Die Fessel - Rebekka Wulff - E-Book

Die Fessel E-Book

Rebekka Wulff

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Beschreibung

Dieser Morgen war für Janine irgendwie anders. Aber sie wusste nicht warum. Bis sie beim morgendlichen Joggen durch den Wald ihre tote Mutter fand: nackt, mit ledernen Fußfesseln. Warum stellt die Polizei so schnell die Ermittlungen ein? Wer war ihre Mutter wirklich? Rebekka Wulff versteht es auch in ihrem zweiten Roman, die kleinbürgerliche, miefige, aber auch beklemmende Atmosphäre dörflicher Gemeinschaften hervorragend einzufangen. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Rebekka Wulff

Die Fessel

Roman

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Inhalt

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Prolog

Hinauszugehen widerte ihn an. Nackt würde er die Kabine schon gar nicht verlassen. Er behielt seine Boxershorts an. Er war durch den Wald gekommen und niemandem begegnet. Auf dem Platz vor dem Haus parkten zwei Autos von außerhalb. Abends war mehr Betrieb. Er hatte oft genug draußen gestanden. Im Regen, im Schnee, bei Tauwetter. Erfahren hatte er dabei nichts, was ihn weiterbrachte. Aber er brauchte schlagkräftige Argumente und wer würde schon ahnen, wie er an seine Informationen gekommen war. Er musste über die Schwelle.

Leise öffnete er die Kabinentür. Sie führte in einen spärlich beleuchteten, fensterlosen Raum. Kalt der Steinboden unter seinen Füßen. Jeder Schritt brachte ihn dem Ziel näher. Mit diesem Gedanken im Kopf war er vorhin an den Empfang getreten, hatte eine Liste entgegengenommen, auf der er gewünschte Behandlungsmethoden ankreuzen sollte. Wahllos mit dem Stift über das Papier, nur nicht zu lange aufhalten mit diesen Bezeichnungen, dem Ekel keine Zeit lassen und der Wut. Er war freiwillig hier. Die Liste wurde weitergereicht, der Preis berechnet. Er zählte die Geldscheine hin, bekam statt einer Quittung den Stoppcode, nur für den Fall, dass er es nicht mehr aushielt und die Behandlung abbrechen wollte.

Der düstere Raum war kein Kellergewölbe oder Verlies. Er kannte das Haus noch als Lornsens Gutshof. Das musste der Wirtschaftstrakt gewesen sein. Er sah sich um. Langsam gewöhnten sich seine Augen an das schummrige Licht. Er schien allein zu sein. Ein paar Meter entfernt konnte er einen Käfig erkennen. Nicht groß genug für ein Raubtier. Die niedrige Gittertür stand ein Stück offen. Ein Mensch könnte hineinkriechen, auf allen vieren. Er versetzte der Tür einen leichten Stoß und wandte sich ab. In der Nähe stand ein Holzbock. Beim Schlachter hatte er einen ähnlichen gesehen. Der tiefe metallische Ton traf ihn unerwartet. Die Gittertür war zugefallen. Keine Blechattrappe. Der Käfig musste aus Edelstahl sein. Er ging ein paar Schritte zur Seite, stieß an eine Kette, die von der Decke hing. Sie begann zu schlingern. Er hielt sie einen Moment lang fest, spürte die Eisenglieder kalt in seiner Faust. Dann ließ er los und die Kette pendelte leise weiter. Er wusste nicht, was er erwartet hatte.

An der Wand entdeckte er Zaumzeug und Pferdegeschirr, die vermutlich noch aus Lornsens Remise stammten. Daneben ruhte eine riesige rostige Zange auf zwei Haken; Egge, Dreschflegel und Brandeisen vervollständigten das Ensemble. Alles in Augenhöhe, Schaustücke. Aber auch griffbereit. Jederzeit einsetzbar. Denen traute er alles zu. Er sah auf das breite Holzbord darunter. Da lagen Peitschen, die nicht aus dem Bestand des alten Gutshofs stammen konnten. Aus dunklem Leder, der Größe nach geordnet, lange, kurze, fransige, haarige, knotige. Was wusste er schon von Reit- und Riemenpeitschen, vom Ochsenziemer und der neunschwänzigen Katze? Von einer einzigen Ohrfeige abgesehen, war er nicht geschlagen worden und wollte, dass es so blieb. Zwischen den Peitschen und dem Rohrstock lag ein grünes Bündel frisch geschnittener Pflanzen, etwa einen halben Meter lang. Er brauchte sie nicht erst zu berühren, um sie als Brennnesseln zu erkennen. Sofort befiel ihn ein Juckreiz am ganzen Körper. Er versuchte nicht nachzugeben, rieb sich aber doch die Handgelenke, während sein Blick Fesseln aus Metall und Leder streifte. Die dicke Kerze, an der unzählige Wachstropfen heruntergelaufen waren, irritierte ihn. Sie musste im Durchzug gestanden haben oder jemand hatte versucht, flüssiges Wachs zu verschütten, nur, wohin? Es gab keinen Kerzenhalter, nicht einmal einen Untersetzer. Auch nicht für die kleinen Metallklammern und -zwingen oder für die Bleigewichte mit der Öse.

