Der beste Platz zum Leben - Anne Weiss - E-Book

Der beste Platz zum Leben E-Book

Anne Weiss

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Beschreibung

Tiny House, Klimahaus, Selbstversorgerhof, Mehrgenerationenhaus – Bestseller-Autorin Anne Weiss erzählt von sieben Wohnexperimenten und wie es sich nicht nur besser wohnt, sondern auch einfach besser lebt Du suchst ein Zuhause, aber alles, was du dir leisten kannst, ist das schimmelige Souterrain? Du fragst dich, wo du bleiben sollst, wenn der Klimawandel unsere Städte aufheizt? Und du willst wissen, wie du in Zukunft menschenwürdig leben sollst, wenn die Wohnpolitik sich nicht ändert?  Anne Weiss träumt schon lange davon, dass der Wohnungsmarkt menschlicher wird. Davon, dass Städte lebenswert werden – naturnaher, nachbarschaftlicher, gerechter. Wie dieser Traum Wirklichkeit werden kann, probierte sie eines Tages einfach aus. Sie erzählt so hautnah wie humorvoll von sieben Wohnexperimenten: vom Leben im Tiny House, in einem Mehrgenerationenhaus, als Selbstversorgerin nahe der Natur oder im Plusenergiehaus – und zeigt dabei: So lebt sich's in Zukunft besser! Ein inspirierendes Buch zu einem der drängendsten Themen unserer Zeit - für alle, die sich Gedanken um ihre Zukunft und um die Zukunft unserer Gesellschaft machen.

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Seitenzahl: 424

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Anne Weiss

Der beste Platz zum Leben

Wie ich loszog, ein Zuhause zu finden, das zukunftstauglich ist und glücklich macht

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Du suchst ein Zuhause, aber alles, was du dir leisten kannst, ist das schimmelige Souterrain? Du fragst dich, wo du bleiben sollst, wenn der Klimawandel unsere Städte aufheizt? Und du willst wissen, wie du in Zukunft menschenwürdig leben sollst, wenn die Wohnpolitik sich nicht ändert? 

Anne Weiss träumt schon lange davon, dass Städte lebenswert werden – naturnaher, nachbarschaftlicher, gerechter. Wie dieser Traum Wirklichkeit werden kann, probierte sie eines Tages einfach aus. Sie erzählt nahbar und humorvoll von ihren sieben Wohnexperimenten: vom Leben im Tiny House, in einem Mehrgenerationenhaus oder als Selbstversorgerin nahe der Natur. Dabei zeigt sie: So wohnt sich’s in Zukunft besser!

Inhaltsübersicht

Vor(w)ort

Disclaimer

Der beste Platz für dich

Dachschaden de luxe

Schlüsselerlebnis gesucht? So startest du die Suche nach deinem Traumzuhause

Home Smart Home

Und wenn dir die smarte Welt gefällt? Meine wichtigsten Erkenntnisse übers digitalisierte Zuhause

Landpartie für Stadthasen

Stadt oder Land? Wie du für dich herausfindest, wo du am besten lebst

Zwei Zimmer, Küche, Bad, bankrott

Was ich meinem früheren Ich gern vor der Wohnungssuche sagen würde

Platz doch einfach!

Wie du platzsparend wohnst und den richtigen Ort dafür findest

Prinzip Selbsthilfe

Wie du selbst über deine Wohnsituation bestimmst und wo du Unterstützung findest

Alle unter einem Dach

Schöner altern: Wie du Orte findest, die es anders angehen

Komm, wir wohnen in der Eisenbahn!

Heimat reloaded: Die außergewöhnlichsten Stadtführungen

Grüner wird’s nicht

Enkeltauglich wohnen: Wege zu einem umweltfreundlicheren Zuhause

Prinzessinnenzelt mit Sternenblick

Wissenswertes und Unverzichtbares fürs Bauen auf dem Planeten Erde

Nachwort, Lieblingsort

Happy End oder Zeit, anzufangen?

Danksagung

Quellenverzeichnis

Vor(w)ort

Petra steht in ihrer offenen Küche am Herd, der Duft von warmem Olivenöl und kochender Pasta steigt mir in die Nase, als ich mit einer großen Handvoll Salbeiblätter aus dem Garten zurückkehre.

»So viel ungefähr?« Ich zeige ihr meine Ausbeute – dickädrige Blätter, die ich von dem Strauch am Steinmäuerchen abgepflückt habe, der mich überragt. Warm von der Sonne schmiegen die Kräuter sich in meine Hand. Petra nickt, und ich beginne, die Blätter in einer Schüssel abzuspülen. Als sie das Grün ins heiße Fett wirft, zischt es.

»Puh, ist das warm.« Sie dreht den Hebel des Fensters neben der Spüle auf und schiebt die Flügel nach außen, wie es für diese Art Bauernhäuser typisch ist, dann wendet sie sich wieder der Pfanne zu. »Das wird lecker!«

Während der Salbei röstet, läuft auch mir das Wasser im Mund zusammen. Es gibt kaum etwas Besseres als dieses einfache Gericht. Mit einem Spaghettilöffel hieve ich Nudeln auf zwei Teller. Ich stelle sie auf den runden Tisch und lege Besteck daneben, dazu kommen unsere Gläser mit Wasser aus dem eigenen Brunnen. Petra kehrt mit einem Holzlöffel die krossen Blätter als Topping auf die Pasta.

»So ein schönes Haus«, sage ich zwischen zwei Bissen, als ich mich in ihrer Küche umsehe. Das Gehöft ist 370 Jahre alt, und meine Freundin hat es mit ihrem Mann selbst ausgebaut. Der Denkmalschutz schreibt ihr vor, wie sie das zu tun hat, darum gibt es auch die ungewöhnlichen Fenster.

»Musste ich anfertigen lassen«, hat sie mir einmal erzählt. »In der damaligen Zeit hielten die gut dicht, der starke Wind hat die Fensterflügel in den Rahmen gepresst.«

Die Regeln einer anderen Zeit.

Den Boden bilden große Steinplatten, die Zimmerdecke wird von dunklen Balken getragen, die Wände sind etwas uneben und heben sich hell vom Holz ab.

»Ich zeig dir später mal Bilder von der Renovierung.« Petra schüttelt den Kopf. »Das sah aus! Das Haus war so verfallen, dass die Nachbarn gesagt haben, ich wär übergeschnappt.« Sie lacht.

»Wieso ausgerechnet dieses Haus?«

»Wir hatten damals einen Ort gesucht, wo wir genug Platz für die Proben unseres Theaters hätten. Die Mieten in der Stadt waren so hoch, dass wir überlegten, aufs Land zu ziehen. Vom Denkmalamt haben wir uns eine Liste besorgt, auf der geschützte Häuser und Bauernhöfe in der Gegend standen, da kann man richtige Perlen finden.« Sie lächelt. »Es war Wochenende, ein sonniger Tag. Ich hab die Wiese gesehen, den alten Hof, die Linde vor dem verfallenen Stall, und ich wusste einfach: Das ist der beste Platz zum Leben.«

In diesem Moment beneide ich meine Freundin. Sie hat einen wunderbaren Ort geschaffen, mit ihren eigenen zwei Händen und nicht ganz ohne Schmerzen. Ihr Freund ist bei den Renovierungsarbeiten einmal sogar aus zwei Meter Höhe von der Leiter gefallen.

Petra hat für eine solche Aktion nicht nur den Durchhaltewillen, sondern auch eine besondere Gabe. »Ich sehe richtig vor mir, wie es später mal aussehen könnte«, sagt sie. Und wenn dieses innere Bild stimmt, so meint sie, dann schaffe sie eben auch scheinbar Unmögliches. So wie bei ihrem Haus.

Anders als sie habe ich ihn noch nicht gefunden, meinen besten Platz zum Leben. Den, wo ich immer bleiben werde, den ich erst verlasse, wenn man mich mit den Füßen voran rausträgt. Und ich kann mir kaum vorstellen, so viel Energie in einen Ort zu stecken wie Petra. Vielleicht fehlt mir die Fantasie dafür, was aus verfallenen Mauern rauszuholen ist, und die Gabe, aus der letzten Bruchbude ein Maximum an Gemütlichkeit zu kitzeln. Vielleicht scheue ich auch ganz einfach den ganzen gewaltigen Aufwand. Oder ist es mit den besten Plätzen wie mit der großen Liebe – sie sind einfach rar?

