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Seit er die Tasse »Bester Papa der Welt« bekam, steht Daniel unter Druck, sich dieses Titels würdig zu erweisen. Da das Leben seiner sechsjährigen Tochter aber nicht nur aus Überraschungseiern, Achterbahn und Quatschmachen besteht, sieht er sich mit einer verrückten Aufgabe konfrontiert: Erziehung. Zu allem Überfluss bricht in seiner deutsch-türkischen Familie ein Kampf um den Titel »Lieblingsoma« aus, mit hohen Einsätzen: auf der einen Seite Lebensversicherung, Bioprodukte und pädagogisches Lernspielzeug, auf der anderen Seite Glitzerklamotten, Barbiepuppen und minutenlanges Knuddeln. Auch beruflich steht Daniel unter Druck, denn er soll als Ghostwriter die Biografie seines Kindheitsidols schreiben. Leider zieht der ehemalige Bond-Bösewicht Shitstorms geradezu magisch an … In all dem Chaos stellt Daniel plötzlich fest, dass er und seine Frau sehr wenig Zeit füreinander haben: Zum Ausgleich plant er das spektakulärste Date in der Geschichte ehelicher Romantik – und beweist, dass akribische Vorbereitung der Schlüssel zu einem erfüllten Liebesleben ist. Oder etwa nicht?
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Seitenzahl: 404
Veröffentlichungsjahr: 2025
Moritz Netenjakob
Roman
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Über Moritz Netenjakob
Über dieses Buch
Inhaltsverzeichnis
Impressum
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Moritz Netenjakob ist Autor mehrerer SPIEGEL-Bestseller und schreibt auch fürs Fernsehen (u. a. Grimmepreis für »Stromberg«) sowie die Bühne. »Extrawurst« (mit Dietmar Jacobs) war 2021/22 das meistgespielte Theaterstück im deutschsprachigen Raum.
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Seit er die Tasse »Bester Papa der Welt« bekam, steht Daniel unter Druck, sich dieses Titels würdig zu erweisen. Da das Leben seiner sechsjährigen Tochter aber nicht nur aus Überraschungseiern, Achterbahn und Quatschmachen besteht, sieht er sich mit einer verrückten Aufgabe konfrontiert: Erziehung.
Auch beruflich steht Daniel unter Stress, denn er soll als Ghostwriter die Biografie seines Kindheitsidols schreiben. Leider zieht der ehemalige Bond-Bösewicht Shitstorms geradezu magisch an … In all dem Chaos stellt er plötzlich fest, dass er und seine Frau sehr wenig Zeit für einander haben: Zum Ausgleich plant er das spektakulärste Date in der Geschichte ehelicher Romantik – und beweist, dass akribische Vorbereitung der Schlüssel für ein erfülltes Liebesleben ist. Oder etwa nicht?
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Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co. KGBahnhofsvorplatz 150667 Köln
© 2025, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln
Alle Rechte vorbehalten
Covergestaltung: Barbara Thoben, Köln
Covermotiv: © Mark Long/2agenten
ISBN978-3-462-31241-6
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Widmung
Motto
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
37. Kapitel
38. Kapitel
39. Kapitel
40. Kapitel
41. Kapitel
42. Kapitel
43. Kapitel
Dank
Für Hülya
und für meine verrückte deutsch-türkische Familie
Ich liebe Euch alle
Es gibt etwas, das uns mit allen anderen Menschen auf dieser Erde in der Tiefe unserer Seele verbindet –
unabhängig von Hautfarbe, Geschlecht, Alter, Herkunft, Nationalität, Religion, sexueller Orientierung und politischer Überzeugung:
Wir sind alle total bescheuert.
»Sie sind der perfekte Mann für dieses Projekt, da bin ich mir absolut sicher. Also: Sind Sie an Bord?«
Katharina Lessing krault den Chihuahua auf ihrem Schoß und schaut mich herausfordernd an.
»Um was für ein Projekt handelt es sich denn?«
»Um ein Buch, Herr Hagenberger.«
»Das hatte ich mir schon gedacht. In einem Buchverlag.«
»Also: Sind Sie an Bord?«
»Aber was für ein Buch? Worum soll es gehen?«
»Das kann ich Ihnen leider nicht sagen. Ist topsecret. Aber ein Riesending, das verspreche ich Ihnen.«
»Wie soll ich mich entscheiden, wenn ich nicht weiß, worum es geht?«
»Das heißt, Sie ziehen es in Betracht?«
»Keine Ahnung. Solange ich nicht weiß, worum es geht.«
»Aber wenn Sie mehr wüssten, würden Sie es in Betracht ziehen.«
»Wenn es mich interessieren würde, klar.«
»Gut, dann sage ich dem Verlagsleiter, dass Sie an Bord sind.«
»Moment. Stopp. Ich bin nicht an Bord. Ich muss wissen, worum es geht.«
Die Cheflektorin des Grabosch Verlags ist Mitte fünfzig, trägt dezentes Make-up, eine Perlenkette sowie ein elegantes Business-Kostüm in Dunkelblau mit lachsfarbenem Hemd. Ein herbes Parfüm umweht sie, dazu gesellt sich der Staub der deutschen Literaturgeschichte, die in Buchform sämtliche Wände des Büros vereinnahmt. Über der Tür hängt schwarz gerahmt ein Zitat von Franz Kafka: »Das Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.« Alles in diesem Büro vermittelt äußerste Ernsthaftigkeit – sodass ich einigermaßen überrascht bin, als sich Frau Lessing plötzlich mit einer kindlichen Piepsstimme an ihren Chihuahua wendet:
»Er will wissen, worum es geht. Ja, was machen wir denn da, Cinderella? Ja, was machen wir denn da?«
Ich unterdrücke meinen Impuls, laut loszulachen, und setze eine nachdenkliche Miene auf. Da Cinderella zumindest spontan keinen Lösungsvorschlag bereithält, senkt Frau Lessing ihre Stimme um eine Oktave:
»Nun gut, Herr Hagenberger. Dann werfe ich einfach mal einen Begriff in den Raum. Es geht um eine …«
Sie windet sich scheinbar unter Qualen und zieht in einer Übersprunghandlung Cinderellas Ohren zur Seite, sodass die jetzt aussieht wie eine Fledermaus.
»… eine Biografie.«
»Ah.«
»Aber nageln Sie mich nicht darauf fest, Herr Hagenberger. Es ist eine Biografie. Oder auch nicht.«
»Verstehe.«
»Und wenn wir über eine Biografie sprächen, und ich benutze bewusst den Konjunktiv, dann … also … dann ginge es um einen Mann.«
»Okay.«
»Um einen Mann. Oder um eine Frau.«
»Perfekt. Damit hätten wir es auf 99,99 Prozent der Bevölkerung eingegrenzt.«
»Also: Sind Sie an Bord?«
»Es tut mir ehrlich leid, Frau Lessing, aber ich brauche mehr Information.«
»Natürlich. Verstehe ich … Na gut. Ich verrate es Ihnen … Aber Sie müssen mir hoch und heilig versprechen, dass Sie niemandem davon erzählen, nicht einmal Ihrer Frau.«
»Ich verspreche es.«
»Schwören Sie es?«
»Ich schwöre.«
»(mit Piepsstimme) Hast du gehört, Cinderella, er hat es geschworen. (mit normaler Stimme) Sie müssen mich verstehen: Für einen kleinen Verlag wie unseren ist ein solches Projekt existenziell wichtig, und wenn das zu Rowohlt oder Fischer durchsickert, dann … egal, ich lasse die Katze jetzt aus dem Sack: Es geht um …«
Schweißperlen treten auf die Stirn von Katharina Lessing. Dann schließt sie die Augen und verzieht ihr Gesicht, als litte sie unter Verstopfung. Gut, mit einem Chihuahua auf dem Schoß hätte ich auch Skrupel, eine Katze aus dem Sack zu lassen.
