Der Biss - Florian Scheibe - E-Book

Der Biss E-Book

Florian Scheibe

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Beschreibung

Sybil und David leben das gute, das richtige, das emissionsfreie Leben: Auf der Terrasse ihres Berliner Nullenergie-Mehrfamilienhauses halten sie sich ihr eigenes Bienenvolk, kaufen nur regional und biologisch, engagieren sich für den Fortbestand des Planeten. Doch das Idyll bekommt tiefe Risse, als ihr Sohn auf dem Spielplatz von einem fremden Jungen gebissen wird. Es ist der Sohn von Aurica und Petre, die aus Rumänien nach Deutschland gekommen sind in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft – und schnell feststellen müssen, dass nicht alle im gleichen Maße auf ein gutes Leben hoffen dürfen…

Bildmächtig, psychologisch präzise und mit entlarvendem Humor lässt Florian Scheibe zwei Welten aufeinanderprallen, die sich ferner nicht sein könnten. »Der Biss« zeichnet eindrucksvoll das Porträt einer zerrissenen Gesellschaft.

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Seitenzahl: 560

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FLORIAN SCHEIBE

DER BISS

ROMAN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © Florian Scheibe 2022

btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Michael Gaeb

Covergestaltung: buxdesign | Ruth Botzenhardt unter Verwendung eines Motivs von © plainpicture / Hayden Verry

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-26787-2V002

www.btb-verlag.de

www.facebook.com/btbverlag

Schwerkraft

Sand

Das Erste, was David an dem Jungen auffiel, war sein rasierter Schädel: schwarze Stoppeln, die eine dunkle Kopfhaut bedeckten. Das Zweite war seine Haltung. Er konnte nicht viel älter als Jonas sein, trotzdem bewegte er sich nicht wie ein Zwei- oder Dreijähriger, sondern mit der Selbstverständlichkeit eines erwachsenen Mannes. Das Dritte und vielleicht Befremdlichste war seine Kleidung: Obwohl die Frühlingssonne ihre wärmenden Strahlen durch die zarten Blätter des Ahorns schickte, der den Spielplatz schützend überthronte, trug der Junge eine Thermohose und eine blaue Steppjacke, aus der an einer aufgerissenen Stelle im Schulterbereich die Wattefüllung herausquoll. Dazu abgetragene, ehemals weiße Turnschuhe mit Klettverschluss, die ihm offenbar mehrere Nummern zu groß waren.

Der Junge war anders als die anderen Kinder auf dem Spielplatz. Eine Unregelmäßigkeit innerhalb eines einheitlichen Systems, eine wild wuchernde Pflanze inmitten einer gepflegten Blumenwiese. Mit leicht o-beinigen Schritten kam er zielstrebig den Weg entlanggestapft und hockte sich direkt neben Jonas, der selbstvergessen mit seiner Schaufel im Sand buddelte.

David selbst saß in diesem Moment auf einer Bank und dachte an Sex. Das heißt, genau genommen dachte er gar nicht an Sex, sondern er überlegte, wie lange er und Sybil keinen Sex mehr gehabt hatten. Im Zuge einer wohlwollenden Schätzung kam er auf gut drei Monate – und einer etwas weniger wohlwollenden auf knappe vier –, und er überlegte, wie er mit der Sache umgehen sollte.

Gleichzeitig versuchte er sich nicht zu sehr über die anderen Eltern zu ärgern. Darüber, wie sie mit ihren Wegwerf-Coffee-to-go-Bechern zwischen den Sandkästen herumliefen, achtlos Plastikdeckel und Holzrührstäbe verschwendeten und literweise unfair produzierten Kaffee schlürften; von der aufgeschäumten Kuhmilch, die mit Hilfe von unzähligen Methanrülpsern entstanden war, ganz zu schweigen.

Doch nun war da auf einmal dieser Junge und forderte seine volle Aufmerksamkeit. Nicht nur seine Erscheinung war auffällig, auch sein Verhalten. Er saß seltsam nah neben Jonas, und die Art, wie er den Kopf neigte und die Augen zusammenkniff, hatte etwas Forderndes.

David sah sich nach möglichen Bezugspersonen um. Nach jemandem, der Ähnlichkeit mit dem Jungen hatte oder mit einem Blick signalisierte, dass er zu ihm gehörte. Doch es war weit und breit niemand zu sehen.

Der Junge hatte sich inzwischen Jonas’ Förmchen zugewandt. Er griff nach dem hellblauen Seestern und patschte Sand hinein.

Erst jetzt hielt Jonas in seinem Buddeln inne und schaute auf.

»Meins«, sagte er. Es klang wie eine Feststellung, aber David wusste aus Erfahrung, dass es nur der Auftakt eines großen, wenn auch einsilbigen Plädoyers zum Thema Eigentum war.

Der Junge beachtete Jonas nicht. Im Gegenteil, er griff nach einem zweiten und einem dritten Förmchen, die er ebenfalls mit Sand befüllte.

Hilfesuchend schaute Jonas zu David, der ihm trotz seines eigenen Befremdens aufmunternd zunickte, lächelte und mit sanfter Stimme sagte: »Lass den Jungen doch ein bisschen mit deinen Sachen spielen. Du hast doch noch deine Schaufel und deinen Eimer.«

»Meins!«, wiederholte Jonas. »Meins!«

»Ja, natürlich«, sagte David. »Und sie bleiben ja auch deine, wenn er ein bisschen damit spielt.«

Nun, da Jonas zu verstehen schien, dass er von David keine Unterstützung in dieser Angelegenheit erwarten konnte, wandte er sich dem Jungen zu.

»Meins!«, rief er noch einmal mit aller Bestimmtheit. Anschließend griff er nach dem Förmchen, das der Junge in der Hand hielt, und riss es an sich.

Der Junge schaute auf. Er fixierte Jonas. Eine Sekunde. Zwei Sekunden. Dann schnellte sein Oberkörper nach vorn, seine Kiefer klappten auseinander, und er biss zu.

Das war die Schreckensszene, die sich David einbrennen sollte. Unabhängig davon, wie sehr er sich um einen vernunftgeleiteten Überbau und die dazugehörigen psychologischen Erklärungsmuster bemühte – der lange, beschwerliche Weg vom Säugling zum ichbewussten Kleinkind, mangelnde Affektkontrolle, die Aggression als Kompensation fehlender Sprachkompetenz oder einfach nur: eine Übersprungshandlung –, dieser Moment verfolgte ihn nachts in seine Träume und tagsüber, was immer er tat: beim Einkaufen im Bioladen, beim Säubern der Bienenkästen, beim Chai Soja trinken, beim Spazierengehen im Park. Ein dunkelhaariger Junge in einer zerschlissenen Winterjacke, der seine kleinen, scharfen Zähne in Jonas’ Unterarm versenkte und seine Kiefer so fest zusammenpresste, bis er endlich Blut schmeckte.

Ja, er wollte Blut!

In der unmittelbaren Gegenwart war es jedoch, als hinkte David den Ereignissen hinterher. Vermutlich lag es daran, dass der Junge gleich mehrere Stufen des normalen kleinkindlichen Konfliktverhaltens übersprungen hatte: kein Schubsen, Rangeln, Kneifen, Haareziehen, Kratzen. Keine sich allmählich steigernde Auseinandersetzung, die in das unvermeidbare Weinen des unterlegenen Kindes mündete, sondern sofort der brutale Erstschlag.

Es dauerte einen Moment, bevor die Schmerzsignale über den Umweg von Jonas’ Nervensystem in seinem Gehirn ankamen, und mindestens noch einmal so lang, bis David ein Gefühl für die Situation entwickelte.

»Hey«, rief er, wobei er sofort spürte, dass ein »Hey« nicht wirklich angemessen war. Aber David brauchte diesen Übergang, um innerlich zu den Ereignissen aufzuschließen.

Durch Jonas’ Schrei waren sie unterdessen zum Mittelpunkt des Spielplatzes geworden. Die Kinder hatten ihre Schaufeln sinken lassen. Sie hockten auf Rutschen und neigten ihre kleinen Köpfe, schaukelten weiter, ohne zu schaukeln. Eltern unterbrachen ihre Gespräche, setzten ihren Coffee-to-go ab und schauten von ihren Smartphones auf.

Endlich kam Bewegung in Davids Körper: die übereinandergeschlagenen Beine entknoten.

Aufspringen.

Losrennen.

Kleine, weiche Sandberge und die dazugehörigen Täler stellten sich ihm in den Weg: einsinken, umknicken, auf der Stelle treten.

Er strauchelte, stolperte, fing sich wieder, und schließlich warf er sich der Länge nach hin und packte den Jungen am Kopf. Mit seinen Handballen drückte er gegen die kleinen Kiefer und versuchte die Zahnreihen von Jonas’ Arm zu lösen. Doch der Junge wirkte wie angefeuert von Davids Eingreifen und schien seine Beißkraft sogar noch einmal zu erhöhen.

Jonas’ Schrei war nun ein Riss im Universum: hoch, spitz und unwirklich grell. Er schien aus einer tieferen Sphäre zu kommen, aus einer früheren Zeit, als Raubtiere noch Raubtiere waren und die Menschen in Höhlen lebten.