Merkwürdig, dass gerade ich mich so lange mit den immobilen Tatsachen in meinem Leben zufriedengegeben habe. Immerhin habe ich mir tausend Gedanken gemacht, wie viele Dinge in meinen vier Wänden herumstehen, aber nie über die Wohnung selbst. Und das, obwohl ich eine besondere Leidenschaft für menschliche Behausungen hege: Wenn ich eine fremde Stadt besuche, male ich mir gern aus, in welchem Viertel ich wohnen wollen würde. Ich bewundere die prunkvollen Fassaden oder ärgere mich über Bausünden.

Früher wusste ich genau, wie mein Traumhaus aussehen konnte. Als ich klein war, zeichnete ich nämlich immerzu Häuser. Große, kleine, in den Wolken und unter der Erde, mit Rutschen aus dem Obergeschoss in den Garten – das Haus konnte sogar auf dem Kopf stehen oder mitten im Meer. Stundenlang saß ich am Esstisch, tagsüber oder abends im Schein der Korblampe, und erschuf Wohnträume mit meinen Buntstiften. Gemeinsam mit meiner kleinen Schwester malte ich mir aus, wie wir später in eine Kate hinterm Deich ziehen würden. Sie wäre Malerin und ich Schriftstellerin, dann würde sie meine Bücher illustrieren und ich ihre Bilder betexten.

In meiner Fantasie entstand damals ein ganz genaues Bild, das ich noch immer vor meinem inneren Auge sehe: ein windgeschützter Garten, in dem frei ein paar Gänse und Hühner laufen, ein von Rosen überranktes Tor, Fachwerk und Reetdach, hellblaue Fensterläden. Die gute Stube mit dem knarzenden Dielenboden, der einladende Holztisch in der Wohnküche, das gemütliche Schreibzimmer samt Ausguck unterm Dach. Dieser Traum hat sich nicht erfüllt, aber das kleine Haus am Deich trage ich weiter in meinem Herzen. Wahrscheinlich, weil ich eben Norddeutsche bin – auf dem platten Land und am Meer fühle ich mich auch nach Jahren in der Stadt besonders wohl.

Gibt es diesen magischen Ort, an den ich mich in meiner Kindheit geträumt habe, eigentlich auch in der Wirklichkeit – und falls ja, hält er dann, was er verspricht?

Auch wenn ich die Sehnsucht danach behielt, mit meinem Fahrrad und im Südwester auf dem Deich gegen eine stramme Brise anzustrampeln, zog es mich als junge Erwachsene in die Großstadt: Da waren die Jobs, und ich wollte was erleben. Alles sollte nahebei sein, Leute, Party, Kultur.

Nach dem Studium zog ich in die Buchstadt Frankfurt am Main und machte ein Praktikum, dann weiter nach Köln fürs Volontariat, inzwischen bin ich in Berlin gelandet. Mit jedem Jahr und jedem Umzug wuchs mein Bedürfnis nach Natur, die Partylust dagegen schrumpfte. Aber ich zog keine Schlüsse daraus, weil andere Fragen wichtiger waren: der Lebensabschnittspartner, der bessere Verlagsjob, später die Selbstständigkeit, für die ich reisen und Kontakte pflegen musste.

Zweiundzwanzig Mal bin ich von einem Übergangszuhause zum nächsten gezogen, seit ich mein Elternhaus verlassen habe. Jede Wohnung war wie ein Kokon, den ich abstreifte, sobald die Zeit gekommen war und ich die Mittel hatte, mir was Besseres zu leisten. Oder bis ich umzog in eine andere Stadt, je nachdem, wohin der Job oder meine Laune mich verschlug. Jede Lebensphase eine Verpuppung – vom Wohnheimzimmer über die WG bis zur Zweizimmerwohnung. Einmal hatte ich mein Traumzuhause fast gefunden, da wohnte ich in einer Hausgemeinschaft. Doch die war in Köln, und Berlin lockte. Nachdem ich einige Jahre lang jeden Tag das Gefühl hatte, etwas zu verpassen, gab ich endlich nach und packte meine Sachen.

Meine Wohnvergangenheit hat keine gute Bilanz. Ich habe mir meinen Traum vom besten Zuhause nicht nur nicht erfüllt, ich habe auch nie wirklich danach gesucht. Dabei ist Wohnen ein, sagen wir, existenzieller Teil meines Lebens: Früher bin ich in den Verlag gefahren, heute sitze ich zu Hause und arbeite. Seit ich selbstständig bin, wohne ich praktisch rund um die Uhr.

Und mit Ende vierzig habe ich es nicht nur verpasst, mich heimelig einzurichten, ich habe auf dem Weg durch die verschiedenen Kokons auch ganz schön was eingesteckt. Habe in abgerockten möblierten Wohnungen gehaust. Ohne Bad. Mit Gemeinschaftskühlschrank, in dem die abgelaufenen Lebensmittel aus den Fächern darüber in meines tropften. Im feuchten Souterrain genauso wie ohne Isolierung unterm Dach. Im dunklen Altbau, wo büroklammerlange Silberfische über die Küchenwände liefen. Mit einer Mitbewohnerin, die feldwebelartig Zettel mit Anweisungen verteilte. Im Wohnheim mit einem Typen, der einen Drohbrief an meine Tür pinnte. Und einmal erklärte ich mich in der Not bereit, 2000 Euro Abstand zu zahlen für ein paar Baumarktmöbel, die nur noch für den Sperrmüll taugten. Für all das war ich sogar noch dankbar, weil ich überhaupt etwas gefunden hatte. Dankbar, weil die Wohnungen für das, was ich zahlen konnte, ganz okay waren und weil ich dem hektischen Gerangel bei der Wohnungssuche vorübergehend entkommen war.

 

Als ich eines Tages beschloss, Wohnexperimente zu wagen, hatte ich keine Vorstellung davon, was auf mich zukommt. Ich dachte, es ginge nur darum, eine gemütliche Bleibe für mich selbst zu finden. Um Fragen zu beantworten wie: Stadt oder Land? Allein oder zusammen? Und wie lebe ich im Alter? Die Orte suchte ich danach aus, wie gut ich mir vorstellen konnte, dass das Wohnen dort zukunftstauglich ist und glücklich macht. Und so lebte ich unter anderem im Bahnwaggon, im Tiny House, in einem Mehrgenerationenprojekt, im Ökodorf und in einer Jurte.

Dabei wusste ich, wie schwierig es oft ist, überhaupt ein Dach über dem Kopf zu finden. Während meine Oma noch vom eigenen Häuschen träumte, sind die Menschen heute dem Wohnungsmarkt zunehmend ausgeliefert. Sie haben Angst, ihr Zuhause zu verlieren, etwa wegen Eigenbedarf gekündigt zu werden und in der Nähe nichts Vergleichbares zu finden. Für Menschen, die rassistisch diskriminiert werden, weil sie keinen deutsch klingenden Nachnamen haben oder ihr Äußeres der vermietenden Person nicht passt, ist die Suche oft gleich noch einmal viel schwerer. Und immer mehr junge Leute können es sich schlicht nicht mehr leisten, in einer großen Stadt eine Lehre oder ein Studium anzufangen, wenn sie nicht bei den Eltern wohnen können. Im schlimmsten Fall droht Menschen nach einem Schicksalsschlag, einer Krankheit oder einer schwierigen persönlichen Situation der Verlust jeden Halts: Sie landen am Ende auf der Straße, kommen provisorisch bei Bekannten unter oder leben mit dem Wohnmobil auf irgendeinem Campingplatz.

Und auch diejenigen, die im Eigentum leben, sind immer öfter gekniffen: Grundsteuererhöhung, steigende Kreditzinsen oder gerne auch mal staatlich angeordnete Enteignung, wenn unter deiner Wohnung ein Kohleflöz liegt oder eine Autobahn durch deinen Vorgarten gebaut werden soll.

