Roy ins Gedächtnis einprägen.

Der Wachtmeister beugt sich unter die Glühbirne, die über dem Tisch baumelt. Er entziffert die bleistiftgeschriebenen Worte:

Hof Gros-Noyer in Sainte-Odile, via Fontenay-le-Comte.

Auf der Straße nach La Rochelle, fünf Kilometer hinter Fontenay, die Abzweigung nach Maillezais nehmen.

Joséphine ist blass, aber sie ist ja immer blass, vor allem seit in ihren schwarzen Haaren einige weiße Strähnen unübersehbar geworden sind. Sie sagt nichts, zeigt sich völlig ungerührt. Der Wachtmeister jedoch hat gleich gestutzt.

»Haben Sie gesehen, wie dieses Papier aus der Tasche fiel?«

»Nein …«

»Warum haben Sie es aufgehoben?«

»Ich sah etwas Weißes auf dem Boden … Ich hielt es für irgendein Papierchen, das herumliegt …«

»Um wie viel Uhr haben Sie die Küche gekehrt?«

»Nachdem ich das Geschirr gespült hatte … Etwa um zwei Uhr … Danach sind wir auf den Dachboden gegangen …«

»Was hatten Sie mit diesem Zettel vor?«

»Ich weiß es nicht … Ihn Ihnen zu geben …«

»Sehen Sie den Verletzten heute Abend zum ersten Mal?«

»Ja …«

Schweigen. Ein so peinliches Schweigen, dass alle erleichtert sind, als sie Luciles Schritte auf der Treppe hören.

»Ich will zuerst Mademoiselle noch ein paar Fragen stellen … Sie sagten, das Auto von Monsieur Serre habe leicht gebremst …«

Roy ist verwirrt. Komisch, was für falsche Vorstellungen man sich manchmal von den Leuten macht! Er hatte doch auch schon mit Wachtmeister Liberge angestoßen. Auf der Straße grüßte man sich freundlich. Und nun hat er plötzlich einen solchen Respekt vor ihm.

Der Wachtmeister hat die Bewegung seiner Frau bemerkt, darüber besteht kein Zweifel. Deshalb wirft er ihr auch, während er nun Lucile ausfragt, unaufhörlich kurze scharfe Blicke zu.

Man hört, wie ein Fahrrad ans Fenster gestellt wird. Ein Polizist tritt ein, der vom Regen durchnässt ist.

»Die Staatsanwaltschaft kann nicht vor morgen früh kommen … Der Staatsanwalt selbst wünscht, dass Sie ihn heute Abend aufsuchen oder ihm am Telefon Ihren Bericht vorlesen … Ist der Mann tot?«

»Noch lebt er …«

Sechs Uhr fünfzehn. Alle schauen sie gleichzeitig zur Uhr. Tatsächlich fährt gerade ein Auto vorbei, verlangsamt einen Moment, fährt in Richtung Sainte-Odile weiter.

»Hören Sie, Menaud, wir müssen herausfinden, was das gerade für ein Wagen war … Er hat ganz eindeutig gebremst …«

Schnell wird sich herausstellen, dass es nochmals der Lieferwagen von Ligier war, dem Geflügelhändler aus Sainte-Odile. Der Bericht, den Wachtmeister Liberge ohne Hast in seiner ebenmäßigen Schrift mit ihren ausgeprägten Hoch- und Grundstrichen abfasst, wird von vorbildlicher Genauigkeit sein.

Freilich, der Unbekannte bleibt unbekannt. Dennoch lässt sich, anhand seines Fahrrads, eine interessante Spur verfolgen. Das Rad trägt den Namen und die Adresse Périneaus, des Fahrradhändlers aus Fontenay, der auch einen Fahrradverleih betreibt.

Périneaus Laden und Werkstatt liegen an der Rue de la République, dreihundert Meter vom Bahnhof entfernt.

»Der Mann kam gegen zwei Uhr hier vorbei, einige Minuten nach der Ankunft des Zugs aus Velluire … Er trug einen kleinen Koffer … So einen Koffer aus Kunstfaser, wie man sie in Kramläden bekommt … Er wollte für den Nachmittag ein Fahrrad mieten … Er hat tausend Franc hinterlegt, mit der Bemerkung, er habe kein Kleingeld …«

»Nahm er seinen Koffer mit?«

»Er hat ihn aufs Lenkrad gelegt … Er war nicht schwer … Dann hat er sich nach der Straße in Richtung La Rochelle erkundigt …«

Der Zug aus Velluire hat Anschluss an den Schnellzug Bordeaux–Nantes … Der Unbekannte war wie ein Seemann gekleidet … Wahrscheinlich war er aus Bordeaux gekommen …

»Hat er die tausend Franc, die er Ihnen gab, einer Brieftasche entnommen?«

»Ich kann mich nicht erinnern … Ich pumpte gerade die Reifen auf, die etwas wenig Luft hatten …«

Der Mann nimmt also die Straße nach La Rochelle, biegt fünf Kilometer weiter nach links ab, und schon ist er auf dem Weg nach Sainte-Odile. Ein erster Wagen kommt ihm entgegen, es ist die fatale Begegnung mit dem Auto des Pferdehändlers Serre.