»Hör sofort auf!«, brüllte David. »Lass ihn los!« Und dann, als der Junge unbeirrt weiterbiss, einfach nur noch: »Aus! Aus! Aus!«

Davids Stimme überschlug sich, und doch kam es ihm so vor, als wäre sie lediglich ein dünner Windhauch in dem gewaltigen Sturm von Jonas’ archaischem Schrei. Seine Daumen waren am Kinn des Jungen angelangt, und er zog mit aller Kraft nach unten. Die Kiefer wirkten wie miteinander verschraubt. David spürte, wie seine Handballen verkrampften, während Jonas’ Schrei sich in seinen Kopf bohrte wie eine heiße Nadel.

Und dann, endlich, klappten die beiden Zahnreihen auseinander, öffneten sich wie eine Schnappfalle, die eine Wildtierpfote erwischt hatte, und der Junge, überrascht von dem plötzlich fehlenden Halt, stürzte kopfüber in den Sand.

Ein tiefer Abdruck hatte sich in Jonas’ Unterarm gegraben, Zahn an Zahn, wie ein sorgsam gemeißeltes Miniaturrelief, in den Mulden sammelte sich bereits Blut.

David zog Jonas an sich heran. Der kleine Körper zitterte, und jedes Mal, wenn er für eine neuerliche Schluchz-Attacke nach Luft schnappte, befürchtete David, dass der komplette Systemausfall nun unmittelbar bevorstand: Schockstarre, Ohnmacht, Katatonie.

Inzwischen weinte auch der Junge. Er lag mit verkniffenem, sandverklebtem Gesicht auf die Ellbogen gestützt, während ihm die Tränen über die Wangen liefen.

Nach wie vor waren sie der unangefochtene Mittelpunkt des kleinen Spielplatzuniversums. Das schwarze Loch, das alle Aufmerksamkeit ansaugte, der Fixstern, auf den sich alles bezog. Aber niemand machte Anstalten, ihnen zu helfen. Keiner fragte, ob er etwas tun könnte. Alle starrten nur herüber.

Erneut suchte David in den Gesichtern nach jemandem, der sich für den Jungen verantwortlich fühlte: nach der Mutter, die kurz auf dem Klo gewesen war. Dem Vater, der vor dem Spielplatz eine Zigarette geraucht hatte und nun suchend zwischen den Sandkästen herumlief. Doch es war niemand zu sehen. Nur diese stummen, leeren Blicke.

Während Jonas sich allmählich beruhigte – die Auf- und Abstiege wurden flacher, die schroffen Berge zu kleinen Hügeln und die Schluchten zu sanften Tälern –, rappelte sich der Junge wieder hoch und rieb schniefend mit einer sandverklebten Faust an seinem Auge.

David streckte ihm anklagend Jonas’ Arm hin. »Siehst du das? Siehst du, was du getan hast?«, rief er. »Du hast ihn gebissen! Er blutet!«

Jonas wimmerte. Der Junge senkte den Kopf und betrachtete die Wunde, und einen Moment lang kam es David so vor, als ob er verstände. Als ob er weit über sein biologisches Alter hinauswüchse und die Schuld einsähe, die er auf sich geladen hatte – bereit, Abbitte zu leisten.

Doch dann beugte sich der Junge nach vorn, griff nach der roten Schaufel und dem blauen Seesternförmchen, sprang auf und rannte los.

»Hey«, rief David und fühlte sich wie in einer seltsamen Wiederholungsschleife.

»Laufel«, sagte Jonas, der Davids Blick gefolgt war, mit dünner, weinerlicher Stimme.

David atmete ruckartig aus. Nun hatte der Junge Jonas also nicht nur blutig gebissen, sondern ihm zudem sein geliebtes Sandspielzeug geklaut. Und nicht etwa unter menschenunwürdigen Bedingungen produzierte Plastikförmchen aus Fernost, die für 99 Cent pro Stück den gesamten europäischen Markt überschwemmten, nur um schließlich als Müllberg an den Stränden ihrer Herkunftsländer zu enden – ein weiterer Kreislauf des Schreckens –, sondern fair produziertes Öko-Spielzeug aus Maiskunststoff, in Deutschland hergestellt, vollständig recycelbar und bestimmt zehnmal so teuer wie der glänzende Plastikschrott aus Taiwan, Vietnam oder China.

»Hey«, rief David noch einmal. »Das sind unsere! Gib sie wieder her!« Doch der Junge lief einfach weiter. Inzwischen hatte er den Sandkasten verlassen und überquerte in einiger Entfernung den gepflasterten Weg, vorbei an den Bänken, auf denen sich die Eltern längst wieder ihren Coffee-to-go-Bechern, Smartphones und Unterhaltungen zugewandt hatten. Er schien dabei nur ein einziges Ziel zu kennen: den Ausgang auf der anderen Seite.

»Laufel«, sagte Jonas. Und dann, eingebettet in einen herzzerreißenden Schluchzer: »Dern!«

Der Seestern.

Etwas in David verselbstständigte sich.

»Warte kurz hier«, sagte er, während er sich von dem weinenden Jonas löste, »ich bin gleich wieder da.«

Nun, da der Junge seinen Rhythmus gefunden hatte, war er erstaunlich schnell: Wie eine Nähmaschinennadel flog er vorbei an der hölzernen Kletterburg und der breiten Rutsche, während er mit der Schaufel und dem Förmchen den Takt seiner Flucht in die laue Frühlingsluft schlug.

David spürte den weichen, haltlosen Sand unter seinen Füßen, spürte, wie er einsank und wegrutschte, wie er lief, ohne zu laufen, und er kam sich vor wie in einem Albtraum. Dann hatte er endlich den Weg erreicht und die verlässliche Schwerkraft zurückerobert. Die Hindernisse waren hier ganz anderer Natur: krabbelnde Babys, Ball spielende Klein- und Seil springende Schulkinder, Eltern, die mit Säuglingen in Tragen vor dem Bauch zusammenstanden und sich, ständig leicht auf der Stelle hüpfend, unterhielten oder die – schlimmer noch – rückwärtsliefen, um mit dem in Fernost unter unsäglichen Bedingungen produzierten Smartphone Fotos oder Videos von ihren schaukelnden, kletternden oder rutschenden Lieblingen zu machen. Hinzu kamen all die Gerätschaften, die Laufräder, Kinderwagen, Roller und Buggys, die den Spielplatz säumten wie geparkte Fahrzeuge eine beliebte Strandpromenade.

Haken schlagend rannte David über die Gehwegplatten, wich aus, bremste, beschleunigte wieder, während der Sand unter seinen Sohlen knirschte. Schon war er davon überzeugt, dass er den Jungen nicht mehr einholen könnte. Dass dieser es bis zum Ausgang schaffen und auf den Gehweg rennen würde und anschließend mitten auf die Straße vor ein Auto. Dass der Junge also nicht nur Jonas blutig gebissen und anschließend seine Spielzeuge geklaut hätte, sondern er David zudem lebenslange Schuldgefühle hinterlassen würde.

Doch dann geschah etwas Unerwartetes. Der Junge verlangsamte seinen Lauf und blieb stehen. Er drehte den Kopf und schaute in Richtung der Bäume und Sträucher. Zwei, drei Sekunden verharrte er so, dann änderte er plötzlich die Richtung und lief direkt auf den Zaun zu.

Nun war er in der Sackgasse, und David würde ihn stellen.

Noch einmal erhöhte David seine Schrittfrequenz und sprintete, den Kopf nach oben gereckt und die Brust herausgestreckt wie ein Zweihundertmeterläufer kurz vor dem Ziel.

Zwischen zwei Müttern hindurch, die auf einem kleinen Mäuerchen hockten, sprang er in den Sand. Er hörte die Proteste: »Spinnt der?«, »Sind Sie verrückt geworden?!«, doch er hatte keine Zeit, darauf zu reagieren. Er war nun direkt hinter dem Jungen, griff nach der Jacke und erwischte den Kragen. Der kleine Körper wurde in die Höhe gerissen, während die Beine noch einen Moment lang in der Luft weiterliefen.

David setzte den Jungen ab, hielt ihn aber weiterhin an der Jacke gepackt: »Gib das her«, keuchte er.

Wie ein Ertrinkender klammerte sich der Junge an die Spielzeuge und presste sie gegen seinen Oberkörper.

»Gib das sofort her!«, rief David.

Und im selben Moment geriet etwas aus dem Gleichgewicht. David hatte das Gefühl zu fallen, aber ohne aufzuschlagen. Alles in ihm kulminierte, die ganzen letzten Jahre: die ermüdende Schwangerschaft von Sybil, der anstrengende Umzug in ihre neue Wohnung, die aufreibende Baby-Zeit mit Jonas, die Schlaflosigkeit, der Mangel an regelmäßigen Mahlzeiten, seine Sorge um den Zustand des Planeten und zu guter Letzt der Burnout, den er vor gut drei Jahren gehabt hatte.

Die Welt verlangsamte sich, bildete seltsame Schleifen aus dem immer gleichen Moment, der sich wie in Zeitlupe wiederholte: der Junge, der die Förmchen an seinen Oberkörper presste, als würde sein Leben davon abhängen, und dazu seine verzweifelte Grimasse. Und dann wurde alles schwarz.

Als er wieder zu sich kam, hielt David das Förmchen in der Hand, und der Junge, dessen Kragen er immer noch gepackt hielt, schrie wie am Spieß. Im selben Moment ertönte eine Stimme. Es war eine tiefe, dröhnende Stimme, und kurzzeitig war David davon überzeugt, dass sie aus dem weit aufgerissenen Mund des Jungen käme wie eine Art Untertongesang, der ihn verwirren sollte. Doch dann folgte der Stimme ein Schatten und eine Erschütterung, und den Bruchteil einer Sekunde später spürte David einen heftigen Stoß gegen die Brust. Er taumelte nach hinten und landete auf dem Hintern im Sand, während der Junge in einer fließenden, beinahe anmutigen Bewegung nach oben schwebte.