Vor allem in Ballungsräumen fehlt bezahlbarer Wohnraum, und das bringt gerade Geringverdienende in eine brenzlige Lage. Ob Wohnraum bezahlbar ist, hängt davon ab, wie viel vom Netto nach Abzug der Wohnkosten noch zum Leben übrig bleibt. Die Faustformel, die ich beim Aufbruch ins Erwachsenenleben mitbekommen habe, lautete: Gib für die Miete nicht mehr als dreißig Prozent von dem aus, was monatlich auf deinem Konto landet. Nach einer Studie der Hans-Böckler-Stiftung blecht inzwischen aber fast die Hälfte aller Haushalte mehr für die Brutto-Warmmiete. Ein Viertel zahlt vierzig Prozent des Nettoeinkommens, etwa zwölf Prozent zahlen sogar mehr als die Hälfte. Je niedriger das Einkommen, desto problematischer ist das – schon jetzt haben rund dreizehn Prozent der Haushalte weniger als das Existenzminimum in der Tasche, sobald sie die Mietkosten beglichen haben.

Die Verknappung von Wohnraum ist längst offensichtlich. Neulich habe ich im Spiegel gelesen, dass in Berlin auf eine Wohnungsanzeige 139 Interessierte kommen, und es wurde vielfach über eine 150 Meter lange Warteschlange bei einer Wohnungsbesichtigung in Charlottenburg berichtet. 2023 ist in dieser Hinsicht ein besonders schlimmes Jahr: Wie eine Studie des Pestel-Instituts und des Bauforschungsinstituts ARGE feststellte, fehlen allein in Deutschland mehr als 700000 Wohnungen. Seit über zwanzig Jahren gab es kein so knappes Angebot. Wie immer sind Menschen, die am wenigsten besitzen, am stärksten betroffen: Bundesweit gibt es nur 1,1 Millionen Sozialwohnungen – etwa ein Viertel von dem, was noch Ende der Achtzigerjahre existierte. Der Mieterbund warnt vor der dramatischen Lage, doch die Politik bekommt sie nicht in den Griff, unter anderem wegen der steigenden Baupreise und etlicher Spekulantensperenzchen. Trailerparks, etwas, das ich bisher in den USA verortet hätte, verbreiten sich auch hier – manche Luxusquartieren direkt gegenüber, so wie wir es aus anderen Ländern kennen. Vom Balkon der Blick auf das Elend, das die eigene Rendite verursacht hat.

Willkommen in der Wohnkrise.

Meine Suche nach dem besten Platz zum Leben stellte mich vor immer mehr drängende Fragen. Wie konnte es überhaupt so weit kommen, dass wir heute in dieser Lage sind? Was machen das schlechte Wohnungsangebot und die Verlustangst mit unserer Gesellschaft? Wie kommen wir da raus, was kann ich selbst dazu beitragen? Und auch: Wie wohnen wir alle in Zukunft besser?

Denn Bauen und Wohnen ist nicht nur eine soziale Frage, sondern auch eine Überlebensfrage. 47 Prozent aller weltweiten energiebedingten Treibhausgase entstehen laut dem United Nations Environment Programme durchs Bauen und den Gebäudesektor. Wohngebäude tragen daran einen Anteil von 36 Prozent. Zählen weitere Emissionen aus anderen Bereichen – etwa Transport und Abriss – mit hinein, ergibt sich ein noch höherer Ausstoß. Bauabfälle machen den Großteil unseres Mülls aus, und Bauvorhaben fressen pro Tag allein in Deutschland eine Fläche, die so groß ist wie 76 Fußballfelder, 45 Prozent davon werden versiegelt. Und in den letzten Jahren hat die deutsche Bundesregierung ihre Klimaziele im Gebäudesektor regelmäßig gerissen. Mich hat darum besonders interessiert, wie es gelingen kann, Wohnraum für die Zukunft zu erschaffen. Werden wir künftig wie in Teil zwei von Zurück in die Zukunft im Smart Home leben, wie ich noch in den Neunzigerjahren glaubte, oder eher in einer Lehmhütte, weil Baustoffe so umweltschädlich sind und alle Technik Energie frisst?

Auf meiner Suche habe ich nicht nur selbst Experimente gemacht, sondern auch Menschen getroffen, die über gerechtes, ökologisches und zukunftsfähiges Wohnen nachdenken, teils schon seit Jahrzehnten. Und auch einen Blick über die Grenzen von Deutschland nach Österreich und in die Schweiz geworfen, wo vieles anders geregelt ist. Am Ende war ich überrascht, wie viele Möglichkeiten und Lösungen es gibt, an die ich zunächst gar nicht gedacht hatte – auf dem Land wie in der Stadt. Und auch, wie viel Unterstützung da ist: von der Beratung über die gemeinnützige Finanzierung bis zum Bau oder der Umgestaltung eines Ortes.

In diesem Sinne will Der beste Platz zum Leben ein Buch sein, das dazu anregt, Hilfe zu suchen, Probleme anzupacken, sich mit anderen zusammenzuschließen. Das dazu ermutigt, den Schritt vor die Tür zu tun, über Gartenzäune und Mauern hinweg auf die Chancen zu blicken.

Es lohnt sich. Versprochen!

Disclaimer

Es versteht sich von selbst, dass ich nicht alle Ökodörfer ausprobiert, nicht in jeder Jurte geschlafen habe. Meine Erfahrungen sind individuell – einiges, was ich mochte, passt für dich vielleicht nicht, anderes, was mir nicht gefiel, ist möglicherweise für dich genau richtig.

Meine Experimente dauerten kürzer als einige andere berühmte Erfahrungen solcher Art. Der Schriftsteller Henry David Thoreau etwa zog sich für zwei Jahre in eine Blockhütte im Wald zurück und erzählte in seinem Buch Walden davon, wie er einsam in der Natur lebte. Ich habe mal Monate, mal Tage an den Orten gewohnt, von denen ich in diesem Buch berichte. Aber vieles, was ich dort erlebt habe, war so einprägsam, dass ich durch einen längeren Aufenthalt dort nicht viel mehr gewonnen hätte. Aus persönlichkeitsrechtlichen Gründen habe ich Namen und Details hier und da etwas verändert, ohne damit aber irgendwie an den Kern der Erfahrung zu rühren.

Dieses Buch soll den Blick öffnen für das, was jenseits von Einfamilienhäuschen und Etagenwohnung noch existiert, es soll inspirieren und Mut machen, aber es hat keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Es gibt viele weitere Wohnformen und Lebensmodelle, die ich in diesem Buch nicht schildern kann: Wagenburgen oder Baumhäuser, Kommunen oder Kernfamilien. Dass ich nicht alle habe besuchen können, hat mit der Vielfalt zu tun. Und das ist doch ein gutes Zeichen.

Eins ist mir noch wichtig: Die in diesem Buch geschilderten Experimente – und ähnliche – sind absolut zur Nachahmung empfohlen.

Der beste Platz für dich

Da du diese Zeilen liest, haben wir wahrscheinlich etwas gemeinsam. Egal, ob deine Wohnung wegen der Preissteigerung unbezahlbar geworden ist, du dich auf eine Indexmiete eingelassen hast und nicht weißt, wie du sie aufgrund der Inflation künftig bezahlen sollst, ob du wegen Eigenbedarf vor die Tür gesetzt zu werden drohst, für den nächsten Job in eine neue Stadt umziehen musst oder einfach nur denkst, dass es da draußen noch etwas anderes geben könnte:

Du hast den besten Platz zum Leben noch nicht gefunden.

Und du weißt nicht, was du machen sollst, um ihn zu finden.

Aus dem, was ich während der vergangenen vier Jahre gesehen, erfahren und gelernt habe, ist ein solides Fundament aus Ideen und Tatkraft entstanden. Für besondere Tipps, wichtige Adressen, Wissenswertes und Mutmachendes habe ich deswegen zwischen den Kapiteln Raum gelassen – das ist mein Wohnwissensschatz. Er soll dir die Suche nach deinem besten Platz erleichtern.

Natürlich kann ich dir ganz persönlich nichts versprechen. Aber aus der Erfahrung kann ich sagen, dass allein das Über-den-Tellerrand-hinaus-Denken den Blick für Lösungen öffnet, die uns sonst nie in den Sinn gekommen wären. Und auch Zuversicht hilft. »Trust the Process«! Diesen Slogan hat ein Spieler eines Basketballteams aus Philadelphia geprägt. Er besagt, dass es eine Strategie gibt, die sich früher oder später auszahlen wird, wenn es auch gerade nicht danach aussieht.