»… nein, tut mir leid, Sie müssen erst eine Erklärung unterschreiben.«
Wenige Minuten später spuckt ein Laserdrucker drei DIN-A4-Seiten aus, begleitet von Cinderellas heiserem Kläffen. Ich überfliege den Text und lese Begriffe wie absolute Verschwiegenheit, Zuwiderhandlung, Vertragsstrafe, erschießen, … Moment mal, erschießen?! Ach, erschließen. Puh. Ich unterschreibe die Vereinbarung ebenso ahnungslos wie die Nutzungs- und Lizenzbedingungen sämtlicher Anbieter und Verbrecher, mit denen ich jemals zu tun hatte. Katharina Lessing schnappt sich die Blätter, heftet sie ab, entspannt sich und genießt den Moment der Enthüllung:
»Also, Herr Hagenberger, jetzt halten Sie sich fest: Sie sollen als Ghostwriter arbeiten … und eine Autobiografie schreiben … und zwar die Autobiografie … des letzten echten Playboys in Deutschland.«
»Sie meinen doch nicht etwa …«
»Doch, genau den meine ich.«
»Rudolf Prinz?«
»Exakt. Rudolf Prinz.«
»Aber … wieso ich?«
»Er ist auch mit einer Türkin verheiratet, so wie Sie. Und da habe ich gedacht … Na ja, ich habe ihm Ihr Buch geschickt, und er fand es gut.«
Ein Adrenalinstoß durchfährt mich. Rudolf Prinz, die Kino-Legende, der Frauenschwarm, der Inbegriff der Männlichkeit … er hat mein Buch gelesen und will mich als Ghostwriter! Ich kann mein Glück gar nicht fassen.
»Das Buch soll im März erscheinen, zu seinem siebzigsten Geburtstag.«
Ich bin kurz irritiert, weil Frau Lessing mir diese Information mit der Piepsstimme gibt, die eigentlich ihrem Chihuahua vorbehalten ist. War das ein Versehen? Oder war die Info gar nicht für mich, sondern für Cinderella? Egal. Ich hake nach:
»Im März???«
»Ja. Im März.«
»Aber … das ist gerade mal ein halbes Jahr. Für so ein Projekt würde ich ein ganzes brauchen. Mindestens.«
»Der Text muss natürlich Mitte November stehen – das ist der Vorlauf für Korrekturen, Druck, Werbung und so weiter. Das Geheimnis lüften wir dann mit einem großen Knall.«
»Auf der Leipziger Buchmesse?«
»In der Helene Fischer Show.«
»Oh. Tja, äh … Warum nicht? Das war ja schon immer ein Mekka für Literaten … Und Atemlos durch die Nacht hat die deutsche Gegenwartslyrik zweifellos auf eine neue Stufe gehoben.«
»Rudolf Prinz wird Frau Fischer sein Buch schenken, sie wird sich über alle Maßen darüber freuen, und dann singen die beiden zusammen einen Song, der zufällig genau denselben Titel hat wie das Buch.«
»Und zwar?«
»Wir werden sehen.«
»Der ist gut. Selbstbewusst, optimistisch – und macht neugierig.«
»Nein, ich meinte: Wir haben noch keinen Titel … Also, Herr Hagenberger, sind Sie an Bord?«
Tief durchatmen, Daniel, jetzt keine Kurzschlussreaktion. Nimm dir Zeit und denk nach … Fakt ist: Drei Monate sind viel zu kurz. Das kann selbst der beste Autor nicht schaffen, absolut unmöglich. Eine Zusage wäre völlig verrückt und außerdem unprofessionell.
»Natürlich. Es ist mir eine große Ehre.«
»Rudolf Prinz? Das ist doch dieser unsympathische Macho, der Frauen danach beurteilt, ob sie farblich zum Sofa passen.«
In meiner Vorstellung hatte meine Frau zunächst einen euphorischen Jubelschrei ausgestoßen, dann Sekt aus dem Kühlschrank geholt und mir schließlich voll wilder Leidenschaft die Kleidung vom Leib gerissen. Stattdessen schaut Aylin mich mit ihrem Schatz-wir-müssen-reden-Blick an:
»Daniel, ist dir klar, dass er neulich gesagt hat: Wenn der Thermomix Brüste hätte, wäre er die perfekte Ehefrau?«
»Das war doch nur ein Witz. Der Shitstorm war total überzogen.«
»Und neulich im Kölner Treff hat er sich abfällig zum Thema Frauenquote geäußert.«
»Er hat gesagt: In meinem Bett war ich für 75 Prozent, aber meine Frau hat ein Veto eingelegt … Das zeigt doch, dass er die Wünsche seiner Frau respektiert.«
»Oder es zeigt, dass zu viel Testosteron das Hirn aufweicht.«
»Jaja, seine Witze sind manchmal ein bisschen daneben … Aber er ist mit einer Türkin verheiratet.«
»Na und? Mein Exfreund ist auch mit einer Türkin verheiratet. Trotzdem ist er ein Idiot.«
»Gut, äh … also, es ist so: Der Job ist verdammt gut bezahlt. Nur deshalb habe ich zugesagt.«
»Das ist eine Lüge, Daniel, und du weißt das.«
»Och jo … sicher, er hat mit Steven Spielberg gedreht, er war mal Bösewicht bei James Bond und hatte eine Affäre mit Sharon Stone … aber der ganze Weltruhm, das alles beeindruckt mich gar nicht. Ich geh ganz cool an die Sache ran.«
»Hihi, du bist so süß.«
Aylin nimmt meinen Kopf in beide Hände und küsst mich zärtlich auf den Mund. Dann geht sie ins Schlafzimmer, um sich für die Nachtschicht in der Geburtsklinik umzuziehen. Als sie merkt, dass ich sie beobachte, springt sie aufs Bett, summt eine orientalische Melodie, zieht sich das Oberteil ihres grauen Jogginganzugs über den Kopf und schmeißt es mir ins Gesicht. Dann lässt sie das Unterteil mit Bauchtanzbewegungen sanft in Richtung Bettlaken gleiten … Ich hatte zwar keine Affäre mit Sharon Stone, aber ich habe etwas viel Besseres: Aylin. Jetzt stellt sie sich an die Bettkante und steckt sich lasziv einen Finger in den Mund:
»Oh mein Gott, das ist so hoch, ich weiß gar nicht, wie ich da runterkomme – Hilfe!«
Ich nehme eine Superhelden-Pose ein und breite meine Arme aus, in die sie sich, einen Ohnmachtsanfall imitierend, fallen lässt. Dann trage ich sie heldenhaft zum Kleiderschrank und rede mit der tiefen rauchigen Bass-Stimme von Rudolf Prinz:
»Lady, das war knapp. Wenn Sie das nächste Mal in Unterwäsche auf den Kilimandscharo klettern, sagen Sie bitte vorher Bescheid.«
Da meldet sich Lara aus dem Kinderzimmer:
»Mama, Papa, ich kann euch hören.«
Aylin und ich lächeln uns ertappt an, dann öffnet meine Frau die Schranktür, holt eine Jeans heraus und ruft zurück:
»Tamam Pamukşekerim. Dişlerin fırҫaladın mı? (Okay, meine Zuckerwatte. Hast du dir die Zähne geputzt?)«
»Evet (Ja).«
»On dakikan var. (Du hast zehn Minuten.)«
Aus dem Kinderzimmer erklingt ein kurzes Protest-Stöhnen, dann scheint Lara sich in ihr Schicksal zu fügen. Aylin, inzwischen in Jeans und T-Shirt, verabschiedet sich von unserer Tochter, und ich muss an meine erste Begegnung mit dem Namen Rudolf Prinz denken:
Ich war sieben Jahre alt und saß mit meinem Vater vor dem Fernseher. An dem Abend lief Wetten, dass..? – damals noch von Frank Elstner moderiert. Mein Vater leitete gerade an der Kölner Universität ein Seminar zum Thema Auswirkungen populärer Fernsehsendungen auf den alltäglichen Sprachgebrauch. Nun saß er verkrampft mit einem Glas Château Anniche im Sessel, Notizblock und Bleistift auf dem Schoß. Meine Mutter tippte derweil im Nebenzimmer einen Artikel für die Emma und kam nur einmal zwischendurch ins Wohnzimmer, um sich darüber zu beschweren, dass das Wette-verloren-Jingle ein unerträglicher Abklatsch von Chopins Trauermarsch sei.