David sah sich einem südländischen Mann Mitte zwanzig gegenüber. Der Mann sah auffallend gut aus. Schlank, kräftig, mit hohen Wangenknochen, und bereits auf den ersten Blick erkannte David, dass es sich um den Vater des Jungen handelte. Alles an ihnen war gleich, die Haltung, die Mimik, der rasierte Schädel, die billigen, abgetragenen Klamotten, und sogar die Art und Weise, wie sie sich bewegten: schnell und direkt.

Der Mann balancierte seinen weinenden Sohn auf dem Arm, wischte ihm den Sand aus dem Gesicht und redete beruhigend auf ihn ein. Davids Brust schmerzte von dem Stoß, und er verspürte ein diffuses Schuldgefühl, weil er den Jungen so hart gepackt und ihm den Seestern entrissen hatte. Aber vor allem war er wütend. Wütend auf den Vater. Wo kam der auf einmal her? Wo war er während der vergangenen zehn Minuten gewesen? Pinkeln? Einen Kaffee holen? Hatte er vielleicht mal etwas von Aufsichtspflicht gehört?

David rappelte sich hoch und klopfte seine Hose ab. Er entschied sich für den Mittelweg. Eine Entschuldigung, ja, aber eben auch die Begründung für sein Verhalten und daraus abgeleitet die Anklage.

»Es tut mir leid«, sagte er. »Ich wollte ihm nicht wehtun, aber Ihr Sohn ist unbeaufsichtigt auf dem Spielplatz …«

Weiter kam David nicht. Der Mann fuhr herum. Seine dunklen Augen waren weit aufgerissen, aus seinem Mund sprudelte ein wilder Wortschwall in einer fremden Sprache, deren zahlreiche Konsonanten sich als ein feiner Sprühregen über Davids Gesicht legten. Was war das? Rumänisch?

David hob abwehrend beide Hände. Er spürte, wie das Adrenalin durch seinen Körper pumpte. Der Mann kam ihm nah. Sehr nah. Zu nah.

»Hey!«, rief David. »I told you: I’m sorry! But your son was completely unattended. He was walking around, came to us. He played with our sand toys. And all of a sudden your son bit my son. He bit him really hard. And then he took the sand toys and ran away with them!«

David griff nach der Schaufel, die der Junge immer noch umklammerte. Er zog daran, um zu zeigen, was das Problem war: dass der fremde Junge sich nicht nur der Körperverletzung, sondern auch des Diebstahls schuldig gemacht hatte!

Der Griff nach der Schaufel war offenbar das falsche Signal, denn mit einem Mal war ihm der Mann nicht nur sehr nah, zu nah, sondern er schlug seine Hand beiseite und packte ihn am Jackenkragen. David spürte die Fingerknöchel des Mannes an seiner Brust. Seine geschlossene Faust war wie eine Schraubzwinge. Offenbar verstand der Mann nicht. Oder er wollte nicht verstehen.

Einen Moment lang betrachtete David die Szene von außen, wie in einem Film. Gleichzeitig wurde ihm bewusst, dass er seinen »son« Jonas mit blutig gebissenem Arm am anderen Ende des Spielplatzes zurückgelassen hatte, nur um einem wildfremden Jungen und zwei »sand toys« hinterherzujagen und sich mit dessen Vater anzulegen. Es war absurd! Idiotisch. Fahrlässig. Und je stärker dieses Gefühl in ihm wurde, desto größer war der Drang, sich vor dem Mann zu rechtfertigen.

»My son is bleeding«, sagte David. Er hielt sich den Unterarm vor den Mund und deutete einen Biss an. »And this is our shovel!« Erneut griff er nach der Schaufel.

Nun begann der Mann, ohne Davids Jacke locker zu lassen, mit der Faust gegen dessen Brust zu boxen. Hart und rhythmisch.

»Hey«, rief David. »Hören Sie sofort auf! Stop it!«

Doch der Mann boxte einfach weiter, trieb David Schlag für Schlag durch den Sandkasten. Und jeder Schlag war eine Schmerzexplosion in seinem Brustbein.

»Hey! Stop! Please stop!«, rief David. Er versuchte sich gegen die Schläge zu schützen, indem er seine Arme vor die Brust hob, doch vergeblich. Denn selbst mit nur einer freien Hand war ihm der Mann körperlich weit überlegen.

»Help!«, rief David nun und drehte den Kopf. »Heeeeelp!«

Auch das war ein Bild, das ihn noch lange begleiten sollte. Das ihn nachts in seinen Träumen heimsuchte und ihn mit hämmerndem Herzen hochschrecken ließ. Das morgens beim Frühstück vor seinem inneren Auge aufflackerte, als er gerade dabei war, sein Hafermilch-Müsli zu löffeln, oder am Schreibtisch vor dem Laptop, wenn er an seinem Blog schrieb: wie dieser dunkeläugige Mann den Kragen seiner Jacke gepackt hielt und ihn quer durch den Sandkasten boxte. Wie er ihn mit nur einer Hand komplett unter Kontrolle hatte und David nichts weiter war als eine Marionette, eine Stoffpuppe, ein Hampelmann.

Hilfesuchend schaute David sich nach einem Vater um, der ihn unterstützen könnte, oder besser noch nach drei oder vier Vätern, denen es vielleicht gemeinsam gelang, dieses Tier von einem Mann zu bändigen. Doch offenbar wollte niemand etwas mit dem plötzlichen Gewaltausbruch zu tun haben. Einige Eltern packten ihre Sachen, andere zogen ihre Kinder in Richtung Ausgang. Niemand sagte etwas oder machte auch nur Anstalten, das Handy zu zücken, um die Polizei zu rufen. Sie schauten weg, waren teilnahmslos. Genau so, wie sie sich gegenüber dem Klimawandel und der ökologischen Krise verhielten.

Noch ein Wortschwall, noch ein harter Stoß. David machte einen Ausfallschritt nach hinten und spürte einen Widerstand in seinen Kniekehlen. Er schwankte, stolperte, ruderte mit den Armen und landete auf dem Rücken im Sand, direkt neben einem hölzernen Sprungfederpferd, das ihn höhnisch angrinste, während es hektisch hin- und herwackelte.

Der Mann stand nun direkt über ihm. Seine Augen waren zu schmalen Schlitzen verengt, und David spürte den Hass und die Gewaltbereitschaft in jeder Faser seines Körpers. Er war fest davon überzeugt, dass der Mann ihm nun sämtliche Knochen brechen würde. Dass er ihn, ohne seinen Sohn abzusetzen, blutig prügelte, um ihn anschließend direkt hier, an diesem Ort der Unschuld, zwischen dem grinsenden Wackelpferd und der großen Rutsche, vor den Augen aller Kinder und Eltern mit nur einer Hand zu erwürgen.

Die Zeit schien endgültig stillzustehen.

David schloss die Augen.

Er hörte Kinderstimmen. Lachen. Das Quietschen von Schaukeln. Er hörte, wie eine Mutter einen Namen rief – Lara? Oder Clara? –, er hörte einen Mopedmotor in der Ferne und eine Fahrradklingel, und dann von irgendwoher Weinen – Jonas?

Langsam öffnete er die Augen und hob den Kopf.

Der Mann war verschwunden.

Nur das türkisfarbene Seesternförmchen, das einige Meter von David entfernt im aufgewühlten Sand lag, zeugte davon, dass der Fremde und sein Sohn überhaupt existiert hatten.

Meer

Die Sonne war schuld. Diese warmen, weichen Strahlen, die zwischen den knospenden Zweigen hindurch auf ihn einströmten wie eine nie enden wollende Welle. Diese Strahlen, die in seine offene Jacke krochen, unter sein T-Shirt und durch seine halb geschlossenen Augenlider direkt in seinen Kopf, in seine Gedanken und Gefühle. Diese verdammte Sonne, die so viel Hoffnung in sich trug. Die aus winzigen Samen riesige Pflanzen machte. Die Tomaten wachsen ließ, Auberginen, Kartoffeln, Pfirsiche, Zitronen, Äpfel, Wein! Und nun flüsterte ihm diese Sonne zu, dass das Schlimmste überstanden sei und alles besser werde.

Petre saß auf einer Bank und spürte, wie ihm die Augen zufielen. Er hörte die Geräusche. Das Zwitschern der Vögel. Das Rauschen des Verkehrs in der Ferne, das Singen der Gleise. Und irgendwo dazwischen oder darunter das Brabbeln von Nelu.

Er wusste, dass er nicht einschlafen durfte, aber seine Augenlider waren so schwer, seine Augäpfel wollten nach oben rollen, unter den Schutz der Stirn. Nur eine Minute schlafen, nein, eine halbe, das würde schon reichen. Nur kurz Kraft schöpfen und die Sonne ihr wunderbares Werk tun lassen.

In der vergangenen Nacht hatte er kaum geschlafen und auch in den Nächten davor nicht. Nicht wegen Nelu, sondern wegen der anderen: ihres Schnarchens, ihrer Schritte. Wegen des Hauses. Wegen der Sorgen, die er sich um die Zukunft machte.

