Der blaue Bunker - Rebekka Wulff - E-Book

Der blaue Bunker E-Book

Rebekka Wulff

0,0
3,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Seit Jahren finanziert Agnes Livid ihren promovierenden Ehemann als Aushilfsbriefträgerin. An einem dunklen Novembertag stürzt sich während ihrer Tour eine Frau aus dem Fenster eines Hochhauses, dem «Blauen Bunker». Rasch wird klar, dass der Todesfall mit den neun mutmaßlichen Selbstmorden der vergangenen Jahre zusammenhängt. Die Lage spitzt sich zu, als Agnes nach einem heftigen Streit ihren Mann verlässt und nirgendwo anders Zuflucht findet als im «Blauen Bunker» ... (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 298

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Rebekka Wulff

Der blaue Bunker

FISCHER E-Books

Inhalt

Das Letzte, was ich [...]1234567891011

Das Letzte, was ich von ihnen sehe, sind ihre Knöchel. Die Haut spannt darüber, weiß, gegen den dunklen Himmel. Das Fallen entzieht sich meinem Blick. Bevor sie unten aufschlagen, bin ich schon im Flur. Taub für die splitternden Knochen, für die Stille danach und den Schrei, wenn jemand die zerschmetterten Körper entdeckt. Die Gänge sind leer, die Türen geschlossen. Wer dahinter lauert, ahne ich. Ein Auge an die Plastiklinse gedrückt, spionieren sie das verzerrte Stück Flur vor ihrer Schwelle aus. Sie wissen nichts von mir, sehen nicht mehr als einen Schattenriss. Trauen sich nicht heraus aus ihren Wohnsärgen. Riegeln sich ein, bis der eine klopft. Ich gehe weiter. Kein Rufen. Kein Heulen. Gleich habe ich es geschafft.

Plötzlich steht sie vor mir, starrt mich an. Ihre Finger umklammern den leeren Mülleimer. Ich kann sie nicht einfach umrennen, diese spindeldürre Alte. Sie schwankt. Es ist zu spät rechts oder links an ihr vorbei zu entkommen. «Endlich», seufze ich, um sie gleich darauf anzuschreien: «Hilfe! Rufen Sie die Feuerwehr!»

«Unfug», murmelt die Frau.

Ich bin ein lästiges Insekt, das vor ihrer auffahrenden Hand an die Wand flüchtet. Sie schlurft weiter. Ich muss ihr hinterher.

«Bitte!»

Sie lässt sich nicht aufhalten. Ich sollte sie packen und schütteln bis sie begreift. Ich werfe mich gegen die nächste Tür. «Notfall!» Ich schlage gegen drei weitere, ehe eine geöffnet wird. Die Kittelschürze dahinter greift zum Telefon.

1

Agnes lag wach. Zum fünften Mal in dieser Nacht drehte sie sich vorsichtig zu ihrem Wecker hin. Es war kurz vor vier Uhr. In einer halben Stunde würde sie aufstehen müssen. Sie ließ sich leise ins Kissen zurücksinken. Einen Moment lang hörte sie auf Philipps Atemzüge. Er schlief fest und das war gut so. Er musste ausgeruht zu seinem Termin erscheinen. Siebzehn Mal war er abgewiesen worden. Bisher. Hoffentlich verstand er es diesmal, sein Wissen in chefgerechten Portionen aufzutischen. «Ich bin denen einfach zu schlau.» Anfangs hatten sie beide darüber gelacht. Bald erzählte Philipp nicht mehr von den Gesprächen. Manchmal ließ er die Absagen auf dem Küchentisch liegen. «Überqualifiziert», las sie ohne Mühe aus den Zeilen. Agnes schloss die Augen. Sie dachte an ihre Kündigung, die sie gemeinsam in den Computer getippt hatten, seine Doktorarbeit mit Auszeichnung vor Augen, ein Sektglas in der Hand. Ausgedruckt und abgeschickt hatten sie die Kündigung bis heute nicht. Agnes stand auf. Sie schaltete den Wecker ab, bevor er ansprang. Im Dunkeln ging sie zur Tür. Wenn Philipp bloß nicht verschlief. Sie konnte nicht erkennen, ob sein Wecker gestellt war. Agnes gähnte. Sie würde ihn anrufen, später, vom Postamt aus, und würde ihm Glück wünschen.

Zu Fuß durch die erwachenden Nebenstraßen brauchte sie an diesem nassen Oktobermorgen zweiundzwanzig Minuten. Hin und wieder schaffte sie den Weg auch in neunzehn. Zahlenkolonnen füllten eigentlich Philipps Notizen, Skripte und Gedanken. Aber in den elf Jahren mit ihm hatte sich Agnes angewöhnt, ihren Alltag auszuzählen. Denn nur was sich berechnen ließ, verdiente seine ungeteilte Aufmerksamkeit.

Im Umkleideraum roch es nach kaltem Rauch. Agnes eilte an den mannshohen schmalen Sperrholzschränken vorbei, bis sie ihren in der vorletzten Reihe erreicht hatte. Sie schloss ihre Tasche und den Regenmantel ein. Von der Tür her hörte sie jemanden husten, dann das Klicken eines Elektronikfeuerzeugs. Die Briefverteilerinnen durften im Saal nicht rauchen. Seit Bukowskis Mann mit der Ledertasche wusste jeder Oberpostler, was passieren konnte, wenn Glut oder Kippen in Kiepen voller Briefe fielen. Die Frau nickte Agnes zu und verzog sich in die Ecke. Sie hatte bereits tausende Sendungen im Akkordtempo in die Fächer verteilt, den Aufseherblick des Dicken im Rücken, Postleitzahlen im Kopf, Straßennamen und Alphabetsbereiche vor sich. Müdigkeit und Neonlicht brannten ihr in den Augen, während der Nikotinspiegel bis auf Entzugsniveau sank. Agnes hatte einen Sommer lang als Verteilerin gearbeitet und die Raucherinnen unter ihnen heimlich beneidet. Sie nahmen sich ihre Pause einfach.