Vielleicht hätte er doch nicht herkommen sollen, denn die Ansammlung von Plastikstäben, die wie Spielzeugraketen um einen Tiegel mit Gel herum angeordnet waren, verunsicherten ihn. Er mochte sich nicht vorstellen, was sie damit alles machen konnten. Er trat näher an das Bord heran. Was sollte erregend daran sein? Er streckte die Hand aus. Daumen und Zeigefinger legten sich um das äußerste Ende eines großen schwarzen Hartgummidildos. Er hob ihn hoch und betrachtete ihn widerwillig. »Pervers«, zischte er, »einfach pervers.«

Warnschüssen gleich schlugen Absätze auf den Steinboden. Er erstarrte. Wozu würden sie ihn zwingen? Erst als er einen Stoß im Rücken fühlte, legte er den Dildo zurück und drehte sich langsam um. Eine schwarze Gestalt, größer als er; von ihrem Zopf abgesehen, ganz und gar aus Leder. Der Anzug schimmerte matt in dem spärlichen Licht und roch nach essigsaurer Tonerde. Das Gesicht hinter einer Maske verborgen, Handschuhe, oberschenkellange Stiefel mit pipettendünnen Absätzen. Sie trug eine Gerte bei sich, die sie nach ihm ausgestreckt hatte.

»Was soll das?« Sie sprach ruhig, aber bestimmt.

»Ich …« Er konnte sie nicht länger ansehen, senkte den Kopf, bevor er zugab, dass er sich eigentlich nur umsehen wollte.

»Das ist doch kein Museum. Auf die Knie!«

»Ich bin nicht hier, um …« Sonst war er nie um Worte verlegen, aber diese Ledergestalt, die so wenig von einer Frau an sich hatte, schüchterte ihn ein.

»Auf die Knie!«, wiederholte sie.

Er gab nach. Was sollte schon passieren, wenn er vor ihr kniete.

Sie streckte ihre Gerte aus, führte sie an seinem Schlüsselbein entlang, das Brustbein hinunter, über den Bauchnabel, bis unter den Rand seiner Boxershorts. Vielleicht konnte er diese Zuwendung sogar genießen. Er schloss die Augen. Aber ein einziges Wort der Lederfrau zerriss die Spannung: »Ausziehen!«

Er stemmte die Hände in die Hüften. »Kommt gar nicht in Frage.«

Sie duldete keine Widerrede. »Wird’s bald?«

Das ging zu weit. Er wollte sich nicht ausziehen. Warum auch? Er bestimmte selbst, wem er sich nackt zeigte, ihr nicht, er hatte genug. Er stellte ein Bein auf, aber bevor er ganz aufstehen konnte, versetzte sie ihm einen kräftigen Stoß. Er fiel auf die Seite.

»Hörst du schwer? Ausziehen, habe ich gesagt, nicht aufstehen.«

Ellbogen und Hüftknochen schmerzten. Er fühlte die Kälte des Steinfußbodens am ganzen Körper. Wie weit musste er noch gehen? Er drehte sich um, sah am Lederbein entlang zu ihr auf, las Verachtung in den Augen, die die Maske frei ließ, oder war es sogar Spott? Er zerrte an seiner Unterhose, strampelte, zog sie über die Knöchel. Dann setzte er sich auf die Unterschenkel.