Nur ein paar Sekunden, dachte er. Nur eine kurze halbe Minute!

Und dann war er auf einmal in Bacău. Nur dass Bacău nicht war, wie Bacău wirklich war, sondern viel schöner. Eine gepflegte Stadt mit frisch gestrichenen Häusern, neuen Balkonen und üppigen Gärten. Und Bacău lag nicht länger an einem Fluss, sondern direkt an der Küste, auf einem kleinen Hügel, und unten war ein breiter muschelweißer Strand.

Woher kam das Meer? Woher all diese Schönheit? Bacău war nicht mehr Bacău, sondern eine Mischung aus Bacău und Triest. Eine Symbiose, die aus beiden Städten das Beste herausholte.

Mit wiegenden Schritten ging er zum Strand. Er grüßte, wen er kannte, und alle grüßten zurück. Und neben ihm lief Aurica. Sie hielt seine Hand, oder vielmehr: Ihre schmale, zarte Hand wurde von seiner gehalten, ihre Hände gehörten zusammen.

Es folgte die Promenade und auf der anderen Seite der Strand: weicher, feiner Sand. Er zog die Schuhe aus und warf sie in hohem Bogen über die Schulter, und Aurica tat es ihm gleich. Ein leichter Wind. Kaltes, salziges Wasser, und so türkis, als hätte jemand eimerweise Farbe hineingekippt. Muscheln. Kleine Wellen, die seine Knöchel umspülten. Er zog seine Jacke aus, sein Hemd, seine Hose, nur die Boxershorts behielt er noch an. Aurica hatte ihr Kleid an den Strand gelegt und trug nur noch ihren Slip und einen BH. Weiße Spitze. Sie lächelte, küsste ihn, griff nach seiner Hand und zog ihn hinter sich her. In seinen Shorts spannte etwas, und nun wollte er am liebsten wieder zurück: sie an den Strand führen, ihr die Unterwäsche vom Körper ziehen, um sie dann … Ja, was dann? Sie waren mitten in der Stadt. Überall waren Menschen.

Sie gingen tiefer und tiefer, und das türkisfarbene Meer kletterte an seinem Körper empor und überspülte seine Hose. Schon reichte es ihm bis zur Hüfte. Dann bis zur Brust und nach zwei weiteren Schritten bis zu den Schultern: Oh, wie weich es war, wie angenehm kühl. Und dann dachte er daran, dass er irgendetwas vergessen hatte. Etwas, das in Zusammenhang mit dem Meer stand, mit dem vielen Wasser, den Wellen, und der Tatsache, dass er sich darin bewegte. Nur was? Er wusste es nicht. Aber wenn es ihm nicht einfiel, dann war es vermutlich auch nicht wichtig, oder? Und so ging er weiter, bis das Wasser so tief wurde, dass er den Boden unter den Füßen verlor und nur noch auf Zehenspitzen den Kopf herausrecken konnte. Und dann wusste er es plötzlich wieder: Er konnte nicht schwimmen! Hatte es nie gelernt. Nicht in der Schule und auch nicht später während der Lehre. Aurica hatte sich bereits von ihm gelöst und glitt durch die Wellen wie ein Delfin, kraulte, tauchte und tanzte mit dem Element. Aber er konnte nicht schwimmen.

Er wedelte mit den Armen und reckte den Hals. Er paddelte wie ein Hund, aber es hatte keine Wirkung. Das Wasser zog ihn hinab, schon schluckte er das salzige Meer und schnappte nach Luft. »Aurica«, versuchte er zu rufen, aber es kam nur ein Gurgeln heraus. Und dann war das Wasser überall. Nicht nur um ihn herum, sondern auch in ihm drin: in seiner Brust, seinem Kopf, seinen Beinen, sogar in seinen Finger- und Zehenspitzen, und alles implodierte.

Er schreckte hoch. Sein Mund war trocken. Sein Herz schlug ihm durch den Hals bis in die Schläfen. Wo war er? Wo war das Meer? Wo war Aurica? Er sah die Zweige über sich. Die Bank, auf der er saß. Er sah eine große grüne Wiese, Bäume, Menschen. Eine Sekunde völliger Ortlosigkeit umfing ihn.

Und dann wusste er es wieder. Er war in Deutschland. In Berlin. Weit weg von jedem Meer. Weit weg von Triest und noch weiter weg von Bacău. Er saß in dem Park auf der anderen Seite der Gleise. Es war Frühling – endlich warm! –, und er war in der Sonne eingenickt. Er hatte geträumt, nur geträumt.

Er hielt inne. Etwas stimmte nicht. Etwas fehlte. Drei Atemzüge lang bewegte er sich durch ein unschuldiges Niemandsland in seinem Innern, hell und leicht. Dann traf es ihn wie ein Schlag: Nelu! Wo war Nelu? Gerade eben hatte er noch direkt neben ihm gehockt, unten im Kies, hatte vor sich hin gebrabbelt und die kleinen, hellen Steinchen in das Gebüsch hinter der Bank geworfen. Eines dieser befreiend sinnlosen Kinderspiele: Steine von der einen Seite zur anderen bewegen und wieder zurück. Aber jetzt war er verschwunden. Petre sprang auf.

»Nelu? Nelu!«

Keine Antwort, kein Nelu weit und breit.

Er beugte sich hinunter, bog die Zweige hinter der Bank auseinander. Nichts. Er lief über den geteerten Weg auf die große Wiese. Er drehte sich einmal um die eigene Achse, kniff die Augen gegen die Sonne zusammen und suchte den Horizont nach der blauen Jacke ab. Nelu war nirgendwo zu sehen. Panik überkam ihn.

»Nelu!«

Der Park war voll. Menschen, die auf Decken in der Sonne lagen. Die Frisbee spielten, Fahrrad fuhren oder auf Rollerblades über den Asphalt glitten wie auf einem zugefrorenen See. Eine Welt in Bewegung. Eine Welt im Überfluss. Und zu diesem Überfluss gehörten natürlich auch Kinder. Kinder, die Bälle warfen, Verstecken spielten oder einfach nur sinnlos hintereinander herrannten.

Kinder! Fremde Kinder! Aber wo war Nelu?

Petre hatte keine Ahnung, in welche Richtung er laufen sollte. Ob nach rechts, wo sich die Straße befand – vier Spuren voller nagelneuer, glänzender Autos –, oder nach links, tiefer in den Park hinein. Oder vielleicht sogar wieder zurück in die Richtung, aus der er gekommen war: zu der Brücke und den Gleisen.

Den Gleisen! Auf denen Züge fuhren! Kilometerlange Güterwaggons, in denen Tonnen von Lebensmitteln transportiert wurden. Große weiße Expresszüge, die 300 Stundenkilometer schnell waren. Unzählige Nahverkehrszüge, quietschende S-Bahnen und ratternde überirdische U-Bahnen.

Das Schlimmste war, dass er sich hier, auf dieser Seite der Gleise, überhaupt nicht auskannte. Er hatte keine Ahnung, was sich hinter der Straße befand oder auf der anderen Seite des Parks. Diese Welt hier war ihm fremd, noch fremder als die Straßen um das Haus, in dem sie wohnten. Und vor allem war er hier noch fremder als irgendwo sonst in dieser Stadt.

Es war ein Albtraum! Es musste ein Albtraum sein! Ja, das war die Lösung: Er war eingeschlafen, und er träumte, und gerade eben hatte er im Schlaf sein eigenes Aufwachen geträumt, auf einer Bank, in einem Park, den er nicht kannte. Er kniff sich in den Oberarm und, als das nichts half, mit den Fingernägeln in die Nase. Er hielt die Luft an und biss sich auf die Unterlippe. Doch er wachte nicht auf. Einen Moment lang spielte er mit dem Gedanken, nach vorn zur Straße zu rennen und dann auf die Brücke, um sich vor die darunter entlangrauschenden Autos zu werfen. Das hatte bisher immer geklappt: sich umbringen, um aus einem bösen Traum zu erwachen. Aber was, wenn es doch kein Traum war und er nicht aufwachte? Dann wäre er tot, und Nelu wäre verloren, noch verlorener, als er es jetzt schon war.

Er dachte an Aurica. Daran, was sie sagen würde, wenn er ihr gestand, dass Nelu verschwunden war. Dass er nicht aufgepasst hatte. Dass er eingeschlafen war, während Nelu neben ihm gespielt hatte, dass er tief geschlafen und vom Meer geträumt hatte und von ihrer Unterwäsche. Aber er wusste, dass es die falsche Frage war. Die Frage lautete nicht, was Aurica sagen, sondern, was sie tun würde. Und die Antwort darauf war ganz einfach: Sie würde ihn umbringen. Sie würde ihm die Augen auskratzen und ihn so lange würgen, bis er blau anlief. Und wenn er dann immer noch am Leben wäre, würde sie ihn von einem Hausdach auf die Straße werfen. Und schließlich, wenn er endlich tot und begraben war, würde sie auf sein Grab spucken.

»Nelu!« Seine eigene Stimme schreckte ihn aus seinen Gedanken. Nelu war weg. Er musste ihn finden, und zwar so gesund und unversehrt, wie er ihn zuletzt gesehen hatte – und wenn es das Letzte war, was er in diesem Leben zustande brachte.

Sein Körper reagierte schneller als sein Kopf. Er war es, der entschied, in welche Richtung es zuerst ging: weg von der Straße und tiefer in den Park hinein. Seine Beine hatten sich verselbstständigt und rannten schon, lange bevor er ihnen den Befehl dazu erteilt hatte.