Sie ging die paar Stufen hinauf, öffnete die Brandschutztür und überblickte den Saal. Der Bierdunst von gestern Nachmittag hatte sich noch nicht vollständig verzogen. Kaffeeduft stieg aus mehreren Ecken auf und verlieh der staubigen Luft so viel Behaglichkeit wie einer Bahnhofsgaststätte. Im Vorbeigehen grüßte sie Kollegen, leerte die ihrem Bezirk zugehörigen Fächer, bis sie keine zusätzliche Postkarte mehr in den Stapel klemmen konnte, den sie mit vorgeschobenem Kinn zu sichern versuchte. Agnes bewegte sich langsam auf ihren Platz zu. Sie ließ die Sendungen auf den Tisch und sich auf den Hocker fallen. Ein Aschenbecher, den irgendjemand bei ihr abgestellt hatte, fiel zu Boden. Zusteller durften im Saal rauchen, allerdings nicht in den Gängen und Verteilzonen. Sie stieß die angesengte Plastikschale mit der Schuhspitze weg. Ihre letzte Zigarette hatte sie sich mit fünfzehn angesteckt. Danach war sie erwachsen geworden.

Sie nahm eine Hand voll Briefe und Karten auf und begann sie nach Hausnummern in ein Regal zu sortieren, das mit Metallspangen in schmale und breitere Abschnitte unterteilt war. Eine halbe Stunde später war ihr Tisch wieder leer. Nur der Zettel mit der Bitte, sich beim Chef zu melden, lag noch vor ihr. In dem Glaskasten, den er um diese Zeit als Büro nutzte, brannte jedoch kein Licht. Hoffentlich hatte er sie nicht schon wieder für einen anderen Bezirk vorgesehen. Sie wandte sich an ihren Nachbarn, der müde in seinem Briefstapel wühlte. «Sag mal, was ist eigentlich mit Theo?», fragte sie nach dem Zusteller, den sie gerade vertrat.

«Krank.» Der Kollege gähnte.

«Mach dir mal keine Sorgen, Kleine», rief ihr ein anderer aus der Reihe zu. «Wenn der Theo erst mal krank ist, ist er krank.» Er stand auf, schlenderte zu dem Schrank, in den er kurz zuvor die für die Gruppe bestimmten Zeitungen, Magazine, Werbeprospekte und große Briefe verteilt hatte, leerte Agnes’ Fach und ließ den riesigen Stapel auf ihren Tisch rutschen. «Der Theo», sagte er dann leise, «hat einen Kleingarten, und der muss jetzt winterfest gemacht werden.» Er legte seine Hand auf ihre Schulter. «Gefällt es dir in unserer Gruppe etwa nicht?»

«Doch, doch», versicherte Agnes schnell. Sie deutete auf die Sendungen, die so hoch lagen, dass sie die unteren Fächerreihen ihres Regals verdeckten. «So verwöhnt werde ich sonst nirgends.»

Der Kollege nickte zufrieden. Agnes stand abrupt auf, sodass er endlich die Hand von ihrer Schulter nehmen musste. «Vielleicht will der Chef nur den Urlaubsplan für Weihnachten mit dir besprechen», vermutete er.

Agnes lachte. «Na klar, ich bin doch immer die Erste, die zwischen den Feiertagen frei bekommt.» Sie sortierte die Briefe und Zeitungen ein, dann verließ sie eilig ihren Platz.

Die Verteilerinnen saßen oder standen vor den Schränken mit den kleinen Fächern, die zu beiden Seiten offen waren, und warfen pausenlos Briefe ein. Hinter ihren Rücken standen noch etliche Kiepen mit Post, die verteilt werden musste. Die Zusteller leerten die zu ihrem Bezirk gehörenden Fächer vom Mittelgang aus. Die Frauen redeten kaum, weil der Dicke ständig um sie herum patrouillierte. Ab und zu sah eine zu der großen Uhr hinüber, die nahe beim Aufseherpodest von der Decke hing. Den Kalender auf dem Pult darunter beachtete dagegen kaum jemand. Die Mengen der Briefpacken, der Kiepen und vor allem die Ausgaben der Wochenzeitschriften sprachen für Donnerstag.

«Der Versand ist da», rief jemand vom Lastenfahrstuhl her.

«Also Nachschub», seufzte eine der Frauen, die an den Regalen für die großen Briefe und Zeitungen standen. Ein Mann schob die hoch beladenen Wagen heran und stellte die Behälter einzeln auf die Waage. Das Gewicht wurde in eine Liste eingetragen und ein anderer Mann teilte sie den Frauen zu. Dabei ging er nur nach Sympathie vor. Die schöne Helena in ihrem knappen Mini und dem engen Pullover bekam die leichtesten. Als Dank dafür beugte sie sich bei jedem Handgriff tief über Kiepen. Der Typ grinste zufrieden. Gockel nannten ihn alle im Amt, und er war sogar stolz auf seinen Spitznamen. Wie bei jeder Neuen, hatte er damals auch versucht, sich Agnes zu nähern. Der Dicke war nicht in der Nähe gewesen und die anderen Männer hatten sich hinter einen Pfeiler zurückgezogen. Sie schlossen Wetten darüber ab, ob der Gockel mit seinem gerupften Charme zum Sturzflug ansetzen konnte. Die Frauen starrten auf ihre Arbeit, als würden sie die Fächer nicht auch mit verbundenen Augen finden. Agnes hatte ihn an sich herankommen lassen, bis sein Rasierwasser ihr in der Nase kratzte. Sie zwang sich weiterzuarbeiten, glaubte nicht, dass er die Hand tatsächlich ausstreckte, hier vor allen Kollegen. Dann aber kein versehentlicher Flügelschlag, der Gockel griff ihr an die Brust. Sie stieß ihm ihren Ellbogen in die Magengrube. Er taumelte ein paar Schritte rückwärts, krächzte so etwas wie ‹temperamentvoll die Kleine›, straffte sich und verschwand. Die Männer hatten gelacht und die Frauen ihr anerkennend zugenickt. Der Gockel hatte beim Verteilen noch oft neben ihr gestanden und versucht mit Seufzern und schmachtenden Blicken ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Manchmal winkte er sich auch Kollegen heran. Dann schwärmte er, laut genug, damit sie es hören konnte, von heißem Sex mit seiner neusten Eroberung. Die Arbeit blieb derweil liegen.