»Beleidige mich nicht noch einmal mit diesem Anblick.«

»Keine Sorge.«

»Du unverschämter, kleiner Nichtsnutz. Ja, Herrin, heißt das.«

Er seufzte. »Meinetwegen auch das.«

»Wie bitte?«

»Ja, Herrin«, sagte er laut und deutlich.

»Na also. Du lernst auch noch, was Gehorsam ist.«

Sie streckte ihre Gerte wieder aus und ließ sie um seine Brustwarzen kreisen. Dann trat sie hinter ihn, zeichnete den Verlauf seiner Wirbelsäule bis in die Pofalte hinunter nach. Sein Atemrhythmus blieb ruhig.

»Ganz harter Junge, was?« Sie ließ von ihm ab und wandte sich dem Bord an der Wand zu. Er versuchte an ihrem Lederrücken vorbeizusehen. Sie nahm zwei Metallklammern auf, suchte zuerst kleinere Gewichte aus, entschied sich jedoch dafür, größere einzuhängen. Dann bemerkte sie, dass er sie beobachtete. »Du kannst es wohl gar nicht abwarten, du kleiner Wichser.« Ein Schritt und sie stand vor ihm. Die Bleigewichte an den Klammern pendelten jetzt direkt vor seinen Augen. Er kam nicht dazu zu überlegen, was sie damit vorhaben könnte, denn mit der anderen Hand packte sie seine Brustwarze. Die schwarzen Lederfinger massierten sie so kräftig, dass sich die Haut verfärbte. Er schluckte und zwang sich, still zu bleiben. Er sah auf, lenkte seinen Blick auf ihren Hals ab. Die Maske endete tief im Kragen. Er suchte nach etwas Menschlichem, Weiblichem. Endlich ließ sie von ihm ab.

Der Schmerz hatte noch nicht nachgelassen, da warf sie ihm breite Ledergurte hin. Je zwei waren mit Ketten verbunden.

»Anlegen«, forderte sie.

Fesseln. Seine Hände zitterten. Wie weit sollte er noch gehen? Zögernd nahm er einen der Gurte auf. Das Leder fühlte sich hart an und rau an der Innenseite. Er legte ihn oberhalb des Knöchels um sein linkes Bein und schloss ihn nicht zu fest. Dann hob er den zweiten hoch, maß die Kette, die die Gurte verband. Schritte würden möglich sein. Er legte ihn an. Als sie sah, dass er nach den Handfesseln griff, wandte sie sich wieder dem Bord zu. Sie nahm eine der Peitschen auf, ließ sie langsam durch ihre Finger gleiten, zog sie durch die Luft, schlug sie auf ihre Lederschenkel und legte sie wieder zurück. Er vergaß die Handfesseln und beobachtete, wie sie drei weitere Peitschen prüfte. Schließlich griff sie nach dem Bündel Brennnesseln und kam auf ihn zu.

»Zurück zur Natur«, sagte sie leise und begann mit den Brennnesseln über seinen Bauch zu streichen. Er registrierte den Juckreiz. Seine Körperreaktionen waren also intakt. Sie hob den Arm und holte weit aus.

»Genug!« Er sprang auf.

Sie kam einen Schritt näher, ließ den Arm mit dem Brennnesselbündel aber nicht sinken. »Du willst Strafverschärfung? Bitte.«

»Lass das Theater«, forderte er.

Sie wich nicht zurück. Der Stoppcode fiel ihm ein. Nein, den Gefallen würde er ihr nicht tun. Er hatte seine eigenen Regeln. Er schubste sie weg und lief, ohne die Fußfesseln abzulegen, zu der Kabine, raffte seine Kleider zusammen und entkam durch die Hintertür.

1

Seit der Zug seiner Verspätung hinterher fuhr, wusste Janine, dass sie wieder zu Hause war. Vor den schmutzigen Abteilfenstern blühte der Raps und manchmal standen Kühe auf den Gleisen. Sie würde das aushalten, die paar Wochen noch, bis sie einen Studienplatz zugewiesen bekam, vielleicht sogar in Berlin. Es gab Zeiten, da hasste sie jede Schwelle, jede Weiche, jede Schranke, die sie diesem Nest näher brachten. Heute war sie zu müde dazu. Die Stunden im Flugzeug wie in einem Tunnel, keine Möglichkeit, den Erinnerungen auszuweichen. Nur das einschläfernde Brummen der Triebwerke. Zehn Monate kalifornischer Sonnenschein verfolgten sie bis in den Nieselregen vor der Ankunftshalle des Flughafens. Kein bekanntes Gesicht am Ausgang. Sie war in den Expressbus zum Hauptbahnhof gestiegen und dann in den Zug.