Anders gesagt: Lass dich nicht unterkriegen!

Dachschaden de luxe

Warum ich überhaupt ein neues Zuhause suchte

August 2019. »Der hat das ja immer noch nicht repariert.« Meine Freundin Luisa setzt sich wieder zu mir an den Küchentisch, als sie von der Toilette zurückkommt.

Sie meint das fußballgroße Loch, das seit über einem Jahr in der Decke meines schlauchartigen Badezimmers klafft. Der Vermieter hat es bisher nicht neu verputzen lassen. Dem Mann, der unser gesamtes Haus und noch weitere in Berlin besitzt, ist vermutlich klar, dass das Loch bei nächster Gelegenheit gleich wieder aufbrechen würde. Direkt über meiner Wohnung ist nämlich der Dachboden, die Ziegel halten keinem Starkregen mehr stand. Und solange das Dach nicht repariert ist, lohnt es sich für mich auch nicht, die Decke selbst zu verputzen.

Einfacher und billiger für meinen Vermieter ist es, das Problem auszusitzen. Er kann warten: Mit jedem Tag wird das Grundstück mehr wert. Unser Haus liegt zehn Minuten zu Fuß vom Berliner Hauptbahnhof entfernt. Es ist, als würde er auf einer Goldmine sitzen, während der Goldpreis steigt und steigt. Wen kümmert da ein Loch im Dach der Hütte, die zufällig auf der Mine steht?

Luisa nippt an ihrem Tee. Ich erzähle ihr, was ich alles versucht habe, um den Vermieter zur Reparatur zu bewegen. Auf meine zahlreichen Kontaktanbahnungsversuche reagiert er nur mit Höflichkeitsfloskeln.

»Scheint keinen Zweck zu haben«, meint sie. »Und jetzt?« Luisa ist praktisch veranlagt: »Wäre es sinnvoll, sich nach einer neuen Bleibe umzusehen?«

Mein Herz hängt an der Bude. Ich liebe den Blick über die Dächer, wie die Morgensonne die Küche flutet, mag die hohen Decken des Altbaus aus der letzten Jahrhundertwende, die geschwungenen Messingklinken an den Türen, den Dielenboden. Unter mir ein kettenrauchender Rentner, über mir – da es das Loch gibt – nur der Himmel. Aber ist diese Wohnung wirklich meine einzige Option?

Als ich vor drei Jahren in die Stadt zog, hatte ich Glück, weil Inga, die für ihre Firma ein Projekt in Süddeutschland betreute, mir ihre Wohnung untervermietete. 500 Euro warm, das war vor allem für mich als Selbstständige unschlagbar günstig. Die Zimmer habe ich größtenteils für mich allein, Inga ist nur alle paar Wochen in der Stadt, um im Büro ihre Reisekosten abzurechnen und an Besprechungen teilzunehmen.

Ich hatte gerade meine Besitztümer auf den Inhalt von drei Kisten reduziert und meine Ansprüche heruntergeschraubt, um mehr Freiheit zu gewinnen. Der Plan war, meine Fixkosten überschaubar zu halten, um nicht wieder in den Teufelskreis von steigenden Lebenshaltungskosten und mehr Arbeit zurückzumüssen. Während um mich herum alles immer teurer wurde, war ich oft erleichtert, wenn ich die Tür hinter mir schloss. Ich hatte immerhin ein Dach über dem Kopf, egal, ob es nun löchrig war.

Ich will keine neue Wohnung suchen! Zumal ich gerne im Stadtzentrum wohne, am liebsten weiter in Moabit. In der Nähe finde ich vermutlich nichts, was bezahlbar und bewohnbar zugleich ist. Die Mietpreise steigen so stark, dass einem vom Zusehen schwindelig wird. In Berlin lässt der Zustrom von Menschen sicher nicht nach – eher im Gegenteil, die Metropole wächst stetig auf vier Millionen zu. Es ist unheimlich schwierig geworden, ein Dach über dem Kopf zu finden, und als Selbstständige stehe ich bei Maklerinnen und Vermietern eher am unteren Ende der Beliebtheitsskala.

Wobei Luisa vielleicht recht hat, ich sollte zumindest mal nach Alternativen Ausschau halten. Ich bin bescheiden, habe die letzten Jahre von wenig Geld gelebt. Und ich habe nicht mehr viele Sachen und brauche keine große Fläche für meine paar Habseligkeiten.

In den nächsten Wochen setze ich alle Hebel in Bewegung.

Ich bringe mich auf den neuesten Stand, sammele sämtliche Infos zur Wohnungssuche und durchforste das Internet nach den besten Strategien. Sogar über kriminelle Aktivitäten habe ich schon nachgedacht; eine Freundin hat mir erzählt, dass sie bei ihren letzten drei Abrechnungen aus der Festanstellung das Datum gefälscht hat, um eine Wohnung zu bekommen. »Völlig legitim, da ich Freiberuflerin bin, aber gut verdiene«, findet sie. Und es hat geklappt.

Ich setze trotzdem darauf, dass systematisches Vorgehen mich zum Erfolg führt. Und so sondiere ich den Berliner Wohnungsmarkt unter der Lupe, und zwar rund um die Uhr. Sämtliche Alarmfunktionen nutze ich, scanne spätabends und im Morgengrauen die Wohnungsanzeigen online und im Print. Ich informiere alle, die auch nur entfernt so aussehen, als enthielten sie Vitamin B. Ich hänge Zettel an den Laternenpfählen und Ampeln in meinem Kiez auf, pflastere die schwarzen Bretter in den umliegenden Supermärkten mit meinen Gesuchen, lasse schließlich sogar den maximalen Mietpreis weg, als ich unter immer mehr der aufgehängten Anzeigen Sprüche finde wie »Das hätte ich auch gern« oder »Versuch’s noch mal, wenn du mehr Geld hast« oder auch einfach nur »Hahahaha!«.

»Warum schreibst du nicht drauf, du suchst außerdem einen Stall für dein Einhorn?« Luisa schüttelt ungläubig den Kopf, als wir an einem der Zettel vorbeispazieren. »Alter, für 500 Ocken bekommst du doch hier kein Zimmer mehr.«

»Aber das zahl ich gerade auch«, sage ich.

»Deswegen hast du ja auch eine Wohnung mit einem Loch in der Decke«, erwidert sie. »Wenn du die zum Maßstab nimmst, kannst du es gleich vergessen.«

So schnell gebe ich aber nicht auf, im Gegenteil, ich lege den Turbo ein, mache Termine, bin ständig am Handy, um als Erste auf neue Anzeigen reagieren zu können.

Ich besichtige viel, was ich nicht haben will oder niemals bekommen könnte. Häufig sehe ich mich damit konfrontiert, dass selbst in der Hauptstadt der Selbstständigen, Start-ups und digitalen Boheme immer noch am liebsten an Festangestellte vermietet wird. Ich sehe Wohnungen, die so heruntergekommen sind, dass sie keine Verbesserung darstellen. In einer wird das olle Linoleum als »echter Vintagefußboden« angepriesen, die Leitungen sind noch über Putz verlegt, und eine schwarze Stelle an der Wand deutet auf einen Kabelbrand hin. Aus einem Hinterhaus zieht die Mieterin aus, weil sich der Schwarzschimmel schon in ihrer Matratze festgekrallt hat. Und ein junger Mann will mich als Nachmieterin nur dann empfehlen, wenn ich 7500 Euro Abstand für seine uralte Küchenzeile und den von seinem Rottweiler verkratzten Fußboden aus Pressspanplatten zahle.

Ich sehe viele Wohnungen, in denen ich mich, auch wenn sie schön renoviert sind, auf Anhieb unwohl fühle. Manchmal riecht es unangenehm im Treppenhaus, manchmal sind die Decken so niedrig, dass ich das Gefühl habe, mich bücken zu müssen. Eine Maklerin zeigt mir eine »wunderbare Kerzenwohnung«, deren Wohnzimmerfenster nach hinten raus in den düsteren Innenhofschacht weisen, wo ich die Wand gegenüber berühren könnte, wenn ich mich ein wenig aus dem Fenster lehnte.