Mein Vater wiederum kritisierte, dass das Wort Wettkönig in die Irre führe, wenn dieser am Ende demokratisch gewählt werde:
»Das bessere Wort wäre Wettkanzler.«
Nachdem ein vollbärtiger Südtiroler mit seinem Schaufelbagger ein Feuerzeug angezündet hatte, kündigte Frank Elstner Rudolf Prinz an, den »größten deutschen Schauspieler mit der fantastischsten Karriere, den meisten Preisen und der größten Fangemeinde«. Mein Vater notierte, dass die übermäßige Benutzung des Superlativs ein verkrampfter Versuch sei, Belanglosigkeiten aufzuwerten. Ich dagegen war fasziniert, weil das Publikum einfach nicht aufhören wollte, Rudolf Prinz zu applaudieren. Als Frank Elstner die Leute bat, sich endlich zu beruhigen, bewirkte er das Gegenteil: Die Stadthalle Böblingen stand geschlossen auf, johlend und pfeifend, während Rudolf Prinz immer wieder dankend die Hände faltete, sichtlich gerührt. Ich hatte im Fernsehen schon den Papst, die Queen und den Kaiser gesehen (also Beckenbauer), aber niemand wurde je so bejubelt wie Rudolf Prinz. Ohne Zweifel musste er der wichtigste Mensch der Welt sein. Mein Vater schüttelte mit dem Kopf:
»Das ist Führerkult pur, auf einen durchschnittlichen Populärkünstler projiziert.«
Ich ignorierte die Anmerkung und war verblüfft, als die Ovationen für Prinz selbst dann nicht enden wollten, als er sich neben die blutjunge Nena setzte und sie zum Lachen brachte, indem er ihr irgendwas ins Ohr flüsterte. Als sich das Publikum schließlich einigermaßen beruhigte, sagte Prinz:
»Wahnsinn, Leute – so laut hat noch niemand für mich geschrien. Außer meiner Mutter bei meiner Geburt.«
Das Publikum johlte erneut, und auch ich musste kichern – was mir einen mitleidigen Blick und verbalen Tadel einbrachte:
»Mein Sohn, das war nicht originell, sondern niveaulos. Denk an die Dadaismus-Ausstellung neulich in der Kunsthalle. Das war komisch.«
Dabei hatte ich gar nicht wegen des Gags gelacht, sondern weil Prinz mit der Stimme von Golo Gorilla sprach, meiner Lieblings-Zeichentrickfigur. Der Vorgang des Synchronisierens war mir damals noch unbekannt. Ich ging davon aus, dass die Ähnlichkeit ein verrückter Zufall war. Dummerweise verpasste ich durch die Anmerkung meines Vaters den nächsten Prinz-Gag, der erneut einen Lachorkan durch Böblingen ziehen ließ.
Frank Elstner kam nun auf den James-Bond-Film Blüten des Todes zu sprechen. Prinz mimte darin einen osteuropäischen Schurken namens Borislav Ratzjev, der in einer gigantischen Höhle unterhalb des Mount Everest Killer-Bakterien züchtet, um diese später in künstlichen Wolken über Europa und den USA abregnen zu lassen und so die westliche Welt auszulöschen.
James Bond sagte mir gar nichts – meine Lieblings-Geheimagenten waren damals Bernhard & Bianca – die Mäusepolizei. Rudolf Prinz erzählte von den Dreharbeiten in Thailand, dazu wurden Fotos von ihm mit Sean Connery sowie einigen leicht bekleideten Bond-Girls gezeigt. Als Prinz im Anschluss zu Nena sagte, dass sie auch ein exzellentes Bond-Girl abgeben würde, fiel sie ihm lachend um den Hals. Für den Rest der Sendung turtelten die beiden dermaßen offensiv miteinander, dass Tina Turner, die kurz zuvor What’s love got to do with it performt hatte, ihnen vorschlug, sich besser schnell ein Zimmer zu besorgen. Ich hatte keine Ahnung, was sie damit meinte, lachte aber trotzdem gemeinsam mit der Böblinger Stadthalle, erneut zum Unwillen meines Vaters.
Als Rudolf Prinz schließlich seine Wette verlor und deshalb mit Nena im Duett 99 Luftballons singen musste, war für meinen Vater der Untergang des Abendlandes besiegelt und für mich der Grundstein gelegt für die heimliche Bewunderung von Rudolf Prinz.
»Jetzt mal im Ernst, Daniel: Findest du diesen Typ etwa gut?«
Aylin schafft es, ein Maximum an Verachtung in das Wort Typ zu legen. Ihr Schwiegervater wäre stolz auf sie.
»Wenn ich jetzt Nein sage, glaubst du mir sowieso nicht.«
»Sei einfach ehrlich, Daniel.«
»Aşkım (meine Liebe), wir wissen doch beide, dass das eine rhetorische Frage war.«
»War es nicht.«
»Oh wohl. Ich soll jetzt sagen: Nein, ich finde ihn schrecklich.«
»Sollst du nicht. Du sollst ehrlich sein.«
»Klar. Aber nur, wenn ich dieselbe Meinung habe wie du.«
»Probier’s einfach aus. Was du auch sagst, ich werde antworten: Okay. Kein Problem.«
»Ich wette zehn Euro dagegen.«
»Deal.«
Aylin hat bereits ihre schwarzen Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden, steht in der Tür und schaut mich provokativ an. Ich habe Angst vor ihr. Das darf sie niemals wissen. Ach, Quatsch, sie weiß es doch längst.
»Na gut, Aylin. Also: Ich finde Rudolf Prinz … Tut mir leid, aber ich will mich nicht mit dir streiten.«
»Es – ist – für – mich – okay.«
»Na schön … Ich finde ihn gut.«
Aylin lacht kurz auf. Es folgt ein kurzer verächtlicher Ich-hab’s-ja-gewusst-Blick, dann sammelt sie sich und zwingt sich zu einem Lächeln:
»Okay, kein Problem.«
»Moment, du sagst es mit Worten. Aber dein Blick sagt etwas ganz anderes.«
»Zehn Euro bitte.«
»Tut mir leid, das Geld gibt’s nur, wenn du es auch so meinst.«
»Ich habe gesagt: Okay, kein Problem. Und ich habe es auch so gemeint.«
»Sicher?«
Aylins Augen funkeln und ihre Nase kräuselt sich. Ich habe das starke Bedürfnis, sie zu küssen, lasse mir aber nichts anmerken. Ihr Lächeln stirbt langsam, aber es stirbt. Dann holt sie mit einem lauten Stoßseufzer ihr Portemonnaie aus der Tasche und schmeißt einen Zehneuroschein in meine Richtung. Er fliegt einen halben Meter weit und kommt dann wie ein Bumerang zu ihr zurück. Sie unterdrückt ein Kichern, zerknüllt den Schein und schleudert ihn an meine rechte Wange.