Jetzt trug Janine ihren Koffer auf den Gang hinaus. Sie sah das Wäldchen und den See, der eigentlich nur ein Tümpel war. Scheinbar unverändert lagen sie in der Mittagssonne, lockten nicht einmal Tagestouristen oder Naturschützer her. Als sie den Tennisplatz und das Fußballfeld passierten, hatte Janine auch ihren Rucksack zum Ausgang geschafft. Der Waggon rollte an den Wartenden vorbei. Als Erstes sah sie ihren Vater, der sich kopfschüttelnd von der Uhr abwandte, dann ihre Mutter, die mit ausgebreiteten Armen, wie eine Schutzheilige, hinter den Kleinen stand. Aber etwas war anders, als sie erwartet hatte. Die Tür öffnete sich langsam. Ihr Vater kam heran, bereit das Gepäck herauszuheben. Er trug keinen seiner Geschäftsanzüge, sondern Jeans und die Hemdsärmel aufgerollt. Seit wann konnte er einfach so frei nehmen?

»Schön, dass du wieder da bist«, flüsterte er, hielt sie einen Moment lang und strich ihr über den Rücken. Seit ihrem achtzehnten Geburtstag hatte er sie nicht mehr so umarmt, auch nicht beim Abschied auf dem Flughafen vor fast einem Jahr. Hinter seinem Rücken begann Lukas seine Schwestern zu ärgern. Janine ließ ihren Vater los. »He, ich habe euch etwas mitgebracht«, rief sie.

Lukas blieb stehen und sah zu ihr herüber.

»In dem Koffer da«, sagte Janine zu ihrem Bruder. Aber was er nicht gleich haben konnte, zählte nicht. Er riss Lisa an den Zöpfen, dass sie aufschrie; Laura konnte er nur am T-Shirt packen.

»Lukas!« Die Mutter strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Sie lächelte und zog Janine zu sich heran. »Na, meine Große?«

Janine gab ihr einen Kuss. Meistens war sie froh darüber, dass sie die rotblonden Haare der Mutter nicht geerbt hatte. Heute fielen sie ihr offen über die Schultern, kein praktischer Zopf oder Knoten und die ersten Sommersprossen zeigten sich bereits auf ihrem Nasenrücken und am Hals.

Sie gingen zum Parkplatz hinüber. Wie oft hatte sie sich wegen des Kombis mit den Kindersitzen geschämt. Seit sie ihren Führerschein hatte, durfte Janine damit zu Feten fahren. »Die stinkt wie ihre Pampersschaukel«, bekam sie mehr als einmal zu hören. Das war fast peinlicher, als nachts von den Eltern von der Disko abgeholt zu werden. Blieb nur, gar nicht auszugehen und abzuwarten, bis sich Uwe ein Auto zusammengespart hatte. Aber das konnte dauern, denn er hielt es nie lange aus bei seinen Jobs, die er nach der Schule in der Stadt annahm.

Während der Vater das Gepäck in seinem Dienstwagen verstaute, ließ die Mutter die Kindergurte einen nach dem anderen einrasten und schlug die Türen ihres Kombis zu. Janine sah sich noch einmal um. Astrid war nicht zum Bahnhof gekommen. Die Mutter legte den Arm um Janines Schulter. Sie roch nicht mehr nach Babypuder. Janine wartete auf das übliche »Fährst du mit mir?«, aber die Mutter sagte: »Du willst sicher lieber bei Pa einsteigen.«

Sie bogen auf die Hauptstraße ein. Janine sah Uwe auf dem Kühler eines rostigen Sportwagens sitzen und rauchen. Er sah zum Frisiersalon hinüber, dann zur Bäckerei daneben und wiegte den Kopf. »Seine Neuen«, murmelte der Vater.

Janine lachte. »Wie?«

»Seit du ins Flugzeug gestiegen bist, läuft der jedem Rock nach.«

Hat ja lange angehalten, die große Liebe, dachte Janine und verdrängte die Szenen, die er ihr vor ihrer Abreise gemacht hatte.

»Möchte wissen, was die Mädchen an ihm finden«, sagte der Vater.