Agnes versuchte abzuschätzen wie lange es heute noch dauern würde, bis der Dicke durchsagte: «Die Verteilung ist beendet, bitte leeren Sie alle Fächer!» Sie sah zu der Ecke, in der die Päckchen für jede Gruppe in Beutel geworfen wurden. Der geöffnete Container stand bereit, aber niemand verteilte. Also wieder mal Notstand. Zu viel Krankmeldungen, sie würde erst spät am Nachmittag Feierabend machen können.

«Der Kantinenwagen ist da», tönte es über Lautsprecher.

Sofort sprangen mehrere Verteilerinnen auf, warfen die Post in die Kiepen zurück und folgten dem mit Bockwürsten und belegten Brötchen beladenen Wagen. Der Dicke verzog sich auf das Aufseherpodest und packte sein schuhkartongroßes Proviantpaket aus. Der Chef war nirgends zu sehen. Agnes steuerte erneut sein Büro an. Diesmal brannte Licht. Er telefonierte. Agnes wartete. Seine Stimme drang wie Motorenlärm durch die Glasscheibe. Noch nie hatte sie ihn so laut reden hören. Er nickte ihr zu. Dann winkte er ab. Was immer er von ihr gewollt hatte, es musste sich inzwischen erledigt haben. Erleichtert ging Agnes wieder an ihren Platz. Auf dem Tisch stapelten sich bereits neue Sendungen.

Nach zwei weiteren Runden passten in einige ihrer Hausnummernabteile auf dem Regal kaum noch Briefe. Es war beinahe acht Uhr. An ihren Fingern klebte Druckerschwärze. Sie ging sich die Hände waschen und beschloss Philipp anzurufen. Selbst wenn er jetzt noch im Bett lag, konnte er es bequem zu seinem Termin um 10.30 Uhr auf die andere Seite der Stadt schaffen.

«Ja», meldete er sich gähnend.

Agnes schluckte. «He, du Schlafmütze», rief sie betont fröhlich in den Hörer. «Guten Morgen!»

«Willst du mich kontrollieren?», brummte Philipp.

«Nein. Ich wollte dir nur noch mal Glück wünschen, für dein Gespräch nachher. Wickel die Typen ein, und zeig ihnen auf gar keinen Fall, was du alles kannst!»

«Schon klar.»

Sie hatten erst siebenundzwanzig Mal über seine Bewerbungsstrategie gesprochen, aber das konnte sie ihm jetzt nicht sagen. «Ich liebe dich tausend Mal mehr als meinen Job», versuchte sie halbherzig, ihn über sein Zahleninteresse doch noch zu erreichen.

«Schon klar», wiederholte Philipp nur.

«Mach’s gut», verabschiedete sich Agnes. «Es wird heute wohl später.» Er hatte bereits aufgelegt.

Auf dem Weg zurück in ihre Reihe leerte Agnes ihre Fächer. Auf ihrem Platz saß ein anderer. Sie warf die Briefe auf den Tisch. Der Junge zuckte zusammen. Er war einer der drei, die gerade ihre Ausbildung im einfachen Postdienst abgeschlossen hatten und ihrem Amt zugeteilt worden waren. Er sah sich nach Agnes um und schob dabei mit einer fahrigen Bewegung die Sendungen vom Tisch. Nein, sie würde diesen Knaben nicht einweisen. Dafür gab es wirklich genug altgediente Beamten-Briefträger. Sie war doch selbst nur eine von den Angelernten. Eine Woche zugreifen und mitgehen und alles Wissenswerte nebenbei: Vor allem mit den Postzustellungsaufträgen musst du vorsichtig sein. Diese blauen Briefe darf nicht jeder entgegennehmen. Benachrichtigen heißt in dem Fall niederlegen und dazu brauchst du die gelbe Karte. Mit diesem beiliegenden Zettel beurkundest du das. Achte unbedingt auf zusätzlich ausgeschlossene Empfänger. Besonders bei Firmen. Du unterschreibst für die ordnungsgemäße Zustellung, kannst also persönlich belangt werden, wenn etwas schief geht, und davor schützt dich auch keine Haftpflichtversicherung. Agnes zweifelte daran, dass der Junge, der unter dem Tisch die Briefe aufsammelte, das in seiner dreijährigen Ausbildung verstanden hatte. Sie besaß inzwischen ebenfalls eine amtliche Zulassung: Postbetriebliche Prüfung für Arbeiter, nach einem vierzehntägigen Lehrgang überreicht. Da war sie allerdings schon mehr als drei Jahre als Zustellerin unterwegs gewesen. Aber sie sollte ja auch nicht lebenslänglich hier bleiben wie der Junge. Sie drehte sich unvermittelt um und stieß mit dem Chef zusammen.

«Frau Livid», begann er und räusperte sich.

Agnes nutzte die Pause: «Nein, ich nehme ihn nicht mit.»

«Das sollen Sie ja gar nicht.»

Agnes wartete. Der Junge stopfte hektisch Briefe in die überfüllten Abteile.

«Der Kollege wird mit dem Bezirk allein fertig.»

«Fragt sich nur wann», entfuhr es Agnes.