»Natürlich ist es nicht okay. Das bist doch nicht du. So bist du nicht. Du bist ein warmherziger, sensibler, einfühlsamer Mann. Du liebst Koalabären, Tom Hanks und den Flötenschlumpf … Aber wenn du so eine Testosteronschleuder gut findest, dann, dann, dann … wo ist der Mann, den ich geheiratet habe?«
Sie schaut mir einige Sekunden drohend in die Augen. Ich lächle kurz, dann rede ich mit der Stimme von Rudolf Prinz:
»Den Mann, den du geheiratet hast, gibt es nicht mehr. Ich komme aus dem Sternbild des Hornochsen und habe seinen Körper besetzt.«
Aylin muss gegen ihren Willen lachen, dann küsst sie mich:
»Du hast leider voll einen an der Waffel, ҫılgın Koҫum (mein verrückter Widder)!«
»Ich liebe dich auch, Aşkım (meine Liebe).«
»Spätestens in fünf Minuten machst du bei Lara das Licht aus. Sie soll sich an den neuen Rhythmus gewöhnen. Ich komme so gegen sechs wieder. Und vergiss nicht: Am Nachmittag kaufen wir bei Ortloff die Schultüte.«
»Oh, ich hab noch einen Termin reinbekommen, kannst du die Tüte vielleicht allein besorgen?«
»Was denn für einen Termin?«
»In der Villa von Rudolf Prinz.«
»Oh nein! Das Armageddon hat begonnen.«
Fünf Minuten später gibt mir Aylin einen Abschiedskuss und verlässt unser Reihenhaus in Köln-Weiß, das wir gekauft haben, als sie im achten Monat war. Sie winkt mir noch einmal zu, kurz bevor sie um die Ecke in Richtung Bushaltestelle verschwindet. Ich winke zurück und hoffe, dass mich niemand beobachtet. Tief in mir lauert eine seltsame Angst, das Winken ließe mich unmännlich erscheinen – so als würden durch die Winkbewegung sämtliche Y-Chromosomen aus dem Körper geschüttelt.
Dabei habe ich seit vier Jahren ohnehin keine Chance mehr, in diesem Viertel als cooler Typ wahrgenommen zu werden. Um meine zweijährige Tochter zum Lachen zu bringen, stolperte ich absichtlich über die Fußmatte, schlug dann mit der flachen Hand gegen die Haustür und tat so, als hätte ich mir den Kopf gestoßen, um die Fußmatte schließlich mit Donald-Duck-Geschnatter zu beschimpfen. Lara lachte sich schlapp – hihihihihähähähä –, was mich dazu animierte, die Aktion mehrfach zu wiederholen. Lara lachte jedes Mal exakt gleich: viermal hi, viermal hä. Damit war der Wissenschaftler in mir geweckt: Wie oft kann ich meine Tochter mit ein und demselben Gag zum Lachen bringen? Ich stolperte wieder und wieder über die Fußmatte, krachte gegen die Tür und schnatterte. Laras Reaktion blieb immer gleich: viermal hi, viermal hä. Einmal knallte ich aus Versehen tatsächlich mit dem Kopf gegen die Tür: viermal hi, viermal hä. Erst nach gut zwanzig Stolperern bemerkte ich, dass mehrere Nachbarinnen, die im Haus gegenüber zum Yoga verabredet waren, mich fassungslos anstarrten. Mein Versuch, daraufhin eine lockere männliche Pose einzunehmen, untertraf in Sachen Würde und Anmut eindeutig das Imitieren von Entengeschnatter. In der folgenden Nacht lag ich zwei Stunden lang wach und überlegte, welcher Satz in dieser Situation besser gewesen wäre als »Ihr macht Yoga, ich stolpere gegen die Tür – Hauptsache, man bewegt sich«.
Als ich jetzt, vier Jahre nach diesem traumatischen Erlebnis, die Tür schließen will, merke ich, dass Christina, die Nachbarin von gegenüber, mich tatsächlich beim Winken beobachtet hat. Sie ruft durch ihr geöffnetes Küchenfenster:
»Hallo Donald, alles klar?«
Den Spitznamen Donald werde ich seit dem Fußmatten-Slapstick nicht mehr los. Ich widerstehe dem Drang zu schnattern:
»Frau arbeitet. Tochter im Bett. Läuft.«
»Na dann … vergiss nicht, die blaue Tonne ist erst übermorgen dran, weil Montag ja Feiertag war.«
In meinem Gehirn formt sich der Text: Übrigens, ich treffe morgen Rudolf Prinz – keine große Sache, aber er wollte mich unbedingt als Autor für seine Biografie. Ich lasse die Worte ungesagt, nicke freundlich, ertappe mich erneut beim Winken und schließe die Tür. Ich gehe über die Holztreppe in den ersten Stock und betrete Laras Zimmer. Meine Tochter sitzt im Bett und spielt mit zwei Barbiepuppen:
»›Hallo Jennifer, herzlich willkommen in meinem Beauty-Salon. Soll ich dir wieder deine Beine enthaaren?‹ – ›Oh ja, und etwas Botox bitte, in die Lippen und in die Stirn.‹«
»Beine enthaaren, Botox? Wo hast du das denn her?«
Lara schenkt mir einen genervten Blick und drückt mir eine dritte Puppe in die Hand. Wie auf Knopfdruck rede ich mit französischem Akzent:
»’allo?! Isch bin Cécile, und isch möschte meine ’aare schneidön lassön.«
»Das stimmt gar nicht. Cécile will sich ihren Busen vergrößern lassen!‹«
»Busen vergrößern? Echt jetzt? Du bist gerade sechs geworden. Was sind denn das für Themen?«
»Na los, Papa, spiel mit.«
»Tut mir leid, Krümeline, aber du musst jetzt schlafen. Keine Diskussion.«
»Jetzt tust du so, als wärst du so streng wie Mama.«
»Nein, ich … Was? Na gut, das stimmt zwar, aber … äh … wenn Mama erfährt, dass du nicht schlafen wolltest, dann wird sie sauer.«
»Du musst es ihr ja nicht erzählen.«
»Aber ich werde es.«
»Wirst du nicht.«
»Werde ich doch.«
Sie schüttelt den Kopf, woraufhin ich es mit wütendem Donald-Duck-Geschnatter versuche:
»Chchchchchchckrrrchchch…«
»Okay, Papa, das reicht jetzt.«
»Aber du findest das doch lustig … Oder nicht mehr? … Okay, kein Problem. Damit kann ich leben.«
Ich überspiele einen kurzen Moment blanken Entsetzens, dann reicht mir Lara erneut die Cécile-Puppe.
»Also, spielst du mit oder nicht?«
»Aber du musst schlafen.«
Lara schenkt mir einen mitleidigen Wir-wissen-doch-beide-dass-ich-dich-in-der-Hand-habe-Blick.
»Na gut, Lara. Ich spiele ein bisschen mit. Aber wir lassen das mit diesem Schönheitswahn … Vielleicht will Cécile ja rechnen lernen?«
»Na gut. Wenn’s sein muss.«
Lara rollt genervt mit den Augen. Ich schnappe mir die Cécile-Puppe:
»’allo Jennifer, isch ’abe ge’ört, du willst reschnen lernen?«
»Ja, denn Enthaarung kostet acht Euro und Botox zehn. Wie viel macht das?«
Eine knappe Stunde später schrecke ich aus dem Schlaf, weil Lara mich am Ärmel zupft.
»Papa, ich hab vergessen, Hamsti-Dampti Gute Nacht zu sagen.«
»Was? Wie? Wie spät ist es?«
»Du hast geschnarcht.«
Kurz darauf sitzen wir vor dem Hamsterkäfig im Wohnzimmer, und Lara streichelt den Goldhamster, der in ihrer Hand sitzt und an einer Möhre mümmelt. Lara wollte eigentlich einen Hund, ich wollte gar kein Haustier, wurde aber nach ihrer dritten Heulattacke schwach und verkaufte ihr den Kompromiss mit dem Satz: ›Hamster sind im Prinzip kleine vegetarisch lebende Hunde.‹
Das Tier trägt denselben Namen wie der Hamster, den ich als Kind hatte. Meine Eltern waren wahnsinnig stolz, dass ich mir den Namen Hamsti-Dampti ausgedacht hatte. Ich kann mich nicht mehr erinnern, ob ich ihn einfach erfunden oder bewusst den Namen Humpty Dumpty variiert habe; jedenfalls sahen meine Eltern darin einen Beweis für mein künstlerisches Genie – ebenso wie sie es als satirischen Seitenhieb auf die katholische Kirche interpretierten, als ich sie mit fünf fragte, ob es im Schwimmbad auch ein Weihwasserbecken gibt.