Es ist halb fünf, als Serre am Hof Gros-Noyer vorbeikommt. Er wird behaupten, er habe weder das Fahrrad noch den Mann gesehen, er habe nur sein Tempo gedrosselt, um sich den in der Nacht umgestürzten Nussbaum anzuschauen.

Einige Minuten später fährt Ligier in entgegengesetzter Richtung vorbei.

Und unmittelbar danach bemerkt Lucile Roy den Körper, nun nicht mehr im Straßengraben, wo sie ihn vorher schon gesehen hat, sondern auf der Straße selbst.

Im Wagen hatten Vater und Sohn Ligier gesessen. Das Auto stellten sie nachher in ihre Garage in Sainte-Odile. Die alte Sareau, die in einer Bruchbude neben dieser Garage wohnt, wird aussagen, sie habe den jungen Ligier gesehen, wie er sich am Kotflügel seines Autos zu schaffen machte und daran herumhämmerte. Sie kann auch die genaue Zeit nennen: fünf Minuten nach fünf.

Woraufhin der junge Ligier plötzlich nochmals allein losfährt, über die Straße in Richtung Maillezais zurück nach Fontenay, um auf dem Weg wieder an Gros-Noyer vorbeizukommen. War er nicht beunruhigt? Wollte er nicht wissen, was aus dem Verletzten geworden war? Er verlangsamte das Tempo, weiter nichts. Ohne anzuhalten. Vielleicht sah er die Autos der beiden Ärzte im Hof stehen?

»Warum sind Sie noch mal nach Fontenay gefahren, wo Sie doch gerade erst von dort kamen?«

»Ich musste noch etwas erledigen, was ich vergessen hatte …«

»Was denn?«

»Na ja, ich wollte meine Freunde in der Eden Bar treffen … Mit meinem Vater ist es schwer, sich zu amüsieren …«

Er blieb nur eine Viertelstunde mit seinen Freunden zusammen, die er tatsächlich in der Eden Bar traf und wo er drei Aperitifs trank.

 

Die Blicke aller in der Küche Anwesenden richten sich auf die beiden Ärzte, die die Treppe herunterkommen, der Chirurg etwas gravitätischer, distanzierter als sein Kollege aus Maillezais.

»Hören Sie, Roy«, sagt Letzterer. »Wir werden Ihnen vielleicht zwei oder drei Tage lang lästig fallen, aber wenn wir ihn jetzt in die Klinik bringen, kommt er dort nicht lebendig an … Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen eine Krankenschwester vorbeischicken …«

»Muss man ihn pflegen?«, will Joséphine Roy wissen.

»Vor morgen früh nichts Besonderes … Man muss ihn nur im Auge behalten … Aller Wahrscheinlichkeit nach kommt er nicht zu Bewusstsein …«

»Dann bleibe ich also in seiner Nähe …«

Ihr Mann beobachtet sie, aber sie beachtet ihn nicht, scheint ihn herauszufordern.

»Und die Staatsanwaltschaft, Wachtmeister?«

»Kommt morgen früh … Neun Uhr …«

»Ich werde meinen Arztbericht vorbeibringen … Was die Kopfverletzung betrifft, kann ich noch nichts Genaues sagen … Fest steht, dass ihm ein Auto über die Beine gefahren ist, ein Auto mit auffällig großen Rädern …«

»Ein Lieferwagen zum Beispiel?«

»Möglicherweise, ja …«

»Trinken Sie ein Gläschen, Doktor?«

Der aus Maillezais würde gerne annehmen, aber im Beisein des Chirurgen aus Fontenay …

»Danke … Falls etwas Unvorhergesehenes geschehen sollte …«

»Ich habe die Stute …«, sagt Roy.

Die beiden Ärzte unterhalten sich noch eine Weile auf dem Hof, der eine zündet seine Pfeife an, der andere eine Zigarette, die Scheinwerfer leuchten auf, und die beiden Autos fahren rückwärts hinaus.

Der Wachtmeister schließt sein Notizbuch mit einem Gummiband, überlegt kurz wegen der Banknoten, nimmt sie schließlich mit.

Nun ist niemand mehr hier, der nicht zum Haus gehörte, außer dem Fremden, der reglos oben im Zimmer der verstorbenen Madame Roy liegt, Clémentine Roy, gottergeben in ihrem vierundsechzigsten Jahr dahingegangen, nach langer und schmerzhafter Krankheit.

Joséphine räumt die schmutzigen Gläser und die fast leere