Der Chef unterdrückte ein Grinsen, und sie wusste, dass die Geschichten stimmten, die über ihn kursierten. «Kommen Sie bitte mit.» Er wandte sich zum Gehen. Agnes blieb stehen. Sie sah auf das Regal, dass sie seit Stunden bestückt hatte. Ihre Arbeit. Vergeblich. Sie zitterte. Es war auch hier im Amt schon vorgekommen, dass Zusteller mit Briefen um sich geworfen hatten. Sie schwankte.

«Frau Livid», hörte sie die fordernde Stimme des Chefs. «Tut mir Leid», sagte er leiser, «es geht nicht anders.»

Sie wusste, was jetzt kam. Er führte sie quer durch den Saal. Aufmunternde Sprüche von vorbeieilenden Kollegen verschmolzen zu einem Rauschen. Was würde passieren, wenn sie dem Zittern nachgab, sich hier fallen ließ, sich übergab? Der Chef blieb stehen. «Sie kennen doch den Bezirk, Frau Livid.»

Agnes sah auf. Post, wie mit dem Bagger hingeschaufelt, bedeckte den Tisch und die Ablage, die eigentlich der ganzen Gruppe gehörte. Neben dem Hocker standen drei weitere große Kiepen mit Briefen und Zeitungen. Rund um den Platz verstreut lagen Päckchen auf dem Fußboden. Eine einzige Karte war bisher zwischen die Metallspangen im Regal gesteckt worden. Agnes schüttelte den Kopf.

«Sie sind die Einzige, die mit diesem Bezirk fertig wird.»

Agnes rührte sich nicht. Warum teilte er ihn nicht einfach auf, so dass jeder Kollege aus der Gruppe ein paar Häuserreihen übernehmen musste?

«Ich habe niemanden, der den Wohnblock kennt wie Sie.»

Sie schloss die Augen. Damit hatte er Recht, obwohl er nichts wusste, nichts wirklich Wichtiges über sie und dieses Haus.

«Ich schicke Ihnen gleich zwei Verteilerinnen, die Ihnen beim Einsortieren helfen.»

Die mir im Weg rumstehen, dachte Agnes, sagte aber nichts. Die große Uhr zeigte zehn vor neun. «Die Verteilung ist beendet», tönte es über Lautsprecher durch den Saal. Die meisten Kollegen konnten gleich ihre Taschen einpacken. Sie musste noch einmal ganz von vorne anfangen.

«Sie bekommen natürlich Überstunden gutgeschrieben.»

«Mehr als drei gibt’s doch sowieso nicht», knurrte Agnes.

«Ich lasse mir etwas einfallen», sagte der Chef und verschwand.

Um sie herum wurde die Post aus den Abteilen gezogen, zu handgerechten Bündeln zusammengebunden und in den Taschen an den Zustellkarren verstaut. Fast jeder musste zusätzliche Beutel packen, die zu Ablagestellen im Bezirk gefahren wurden. So konnte unterwegs nachgelegt werden, wenn der erste Schwung Sendungen an die Kunden gebracht war. Die Fahrer drückten sich bereits in den Gängen herum und drängten darauf die Beutel fertig zu machen. Selbst für die regulären Vertretungen unter den Zustellern war das kaum zu schaffen. Agnes und ihre beiden Helferinnen hatten noch nicht einmal den Tisch freibekommen.

«Ich würde dir ja die letzten Häuser abnehmen», bot ihr ein Kollege an, «aber ehe ihr so weit seid …»

«… hast du schon Feierabend gemacht», ergänzte Agnes.

Der Kollege bemühte sich empört auszusehen. «Ich habe einen der schwersten Bezirke überhaupt», stöhnte er.

«Hau bloß ab», zischte Agnes. Sie hatte ihn schon öfter vertreten und wusste, dass er sich nicht überarbeitete.

«Aufbruch», erlaubte der Dicke, nachdem er kontrolliert hatte, ob alle Fächer geleert worden waren. Protestgemurmel erhob sich, weil kaum einer so weit fertig war, sich auf den Weg zu den Kunden zu machen. Agnes sah den Postberg vor sich, der gar nicht kleiner zu werden schien. Wenigstens kannte sie den Bezirk so gut, dass sie nicht noch jeden Brief einzeln nach Aufgang und Etage oder nach Nummer einer Briefkastenanlage beschriften musste. Der Chef kam vorbei und fragte, ob er den Beutelfahrer später noch einmal zurückkommen lassen sollte, damit auch Agnes Postbündel in ihren Bezirk vorausschicken konnte. Sie bedachte das ungewöhnliche Angebot, lehnte es dann aber ab. Ohne Beutel würde sie sich die verbleibende Arbeit besser einteilen können.

«Es erwischt immer dieselben», bemerkte eine ihrer Helferinnen. Auch sie hatte sich das Zustellen zeigen lassen, als der Chef auf die Idee kam, eine mobile Einsatzreserve aus Briefverteilerinnen zu bilden, die die Post im Notfall auch austragen konnten. In der Hochsaison, wie er die Zeiten mit überdurchschnittlichem Krankenstand im November und im Februar, oder die Haupturlaubszeit nannte, erhoffte er sich davon Entspannung. Einigen der Frauen erschien es verlockend, hin und wieder ein paar Euro mehr auf der Abrechnung zu haben, aber bis in den frühen Abend hinein arbeiten wollten sie dafür nicht.

Agnes hatte endlich den Tisch frei und griff in eine der Kiepen.

«Ich muss mir erst was aus der Kantine holen», sagte die andere Helferin, «mir ist schwindlig vor Hunger.»

Agnes nickte und suchte in ihrer Hosentasche nach einem Geldstück. «Bringe mir doch bitte etwas mit zwei Brötchen mit Häckerle, wenn sie haben.»

«Ih, du isst diesen Heringsgurkeneiermatsch? Bist du schwanger, oder willst du dich vergiften?»

«Das fehlte noch», antwortete Agnes nur.