»Nelu!«

Keine Antwort, kein Nelu weit und breit. Nur ein paar fragende, bleiche Gesichter von Jugendlichen, die auf dem gepflegten Rasen in der Sonne saßen und Popmusik aus einer dieser winzigen Zauberboxen hörten.

»My son!«, rief er in ihre Richtung und machte dazu eine Geste mit der Hand, um zu zeigen, wie groß Nelu ungefähr war. »Nelu! My Son!«

Stirnrunzeln. Schulterzucken. Die Musik spielte weiter.

Petres Gedanken überschlugen sich. Sein Herz setzte kurzzeitig aus, nur um im nächsten Augenblick wie wild von innen gegen seinen Brustkorb zu trommeln. Unter einem Baum ein paar Hundert Meter weiter entdeckte er eine Gruppe Kinder, und einen Moment lang war er sicher, Nelu zu erkennen: die blaue Jacke, die dunklen Stoppelhaare, die O-Beine. Mit einem Mal fühlte er sich ganz leicht und frei, alles fiel von ihm ab.

»Nelu!«, rief er, »Nelu!«, und er rannte.

Dann erkannte er, dass es ein anderer Junge mit einer dunklen Jacke und kurzen Haaren war, ein Junge, der keinerlei Ähnlichkeit mit seinem Sohn hatte, und alles in ihm verklumpte sich von Neuem.

Er verlor die Orientierung. Die Welt hatte keine Richtung mehr. Kein Rechts, kein Links, kein Vorwärts, Rückwärts, Osten, Westen, Süden oder Norden – nicht einmal mehr oben und unten. Er war wie erstarrt, und doch bewegte er sich. Er lief auf der Stelle, drehte sich im Kreis, versank im Boden.

Es hatte keinen Zweck. Er würde ihn nicht finden. Nelu war verloren, und er war es auch.

Doch wieder gab es eine Kraft, die ihn zurückriss, die ihn packte und schüttelte, eine Stimme, die ihm zurief: Reiß dich zusammen! Such ihn! Finde ihn!

Er lief zurück zu dem geteerten Weg. Hier war alles voller Menschen. Pärchen, die Hand in Hand in der Nachmittagssonne spazierten, Jogger, die in teurer Funktionskleidung und mit Handytaschen an den Oberarmen rannten, als ob ihnen jemand viel Geld dafür bezahlte. Nicht zu vergessen die Rollerblader, die Fahrradfahrer und die Eltern mit Kinderwagen.

Petre lief auf sie zu, suchte den Augenkontakt und sagte immer wieder: »Nelu!« und »My son!«, doch niemand machte Anstalten, ihm zu helfen. Im Gegenteil: Die Leute wandten sich demonstrativ ab oder schauten einfach durch ihn hindurch, als wäre er nicht vorhanden, ein Unsichtbarer, ein Geist, der nur von sich selbst dachte, dass er existierte. Er versuchte sie mit ausgestreckten Armen aufzuhalten, aber auch das funktionierte nicht. Sie sahen ihn nur missbilligend an und umrundeten ihn dann, ein lästiges Hindernis, eine liegen gelassene Mülltüte, ein Hundehaufen, in den sie nicht treten wollten.

Er verfluchte sich dafür, dass er kaum Englisch konnte, geschweige denn Deutsch. Wie sollten sie verstehen, was er von ihnen wollte, wenn er immer nur wie ein Schwachsinniger dieselben drei Wörter wiederholte: »Nelu!«, »My son«, »Nelu! Son!«?

Andererseits hätte zumindest einer von ihnen stehen bleiben und nachfragen können. Zumindest versuchen, ihm zu helfen! Doch dazu hätten sie ja ihre wichtigen Gespräche unterbrechen, ihre Kopfhörer absetzen, ihre Handys vom Ohr nehmen müssen. Sie liefen, fuhren und spazierten einfach weiter, und er kam sich vor wie mitten in einem Fluss, und die Menschen waren das Wasser, das ihn unaufhaltsam umspülte.

Er entschied sich, es mit Italienisch zu versuchen, auch wenn er nur wenig Hoffnung hatte. Denn obwohl die Deutschen ständig nach Italien in den Urlaub fuhren, für ihr Leben gern in italienischen Restaurants aßen, italienischen Cappuccino tranken, in italienischen Feinkostläden einkaufen gingen und italienische Wochen in den Supermärkten veranstalteten, hatte Petre in den vergangenen Monaten die Erfahrung gemacht, dass er sich in Deutschland mit Italienisch kaum besser verständigen konnte als mit seiner Muttersprache.

»Mi scusi, avete visto mio figlio? Ha due anni!«

Nun ging er noch näher an die Leute heran, versuchte sich ihnen in den Weg zu stellen, aber es war zwecklos. Der Fluss floss einfach weiter.

Und dann kam ihm der rettende Einfall: Er hatte doch ein Foto von Nelu! Nicht nur eines, sondern Dutzende: Nelu im Hof hinter dem Haus, Nelu in Bacău in ihrer Wohnung und sogar Nelu, als er noch ein Baby war und nicht einmal laufen konnte. Er zog das Smartphone mit dem Sprung in dem Display aus der Jackentasche, öffnete den Bilderordner und wählte einen der neuesten Schnappschüsse: Nelu vor dem Haus auf dem Gehweg, wie er lachend auf ihn zurannte, im Hintergrund Aurica. Er streckte das Handy aus wie eine Polizeimarke, sagte seinen italienischen Satz und lief auf die Leute zu, aber das ausgestreckte Handy und seine Hartnäckigkeit schienen die abwehrenden Reaktionen noch zu verstärken. Nun machten sie unwillige Handbewegungen, sagten »Nein«, eines der wenigen deutschen Wörter, die er verstand. Ein Mann mit einer Sonnenbrille zischte etwas, von dem Petre überzeugt war, dass es sich um eine Beleidigung handelte, und eine Frau zog ihren drei- oder vierjährigen Sohn mit einem kräftigen Ruck hinter sich her, als dieser auf das Bild von Nelu deutete.

Petre hielt inne. Er entdeckte zwei Mütter, die mit ihren Babys auf einer großen karierten Decke auf der Wiese saßen, wie auf einer bunten Insel in einem grünen See. Windeln, Feuchttücher, Breigläschen und Spielzeug lagen quer darüber verteilt. Vermutlich waren sie schon eine ganze Weile hier. Und wenn Nelu sie ebenfalls entdeckt hatte, dann war er bestimmt zu ihnen gelaufen. Er liebte Babys über alles.

»Scusate«, sagte er, während er an die Decke herantrat.

Beide Frauen wandten ihm den Kopf zu. Sie schauten ihn freundlich und offen an. »Mi scusi«, sagte er noch einmal, während er ihnen sein Handy hinstreckte. Er sprach nun ganz langsam und betonte jedes Wort einzeln. »Questo e mio figlio. E scappato. L’avete visto per caso?«

Die rechte Frau sagte etwas auf Englisch, das er nicht verstand. Also konnten auch sie kein Italienisch. »Son«, sagte Petre. »My son! Please!« Nun wechselten die Frauen einen kurzen Blick, und die linke nickte. Hoffnung keimte in Petre auf: Sie hatten Nelu gesehen! Sie wussten, wohin er gelaufen war, und würden seiner Suche zumindest eine Richtung geben.

Doch dann tat die rechte Frau etwas Seltsames. Sie griff in ihre Handtasche, holte ein Portemonnaie heraus und kramte darin. Kurz darauf hielt sie eine große, glänzende Zwei-Euro-Münze zwischen Zeigefinger und Daumen und streckte sie ihm hin. Und bevor er etwas sagen konnte, war die Münze bereits in seiner Hand gelandet. Die Frau lächelte und wandte ihren Blick wieder den Babys zu.

Und mit einem Mal verstand er: All diese Leute dachten, dass er bettelte! Dass er Geld von ihnen wollte! Dass er sogar so weit ging, ein Bild von seinem Sohn zu zeigen, um ihnen ein paar Münzen aus der Tasche zu leiern!

Am liebsten hätte Petre die zwei Euro zwischen die Babybreigläschen geschleudert. Aber er hatte keine Zeit für Nebenkriegsschauplätze. Er musste seinen Sohn finden.

Er stieß sich von der Insel ab und war zurück im offenen grasgrünen Meer. Ziellos lief er über die Wiese, drehte seinen Kopf von links nach rechts, rief immer wieder Nelus Namen.

Und dann entdeckte er den Spielplatz. Es war ein riesiger Spielplatz, mit mehreren Rutschen, Schaukeln, Klettergerüsten und einer Holzburg in der Mitte, und sofort hatte er wieder diesen Gedanken im Kopf, den er schon oft gedacht hatte, seit sie hier waren: Wenn man sich einen Eindruck von dem Reichtum dieses Landes machen wollte, dann musste man sich nur die Spielplätze anschauen. Spielplätze, für Kinder gebaut! Für die niemand Eintritt bezahlen musste! Riesige Rutschen und Klettergerüste. Piratenschiffe, in deren Masten die Kinder herumturnen konnten. Gewaltige Burgen mit Türmen und Zinnen. Und alles geprüft, gesichert und regelmäßig gewartet.

Hier musste Nelu sein. Ganz bestimmt war er hier!