Schön für Draculas Braut. Ich brauche Tageslicht.

Einmal fange ich fast an zu weinen, weil ich in einem Interview mit Kevin Kühnert lese, dass er keine bezahlbare Wohnung findet. Nicht, weil ich so ein Mitleid mit ihm hätte, sondern weil ich noch weniger Chancen habe, wenn ich mit Bundestagsabgeordneten konkurriere, die mit einem Gehalt von über 10000 Euro im Monat locker eine ganz andere Monatsmiete stemmen könnten. Ich verstehe dein Ansinnen, Kevin, denke ich. Aber solange ihr im Bundestag und im Senat nichts grundlegend ändert, bist du halt einfach nur ein weiterer Typ auf der Bewerberliste für die Wohnung, die ich so dringend brauche.

Einmal noch!, denke ich, als ich vor dem Coffeemamas sitze, meinem Lieblingscafé in der Kirchstraße, und bei einem Bananenbrot und einem Hafercappuccino zum hundertsten Mal die Anzeigen bei Immoscout durchgehe. Klick, klick – schon gesehen, war schlimm. Klick, Mail schreiben, Mist, in dieser Sekunde schon weg. Aber hier … die Anzeige ist aktuell, die Wohnung liegt nur etwas über meinem Preislimit und der offene Besichtigungstermin ist … in zwanzig Minuten!

Ich seufze und wünsche mir zum wiederholten Mal einen Avatar, der die Wohnungen für mich besichtigt. Wäre ich wohlhabend, ich würde eine Assistentin für die Suche beschäftigen. Aber da es weder das eine noch das andere gibt, stürze ich den Rest meines Getränks herunter, fummele die Tasse auf die Abstellfläche fürs gebrauchte Geschirr, dann hetze ich los, Richtung Kreuzberg.

Vor dem Tor des schlichten Altbaus hat sich bereits eine Menschentraube gebildet. Ich komme mir vor, als wäre ich Teil einer riesigen »Reise nach Jerusalem«, Wohnungsmarkt-Edition. Es scheint einfach nicht vorgesehen zu sein, dass alle einen Platz finden.

»Wartet ihr wegen der Wohnung im dritten?« Ich schirme meine Augen gegen die Sonne ab, die unbarmherzig auf uns herabbrutzelt. Der einzige Baum in der Nähe hat sich offenbar dem Klimawandel ergeben. Er spendet nur spärlichen Schatten, die Erde um den Stamm ist hart und trocken. Seit Wochen hat es nicht geregnet, die Temperaturen bewegen sich stabil zwischen dreißig und vierzig Grad, auch jetzt steht kein Wölkchen am Himmel – wäre der Berliner Sommer eine Coverband, sie würde nur Summer in the City, 36 Grad und Fieber spielen.

»Ja, die ist der große Preis.« Die junge Frau im Polkadot-Kleid, die mir am nächsten steht, nickt. Andere stimmen ein. Ja, alle sind wie ich auf Wohnungssuche, ja, alle warten auf denselben Makler, wegen der Altbauwohnung im dritten Stock, ja, wahrscheinlich wieder nichts, ja, ja.

Ein Mann in einem auf Kante gebügelten schwarzen Hemd grinst, seine verspiegelte Sonnenbrille blitzt in der Sonne. »Das ist doch nicht Der große Preis«, sagt er, »das ist Einer wird gewinnen. Und das bin ich.« Einige Umstehende lachen, aber es klingt mutlos. »Quatsch, eine wird gewinnen«, kontert die junge Frau im gepunkteten Kleid. »Frauenquote, vastehste?« Sie stellt sich etwas gerader hin, sieht ihn herausfordernd an.

Ich widme mich unterdessen diskret den Schweißperlen auf meiner Stirn. Den letzten halben Kilometer von der Haltestelle bin ich gerannt. Die U-Bahn hatte eine gefühlte Ewigkeit ohne Durchsage zwischen zwei Stationen angehalten. Ich befürchtete, die Letzte zu sein, aber ich hätte mir keine Sorgen machen müssen, es trudeln noch immer Leute ein. Ich fühle, dass sich unter meinen Achseln Schweißflecken ausgebreitet haben, wegen der Hitze, aber auch aus Nervosität. Warum habe ich Anfängerin schon wieder kein Ersatz-Shirt dabei? Eigentlich weiß ich doch Bescheid – allein in dieser Woche ist es mein vierter Termin, und es ist erst Mittwoch.

Wir warten weiter, die Minuten vergehen, dann eine Viertelstunde, eine halbe. Schließlich ist seit dem genannten Termin fast eine Stunde um. Doch keiner der Umstehenden gibt den Platz an der Sonne auf, alle bleiben stehen, treten nur von einem Fuß auf den anderen. Einige haben sogar Snacks und Sonnencreme mitgebracht, einen Schirm, sind bestens gerüstet. Genau wie ich hoffen sie, dass das Los diesmal auf sie fällt, dass sie auserwählt werden und demnächst ihre Kartons in den Innenhof tragen dürfen.

Am Straßenrand hält jetzt ein schwarzer SUV, dessen Motorhaube so hoch ist, dass der Fahrer bei einem Unfall unmöglich sehen kann, was er gerade überfährt. Ein junger Mann Mitte zwanzig, mit rasiertem Seitenscheitel, Undercut und einem Bart wie mit dem Lineal gezogen, steigt aus und drängt sich durch die Wartenden, ein Klemmbrett in der einen, den Schlüssel wie eine gezückte Waffe in der anderen Hand. Keine Frage, das ist der Makler. Und er ist makellos: Trotz der Hitze trägt er ein teuer aussehendes Sakko, darunter ein roséfarbenes Hemd mit offenem Kragen. Kein Schweißtröpfchen ziert seine Stirn, über seinem Arm hängt eine schimmernde Tragetasche, in der er vermutlich Unterlagen wie Grundrisse, Mustervertrag, den Schlüssel für den Keller und andere Utensilien mit sich führt. Er pflügt sich durch das Meer der Wohnungssuchenden, in seiner Bugwelle driften die Menschen auseinander und wieder zusammen.

Auch ich werde von einer Woge der Aufregung angehoben, mir dringt ein Hauch von Herrenparfum in die Nase, und eine Erkenntnis zieht mich wie ein Strudel hinab. Der Typ ist halb so alt wie ich, wir sind sicher grundverschieden. In seinem Alter habe ich vermutlich neunzig Prozent mehr gearbeitet und zehn Prozent von dem verdient, was monatlich auf seinem Konto landet. Und der entscheidet über mein Schicksal?

Die Menge drängt durch die Eingangstür. Ich lasse mich vom zähen Strom bis in den dritten Stock treiben. Wegen der Hitze und weil wir so viele sind, gerät der Strom immer wieder ins Stocken. Vor mir wogen das Polkadot-Kleid und das schwarze Hemd.

Der Makler hat die Flügeltüren entriegelt und weit geöffnet. Die Wohnung ist bis zum Bersten gefüllt, wir schieben uns durch die Zimmer. Der Grundriss ist etwas verschnitten, aber ganz schön, da könnte man schon was draus machen.

Endlich erreiche ich die Küche, wo auf dem Tisch die Liste liegt, in die ich mich bei Interesse eintragen soll. Datenschutz wird zur Nebensache. Alle drängen sich um die Liste und befüllen sie mit ihren persönlichen Details: was sie beruflich machen, wie viel sie im Jahr verdienen, wie ihre E-Mail-Adresse lautet und wo sie aktuell wohnen. Sie übergeben Empfehlungsschreiben von vorigen Mietverhältnissen und blütenreine Schufa-Auskünfte. Viele verwickeln den jungen Makler in ein Gespräch, damit er sie in guter Erinnerung behält, manche wollen ihm auch etwas zustecken. Was für ein herrlicher Job muss das sein.

Gerade spricht er mit dem jungen Mann im schwarzen Hemd, der seine Sonnenbrille nun ins gegelte Haar geschoben hat. Sie scheinen im gleichen Alter zu sein. Ich schnappe auf, dass sie einander von ihren großen Autos erzählen. Wahrscheinlich tauschen sie gleich privat Nummern aus, weil sie in denselben Läden ihr Bierchen trinken.