Kurz vor halb zwölf konnte Agnes endlich hinunter zum Schalter gehen und sich die Sendungen zuschreiben lassen, die sie bei den Empfängern persönlich abzugeben hatte. Außerdem brauchte sie Geld für zwei Zahlungsanweisungen. Es war Monatsende und die Ruhlands bekamen ihre Rente noch in bar ausgezahlt. Das war zwar schon seit Jahren nicht mehr üblich, aber solange es Menschen ohne Konto gab, musste kundenfreundlich an der Wohnungstür ausgezahlt werden.

Der Chef erwartete sie an ihrem Platz. Die Helferinnen waren bereits nach Hause gegangen. «Kann ich auch Feierabend machen?», fragte Agnes scherzhaft.

Er zeigte auf den hoch beladenen und mit zusätzlichen Taschen behängten Zustellkarren: «Und was mache ich dann damit?»

Selber austragen, hätte Agnes am liebsten geantwortet. Sie wusste, dass auch das schon vorgekommen war.

«Soll ich Ihnen jemanden mitgeben?», bot er an.

Agnes überlegte, wer von den Männern, die sie heute Morgen im Saal gesehen hatte, dafür in Frage kam. Dann lehnte sie ab. Allein würde sie schneller sein. Sie nahm die Regenjacke mit dem stilisierten Posthorn vom Haken und zog sie an.

«Bevor ich’s vergesse», sagte der Chef, «der Stammzusteller für diesen Bezirk fällt länger aus. Ich garantiere Ihnen, dass Sie für die gesamte Vertretungszeit bleiben können.»

«Eine Woche?», fragte Agnes bissig. Sie steckte den Schlüsselbund und ihre eingeschriebenen Sendungen ein und zog den Reißverschluss ihrer Jacke zu. Der Kollege hatte erst kürzlich seinen Jahresurlaub beendet.

«Sechs Wochen mindestens», sagte der Chef leise, «eher zwei Monate. Er hat Depressionen.»

«Und das wissen Sie erst seit acht Uhr?» Agnes löste die Bremse und schob den Zustellkarren an. Die Postpacken schwankten. Sie zog die Laschen fester, aber die Taschen waren so voll gestopft, dass sie sich nicht mehr ordentlich verschließen ließen. Wortlos hielt ihr der Chef die Türen zum Lastenfahrstuhl auf.

Eine Viertelstunde Fußweg und an jeder Straßenkreuzung Bordsteine, die den überladenen Karren bedrohlich ins Wanken brachten. Agnes wischte sich Schweiß und Nieselregen von der Stirn. Immerhin lag der Bezirk nicht so weit entfernt, dass sie mit dem Bus, der S- oder U-Bahn hinfahren musste. Die Taschen hätte sie heute nicht einmal einzeln die Treppen hinauf oder hinunter zum Bahnsteig tragen können. Sie wogen weitaus mehr als Agnes selber. Vor dem Café am Rathaus standen drei Postkarren. Die Kollegen nahmen sich Zeit für eine Pause. Ihr Feierabend war bereits absehbar.

Philipp hatte sein Vorstellungsgespräch bestimmt längst hinter sich. Agnes tastete nach der Telefonkarte in ihrer Jackentasche. Sie zögerte. Vielleicht hatten sie sich ja sofort entschlossen, ihn einzustellen, und sie brauchte nie mehr mit Post auf die Straße. Aber meistens ließen sie sich ein paar Tage Zeit mit der Absage. Sie stellte ihren Zustellkarren vor dem ersten Haus ihres Bezirks ab und öffnete eine der Taschen. Sie nahm ein Bündel Post heraus, band es auf, lud sich die Zeitungen und großen Briefe auf, und kontrollierte die Tasche mit den pächchenähnlichen Sendungen. Sie betrat den Hausflur. Stufe für Stufe musste sie bis ins ausgebaute Dachgeschoss hinauf Vor zehn Tagen war sie das letzte Mal hier gewesen. Die ausgetretenen Holztreppen rochen nach Bohnerwachs. Agnes passierte das mit Kaugummi verklebte Loch in der grau lackierten Wand im dritten Stock. In Betonwände ließen sich keine solchen Löcher bohren, jedenfalls nicht mit Kinderfingern. Eine Tür wurde geöffnet, und eine Frau im gestreiften Frotteebademantel trat in den Flur. «Sie kommen ja heute so spät», sagte sie heiser. Agnes nickte. Sie reichte der Frau einen Umschlag, auf dem in großen roten Buchstaben «Sie haben gewonnen!» stand. Noch bevor Agnes weiterging, wurde die Tür wieder geschlossen. Es blieb still im Haus, aber bereits im nächsten erwarteten sie mehrere Mieter bei den Briefkästen.

«Gut, dass Sie wieder da sind», seufzte eine Frau.

Agnes begann die Post einzuwerfen.

«Also der andere …» fuhr eine zweite Frau dazwischen, doch sie wurde gleich von einem Mann unterbrochen: «Warum kommen Sie denn nicht immer?»

«Das müssen Sie meinen Chef fragen», erwiderte Agnes ohne aufzusehen. «Ich bin nur die Vertretung.»

«Bis morgen dann», verabschiedete sie sich eilig.

Sie schob den Karren zum dritten Haus weiter. Jemand grüßte sie im Vorbeigehen. Von der anderen Straßenseite kam ein Mann mit Aktentasche herüber und fragte nach seiner Post. «Tut mir Leid», sagte Agnes und deutete auf ihren überladenen Wagen. «Heute kann ich Ihnen Ihre Briefe nicht heraussuchen.»

«Es ist aber wichtig. Sie kennen mich doch. Ich bin Rektor …»

Und wie Agnes den pensionierten Schulleiter kannte. Sie bemühte sich um ein Lächeln. «Sehen Sie nur, wie viel Briefe …»

«Ich werde mich über Sie beschweren», unterbrach er sie barsch.

Agnes wandte sich wieder ihrer Arbeit zu.

«Wo kommen Sie denn jetzt überhaupt her?»

«Vom Postamt», antwortete Agnes so ruhig wie möglich und ging ins Haus.