»So, jetzt sag deinem Hamster Gute Nacht, und dann ab in die Heia!«
»Aber Hamsti-Dampti will auch noch nicht schlafen.«
»Natürlich nicht, Hamster sind nachtaktive Tiere.«
»Ich glaube, ich bin auch ein nachtaktives Tier.«
»Krümeline …«
»Ich habe Hunger, ich habe Durst, ich will tanzen und ich will ein Bild malen.«
Es folgen müdes Rumhüpfen, vier Gummibärchen, ein Glas Ayran und ein lustloses Krickelkrakel, bei dem es nur darum geht, das Schlafengehen zu vermeiden. Nachdem Lara knapp fünf Minuten lang braune Kreise gemalt hat, bringe ich trotz meines ererbten Zwangs, alle Werke meiner Tochter genial zu finden, nicht mehr als ›Ich glaube, das Bild ist fertig‹ über die Lippen.
Während Lara leicht beleidigt die Treppe hinaufsteigt, fällt mein Blick auf die Kaffeetasse Bester Papa der Welt, die sie mir letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt hat und die seitdem wie ein Mahnmal auf dem Küchenregal steht, das mich permanent unter Druck setzt, dem Titel gerecht zu werden. Neulich stand ich im Traum vor einem Spiegel. Ich fragte: ›Bin ich wirklich der beste Papa der Welt?‹, und der Spiegel antwortete: ›Du bist ein hervorragender Vater, Daniel, aber hinter den sieben Waldorfschulen, bei den sieben Sozialpädagogen, da gibt es einen Vater, der noch viel besser ist als du.‹ Da bin ich aufgeschreckt und lag fast zwei Stunden wach, mit wirren Gedanken: Nach welchen objektiven Kriterien wird der Titel Bester Papa der Welt überhaupt vergeben? Und müsste ich nicht erst mal deutscher Meister werden, um bei der Papa-WM überhaupt dabei zu sein?
Als ich Lara kurz darauf aus Jim Knopf vorlese, ertappe ich mich bei dem absurden Ehrgeiz, brillieren zu wollen. Ich mache dramatische Pausen, versuche, jedem Charakter eine einzigartige Stimme zu verleihen, und imitiere Geräusche. Vielleicht ruft ja morgen der BND an: ›Wir hatten Sie eigentlich wegen Terrorverdachts abgehört, weil bei Ihnen so viele Türken ein und aus gehen. Aber wie Sie Ihrer Tochter aus Jim Knopf vorgelesen haben, das hat uns extrem berührt – das CIA-Team war auch völlig aus dem Häuschen. Also, wir sind uns hier alle einig: Sie sind der beste Vorleser der Welt.‹
Eine ganze Weile später, als ich gerade die Idee habe, den Scheinriesen mit schwäbischem Akzent sprechen zu lassen, fällt mir auf, dass Lara eingeschlafen ist. Obwohl das der eigentliche Zweck der Übung war, kann ich mir nicht helfen, es zumindest ein klein wenig als Kritik an meiner Performance zu deuten. Ich decke sie vorsichtig zu, drücke ihr einen Kuss auf die Stirn, lasse die Tür einen Spalt offen und schleiche hinunter ins Wohnzimmer.
Aus dem Kühlschrank hole ich mir eine Flasche Baltic Ale, schnappe mir die Fernbedienung und gebe Kommissar Kalle Kress als Suchbegriff in der ZDF-Mediathek ein, denn ich will Rudolf Prinz vor dem morgigen Treffen noch einmal in seiner Paraderolle sehen. Immerhin vier der fünfundzwanzig Kino-Kassenschlager stehen zur Auswahl: Kalle räumt auf, Leiche im Leuchtturm, Mord in der Luft und Kalle gegen das Phantom.
Ich entscheide mich spontan für Kalle räumt auf und starte den Stream. Zunächst erscheint eine Hinweistafel:
Dieser Film stammt aus dem Jahr 1986. Einige Inhalte, insbesondere das Frauenbild, können aus heutiger Sicht als diskriminierend und/oder entwürdigend empfunden werden. Der Film soll aber als Dokument des damaligen Zeitgeistes weiterhin der Öffentlichkeit zugänglich bleiben.
Direkt im Anschluss kommt eine weitere Hinweistafel: Goldene Leinwand 1986 für über drei Millionen Zuschauer. Es folgt das von Fanfaren begleitete Logo des Verleihs Tobis Film, bei dem zunächst noch das i fehlt, bis mit lautem Kikerikiii ein Hahn angeflogen kommt und es rektal ausscheidet.
Nun setzt der Titelsong ein, der musikalisch eine seltsame Mischung aus James Bond, Deutschrock und Schlager bietet und mit kurzen Ausschnitten bebildert ist: Kalle Kress zielt mit einer Pistole und schießt; er liegt mit einer Blondine am Strand und raucht; er verpasst einem Gangster eine saftige Backpfeife und schubst ihn dann in einen Swimmingpool. Dazu singt Rudolf Prinz höchstselbst den Titelsong:
Ich bin Kalle Kress
ich lebe wie ein Cowboy auf dem Mond
Fühl die Schwerkraft nicht so sehr
Und mein Ringfinger bleibt leer
Bin vertraut
Mit jeder Braut
Doch mein Herz bleibt unbewohnt
Hey, ich bin ein Cowboy auf dem Mond
Als ich sechzehn war, erwischten mich meine Eltern einmal dabei, wie ich diesen Song aus dem Radio heimlich auf Kassette aufnahm. Sie sagten nichts, schauten mich aber mit ihrem schlimmsten Wir-sind-sehr-sehr-enttäuscht-von-dir-Blick an. Dieser Blick versetzte mich stets in Panik, weil er mit Liebesentzug einherging. Wenn sie mich wenigstens mit Hausarrest bestraft hätten, das wäre noch eine Form der Zuwendung gewesen. Stattdessen dieses kalte Entsetzen mit dem Subtext: Wer so was hört, ist eigentlich kein Mensch. Wenige Minuten später überspielte ich das Lied unaufgefordert mit Wolf Biermanns Ballade vom Mann, der sich eigenhändig beide Füße abhackte. Dennoch musste ich mir zur Strafe später noch das Gesamtwerk von Margarethe von Trotta anschauen und darüber einen Essay schreiben.
Ich spule ein wenig vor, weil bei Kommissar Kalle Kress immer zunächst der Fund der Leiche gezeigt wurde. Der erste Auftritt des Kommissars bestand in aller Regel darin, dass entweder kurz vor oder kurz nach dem Geschlechtsakt das Telefon klingelt und er, während er sich in sein hautenges Hemd und seine hautenge Hose zwängt, von dem Mord erfährt. Die jeweilige Geliebte wird dann je nach Stand des Intimkontaktes entweder mit Das holen wir nach, Puppe oder Das wiederholen wir bald mal, Puppe vertröstet, und Kress stürmt türenknallend aus der Wohnung, während die Frau sich seufzend zurück ins Bett fallen lässt – viel nackte Haut entblößend, aber nicht so viel, dass FSK 16 gefährdet wäre.
Tatsächlich wird dieses Schema in der Folge Kalle räumt auf ein klein wenig variiert, weil Kalle diesmal schon beim Knutschen gestört wird. Auf dem Weg zum Tatort weckt er mit dem unfassbaren Anmachspruch Hey Schnitte, schon belegt? erotisches Interesse bei der attraktiven Joggerin, die zuvor die Leiche entdeckt hat. Aber Kalle Kress würde Frauen wahrscheinlich sogar mit Donald-Duck-Geschnatter rumkriegen.