Wie kann ich dagegen anstinken? Ich muss etwas sagen, das Eindruck bei ihm macht. Ach, sag irgendwas, Anne. Alles ist besser, als zu gehen, ohne mit ihm gesprochen zu haben.

»Äh, wann entscheiden Sie denn?«

Herrje, das ist ja schlimmer als das eine Mal, als ich auf einem Literaturfest meine Lieblingsautorin traf und kein Wort rausbekam.

Der junge Makler blickt mich gelangweilt an, seufzt leicht und zückt sein Smartphone, das neueste Modell mit dem Apfel. Er scrollt durch seine Kalenderfunktion. »Wir haben noch zwei Termine diese Woche«, sagt er. »Die muss ich noch abwarten, aber Ende des Monats sollte es feststehen. Tragen Sie sich einfach da in die Liste ein, wir melden uns bei Ihnen.«

»Lieber bei mir«, höre ich Ms Polkadot hinter mir. »Spart Zeit, nur die Person zu verständigen, die einziehen wird.«

Der Makler legt den Kopf in den Nacken und lacht, dann schiebt er mich mit den Worten »Entschuldigen Sie mal kurz!« zur Seite, um sich intensiver mit ihr zu befassen. Sie gefällt ihm offenbar.

Entwürdigend finde ich das, und mein feministischer Kamm schwillt. Andererseits kann ich es ihr nicht verübeln: Sie ist vermutlich genauso lange auf der Suche wie ich. Wie wir alle. Mit wenig Hoffnung lege ich auf dem Fragebogen einen schriftlichen Mietwunsch-Striptease hin, tackere meine Bescheinigungen dran und schleiche aus der Tür.

Luisa sagt, ich soll nicht jetzt schon aufgeben. Aber Deckenloch hin oder her, ich habe jetzt endgültig keine Lust mehr.

Seit ich auf Wohnungssuche bin und mich näher mit dem Thema beschäftige, bekomme ich lauter Horrorstorys mit. Eine Freundin erzählt mir, dass sie wegen Luxusneubau aus ihrer Wohnung in Charlottenburg rausgeworfen wird und in ihrem Kiez nichts Bezahlbares mehr findet. Eine andere erfährt von einer ehemaligen Nachbarin, dass ihr Ex-Vermieter, der sie wegen Eigenbedarf vor die Tür gesetzt hat, dann doch nicht eingezogen ist. Er hat die Wohnung sanieren lassen und sie für den doppelten Preis weitervermietet. Ein Bekannter wohnt seit Jahren in einer gemütlichen Wohnung in Kreuzberg zur Untermiete, ist aber dort nicht gemeldet, weil dann ganz sicher die Miete erhöht würde. Ihn plagt die Angst, dass alles auffliegt und er dann auf der Straße sitzt. Mir fällt eine Familie ein, die schon den Kaufvertrag für ein Haus in Pankow unterschrieben hatte, als sie merkten, dass Schimmel in den Wänden war. Inzwischen schnüren ihnen heftige Sanierungskosten finanziell die Kehle zu. Und auch meine Freundin Luisa bangt jedes Mal, wenn sie Post von der Hausverwaltung bekommt.

Ich lese, dass es nicht nur uns in Berlin so geht. Der Wohnungsmarkt spannt sich in ganz Deutschland immer weiter an, vor allem in großen Städten gibt es zusehends weniger bezahlbaren Wohnraum. In den fünf größten deutschen Städten Berlin, Hamburg, München, Köln und Frankfurt am Main hat inzwischen laut einer Umfrage der Wochenzeitung Die Zeit jeder zweite Mensch Angst davor, seine aktuelle Wohnung zu verlieren und keine angemessene neue zu finden.

Deswegen ziehen viele ins Umland, gerade wenn sie Kinder bekommen. »Insbesondere die Abwanderung von Familien muss den Städten Sorgen bereiten«, sagt Jan Grade, Geschäftsführer der Datenanalysefirma Empirica Regio, »da diese finanziell meist gut aufgestellt sind und eine Stadt beleben.«

Wie Empirica Regio den Zahlen des Statistischen Bundesamtes und der Statistischen Landesämter entnahm, sind diese Wanderungsbewegungen seit 2018 vermehrt zu beobachten, in so ziemlich jeder Großstadt, in der die Mieten steigen, vor allem also in den sieben deutschen Hotspots Berlin, Hamburg, München, Köln, Frankfurt, Düsseldorf und Stuttgart. Denn das ist der Grund – dort mangelt es besonders an bezahlbarem Wohnraum. Und weil das so ist, nehmen Menschen zum Teil lange Pendelzeiten auf sich, was nebenbei bemerkt nicht besonders gut für die Umwelt ist. Berlin wächst langsamer als das Umland, und die Abwanderung lässt seit Jahren Mieten und Kaufpreise in den umliegenden Gebieten steigen, wie eine Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft im Auftrag des Immobilienkonzerns Grounds zeigt. Durch den Trend der Landflucht betrifft die Teuerung also auch das Umland und kleinere Städte.

Natürlich meldet sich der Makler von der letzten Besichtigung nicht bei mir, und ich kehre in meinen gewohnten Trott zurück, erneuere die Folie an dem Loch und klebe sie besser fest.

Inga und ich haben unter dem Loch einen umgekehrten Regenschirm angebracht, da sich jederzeit weitere Bröckchen aus der Decke lösen können, und das passiert immer öfter, je herbstlicher es draußen wird. Ich erfahre von Inga, dass in meinem Schlafzimmer wegen einer anderen feuchten Stelle auch schon mal die Decke runtergekommen ist – genau da, wo mein Bett jetzt steht.

In den anderen Räumen breiten sich an der Decke ebenfalls immer mehr braune Flecken vom Herbstregen aus. Der Winter steht bevor, und ich weiß aus Erfahrung, dass die Heizung nicht gegen den Zug ankommt, den die undichten Fenster durchlassen. Wird das Dach den Herbststürmen trotzen – oder wehe ich eines Tages mitsamt meinen drei Kisten einfach weg?

Während es draußen düsterer und unwirtlicher wird, sinkt auch drinnen die Temperatur. Aus Trotz taufe ich meine vier Wände »Alaska« und beginne sie zu verteidigen, wenn Luisa wieder darauf herumreitet, dass ich ausziehen soll. Ich hab doch alles versucht, was will sie denn noch?

In diesen Tagen soll ich einen Artikel für ein Schreibmagazin verfassen. Zunächst arbeite ich noch in meinem Schlafzimmer, wo auch der Schreibtisch steht, den mir Inga zur Verfügung gestellt hat. Doch dort wird es einfach nicht warm genug, um meine Finger auf Betriebstemperatur zu halten. Immer wieder muss ich unterbrechen, um mir eine Tasse Tee zuzubereiten, an der ich meine Hände aufwärmen kann. Schließlich gebe ich auf, schleppe meinen Laptop und meine Unterlagen in die Küche, wo die einzigen Veluxfenster und die Tatsache, dass der Raum nur eine Außenwand hat, dafür sorgen, dass Heizungswärme nicht gleich nach draußen entweicht.

»Wie siehst du denn aus?«, fragt Luisa, als ich ihr Ende Oktober die Tür öffne, in zwei dicken Pullovern, Stulpen, Mütze mit Ohrenklappen und fingerlosen Handschuhen.

Statt einer Begrüßung niese ich in meine Armbeuge. Ständig habe ich Schnupfen, ich werde einfach gar nicht mehr richtig gesund. Ist halt so.

Luisa und ich haben uns für die Mittagspause mit meinem Kumpel Rodrigo verabredet, der in der Nähe arbeitet. Rodrigo gehört zu meinen besten Freunden. Wir kennen uns, seitdem wir zusammen in einem großen Publikumsverlag in Köln gearbeitet haben. Er hat dort als Lektor Romane der Genres Fantastik und Spannung betreut, ich war Lektorin für Sachbücher und habe später die verlagseigene Schreibschule mit aufgebaut.