Janine antwortete nicht. Sie sah aus dem Fenster. Ein Stück voraus ging eine Gruppe auf dem Seitenstreifen, die Transparente bei sich trug. Eine Demo, hier? Vorne im Kombi fuhr die Mutter ohne zu zögern weiter. Der Vater nahm den Fuß vom Gas, schaltete sogar runter. Janine erkannte einige Männer aus dem Dorf. Aber die Spruchbänder waren noch zusammengerollt. Der Vater hob die Hand, grüßte hinüber, bevor er wieder beschleunigte.

»Wo wollen die denn hin?« Janine sah zurück, es schienen keine Frauen dabei zu sein.

»Zum Gutshof.«

»Was wollen sie denn bei der Ruine?«

»Das ist längst keine Ruine mehr«, seufzte der Vater.

»Hat der Bürgermeister endlich einen Investor gefunden?«

»Und was für einen!«

Janine fragte sich, warum ihr Vater nicht einfach erzählte, wer das Gut gekauft hatte. Er hielt sich doch sonst nicht mit langen Vorreden auf, dazu war seine Zeit viel zu knapp bemessen. Wenn er nach Hause kam, schlichtete er sofort allen Streit, noch bevor er seinen Koffer aus- und wieder einpackte. Ein Essen mit der Familie, bei dem die Kleinen ohne Ende plapperten, eine Nacht. Dann fuhr er zu seinem nächsten Termin, nicht nur in der Messezeit.

»Pa?«

Er setzte den Blinker, bremste, bog in ihr Grundstück ein, hielt dicht hinter dem Kombi an und starrte durch die Windschutzscheibe. Lukas lief seinen Schwestern hinterher in den Garten. Die Mutter ging auf die Haustür zu. »Sie haben so ein Perversenbordell daraus gemacht.«

Janine glaubte ihren Vater nicht richtig verstanden zu haben. »Was?«

»Ja, so ein Dominastudio eben, mit allen Schikanen, wo diese Kranken Geld dafür bezahlen, von einer Hure in hochhackigen Stiefeln ausgepeitscht zu werden.«

Janine musste lachen. Nicht nur weil der Bürgermeister seit Jahren versuchte, eine Touristenattraktion in den Ort zu holen, sondern auch, weil sie sich nicht vorstellen konnte, dass es hier Kunden für so etwas gab. Der Vater sah sie verständnislos an.

»Es wird Pleite machen, Pa, das Problem löst sich von selbst, in drei, vier Monaten, spätestens.«

»Schön wär’s ja, aber leider läuft es von Tag zu Tag besser. Die kommen aus ganz Norddeutschland hierher. Wir haben eine Mahnwache an der Zufahrt postiert und der dicke Fredi zählt die Autos. Das sind nicht nur ein paar Neugierige.«

So hatte Janine ihren Vater noch nie gesehen. Während er weiterredete, von den Eingaben, die sie im wöchentlichen Wechsel an den Kreis und an den Landrat schickten, vom Apotheker Röhricht, der den Protest anführte, von Leserbriefen und anderen Maßnahmen, die sie planten, überlegte Janine, warum er nicht alles als eine Modeerscheinung abtat. Bisher war ihm das doch bei jeder überraschenden Entwicklung gelungen. So weit sie zurückdenken konnte, hatte er sich nie engagiert, schon gar nicht ereifert, außer es ging darum, Elemente für seine Kollektionen abzuzweigen.

»Vielleicht werden ja hochhackige Stiefel der Renner der nächsten Saison«, sagte Janine.

Der Vater schüttelte den Kopf. Er stieg aus dem Wagen. Janine ging ins Haus. An der Treppe zögerte sie einen Augenblick, entschied sich dann gegen ihr Zimmer unterm Dach. Sie hörte ihre Mutter in der Küche hantieren.

»Na, wichtiges Vater-Tochter-Gespräch gehabt?«, fragte die Mutter ohne von der Schale aufzusehen, die sie mit Gemüse füllte.

»Eigentlich nicht.« Janine schlenderte zum Herd hinüber, hob nacheinander die Deckel von allen Töpfen, wandte sich dann dem Kühlschrank zu.

»Du suchst doch nicht etwa den Pudding?«

Aber Janine ließ den Kühlschrank geschlossen und lehnte sich mit dem Rücken dagegen. »Die Geschichte mit dem Gutshof«, begann sie langsam.