Säße Aylin neben mir, würde sie mir jetzt einen bösen Blick schicken, weil sie mich für männliches Fehlverhalten jedes Mal in Sippenhaft nimmt. Einmal habe ich leichtsinnigerweise Eine verhängnisvolle Affäre mit ihr geschaut. Als Michael Douglas seine Frau betrog, durfte ich mir einiges anhören:
»Na toll. Ganz toll. Und das findest du also gut, ja?!«
»Den Film schon. Aber …«
»Natürlich. Da fährt die Frau übers Wochenende weg – och, was machen wir denn da? Hey, Superidee: Wir schlafen mit der erstbesten Schlampe, die nicht bei drei auf den Bäumen ist.«
»Aylin, ich habe dich nie betrogen. Das ist nur ein Film.«
»Nur ein Film? Das ist ja wohl die billigste Ausrede, die dir einfallen konnte.«
Im weiteren Verlauf der Handlung applaudierte Aylin Glenn Close bei jeder Racheaktion gegen Michael Douglas und schickte mir stets einen warnenden Das-passiert-wenn-man-fremdgeht-Blick.
Wenn wir zusammen im Kino sitzen, habe ich inzwischen schon Angst, wenn ein verheirateter Mann auf eine fremde Frau trifft. Ich flehe ihn innerlich an: ›Bitte lass deine Hose zu, okay? Vielleicht ist deine Ehe nicht so glücklich wie meine, aber tu es einfach mir zuliebe.‹
Während ich mir eine zweite Flasche Baltic Ale hole, knöpft Kalle Kress der attraktiven Schwester des Opfers gerade die Bluse auf, und es kommt zu folgendem Dialog:
»Gehöre ich denn nicht mehr zum Kreis der Verdächtigen?«
»Was sich gerade erhärtet hat, ist jedenfalls nicht der Verdacht.«
Das bist nicht du – so bist du nicht … Wenn du so eine Testosteronschleuder gut findest, wo ist dann der Mann, den ich geheiratet habe? Aylins Sätze klingen in meinem Kopf nach. Aber … wenn ich nicht so bin, warum will ich dann unbedingt dieses Buch schreiben? Die Biografie eines Mannes, der seinen zehnten Bambi mit den Worten entgegennahm: Ich liebe Rehe – egal, ob aus Gold oder mit Wacholdersoße.
Als der Abspann läuft, also nachdem Kalle Kress den Mörder mit dem Spruch Bis du da rauskommst, schrumpeln deine Eier auf Rosinengröße in den Knast geschickt hat, habe ich zwei Gedanken parallel im Kopf:
Erstens: Der Warnhinweis am Anfang der Folge ist absolut berechtigt.
Zweitens: Ich freue mich wahnsinnig auf das erste Treffen!
Wenn man wie ich in Köln lebt, dann hat man ein klares Bild vom Hahnwald: ein extravagantes Villenviertel für Millionäre, Bonzen, Promis und Wirtschaftskriminelle. Alles vergittert und eingezäunt, kein Geschäft, kein Restaurant, keine Spur von Leben. Ein Ort, den Kölner aus tiefstem Herzen verachten – so wie ich. Obwohl sie in aller Regel noch nie da waren – so wie ich.
Der Bus 135 biegt in die Straße Unter den Birken ein, und ich bin positiv überrascht: Der Eingang zum Hahnwald ist durch und durch grün – und nicht grauschwarz wie in meiner Vorstellung. Als ich an der Haltestelle aussteige, sorgt das Sommersonnenlicht für eine wohlig-warme Atmosphäre; Vögel zwitschern, und bisher sehe ich weder Stacheldraht noch Selbstschussanlagen. Ich laufe die Straße entlang, biege ab, dringe tiefer ins »kölsche Beverly Hills« ein und fühle mich von Minute zu Minute unwohler. Zunächst ist mir nicht klar, warum. Dann hält etwa fünfzig Meter vor mir eine Mercedes-Limousine. Ein Fahrer im schwarzen Anzug steigt aus und öffnet die Tür für eine gut achtzigjährige Dame in violettem Kostüm mit Hütchen. Beide werfen mir den gleichen Was-will-der-denn-hier-Blick zu, bevor der Fahrer der Dame einen Koffer zur Haustür trägt. Ich gehe verunsichert weiter, und in diesem Moment wird mir klar, dass ich der einzige Fußgänger im gesamten Viertel bin.
Offenbar kann es nur zwei Gründe geben, im Hahnwald zu Fuß zu gehen: Entweder man plant einen Einbruch oder … äh, nein, es gibt doch nur einen Grund. Plötzlich wird mir bewusst, dass meine dunklen Haare und mein dunkler Teint, aufgrund dessen meine türkische Schwiegermutter bei meinem Anblick immer euphorisch Vallaha, er sieht nicht aus wie ein Deutscher ruft, in diesem Fall für deutlich weniger Begeisterung sorgt. Die alte Dame bleibt versteinert in der Haustür stehen, als ich an ihrem Grundstück vorbeigehe. Der Fahrer fixiert mich mit dem Blick. Verkrampft versuche ich, einen möglichst wenig kriminellen Eindruck zu machen:
»Guten Tag, schönes Wetter heute und zum Glück nicht so heiß.«
Die alte Dame kneift die Augen zusammen. Ich bin sicher, sie versucht sich mein Gesicht für eine spätere Gegenüberstellung im Polizeirevier einzuprägen. Dann antwortet sie mit leicht rheinischem Tonfall:
»Suchen Sie irgendwas?«
»Äh, nein, ich bin nur … äh …«
Ich will nicht sagen auf dem Weg zu Rudolf Prinz, weil sie dann sicher wissen will, warum, dann müsste ich sagen, ich soll seine Biografie schreiben, zack, Vertragsbruch, und schon bin ich gefeuert.
»… also, es ist so, äh …«
Warum fühle ich mich plötzlich wie ein Verbrecher? Ich bin ein ehrlicher Mensch, ich trenne meinen Müll, bin Mitglied der Aktion Fischotterschutz und habe einen Schlafanzug aus recycelter Alpakawolle. Herrgott, ich gehe doch einfach nur spazieren. Genau, das ist es.
»… ich gehe einfach nur spazieren.«
»Und wohin?«
»Äh, na ja … weiß nicht, einfach nur so, mal gucken. Ich war noch nie im Hahnwald. Tolles Viertel. Schön ruhig.«
»Aha.«
Dieses Aha hatte so einen Unterton: Ha! Erwischt. Ich nicke verkrampft und gehe weiter, wobei ich bohrende Blicke in meinem Nacken spüre.
Gut einen Kilometer weiter, vorbei an einigen Luxusvillen im viktorianischen Stil, erreiche ich endlich das Grundstück von Rudolf Prinz. Beziehungsweise den Zaun, der das Grundstück von Rudolf Prinz von der Außenwelt abschirmt. Von hier wirkt es so, als wäre es ein eigenes Viertel im Viertel: Der Zaun, dessen Ende ich nicht erkennen kann, hat massive schwarze Stäbe mit goldenen Spitzen – exakt wie am Buckingham Palace. Auch die Anzahl der Überwachungskameras ist auf royalem Niveau. Fast würde man erwarten, durch die Stäbe die King’s Guard bei der Wachablösung zu sehen, aber eine dichte Hecke aus gut fünf Meter hohen Nadelbäumen schützt das Grundstück vor neugierigen Blicken.
Im Kopf überlege ich fieberhaft, wie ich Prinz begrüßen soll. Der erste Eindruck ist ja der entscheidende, und laut Cheflektorin hat Prinz schon fünf Autoren nach dem ersten Treffen abgelehnt. Leider konnte sie mir nicht sagen, warum. Ist Prinz jemand, bei dem man sich eher einschmeichelt, oder verliert er dann den Respekt? Haha, ich hab’s: Ich sage einfach: Na, du Hengst – alles fit im Schritt? So begrüßte Kommissar Kalle Kress stets seinen Chef … Das wird er mögen.
Ich stehe vor einem hypermodernen Edelstahltor, das zwar dieselbe Höhe hat wie der Zaun, stilistisch aber überhaupt nicht dazu passt. Es ist gut acht Meter breit und beinhaltet eine Tür sowie eine Gegensprechanlage.
Neben der erstaunlich schlichten Klingel steht Ratzjev – der Rollenname aus dem Bond-Film. Haha, das ist originell. Ich drücke den Knopf und weiß nicht, ob ich in die kleine Kamera neben der Klingel oder die große Kamera über dem Tor schauen soll. Nach knapp zwei Minuten, in denen ich insgesamt viermal die Idee verwerfe, ein zweites Mal zu klingeln, ertönt ein leises Summen in der Gegensprechanlage, gefolgt von einer weiblichen Stimme.