Der Spielplatz war voll, und Petres Blick flog hin und her, aber Nelu war nirgendwo zu sehen. Er überlegte, ob er über den Zaun steigen und suchend durch die Sandkästen und um die Burg herumlaufen sollte. Doch dann würden die besorgten Eltern vermutlich sofort die Polizei rufen, weil ein dunkelhaariger, kinderloser Mann über den Spielplatz lief, ein Fremder, und sie Angst davor hatten, dass er ihre Kinderwagen oder gleich ihre Kinder klaute.

Petres Hoffnung schwand erneut. Sackte von seinem Brustkorb durch den Bauch in seine Beine. Und dann, genau in dem Moment, in dem er bereits aufgegeben hatte und darüber nachdachte, sich nun tatsächlich – und nicht nur zur Beendigung eines vermeintlichen Traums – von einer Brücke zu stürzen, in genau diesem Moment geschah das Wunder. Da war er! Nelu! Tauchte auf wie aus dem Nichts! Er kam quer durch den Sandkasten gerannt. Mit kurzen, schnellen Schritten. Und er hielt etwas in den Händen, rechts und links, rot und türkis, was war das? Zwei Sandspielzeuge? Aber es war auch egal. Selbst wenn es zwei abgerissene Duschköpfe, zwei lebendige Kaninchen oder zwei tote Tauben gewesen wären, Hauptsache, Nelu lebte. Hauptsache, es ging ihm gut!

Petres Stimme überschlug sich.

»Nelu! Nelu!«

Nelu verlangsamte seinen Schritt, blieb stehen, schaute in seine Richtung, blinzelte – »Nelu!«, dieser dritte Ruf war fast ein Schrei –, und nun erkannte ihn das Kind, strahlte übers ganze Gesicht und rannte auf ihn zu.

Das sollte der Moment werden, an den er noch Wochen, ja Monate später zurückdachte. Eine Erinnerung, die ihm in schwersten Zeiten zuflüsterte: Du musst dir keine Sorgen machen! Alles wird gut werden! Nelu, den er bereits tot geglaubt hatte, für unwiederbringlich verloren an die Straßen dieser krakenhaften Stadt, war wieder aufgetaucht. Er lebte. Es ging ihm gut. Er lachte!

Petre machte sich nicht die Mühe, dreißig Meter weiterzugehen, um den Spielplatz durch die Eingangstür zu betreten. Nein, er würde den direkten Weg nehmen, und wenn er dafür sämtliche Verbote dieses seltsamen Landes auf einmal übertrat. Sollten sie ihn doch verhaften. Sollten sie ihn einsperren, Hauptsache, er würde gemeinsam mit Nelu verhaftet und eingesperrt werden, alles andere spielte keine Rolle. Er wollte gerade über den Zaun klettern, um Nelu entgegenzurennen und ihn in seine Arme zu schließen, als er noch einmal innehielt. Denn was war das? Da war ein Mann, der quer über den Spielplatz rannte. Ein großer, dünner Mann. Er trug einen hellen Leinenanzug und ein Hemd. Er sah aus wie ein englischer Lord, der durch seinen Park rannte, um ein durchgegangenes Pferd einzufangen. Doch er verfolgte kein Pferd, er verfolgte Nelu. Und wie er ihn verfolgte: In genau diesem Moment sprang er zwischen zwei erschrockenen Frauen hindurch über ein Mäuerchen in den Sandkasten. In seinen Augen loderte Wut. Nein, Hass. Mordlust. Ein Jäger, der hinter einem Truthahn her war und ihm, sobald er ihn erwischt hätte, den Hals umdrehen würde.

Wenn Nelu sieben Schritte machte, machte der Mann einen, und es dauerte nur zwei Sekunden, dann war er bei ihm, neben ihm, vor ihm und hatte ihn am Kragen gepackt, wie einen ungezogenen Welpen im Nacken. Er riss ihn in die Höhe, schüttelte ihn, und dann warf er ihn der Länge nach hin und presste ihn mit dem Gesicht in den Sand.

Petre war wie erstarrt. Nein, er war nicht wie erstarrt: Er war erstarrt, in seinem bewegungsunfähigen Körper gefangen wie in einem Käfig. Alles war so unglaublich schnell gegangen. Die Erleichterung darüber, dass Nelu lebte, dass es ihm gut ging, dass er lachte. Und im gleichen Atemzug die Erkenntnis, dass er von einem fremden Mann verfolgt wurde. Und gerade, als Petre das begriffen hatte, als es in sein Bewusstsein eingedrungen war, musste er mitansehen, wie der Mann Nelus Gesicht in den Sand presste und an dem Förmchen zerrte, das sein Sohn in der Hand hielt.

Nelu zappelte und schrie, und erst jetzt hatte Petre seine Schockstarre überwunden. Er warf sich über den Zaun. Seine Beine stampften wie Dampfhämmer – auf und ab und auf und ab –, und währenddessen rief er: »Lascialo andare! Lascialo andare! Adesso!« Doch der Mann reagierte nicht. Er hatte Nelu wieder in die Höhe gerissen und griff nach der Schaufel. Er schien vollkommen besessen zu sein. Ein Irrer, ein Geisteskranker. Noch einmal rief Petre, diesmal nach seinem Sohn: »Nelu, ich komme!« Und dann war er bei ihnen, stieß den Mann zur Seite und nahm Nelu auf den Arm. Nelu weinte. Mit seiner Faust umklammerte er die rote Schaufel. Sein Gesicht war voller Sand.

»Es ist alles gut«, sagte Petre. »Ich bin wieder da. Jetzt bin ich wieder da!«

Mit den Fingerspitzen wischte er Nelu den Sand von der Stirn, von den Wangen und aus den Augenwinkeln.

»Tată«, sagte Nelu weinend, und Petre nickte. »Ja, Papa ist wieder da.« Er spürte, wie ihm selbst die Tränen kamen. Nelu lebte, es ging ihm gut. Sie waren wieder zusammen! Aurica würde ihm nicht die Augen auskratzen, sie würde nicht auf sein Grab spucken.

Unterdessen rappelte sich der verrückte Mann hoch und klopfte seine Hose ab. In der Hand hielt er das türkisfarbene Sandförmchen. War das etwa der Grund gewesen, warum er Nelu über den halben Spielplatz verfolgt hatte? Ein Spielzeug? Konnte das wirklich sein?

Petre war es egal. Er wollte gehen. Er wollte weg von hier. Zurück in den Park. Und dann zurück in das Haus, sosehr er es hasste. Er wollte etwas zu essen für sich und Nelu kochen und die vergangenen zwanzig Minuten einfach vergessen.

Inzwischen hatte sich allerdings der verrückte Mann vor ihm aufgebaut und auf ihn einzureden begonnen. Er stand breitbeinig im Sand, und während er sprach, gestikulierte er mit dem türkisfarbenen Sandförmchen. Petre verstand nicht, was er sagte, aber der Tonfall des Mannes war selbstgerecht. Dazu kam dieser Blick: kalte, arrogante Augen, die Petre abschätzig betrachteten.

Die Wut schoss als ein Hitzeschwall durch seinen Körper und explodierte in seinem Kopf.

Die Brücke ins Italienische war nun gerissen. Auf Rumänisch fragte er den Mann, ob er verrückt sei, nebun?! Wie kam er dazu, einen kleinen Jungen zu packen und ihm das Gesicht in den Sand zu pressen? Wegen einem Spielzeug? Petre sagte, dass er den Mund halten solle. Dass er froh sein könne, wenn er nicht das Gleiche mit ihm machte: ihn im Nacken packen, sein Gesicht in den Sand pressen.

Aber der Mann ließ ihn nicht in Ruhe. Im Gegenteil. Jetzt redete er Englisch. Er redete schnell, und Petre verstand nur »sorry«, »son« und »sand«. Seine Körperhaltung sagte allerdings nicht sorry, im Gegenteil: Er fuchtelte die ganze Zeit mit dem Sandförmchen vor Petres Gesicht herum, und seine Augen waren reine Anklage. Er machte einen Schritt nach vorn und griff nach der Schaufel, die Nelu in der Hand hielt.

Und das war die Grenze.

Petre schlug die Hand beiseite und packte den Mann an der Jacke.

»Basta!«, sagte er.

Der Mann schien nicht zu verstehen. Oder er wollte nicht verstehen. Er redete und gestikulierte einfach weiter. Er bleckte die Zähne, riss seinen Arm in die Höhe und hielt ihn sich vor den offenen Mund. Dann beugte er sich nach vorn, um erneut nach der Schaufel zu greifen.

Petre packte so fest zu, wie er konnte, und schlug dem Mann mit der Faust gegen die Brust. Einmal, zweimal, dreimal. Bei jedem Schlag knickte der Mann in den Knien ein und taumelte einen Schritt zurück. Petre hielt ihn am Kragen der Jacke fest und riss ihn jedes Mal wieder hoch.

Der Mann wurde hysterisch. Er fuchtelte und schrie in einem fort: »Stop! Please stop!« Und dann: »Help, help, heeeeeelp!«

Petre spürte die Blicke der anderen Eltern. Er sah, wie sie sich an den Rand des Sandkastens zurückzogen, und hörte, wie sie nach ihren Kindern riefen. Jemand schrie etwas in seine Richtung.

Er betrachtete sich selbst von außen, wie in einem Film. Was tat er hier? Vermutlich entsprach er genau dem Bild, das sich all diese Menschen von ihm machten: Der bettelnde Rumäne war zu einem gewalttätigen Rumänen geworden. Zu jemandem, vor dem sie sich selbst und ihre Kinder schützen mussten.