»Komm schon«, drängt Luisa, »wir sind spät dran, und icke will pünktlich bei der Versammlung unserer Hausgemeinschaft sein.« Ich erfahre, dass ihr Haus möglicherweise verkauft werden soll. Alle, die darin wohnen, befürchten nun, dass das Gebäude dann luxussaniert wird und sie in diesem Zuge ihr Zuhause verlieren. Droht mir das eines Tages auch?

Luisa mustert mich von oben bis unten. »Du solltest dir dringend was anderes anziehen als diesen Polaranzug. Und wenn wir zurückkommen, dreh endlich die Heizung in allen Zimmern auf, du zahlst doch Warmmiete.«

»Mit den undichten Fenstern zu heizen ist Quatsch.« Ich putze mir die Nase und ziehe noch eine Jacke über mein Frostschutz-Outfit. »Und zum Tippen brauche ich warme Finger. Also habe ich eine Lage mehr an.«

»Wohl eher zwei«, sagt Luisa mit einem Seitenblick. »Alter, bist du eigentlich von allen guten Geistern verlassen? Winter is coming. Das kann nicht so bleiben!«

Okay, in der kalten Jahreszeit ist die Wohnung ein Tiefkühlfach und im Sommer fühle ich mich wie eine Pizza im Backofen. Aber was soll ich denn machen, ich hab’s doch versucht.

Wenig später sitzen wir mit Rodrigo zusammen in einem Imbiss in der Kirchstraße.

»Sie muss da raus, Rodge, aus ihrer Wohnung.«

Er blickt von seinem Pfannengemüse auf, dem bisher seine ganze Aufmerksamkeit gegolten hat. Sein Gesicht leuchtet auf, er grinst mich an. »Ist dir auch endlich aufgefallen, was für eine Bruchbude das ist?«

Bruchbude? Ich wechsele in den Verteidigungsmodus. »Gut, die Wohnung ist nicht richtig isoliert«, sage ich. »Und das Loch ist suboptimal. Aber abgesehen davon – was hast du noch daran auszusetzen?«

»Der Hausflur ist rott«, sagt er.

Ich denke an die ausgetretenen braunen Linoleumstufen. »Der ist ja nicht in meiner Wohnung«, sage ich.

»Ich fang grad erst an«, meint Rodrigo, die Gabel mit einem Häuflein Gemüse in der Luft. »Also dein Flur ist eine Kegelbahn … die Wohnung wird nicht richtig warm, außer im Sommer, da ist sie heiß … sie ist im fünften Stock ohne Aufzug, da bin ich platt, wenn ich oben ankomme …« Er schiebt den Bissen in den Mund und kaut. »Und wenn ein Feuer ausbricht, kannst du von da oben nicht mal springen, zu hoch.«

Daran hatte ich noch nicht gedacht. Ich schüttele das Unbehagen ab.

»Ist doch liebenswert, dass Alaska nicht perfekt ist«, sage ich schnippisch. »Ich will ja auch nicht in deiner hochgerüsteten Wohnung leben.«

Rodrigo ist ein Fan technischer Geräte. Er liebt alles, was blinkt und piept, und hat den ganzen Tag Unterhaltungselektronik an. Das letzte Mal, als ich ihn besucht habe, hat er mir stolz einige seiner digitalen Freunde vorgeführt. Der Computer spricht mit ihm, erkennt sogar seine Stimme. In seinem Flur blinken alle möglichen Anzeigen, die Temperatur wird automatisch geregelt, Bewegungsmelder und Lichtsensoren sorgen dafür, dass er kaum noch etwas selbst erledigen muss.

»Das ist ein Smart Home«, sagt er. »Das ist die Zukunft.«

Wenn ich an ein Smart Home denke, kommt mir im besten Fall das technikverliebte Elternpaar Arpel aus Jacques Tatis Filmkomödie Mein Onkel in den Sinn. Im schlechteren Fall denke ich an Science-Fiction-Filme, in denen die Unterkünfte immer steril wirken und eine unheimliche Computerstimme alles über einen weiß. Oder sogar an Haustechnik, die zur tödlichen Falle wird, weil sie dann doch nicht mehr steuerbar ist, so wie in dem Film Panic Room.

Und das soll die Zukunft sein? Ich schildere ihm wortreich meine Bedenken.

»Ach Quatsch«, meint er daraufhin. »Wenn du das glaubst, solltest du es ausprobieren. Ich habe sowieso ein Zimmer zu viel.«

»Du schlägst mir ein Wohnexperiment vor?«

»Nenn es, wie du willst.« Er schabt mit der Gabel die letzten Gemüsereste vom Teller. »Ich gehe jedenfalls jede Wette ein: Es gefällt dir so gut, dass du nie wieder nach Alaska zurückwillst.«

Wie bitte? Will der mich provozieren? »Brauche ich nicht auszuprobieren«, sage ich. »Weiß ich schon.«

»Lass dir Zeit.« Er schiebt den Teller von sich und lächelt siegesgewiss. »Du kannst es dir in Ruhe überlegen.«

Nicht, dass es ihn verunsichern würde, wenn ich recht behielte. Rodrigo ist ein sehr zufriedener Mensch, wenn er von etwas überzeugt ist, hält er es unerschütterlich in Ehren. Gib ihm mediterranes Essen mit viel Knoblauch, ein Brettspiel mit Freunden oder ein gutes Buch, und der Mann ist schon fast ekelhaft ausgeglichen. Normalerweise bringt ihn nichts aus der Ruhe, er erledigt alles in seinem Tempo und lässt sich niemals hetzen. Vermutlich würde er in meiner Küche auch dann noch sein Brötchen zu Ende essen, wenn das Dach tatsächlich wegweht. Sicher lässt es sich gut mit ihm aushalten. Aber was, wenn er die Wette gewinnt?

Als ich am frühen Nachmittag die Tür zu Alaska aufschließe, nehme ich meine Kühlkammer noch mal genau unter die Lupe. Okay, die Wohnung ist nicht perfekt, aber sie ist jetzt auch nicht so schlecht, wie Rodrigo sie macht. Mit dem Schlauch hat er recht. Der Flur, von dem die Zimmer abgehen, ist ganz schön lang. Irgendwie verschenkter Platz und es ist ein ziemliches Gelaufe. Aber ich mag es, und für meine kleine Nichte ist es eine tolle Rutschbahn.

Die Küche besteht aus einem Sammelsurium älterer Geräte, auch das Geschirr ist zusammengewürfelt, die Wände könnten mal wieder einen Anstrich vertragen. Durch das Weiß schimmert stellenweise ein dunkler Rotton – die Hypochonderin in mir hatte es zuerst für den hochgiftigen Bäckerschimmel gehalten, aber Inga beruhigte mich, dass die Wohnung vorher nur einfach so gestrichen war.

Aber die Sicherheit ist bei einem Brand in der Tat nicht besonders gut gewährleistet. Es gibt weder Balkon noch Feuerleiter, die Fenster führen alle in den asphaltierten Hinterhof. Von hier oben im fünften Stock gibt es nur zwei Auswege: über das schmale Treppenhaus nach unten oder über den Dachboden, die Treppe runter ins Hinterhaus. Der Dachstuhl ist aus morschem Holz, das sicher gut Zunder gibt, einen Feuerlöscher habe ich noch nirgends gesichtet. Ein Feuerwehrwagen kommt nicht bis hierher durch, und ein Sprungtuch hat eine maximale Rettungshöhe von acht Metern, habe ich mal gelesen. Wenn der Dachstuhl Feuer fängt, dann ist mir der Weg verschlossen.

Dazu kommt, dass die Wohnung auch dann noch schlecht isoliert ist, sollte der Vermieter sich ums Dach kümmern und die Fenster abdichten lassen. Drei Außenwände und Fenster von anno Tobak, die so undicht sind, dass die Heizung nicht dagegen ankommt. Wenn ich mir abends eine Mütze aufsetze, weil mir sonst über Nacht die Ohren abfrieren und mein Gehirn vereist, komme ich mir vor wie Onkel Fritze mit der spitzen Zipfelmütze bei Max und Moritz. Den Zug durch die Fenster spüre ich gerade bei starkem Wind deutlich, und damit es nicht reinregnet, lege ich Handtücher in die Fensterrahmen und auf den Boden davor.