»Ja bitte?«
»Daniel Hagenberger. Ich bin mit Rudolf Prinz verabredet.«
»Ich sehe gar kein Auto.«
»Nein, ich bin zu Fuß gekommen.«
»Oh.«
Abrupt endet das Summen, und ich warte erneut. Eine Minute … zwei Minuten … zweieinhalb Minuten … Hat sie vielleicht die Polizei gerufen? Polizei Köln, was kann ich für Sie tun? – Ich möchte einen Fußgänger im Hahnwald melden. – Oh mein Gott, verhalten Sie sich ruhig! Ich schicke sofort das SEK!
Plötzlich ertönt ein Klick, und die Tür springt einen Spaltbreit auf. Ich trete ein, und sofort fällt die Tür mit großem Krach zurück ins Schloss.
Vor mir führt eine gut fünfzig Meter lange Kastanienallee in gerader Linie auf einen Prunkbau zu, der mich an das Schloss der Familie Crawley in Downton Abbey erinnert. Auf der rechten Seite der Allee befindet sich ein opulenter barocker Rosengarten, links ein Tennisplatz. Ich passiere ein Rondell mit Springbrunnen in der Mitte und steige zehn Stufen hoch zu einer massiven Holztür mit vielen Schnitzereien und Eisenbeschlägen, vor der mich eine vollschlanke Dame Mitte achtzig in schwarz-weißer Bediensteten-Uniform erwartet. Ich dachte, so etwas trägt man in Köln nur an Karneval.
»Das Ehepaar Prinz ist noch zu Tisch. Ich führe Sie schon mal in den weißen Salon.«
Noch bevor ich Guten Tag sagen kann, dreht sich die höchstens 1,50 Meter große Frau um und schreitet sehr gemächlich durch die gigantische Eingangshalle mit ausladender Marmortreppe und Empore im ersten Stock. Wir passieren eine Vielzahl von goldenen Deko-Säulen, auf denen nicht nur die zehn Bambis thronen, sondern auch mehrere Goldene Kameras, Goldene Leinwände und Bravo-Ottos sowie eine Goldene Palme, ein Deutscher Filmpreis, ein Goldener Bär und der Grimme-Preis. Sogar die Goldene Himbeere als schlechtester Nebendarsteller 1988 wird präsentiert. Ich ziehe innerlich den Hut für die Selbstironie; so viel Humor hätte ich Rudolf Prinz gar nicht zugetraut. Er bekam den Preis für seine allzu klischeehafte Darstellung eines russischen Zuhälters in dem Film Body for Sale (Deutscher Titel: Porsche, Pumps und Puffgeschichten) – an der Seite von Sharon Stone, deren blutleere Verkörperung einer drogenabhängigen Prostituierten ihr ebenfalls eine Goldene Himbeere bescherte.
Wir erreichen einen Flur, dessen dunkelrote Wände mit goldgerahmten Goldenen Schallplatten und Goldenen DVDs für 250.000, 500.000 oder eine Million verkaufte Exemplare geschmückt sind. Ein Rahmen sticht aus der Masse heraus: größer, opulenter, beeindruckender. Was mag das für eine Auszeichnung sein? Das Bundesverdienstkreuz? Ich trete näher und sehe eine Pergamentrolle mit Siegel, auf der in geschwungener Schrift steht:
»Hiermit wird Rudolf Prinz feierlich der Titel »Bester Papa der Welt« verliehen. Gez.: Dein Sohn Harald.«
Es ist wie ein Schlag in die Magengrube: Das ist mein Titel! Den kann man doch nicht einfach einem anderen geben! Und dann auch noch so übertrieben protzig …
Die alte Dame öffnet den rechten Teil einer Flügeltür und bittet mich gestisch einzutreten. Der weiße Salon macht seinem Namen alle Ehre: weißer Marmorfußboden mit weißem Flokati; Couchgarnitur mit weißem Ledersofa, zwei weißen Ledersesseln und weißem Marmortisch; weiß lackierte Holzschränke mit weißem Porzellan – und in der Mitte ein weißer Steinway-Flügel. Wahnsinn! Einfach alles in diesem Raum leuchtet in strahlendem Weiß. Mit meinem grünen T-Shirt fühle ich mich wie ein Spinatrest in den Zähnen von Jürgen Klopp.
»Die Herrschaften sind gleich bei Ihnen. Sie können gerne schon Platz nehmen.«
»Okay. Vielen D…«
Das ank kann ich mir sparen, weil die Dame die Tür schon wieder geschlossen hat. Ich schaue mich weiter um: Eine geöffnete Flügeltür gibt den Blick frei auf die Terrasse mit einer Pfauenstatue … Immerhin mal was anderes als ein Filmpreis … Moment, die Statue hat sich bewegt. Ooookay, es ist gar keine Statue. Der Pfau hüpft jetzt von der kleinen Steinmauer und bewegt sich über eine Steintreppe in den riesigen englischen Garten mit kleinen Hügeln und wie zufällig, aber wohldurchdacht platzierten exotischen Bäumen. Ich erkenne eine Libanon-Zeder, eine Steineiche, einen weißen Maulbeerbaum und … Moment mal, ist das da ein Hirsch? Das kann doch nicht sein, man kann doch keinen Hirsch im Garten halten. Ich reibe mir die Augen. Doch. Es ist wahr. Da wetzt tatsächlich ein echter Rothirsch sein üppiges Geweih an einer japanischen Schwarzkiefer. So ein Exemplar hatte Oma Bertha früher als Ölgemälde im Esszimmer hängen – Rudolf Prinz hat es aus Fleisch und Blut. Wahnsinn, er besitzt einen Hirsch. Oh, und da ist auch ein Reh. Das ist dann wohl der elfte Bambi.
Da vibriert es in meiner Hosentasche: WhatsApp-Nachrichten. Ich öffne vier Fotos von Schultüten, die mir Aylin geschickt hat, mit dem schlichten Text: Welche?
Einhörner
Balletttänzerinnen
Meerjungfrauen
Fliegende Pferde
Ich würde den Schulstart meiner Tochter zwar lieber mit einem Landschaftsbild von Renoir schmücken. Aber ich spüre die Gefahr, in die Fußstapfen meiner Eltern zu geraten, die es damals wahnsinnig wichtig fanden, meine Schultüte mit Atomkraft-nein-danke-Aufklebern zu versehen. Immerhin hatte meine Mutter die erste Idee meines Vaters abgebügelt: das RAF-Fahndungsplakat.
Ich whatsappe Aylin Nummer 4. Lara ist zwar von Meerjungfrauen begeistert, aber die Darstellung mit Wespentaille und BH ist mir zuwider. Die Barbie-Manie ist schon schlimm genug – wenigstens zum Schulbeginn sollte sie von magersüchtigen Vorbildern verschont bleiben. Und ein fliegendes Pferd ist immerhin eine Novelle von Martin Walser. Ach nee, das war ja ein fliehendes Pferd. Egal.