Als sie wieder heraus kam, stand er immer noch da und schimpfte. Einer ihrer Kollegen kam mit leerem Zustellkarren um die Ecke und lächelte mitleidig. Agnes nickte ihm zu. Der schob seinem Feierabend entgegen. Sie musste weiter, bevor sich ihre Wut einen Weg suchte.

Knapp anderthalb Stunden später war die erste Tasche leer, und Agnes näherte sich dem Wohnblock. «Blauer Bunker» hatten sie ihn früher immer genannt.

Noch bevor Agnes den Wagen unter dem Vordach abgestellt und die Bremse angezogen hatte, wurde die Haustür geöffnet. Ohne hinüberzusehen wusste sie, dass es der junge Ruhland war.

«Da sind Sie ja», sagte er und unterdrückte ein Gähnen.

Sie folgte ihm in den Hausflur, weil sie sich stets weigerte, Geld auf der Straße auszuzahlen. Er griff nach den beiden Auszahlungsscheinen, unterschrieb sie und riss die Belege ab. Agnes bestätigte mit ihrem Kürzel, dass der Sohn das Geld entgegengenommen hatte und begann die Summe vorzuzählen. Seinen Ausweis musste sie sich nicht zeigen lassen. Sie kannte Rüdiger seit langem. Einmal hatte er ihr sogar einen verstauchten Knöchel verbunden, aber daran erinnerte er sich vermutlich nicht mehr. Sie war elf Jahre alt gewesen und er hatte schon als Krankenpfleger gearbeitet. Er schloss die Hand um die Geldscheine und steckte sie in die Hosentasche. Die andere, beladen mit Euro- und Centmünzen, streckte er ihr hin. Sie bedankte sich und nahm das Kleingeld zurück. Rüdiger verbeugte sich leicht und hielt ihr die Tür auf. Nach seiner Post fragte er nicht. Wahrscheinlich hatten ihm der Nachtdienst und die Wartezeit im Hausflur zu sehr zugesetzt. Dabei bot Agnes ihm immer wieder an, die Rente für seine Eltern an der Wohnungstür im 11. Stock auszuzahlen, wie es sich gehörte. Aber das lehnte er ab. Sie habe sicher längst genug von diesen düsteren Fluren, hatte er beim letzten Mal gesagt und Agnes angesehen, als wisse er alles über sie. Seitdem fragte sie nicht mehr.

Draußen wandte sie sich wieder ihrem Postkarren zu. Sie teilte das Briefbündel für den Wohnblock in zwei Hälften, damit es ihr nicht aus der Hand rutschte. Dann begann sie für jede Sendung den zugehörigen Kasten zu suchen. Die Anlage war so groß, dass sie sich nicht mit einem Blick übersehen ließ. Mit jedem Brief auf und ab gehen, alle zwölf Reihen absuchen, konnte einen stundenlang unter dem zugigen Vordach festhalten. Sie kannte einige Zusteller, die verzweifelt aufgegeben hatten. Agnes war hier angelernt worden. Nachdem sie sich eine Woche lang jeden Morgen Zeit nehmen musste, die einzelnen Sendungen mit der entsprechenden Briefkastennummer zu versehen, hatten sie sich fast so unauslöschlich eingeprägt wie das kleine Einmaleins. Nach zehn Tagen in einem anderen Bezirk fand ihre Hand die richtigen Kästen zwar nicht mehr automatisch, aber sie konnte die Post noch recht zügig einstecken und warf Schmidt, Schmied und Schmitt nicht durcheinander.

Als sie alle Briefe und Zeitungen verteilt hatte, öffnete sie die Tasche mit den päckchenänhlichen Sendungen. Je eine Schachtel für den zehnten, siebenten, dritten und ersten Stock war dabei. Ein Einschreiben für einen Kunden im achten, einen «blauen Brief für jemanden im siebenten und im sechsten. Sie suchte das Klingelbrett nach den Namen ab. «Wer ist da?», tönte es bald aus dem Lautsprecher.

«Die Post!» Agnes wartete auf den Summer. Aber es blieb still. Sie klingelte erneut. Das blecherne «Hallo! Hallo, wer ist denn da?» schien aus einer anderen Welt zu kommen. Die Tür ließ sich nicht öffnen. Schrilles Fiepen drang aus dem Lautsprecher. Erschrocken trat Agnes zurück.

«Dieser Bunker», sie seufzte und versuchte es beim Hausmeister. Es dauerte, bis er herunterkam und sie hereinließ. «Ist die Tür immer noch kaputt?», fragte sie wütend.

Der Hausmeister schüttelte den Kopf. «Schon wieder.»

Gemeinsam gingen sie zum Fahrstuhl. «Ich besorge Ihnen einen Schlüssel.»

«Ich denke, das dürfen Sie nicht», wunderte sich Agnes.

«Ich darf auch das Schloss und die Klingelanlage nicht reparieren», antwortete er. «Ich darf die Heizung nicht anfassen und die Waschmaschinen auf dem Trockenboden nicht, die Fahrstühle, die Kellertür, eigentlich gar nichts. Nur das Telefon, um bei der Verwaltung anzurufen und den Schaden zu melden. Sie schicken dann einen Fachmann vorbei, irgendwann, Hauptsache die Wartungsverträge werden eingehalten. Pech für denjenigen, der im Fahrstuhl festsitzt oder dem das Wasser in die Stube läuft, tagelang.»

Agnes sagte nichts. Der Hausmeister hielt ihr die Fahrstuhltür auf. Sie versuchte, sich darauf zu konzentrieren, ihre vier Päckchen nicht fallen zu lassen. Die automatische Innentür schloss sich mit vertrauensvernichtendem Klappern. «Zehn», gab Agnes das Stockwerk an und zwang sich nicht daran zu denken, was passieren würde, wenn der Fahrstuhl es nicht einmal bis in die fünfte Etage hinauf schaffte, sie beide eingeschlossen wären und sein Handy hier drin nicht funktionierte. Plötzlich lachte er sie an. «Morgen haben Sie Ihren Schlüssel!» Ein Ruck ging durch die Kabine, doch die Tür öffnete sich gleich. «Das muss aber unter uns bleiben.»