Der direkte Zugang zum Dachboden durch das Loch in der Decke hat noch ein weiteres Manko: Der Zug bläht besonders an windigen Tagen die provisorische Plastikfolie, sodass Lücken entstehen. Jetzt im Herbst mache ich Bekanntschaft mit Tieren, denen ich sonst nie begegne: Staubwanzen, jede Menge Winkelspinnen und sogar eine Spinnenassel.

Feuergefahr von unten. Wind und Regen von der Seite. Nässe, Zug und Wanzen von oben. Aber abgesehen davon ist die Wohnung top!

Ganz sicher ist sie eine der schönsten, die ich je bewohnt habe. Ich lasse einige meiner letzten Domizile vor dem inneren Auge Revue passieren, aber es fallen mir nur wenige ein, in die ich freiwillig zurückkehren würde. Keine Ahnung warum, aber ich bin meist von einem Desaster ins nächste gezogen. Fehlt mir einfach das Talent zum Wohnen oder habe ich keine Selbstachtung?

Bei diesem Gedanken fühle ich, wie meine Knie schwach werden. Das muss ich verdauen, ich gehe in die Küche und gönne mir erst einmal eine Tasse Tee. Vielleicht muss ich größer denken als nur daran, ob ich eine Wohnung finde, die keinen Dachschaden hat. Wenn ich davon ausgehe, dass ich so alt werde wie meine Oma, dann habe ich fast die Hälfte meines Lebens verstreichen lassen, ohne den besten Platz für mich zu finden.

Kurzfristig bei Rodrigo einzuziehen wäre zumindest eine Lösung, um wieder besser arbeiten zu können. Ob seine Wohnung wirklich die Zukunft ist, wie er behauptet, werde ich dann ja herausfinden. Wie bei meiner Entrümpelungskur könnte es eine Reise werden, auf der ich herausfinde, wie ich zufrieden und in Einklang mit meinen Werten lebe.

 

An diesem Abend kann ich trotzdem nicht einschlafen. Zweifel überfallen mich im Dunkeln immer besonders gerne. Was, wenn Rodrigo und ich uns über alledem zerstreiten? Manche Freundschaften halten ja nicht mal einen Urlaub aus, wie ist es dann, wenn wir gleich zusammenziehen?

Die Müdigkeit hüllt mich ein und trägt mich fort, ich falle in einen unruhigen Schlaf. In meinem Traum laufe ich durch Rodrigos Straße, eine Kiste unter dem einen, eine zweite unter dem anderen Arm, eine balanciere ich auf dem Kopf. In dem Moment, als er mir die Tür öffnet, dehnt sich der Flur, als wäre er eben nach hinten gerutscht. Rodrigo ist ganz klein und rundlich und hat eine Schürze an und ein Blech frischer Pizza in der Hand. »Sieh mal!«, ruft er mir über die Distanz hinweg zu. »Die hat der Computer für uns gebacken! Aber ich musste ihm erst sagen, wie!« Ich muss im Traum so doll lachen, dass ich davon aufwache.

Es ist noch früh, meine Onkel-Fritze-Mütze ist heruntergerutscht. Ich fröstele, und ein Blick zum Fenster zeigt, dass es über Nacht gefroren hat, Eisblumen sind am Glas.

Was habe ich schon zu verlieren? Wenn Rodrigo noch für den Spaß zu haben ist, dann ziehe ich für eine Weile zu ihm. Wer weiß, wo es mich hinführt, und wenn tatsächlich Zwist aufkommt, kann ich jederzeit hierher zurückkehren.

Mit einer schnellen Bewegung schiebe ich den Arm unter der molligen Decke hervor und lange über den Bettrand, wo mein Handy darauf wartet, mich zu wecken. Ich schreibe Rodrigo eine Nachricht, weil es noch so früh ist: Steht dein Angebot noch?

Kurz darauf klingelt mein Handy. »Ich sitze schon am Rechner, hab eine enge Deadline.« Ich höre ihn seinen Kaffee schlürfen. »Wann willst du einziehen?«

Schlüsselerlebnis gesucht? So startest du die Suche nach deinem Traumzuhause

Nicht jeder Mensch beginnt ein solches Experiment freiwillig. Wenn du dein Zuhause verlassen musst, ist das sicherlich mit Abschiedsschmerz verbunden. Den anzuerkennen hilft tatsächlich schon ein wenig. Natürlich verbindest du mit deiner Wohnung gute Zeiten, schlechte Zeiten, und Loslassen ist schwierig. Mir kam es immer so vor, als würde mit den nächsten vier Wänden ein neues Kapitel aufgeschlagen.

Aber was soll sie für dich sein, die Neue? Ein sicherer Hafen, ein Abenteuerspielplatz? Mit welcher Vorstellung gehst du die Sache an? Der beste Platz zum Leben sieht für jeden anders aus.

Weite deinen Blick dafür, wie unterschiedlich Orte sein können, die Menschen ihr Zuhause nennen. Das spektakulärste Beispiel bietet sicher der griechische Philosoph Diogenes. Er soll so bedürfnislos gewesen sein, dass eine Tonne ihm als Behausung diente. Es ist ein Mosaik aus dem 2. Jahrhundert erhalten, das ihn darin zeigt – du findest es im Römisch-Germanischen Museum in Köln. Schriften von ihm sind aber nicht erhalten. Ob er sich dort wirklich wohlfühlte, ist also nicht überliefert. Vielleicht war die Nummer mit dem Fass nur die Marotte eines antiken Sonderlings.

Genauso eigensinnig darfst du aber auch sein! Es spielt keine Rolle, wie andere wohnen – finde heraus, was sich für dich genau richtig anfühlt. Wenn du die Antworten gleich ins Buch schreibst, dann hast du am Ende meiner Reise viel Material für deine eigene beisammen – und weißt besser, was zu tun ist, wenn du das Buch endgültig zuklappst. Falls du nicht ins Buch schreiben magst: Führ ein Wohntagebuch.

Und schon geht’s los, viel Spaß!

 

Wie hast du dir als Kind dein Traumhaus ausgemalt?

 

 

Wo hast du dich zuletzt zu Hause gefühlt – und warum?

 

 

Was war dort anders als in deiner aktuellen Wohnung?

 

 

Was würdest du an deiner jetzigen Wohnung vermissen?

 

 

Welche Macke deiner Wohnung würdest du gern loswerden?

 

 

Könntest du dir das, was du vermisst, auf andere Weise in deine jetzige Wohnung holen?

 

 

Was brauchst du, um dich zufrieden zu fühlen?

 

 

Bist du in bodennahen Unterkünften glücklicher oder weit oben mit Überblick?

 

 

Wie viel Licht brauchst du?

 

 

Magst du Natur oder liebst du das Stadtleben?

 

 

Wie stellst du dir in diesem Moment dein Traumhaus vor?

 

 

Fertig? Prima! Ob du’s glaubst oder nicht, das war einer der wichtigsten Schritte des Ganzen. Es geht darum, zu sehen, wo du stehst, und ein genaues Bild von deinen Wünschen zu bekommen.

Home Smart Home

Der beste Mitbewohner der Welt und mein elektrifizierter Unterschlupf

Ich tippe leicht gegen den schwarzen Rahmen des Bildes, damit es gerade hängt, und trete einige Schritte zurück, um es zu betrachten. Wenn ich schon mein Domizil bei Rodrigo aufschlage, dann richtig. Ich will mich wirklich zu Hause fühlen, alles andere verfälscht mein Experiment. Und dafür ist es notwendig, dass ich mich mit meinen wenigen Gegenständen auch wohnlich einrichte.

»Wenn ich da an meinen letzten Umzug denke, muss ich sagen: Alle Achtung, das ging schnell.« Rodrigo stellt den Topf mit der Wasserlilie aufs Fensterbrett, klopft sich die Hände an der Hose ab und stellt sich neben mich.

»Ja, dein Umzug war schon speziell.«

Im Gegensatz zu mir hat Rodrigo jede Menge Zeug. Allein seine Hobbys – das Bemalen von Miniaturen und Schlagzeugspielen – nehmen massig Platz ein. Nachdem ich so lange versucht habe, mit möglichst wenigen Dingen auszukommen, fühle ich mich fast ein wenig überwältigt. Werde ich davon schnell einen Koller bekommen? Oder gar anfangen, seine Sachen auch noch auszumisten?