Als ich mein Handy gerade auf Flugmodus stellen will, ruft Aylin an. Ich entscheide mich, den Anruf wegzudrücken. Aber irgendein fest im Stammhirn verankerter Automatismus lässt meinen rechten Zeigefinger auf das grüne Symbol drücken, und ich höre mich sagen:
»Na, du Hengst, alles fit im Schritt?«
»Was?«
»Sorry, Aylin, ich, äh … so wollte ich gleich Rudolf Prinz begrüßen.«
»Warum?«
»Weil, na ja … Lange Geschichte. Worum geht’s?«
»Du hast dich für die fliegenden Pferde entschieden.«
»Ja.«
»Bist du dir sicher?«
»Bis vor drei Sekunden war ich es. Wieso?«
»Na ja, weil Lara doch Meerjungfrauen so liebt.«
»Ich weiß, aber gibt es denn keine, die mehr als drei Algen pro Tag essen? Ich meine … Ach, was soll’s. Nimm die Meerjungfrauen.«
»Nein. Du willst ja die Pferde.«
»Jetzt nicht mehr.«
»Kann es sein, dass du nur das Gespräch beenden willst?«
»Wenn ich ehrlich bin, ja. Denn Rudolf Prinz könnte jeden Moment …«
»Daniel, ich stehe schon an der Kasse. Also für welche Tüte sollen wir uns entscheiden?«
»Hast du jetzt beide Tüten in der Hand?«
»Nein, nur die Meerjungfrauen.«
»Warum nicht die fliegenden Pferde?«
»Weil ich sicher war, dass du deine Tochter glücklich machen willst.«
»Also steht die Entscheidung längst fest. Warum schickst du mir dann vier Optionen?«
»Weil wir doch ein Team sind.«
»Aylin, ich liebe dich über alles. Wirklich. Aber dir ist hoffentlich klar, dass du erst dann zufrieden sein wirst, wenn ich dir zugestimmt habe. Deshalb lass uns den Prozess einfach abkürzen. Also: Ich habe mich getäuscht. Jetzt will ich die Meerjungfrauen.«
»Nein, du willst das Gespräch beenden.«
»Das auch. Aber …«
»Ja, Sie können vor. Ich muss noch schnell was mit meinem Mann klären … Sorry, Daniel, die Kundin hinter mir wurde unruhig.«
»Da ist sie nicht die Einzige.«
»Also: Ich bin total ergebnisoffen. Ich kann problemlos die Meerjungfrauen wegbringen, die fliegenden Pferde holen und mich wieder ganz nach hinten in die sehr sehr lange Schlange stellen.«
»So. Du nimmst jetzt auf der Stelle die Meerjungfrauen, okay? Denn nicht nur Lara liebt Meerjungfrauen, ich liebe sie genauso – mindestens. Ich wünschte, ich wäre Aquaman, dann könnte ich mein ganzes Leben mit denen verbringen. Also kauf bittebitte die Tüte! Am besten besorgst du auch eine Meerjungfrauen-Tapete für unser Schlafzimmer, damit ich jede Nacht von diesen zauberhaften Geschöpfen träumen kann. Und …«
Ich halte inne, denn plötzlich weht mir ein herber Moschusduft in die Nase … Oh nein, ist der Hirsch ins Wohnzimmer eingedrungen? Ich drehe mich um und erschrecke – Rudolf Prinz steht direkt vor mir und sagt:
»Ich stehe weniger auf Meerjungfrauen. Die Schwanzflosse ist wahnsinnig unpraktisch, wenn man Tango tanzen will.«
Als hätte mich eine Sprungfeder aus dem Sessel katapultiert, lande ich direkt vor dem Helden meiner Jugend. Leider kann ich diesen historischen Moment nicht genießen, denn es fühlt sich an, als hätte mir jemand eine Adrenalinspritze direkt ins Herz gerammt. In Sekundenbruchteilen schießen Gedanken durch meinen Kopf: Oh mein Gott, Rudolf Prinz steht vor mir. Ich muss jetzt etwas sagen. Aber Aylin ist noch am Handy. Soll ich sie einfach wegdrücken? Sie wird es sicher verstehen. Andererseits ist es ein festes Ritual, dass wir uns mit Ich liebe dich verabschieden. Nach einer gefühlten Ewigkeit lasse ich das Handy sinken und sage zu Rudolf Prinz:
»Ich liebe Sie.«
»Originell. So hat mich noch niemand begrüßt.«
»Ich meine, ich liebe Ihre Filme. Und Ihre Musik. Und, äh …«
Wie in Trance nehme ich mein Handy wieder ans Ohr:
»… und dich liebe ich auch, Aylin. Trotzdem lege ich jetzt auf.«
Ich lege auf, will schnell in den Flugmodus schalten und starte dabei versehentlich das Lied Into My Arms von Nick Cave, das vom letzten Hören auf dem Startbildschirm verblieben war. Als ich es hektisch wegdrücken will, skippe ich stattdessen auf den nächsten Titel in meiner Playlist: Piano Man von Billy Joel. Nach einer gefühlten Ewigkeit, aber immerhin noch vor der zweiten Strophe, gelingt es mir endlich, das Handy herunterzufahren. Prinz beobachtet mich leicht amüsiert. Mein Hals ist so trocken, dass mir das Sprechen schwerfällt:
»Also wegen der Meerjungfrauen, da ging es um die Schultüte für meine Tochter.«
»Meine Frau hat unserer Enkelin damals Blattgold und Strasssteine auf die Tüte geklebt. Im Nachhinein keine gute Idee. Sechsjährige können verdammt neidisch sein …«
Das Timbre in Prinz’ Stimme durchdringt den kompletten Körper, wenn man direkt neben ihm steht. Als würde der Boden leicht vibrieren – ein Erdbeben, Stufe eins oder zwei. Ich kann nicht mehr klar denken und strecke Prinz in einer Übersprunghandlung die Hand entgegen.
»Daniel Hagenberger. Sehr …«
Ich kann jetzt nicht erfreut sagen, das wird dem Anlass nicht gerecht.
»… freudetrunken.«
Freudetrunken? Echt jetzt?
Prinz ergreift meine Hand. Es fühlt sich an, als wären meine Finger versehentlich in eine Druckerpresse geraten. Dann höre ich laute Knackgeräusche und fühle stechenden Schmerz an der Stelle, wo mein Ehering auf den kleinen Finger trifft. Ich unterdrücke die Schmerztränen, als Prinz endlich loslässt und sagt:
»Tja, ich gehe davon aus, dass Sie meinen Namen schon kennen.«
Rudolf Prinz macht sein berühmtes Zwinkern – das Markenzeichen von Kommissar Kalle Kress: Parallel zum Zwinkern ließ Kress immer einen leichten Knacklaut hören und zeigte lässig mit dem Zeigefinger in Richtung des Angezwinkerten. Hat Prinz das für die Kress-Filme entwickelt oder schon auf der Schauspielschule? Sein oder Nichtsein (Zwinkern, Knacklaut, Zeigefinger), das ist hier die Frage!
Prinz mustert mich eine Weile mit seinen unfassbar blauen Augen, die von seinem dunkelblauen Designeranzug mit glänzendem hellblauem Hemd betont werden. Dazu ein gut gebräuntes Gesicht mit Dreitagebart, das mit seiner Mischung aus kantiger Männlichkeit und schlichter Perfektion dafür gesorgt hat, dass Prinz jahrelang eine Werbeikone war. Erst die vergangenen Jahre mit vermehrten Diskussionen über toxische Männlichkeit und Diversität haben dafür gesorgt, dass sich einige Firmen von ihm distanziert haben. Und natürlich auch er selbst mit Sätzen wie Solange ich zwei Beine habe, werde ich bestimmt nicht im Sitzen pinkeln.
»Sie sind also dieser Autor mit dem erfrischenden Schreibstil?!«
»Nun ja … Und Sie sind Golo Gorilla.«
Habe ich das gerade wirklich gesagt? Eine zweite Adrenalinspritze trifft mein Herz.
»Äh, ich wollte sagen: Sie sind der Held meiner Jugend. Aber nicht nur wegen Golo Gorilla. Ich habe das nur gesagt, weil äh …«
»Hauptsache, Sie haben nicht Na, du Hengst, alles fit im Schritt gesagt. Das machen 95 Prozent aller Männer, die mich treffen. Und jeder denkt, er ist der Erste. Was für Idioten.«
»Idioten. Sehe ich genauso.«
Prinz fährt sich mit der Hand durch seine immer noch erstaunlich üppigen silbergrauen Haare, und ein intensiver Schwall des Moschusduftes weht in meine Nase. Ich bin einen Moment benebelt. Dieses Deo scheint mehr Testosteron zu beinhalten als ein Jahrestreffen der kanadischen Holzfällerunion.