«Klar», versicherte Agnes sofort. Sie lächelte ihn verschwörerisch an. Wenn er nur nichts weiter verlangte und die Tür endlich schloss, damit sie weiterfahren und ihre Arbeit erledigen konnte.

Er wandte sich ihr noch mal zu: «Die Schlüssel passen nämlich auch zu den Musterwohnungen im Vierten. Die sind komplett eingerichtet, vom Feinsten, sollen Käufer mit Geld anlocken.

«Verstehe.» Agnes nickte ihm zu. «Ich werde ihn hüten wie den Schlüssel zu meinem Tresor.» Endlich fiel die Fahrstuhltür zu.

Die zehnte Etage lag so still, als hielten alle Bewohner gleichzeitig Mittagsschlaf. Agnes trug ihre Schachteln den linken Gang hinunter. Vor der sechsten Tür hielt sie an, klingelte. Es rührte sich nichts. Sie klingelte nachdrücklicher. Niemand sollte behaupten, sie wäre nicht an der Wohnungstür gewesen. Sie angelte den Block mit den Benachrichtigungsscheinen aus ihrer Jackentasche. Dabei fielen ihr die Päckchen herunter. Sie ließ sie erst mal liegen und begann den Schein auszufüllen. Als nur noch ihr Namenskürzel fehlte, wurde die Tür einen Spalt breit geöffnet. «Post!», rief Agnes und zerknüllte den Zettel.

«Wir nehmen nichts», sagte eine Männerstimme leise aber bestimmt.

Agnes wies auf die Sendung. «Post», rief sie noch lauter, «ein Paket für Sie!»

«Wir geben auch nichts. Wir haben nichts.» Damit wollte er die Tür wieder schließen.

«Halt», befahl Agnes und schob die Schachtel eilig durch den Spalt. Dann fiel die Tür auch schon zu. Sie nahm die verbleibenden Päckchen wieder auf und vergewisserte sich vorsichtshalber, ob sie dem Mann auch die richtige Sendung aufgedrängt hatte.

Sie ging zum Fahrstuhl zurück. Im Gang rechts trat jetzt ein Junge seinen Fußball gegen die Wand. Agnes entschied sich dafür, die zwei Treppen zum achten Stock hinunter zu Fuß zurückzulegen. Kalte, graffitibesprühte Betonwände umschlossen sie und all die gleichförmigen Stufen, die jeden Schritt ertrugen, ohn sich zu verformen. Agnes beeilte sich, ihr Einschreiben loszuwerden und stieg weiter hinab. Die Brandschutztür fiel schwer hinter ihr ins Schloss. Der Widerhall verzog sich nur langsam. Dann war ein Wispern zu hören, ein, zwei Stockwerke tiefer vielleicht. Sie sah über das Geländer hinab. Der Aufgang schien leer. Nichts als kalte, abgestandene Luft füllte diese Schlagader aus Beton vom Heizungskeller bis zum Trockenboden.

In der siebten Etage stellte sie den blauen Brief an die Ehefrau des Empfängers zu.

«Wieder mal bei Rot über die Ampel gefahren», erklärte die Frau beiläufig.

Während Agnes ihren Namen in die Zustellurkunde eintrug, sah sie, dass der Brief vom Jugendamt kam. Ohne ein weiteres Wort händigte sie den Brief aus und ging. Die Empfängerin des Päckchens wohnte im anderen Gang. Sie hieß Elfriede Böttcher, stützte sich schwer auf ihren Stock und verließ die Wohnung kaum noch. Sie bekam stets allerlei Warenproben geschickt. Babywindeln, Katzenfutter oder Rasiercreme verteilte sie im Haus weiter. So schuf sie sich Kontakt zu den Nachbarn und vor allem zum Briefträger, der die Schachteln zwei- bis dreimal die Woche an ihre Wohnungstür bringen musste. Agnes hatte sie dann hin und wieder eine Tasse Tee angeboten. Laut Dienstvorschrift durfte sie die Wohnung der Kundin nicht betreten. Diese Vorgabe konnte jedoch nur von einem Bürohocker verfasst sein, der noch nie mit einem Packen Post durch Regen oder Schneematsch gelaufen war und in zugigen Durchgängen nach den richtigen Briefkästen gesucht hatte. Also nahm Agnes das freundliche Angebot sich aufzuwärmen manchmal an. Als Gegenleistung brachte sie Elfriedes Abfall hinunter oder besorgte ihr mal Milch und Brot vom Bäcker. Heute hatte sie keine Zeit für eine Pause, denn es ging bereits auf 15 Uhr zu und der Wohnblock war noch lange nicht ihr letztes Haus.

Agnes klingelte gleich mehrmals und wartete. Für gewöhnlich meldete sich Elfriede mit: «Moment, ich komme», von drinnen. Doch diesmal blieb es still.

Als sie klopfen wollte, bemerkte Agnes, dass die Wohnungstür nur angelehnt war. Sie stieß sie auf und rief nach der Frau. In dem Moment schlug die Wohnzimmertür zu. Agnes zuckte zusammen. «Hallo?», versuchte sie es unsicher noch einmal, «Die Post ist da!»

Keine Antwort. Sie zögerte. Das Licht aus dem Hausflur beleuchtete den nahezu quadratischen Korridor schwach. Agnes trat über die Schwelle. «Frau Böttcher?» Sie klopfte an die Badezimmertür. «Frau Böttcher, ein Päckchen für Sie!» Soweit sich Agnes erinnerte, hörte die Frau noch ganz gut. Und wenn sie die Wohnung tatsächlich einmal verließ, schloss sie immer ab. Agnes streckte die Hand nach der Klinke der Wohnzimmertür aus. Eigentlich ging es sie ja nichts an. Und sie war spät dran. Aber vielleicht fühlte sich Elfriede nicht wohl. Dann konnte sie wenigstens einen Arzt für die alte Frau anrufen.