»Stop!«, schrie der Mann.

Petre schlug noch einmal zu und ließ den Kragen dann los. Der Mann stolperte, ruderte mit den Armen und fiel auf den Rücken in den Sand.

Dort lag er wie ein Käfer und hielt sich die Hände vors Gesicht. Petre fixierte ihn, und einen Moment lang wünschte er sich nichts sehnlicher, als dass der Mann aufspringen und sich wehren würde. Dass er den Mut hätte, sich ihm gegenüber genauso zu verhalten, wie er sich Nelu gegenüber verhalten hatte, und dass sie einen Kampf auf Augenhöhe führen konnten.

Dann war alles wieder vorbei.

Die Wut war gelöscht wie ein Lagerfeuer, auf das jemand einen großen Eimer Wasser gekippt hatte. Petre fühlte sich leer. Er schaute zu Nelu, der seine Schaufel umklammerte. Er schaute zu den anderen Eltern, die ihn mit großen Augen anstarrten.

Er drehte sich um und ging mit schnellen Schritten in Richtung Ausgang.

Licht

Von oben betrachtet hatte das Gebäude die Form eines großen, etwas windschiefen L – ein L wie Licht. Wenn die Sonne schien, spiegelte sich der Himmel darin, da das gesamte Dach mit einer leistungsstarken Photovoltaik-Anlage bedeckt war.

Alle Balkone und Terrassen waren bienenfreundlich begrünt und blickten in Richtung Süden auf einen neu angelegten Park, der sich auf einem ehemaligen Güterverkehrsgelände befand. Daher auch der Name des Wohnkomplexes: »Gleisgärten«. In den Gleisgärten befanden sich fünfundvierzig Wohnungen unterschiedlicher Größe, in denen viele junge Familien, aber auch ältere Menschen lebten, die das Glück hatten, nicht jeden Cent umdrehen zu müssen. Es war ein Vorbildhaus, fast ausschließlich aus Carbonbeton und Holz gebaut, was gewährleistete, dass die CO2-Bilanz deutlich besser war als bei herkömmlichen Neubauten.

Natürlich rief ein solches Projekt auch Neider auf den Plan. Seit der Einweihung zwei Jahre zuvor behaupteten Journalisten immer wieder schlagzeilenträchtig, dass es sich bei den Gleisgärten um eine Gated Community nach englischem, französischem oder US-amerikanischem Vorbild handele. Eine linke Tageszeitung hatte ein weitwinklig und leicht untersichtiges Foto von dem Zaun, der die Anlage umgab, mit den Worten versehen: »Südafrika? Nein, mitten in Deutschland! Sieht so unsere Zukunft aus? Hoffentlich nicht!« Anfangs hatte David sich über diese tendenziöse Berichterstattung und die absurden Diskussionen, die darauf in den einschlägigen linken Foren folgten, noch aufgeregt und sogar mehrere Leserbriefe und drei Beiträge in seinem Blog als Richtigstellung geschrieben. Doch irgendwann hatte er einfach aufgegeben; gegen die grellen Schlagzeilen von der »Geschlossenen Gesellschaft« und den »Öko-Millionären« kam er sowieso nicht an.

Zugegeben, die Details waren keine Erfindung. Tatsächlich gab es einen gut zwei Meter hohen Zaun um das Gelände, mehrere Kameras und einen sogenannten Doorman. Es gab zwei private Straßen, durch die allerdings nur Fahrräder und Elektrofahrzeuge fahren durften, sowie zwei Spielplätze, deren Besuch den Kindern der Bewohner vorbehalten war. Aber das große Tor stand fast immer offen, und die Doormen – die alle drei weit über Tarif bezahlt wurden – waren eher so etwas wie Hausmeister, bei denen man sich melden konnte, wenn die Heizung nicht funktionierte oder eine der Solarlaternen ausgefallen war. Und die Privatspielplätze? Sie wurden kaum genutzt, denn die meisten Familien gingen, genau wie Sybil und David, auf den großen, neu angelegten Spielplatz nahe der Gleise am anderen Ende des Parks.

Das Hauptärgernis waren für David nicht die Schlagzeilen, sondern es bestand darin, dass sich nur wenige Journalisten tiefer mit dem Konzept der Gleisgärten beschäftigten. Sie weigerten sich zu verstehen, um was es sich dabei tatsächlich handelte: um ein ökologisch wegweisendes Bauprojekt, dem es gelang, einen Nullenergie-Standard in fairer und nachhaltiger Bauweise mit einer modernen und behaglichen Architektur zu verbinden. Vermutlich lag auch hier das Missverständnis, dem die Öffentlichkeit bereitwillig aufsaß: dass Öko-Gebäude im besten Fall funktional und in den meisten Fällen schlicht hässlich waren. Denn die Gleisgärten waren alles andere als hässlich: ein breites, ausladendes Gebäude, das mit seiner Holzfassade bereits in der Entwurfsphase mehrere Architekturpreise gewonnen hatte. Es gab große Fensterfronten, die aus einem Mineralglas gefertigt waren, das Energie speicherte und in das Stromnetz einspeiste. Hinzu kamen eine in der ganzen Stadt einzigartige Wärmepumpenheizung, der Wasserkreislauf mit einem hauseigenen Klärsystem und die Biogasanlage, in der sämtliche biologischen Abfälle in Energie umgewandelt wurden.

Natürlich gab es auch gewisse Verbote in den Gleisgärten. So war es den Bewohnern untersagt, eigene Fahrzeuge mit Verbrennungsmotor zu besitzen, und entsprechend gab es in der kleinen Tiefgarage nur Platz für zehn Elektroautos, die über eine hauseigene App von allen Bewohnern genutzt werden durften. Und man durfte keine Haustiere halten, denn die Ökobilanz eines Hundes oder einer Katze – und sogar die eines Meerschweinchens oder eines Hamsters – war einfach verheerend.

Das war der Preis. Aber dafür wurde man reich belohnt. Wenn man in den Gleisgärten wohnte, konnte man – je nachdem, wie man sein Leben außerhalb des Projektes gestaltete – seinen ökologischen Fußabdruck auf bis zu 1,8 globale Hektar senken, und somit auf knapp drei Hektar unter dem durchschnittlichen Wert in Deutschland.

Das waren die Faktoren gewesen, die David und Sybil von einem Wohnungskauf überzeugt hatten. Nicht der Zaun, nicht der Doorman, nicht die Kameras und nicht der Privatspielplatz. In den Gleisgärten zu wohnen war ein Statement, ein Bekenntnis. Wer hier wohnte, der setzte sich für eine bessere Welt ein. Für eine Welt, in der die Temperatur nicht alle zwei Jahre um 0,1 Grad stieg. Für eine Welt ohne Massentierhaltung und ohne Verpackungsmüll. Für eine Welt, in der nicht nur die eigenen Kinder, sondern auch die Kinder dieser Kinder noch leben konnten. Eine Welt, die lernte zu verzichten, ohne unter diesem Verzicht leiden zu müssen. Im Gegenteil: Verzicht als Chance.

Und dieses Bekenntnis war nicht nur die Grundlage für die Gleisgärten, sondern auch für Davids und Sybils Beziehung. Bevor sie sich kennengelernt hatten – nicht über eine dieser anonymen Dating-Plattformen, sondern durch Zufall während eines Work-Life-Balance-Seminars, das Sybil in Davids Agentur gegeben hatte –, waren sie zwei frei flottierende Teilchen gewesen, zwei Puzzlestückchen auf der Suche nach dem Teil unter Tausenden, das sich ohne Zwang mit dem eigenen zusammenfügte. Beide hatten sie längere, schwierige Beziehungen hinter sich gehabt. Sie hatten ähnliche Lebensläufe, ähnliche Vorstellungen davon, wie eine Wohnung eingerichtet werden sollte – spartanisch, aber stilvoll –, und vor allem hatten sie beide eine ganz ähnliche Vision von einer besseren Welt.

David war zu diesem Zeitpunkt schon seit Längerem unzufrieden mit seiner Arbeit bei Dreiender gewesen, der Werbeagentur, die er viele Jahre zuvor mit zwei Freunden gegründet hatte. Alles fühlte sich leer und sinnlos an, und nur wenn er ab und zu eine Kampagne für eine NGO oder ein nachhaltiges Produkt an Land ziehen konnte, blühte er auf. Und auch Sybil war auf der Suche nach einem Sinn in ihrem Leben gewesen. Zwar arbeitete sie zu diesem Zeitpunkt schon seit Jahren erfolgreich als Coach und hatte gerade ihren ersten Ratgeber-Bestseller veröffentlicht, aber das befriedigte sie nicht. Genau wie David sehnte sie sich nach einem Ziel, nach einer Aufgabe.

Ein halbes Jahr nachdem sie zusammengekommen waren, verkaufte David seinen Anteil bei Dreiender und leistete sich den Luxus, sich seiner eigentlichen Leidenschaft zu widmen. Er begann einen Blog zu schreiben. Keinen Blog, der nur warb und pries und aufforderte, sondern einen, der auch die Schwierigkeiten benannte, die es mit sich brachte, ein gutes Leben zu führen. Ein Blog, der ehrlich war, authentisch.