Agnes öffnete die Tür. Zwei Teegedecke, eine Thermoskanne und ein Teller mit Keksen standen auf dem Tisch. Zugluft drückte das Fenster auf. Bevor es wieder zuschlug, schloss Agnes es rasch. Elfriede war auch nicht in der Küche. Agnes legte das Päckchen ab. Als sie die Wohnung wieder verlassen wollte, bemerkte sie, dass der Schlüssel von innen in der Tür steckte. Vergesslich war Elfriede Böttcher bisher nicht gewesen. Ihr Mantel hing an der Garderobe und ihr schwarzer Topfhut, ohne den sie nie ausging, lag auf der Ablage. Sie musste also irgendwo im Haus herumhumpeln und ihre Gaben verteilen. Agnes überlegte, den Schlüssel bei der Nachbarin abzugeben, entschied sich dann aber dagegen. Soweit sie sich erinnerte, waren die beiden nicht gut auf aufeinander zu sprechen. Die Frau hatte Elfriede Böttcher zurückgewiesen. Dabei hatte Elfriede ihr eine Probepackung mit drei Schaumgummilockenwicklern, mit denen man auch ungestört schlafen konnte, schenken wollen. Agnes zog den Schlüssel ab, legte ihn auf das Schränkchen vor dem Spiegel und zog die Tür hinter sich zu. Sie würde dem Hausmeister gleich Bescheid sagen. Er konnte Elfriede dann wieder in ihre Wohnung lassen.

Agnes eilte zum nächsten Kunden weiter. Ihr blieb keine Zeit darüber nachzudenken, was es bedeutete, allein alt zu werden, besonders in einem Wohnblock wie diesem. Während sie die gelbe Karte ausfüllte, weil der Empfänger des blauen Briefes im sechsten Stock nicht zu Hause war, überlegte sie, was Elfriede über ihre Familie erzählt hatte. Es fiel ihr nicht mehr ein. Zu viele Geschichten auf Schwellen, in Fluren und Treppenaufgängen, vor Briefkastenanlagen, in Durchgängen zur Straße und zum Hof. Jede ein Unikat aus menschlichen Zutaten. Agnes konnte sie sich nicht aufladen wie all die Bündel mit Briefen und Karten. Sie musste sie zurücklassen, spätestens kurz vor Feierabend im Postamt. Zwei Sendungen trug sie immer noch bei sich, als sie beim Hausmeister klingelte. Auch hier öffnete niemand. Was für ein Tag, dachte sie, lief eilig weitere Stufen hinunter, um dem Schatten Müdigkeit zu entkommen. Hoffentlich war es Philipp besser ergangen, dachte sie flüchtig.

Obwohl keine der beiden Glasscheiben zurzeit durch Spanplatten ersetzt waren, sah Agnes die Menschenmenge unter dem Vordach und auf der Straße erst, als sie aus dem Haus trat. Sie blieb stehen, starrte auf Hinterköpfe, Rücken, Beine. Zittern stieg in ihr auf. Sie musste sich anlehnen. Die Knöpfe des Klingelbretts drückten im Rücken. Sie schloss die Augen. Hauptsache Halt. Schweiß drang aus allen Poren. Stimmen verkamen zu Rauschen. Nur nicht ohnmächtig werden. Damals war sie ganz ruhig gewesen und hatte gar nichts gefühlt. «Wer ist da?», dröhnte es vielstimmig aus der Gegensprechanlage hinter ihr. «Der Tod», murmelte sie und nahm vorsichtig einen Schritt Abstand. Sie zitterte immer noch. Feuerwehr und Polizei fuhren vor. Auch auf der anderen Straßenseite strömten Menschen aus den Häusern, Fenster wurden geöffnet. Agnes wischte sich den Schweiß von der Stirn. Bewegung kam in die Menge, als der Notarzt mit seinem Koffer aus dem Wagen sprang. Agnes wandte sich ab. Sie zog ihre Jacke glatt, ging langsam zu ihrem Karren, löste die Bremse und schob ihn an. Vier Häuser noch und sie konnte zum Postamt zurück.

 

Ich kann nicht mehr. Wenn sie über die Schwelle kommen, gehen sie schon auf den Abgrund zu. Ihre Fragen martern mich. Mein Kopf wird wie ein Stein davon. Sie lassen nicht locker. Besonders die mütterlichen Frauen geben sich verständnisvoll. Ich glaube ihnen kein Wort. Abscheu trübt die Neugier in ihren suchenden Augen. Sie wollen nicht verstehen. Was wissen sie schon vom Leben? Sperren sich selber ein, hinter Lärmschutzfenster und Stahlriegel. Mästen sich mit Mitleid und Schokolade. Die Maden wird es freuen. Ich will endlich meine Ruhe.

2

Ide speicherte das letzte Vernehmungsprotokoll ab. Soweit hatten sie alles getan für die Leiche auf dem Spielplatz am Schloss. Er stand auf, streckte sich, ging langsam um die beiden unbesetzten Schreibtische herum. Der Nieselregen hatte den Ruß auf der Fensterscheibe in einen zähen Schmierfilm verwandelt. Autos standen an und auf der Kreuzung, stießen Abgase aus wie ein Magenkranker Mundgeruch. Nicht einmal mehr in den Büros, die zum Hof hin lagen, ließ es sich bei geöffneten Fenstern arbeiten. Als er den Dienst in diesem Revier antrat, störte ihn manchmal das Bimmeln der Straßenbahn aus seinen Gedanken auf. Später eher die Sprechchöre der studentischen Demonstranten. Dann die Steine, die die Chaoten herein warfen.

«Ide», rief jemand vom Flur her, «Ide, sind Sie noch da?»