Wiederum ein halbes Jahr später wurde Sybil schwanger, und fast zeitgleich kauften sie sich in die Gleisgärten ein, in denen sie zwei Monate vor Jonas’ Geburt ihre traumhafte Hundert-Quadratmeter-Dachterrassen-Wohnung bezogen. Alles war so ökologisch und nachhaltig wie möglich eingerichtet, und als besonderes Extra teilten sie sich ihre Terrasse mit drei Bienenvölkern, um die sich David mit großer Hingabe kümmerte. Die Ernte – er hatte sie »Großstadtblüte« getauft und eigenhändig dafür ein Label entworfen – verschenkte er an Freunde, Bekannte und Verwandte, verloste sie auf seinem Blog, und den Rest spendete er an gemeinnützige Organisationen, die den Honig an Bedürftige weitergaben.

Kurz gesagt: Hier in den Gleisgärten hatte David das Gefühl, etwas Sinnvolles, Beispielhaftes zu tun. Etwas, von dem er hoffte, dass andere es ihm nachtun würden. Es war genau der Platz, an den er gehörte. Hier hatte er festen Boden unter den Füßen. Und entsprechend sicher fühlte er sich nun, da er endlich wieder zu Hause war.

Er tat das, was er immer gegen Abend tat: Er kochte. Schnippelte rohes Gemüse – dünne Gurkenscheiben ohne Schale, die Karotten in schmale Stifte, Paprika in halbe Ringe –, setzte Wasser für die Nudeln auf und bereitete eine schnelle Tomatensoße vor – vielmehr zwei Tomatensoßen: eine mit Zwiebeln, Knoblauch und italienischen Kräutern für sich selbst und eine ohne allem für Jonas –, und während die Nudeln im Wasser vor sich hin brodelten, rieb er veganen Parmesan auf ihrer Vierkantreibe.

Kochen beruhigte ihn. Die Bewegungen, die Geräusche, der Geruch. Etwas zu tun, das notwendig war. Essen zubereiten. Regionales, ökologisch angebautes Essen, das zu großen Teilen aus einer Landkiste stammte, die ihnen – wie auch den meisten anderen Bewohnern der Gleisgärten – von einer Bio-Kooperative wöchentlich direkt vor die Wohnungstür geliefert wurde. Kochen, das hieß einfache Handgriffe ausführen. Die Zwiebeln häuten, in zwei Hälften zerteilen und dann einmal quer und einmal längs zu kleinen Würfeln schneiden. Und währenddessen zuerst das Brennen in den Augen und dann die Tränen zu spüren, die ihm die Wangen hinunterliefen, und zu wissen, dass dies der natürliche Gang der Dinge war, seit Tausenden von Jahren schon: Ursache und Wirkung im unerschütterlichen Zusammenspiel. Die Hände zu waschen und währenddessen daran zu denken, dass das Wasser einen Kreislauf bildete. Kreisläufe! Sich der Natur anpassen! Darum ging es, wenn man nachhaltig leben wollte, darum und um nichts anderes.

Dann war alles getan. Nicht nur die Vorbereitung des Essens, sondern auch das Essen selbst und sogar das Aufräumen und Saubermachen. Jonas hatte sein Gesicht und das aus recyceltem Silikon angefertigte Lätzchen komplett mit Tomatensoße beschmiert, und mindestens eine Hand voll Nudeln waren unter dem Tisch gelandet. Aber das gehörte bei einem Zweijährigen eben dazu: Essen war spielen, experimentieren, Grenzen austesten.

David spürte die Erschöpfung. Er saß an dem großen Küchentisch und beobachtete Jonas dabei, wie er die Töpfe aus den Schränken räumte und sie neu ineinanderstapelte, und wenn der Verband an Jonas’ Arm nicht gewesen wäre, hätte David sich einbilden können, es sei alles wie immer.

»Ich geh mal auf die Terrasse und schau nach den Bienen«, sagte er.

»Tasse«, sagte Jonas, während er vergeblich versuchte, einen Topf mit einem zu kleinen Deckel zu verschließen.

»Ja, auf die Terrasse. Zu den Bienen.«

»Opf«, sagte Jonas in Richtung des Topfes. »Tumachen!«

Die Abendsonne schien, die Bienen summten, und es wehte ein leichter Wind. Alles war in goldenes, unwirklich schönes Licht getaucht. Endlich Frühling! Die Jahreszeit der Wunder: Neubeginn, Wachstum. Wiederauferstehung. David inspizierte die Bienenbeuten, die am rechten Rand der Terrasse standen. Die Larven sahen gut aus, die Waben wuchsen.

Er holte die Gießkanne und befüllte sie am Außenhahn mit Wasser. Als er mit dem letzten Blumenkasten fertig war, blieb er an der Brüstung stehen. Ein Hubschrauber kreiste knatternd über den Gleisgärten, kein ADAC, kein Notarzt. Also vermutlich Touristen, die nicht begriffen, welche Folgen so ein kleiner Vergnügungsflug für die Atmosphäre und das Klima hatte.

David betrachtete den Park, den Spielplatz hinten rechts, die Gleise und die Häuser auf der anderen Seite, und unwillkürlich musste er wieder an den Jungen denken und an den fremden Mann. Den Vater und seinen Sohn.

Warum hatte er sich eigentlich nicht gewehrt? Warum hatte er den Mann nicht einfach zurückgeschubst? Oder ihn zumindest auch angeschrien? Warum hatte er nicht versucht, die Hand von seiner Jacke zu lösen? Und warum war er über dieses dämliche Holzpferd gestolpert und anschließend einfach im Sand liegen geblieben?

Warum war er so feige gewesen?

Er stellte sich vor, dass er anders reagiert hätte. Mutiger. Entschlossener. Dass er, nachdem er verstanden hatte, dass der Mann ihn nicht verstand – ihn nicht verstehen wollte! –, seine Rechte zu einer Faust geballt und in das fremde Gesicht geschlagen hätte, und zwar mitten ins Gesicht, dort, wo die auffallend gerade Nase saß. Dieser eine Schlag wäre auf jeden Fall möglich gewesen: ein Überraschungsangriff, denn der Mann hatte ja keine Hand frei gehabt. Vielleicht hätte er es geschafft, dem Mann die Nase zu brechen, ein kurzes, trockenes Knacken und danach ein Blutsturzbach. Aber selbst wenn er nicht die Nase getroffen hätte, sondern nur die Wange oder die Schläfe, ja selbst, wenn er den Mann überhaupt nicht getroffen hätte: Er hätte es zumindest versucht!

Vermutlich hätte ihm der Mann anschließend sämtliche Knochen gebrochen, hätte ihn zu Tode geprügelt, aber dann wäre er zumindest im Kampf gefallen, auf dem Schlachtfeld, und nicht über ein dämliches Holzwackelpferd gestolpert.

»David!«

Plötzlich war da Sybils Stimme. Sie schien aus dem Nichts zu kommen, aus einem leeren Raum, der zwischen ihm und der Welt lag. Doch als er sich umdrehte, war Sybil tatsächlich da. Sie stand keine zwei Meter von ihm entfernt, hatte Jonas auf dem Arm, und Jonas hielt einen Kochlöffel in der Hand.

Sybils Haare waren wirr, ihre Gesichtszüge wirkten unscharf, und ihre Schultern saßen schief auf ihrem Rumpf. War sie etwa betrunken?

»David«, wiederholte Sybil, als ob sie sich seines Namens vergewissern müsste, »was … machst du da?«

Jetzt war er sicher, dass sie betrunken war. »Ich habe die Blumen gegossen«, sagte er.

»Die Blumen?«

»Ja.«

»Du hast mein Klingeln nicht gehört, und auch nicht mein Rufen … Jonas saß allein in der Küche. Er hatte … ein Messer in der Hand.« Sybils Zunge war schwer, und David spürte, dass sie sie sich beim Sprechen konzentrieren musste.

»Ein Messer?«, fragte er.

»Ja, ein großes Messer.«

»Oh … Das …« Er wusste nicht, was er dazu sagen sollte, außer dass er sich beim besten Willen nicht erklären konnte, wie Jonas an ein Messer gekommen war.

»Und was ist mit seinem Arm?«, fragte Sybil.

»Seinem Arm?« Ein hilfloses Echo, das er zurückwarf wie eine Felswand und dessen einziger Sinn darin bestand, die Antwort ein wenig hinauszuzögern. Er war es nicht gewohnt, die Kontrolle zu verlieren. Nicht über Jonas und vor allem nicht Sybil gegenüber. Doch das Bild, das sich ihr darbot, verlangte nach einer Erklärung: Der Arm war vom Handgelenk bis fast zum Ellbogen in einen dicken weißen Verband eingewickelt. Das Jod, mit dem die Ärztin in der Notaufnahme die Wunde desinfiziert hatte, zeichnete sich auf der Mullbinde ab wie das Aquarell einer großen, buchtreichen Insel, und die blaue Klebebinde, mit der der Verband oben und unten abschloss, verlieh dem ganzen Gebilde etwas Martialisches. Es sah so aus, als ob Jonas mit einer Kreissäge gespielt, sich in einem Stacheldraht verfangen oder mit einem Alligator gekämpft hätte.

»Es sieht schlimmer aus, als es ist«, sagte David.

»Was ist denn passiert?« Sybils Gesichtszüge blieben weich. Sie war nicht wütend, sie schien nicht einmal besonders besorgt. Sie war einfach nur betrunken.

»Wir … waren auf dem Spielplatz«, sagte David. »Da war ein Junge. Er … hat Jonas gebissen.«

»Gebissen?«