»Ach das.« Die Mutter goss helle Soße über das Gemüse und streute geriebenen Käse darüber. Der Vater betrat mit Janines Gepäck den Flur, setzte es nur kurz ab und trug es gleich die Treppe hinauf.

»Warum regt er sich so darüber auf?«

»Ich weiß auch nicht.« Die Mutter schob den Auflauf in den Ofen und stellte den Kurzzeitwecker ein.

»Wie lange geht das schon so?«

»Acht, vielleicht auch zehn Wochen«, antwortete die Mutter. »Zuerst hieß es, dass auf dem Gelände ein Freizeitpark gebaut wird. Alle waren begeistert und niemand hat weiter gefragt. Als die Lieferanten mit der Inneneinrichtung kamen, gab es die ersten Gerüchte. Der Apotheker meinte, das könnte nur ein Ärztehaus werden, der Lehrer glaubte an ein Museum.« Die Mutter lachte. »Ja und dann ist irgendjemandem aufgefallen, dass zwar an der Zufahrt und an den Gebäuden gearbeitet wird, aber nicht auf dem Gelände.«

Janine nickte. »Das war sicher kurz vor der Eröffnung.«

»Du kennst unsere Nachbarn.« Die Mutter nahm Geschirr aus dem Schrank und begann im angrenzenden Esszimmer den Tisch zu decken. Janine folgte ihr. »Du kannst dir sicher vorstellen, was los war, als die Wahrheit herauskam.«

»Lebt der Bürgermeister noch?«, fragte Janine.

»Ja, aber sonst haben sie alles versucht, um ihn loszuwerden.«

Während die Mutter Besteck aus der Küche holte, überlegte Janine, was es bedeuten könnte, so ein Haus im Ort zu haben. Bisher hatte keiner der beiden von Belästigungen berichtet oder von Ruhestörung. »Gab es …« – Janine suchte nach einem geeigneten Wort –, »Vorfälle, seit das Haus fertig ist?«

»Nein. Und die Männer haben ihr ›Aktionskomitee Gutshof‹ gegründet, damit das so bleibt.«

»Was hältst du denn davon?«, fragte Janine ihre Mutter.

»Ich hoffe, sie beruhigen sich bald.«

In der Küche klingelte der Wecker und die Mutter ging, um den Herd abzustellen. »Dauert noch ein paar Minuten.«

»Du glaubst also nicht, dass es irgendwie gefährlich ist?«

Die Mutter legte den Arm um sie. »Diese Leute finden in bizarren Spielchen ihr Vergnügen. Lassen sich gerne beherrschen und demütigen. Sie fahren zum Gutshof, um dort ihre Fantasien auszuleben und nur dort.«

Janine zweifelte daran, dass ihre Mutter so etwas richtig einschätzen konnte.

»Und dann gehen sie entspannt nach Hause und fangen sich niemanden von der Straße weg, um ihn im heimischen Keller zu quälen?«

»Normalerweise nicht.« Sie ließ ihre Tochter wieder los. »Ich denke, auf Inlineskatern die Hauptstraße hinunterzurasen ist gefährlicher, als nachts alleine am Gutshof vorbeizugehen.«

Später, nachdem sie gegessen und ein bisschen über Amerika geredet hatten, die Kleinen darauf bestanden, ihre Nationalpark-T-Shirts anzuziehen, bevor sie sich an ihre Schularbeiten setzten, entschloss sich Janine, ihre Freundin Astrid zu besuchen. Sie fuhr mit dem Rad zum Marktplatz, an dem seit mehr als 300 Jahren das Haus mit der »Grünen Apotheke« lag. Sie sah hinauf zum Giebel. Hinter dieser Backsteinfassade lebte Astrid jetzt also. Mit vier Jahren hatte die Freundin ihr das erste Mal beigestanden. Sie war einfach zu den größeren Kindern im Sandkasten gegangen und hatte den Eimer, die Schaufel, das Sieb und die Förmchen zurückgeholt, die sich Janine widerspruchslos hatte wegnehmen lassen. Seitdem waren sie unzertrennlich gewesen. Heimlich Barbiekleider tauschen und Pausenbrote, Leberwurst gegen Gurke und Salat. Astrid, die ihr auch beistand, als sie vom Einzelkind zur großen Schwester wurde, obwohl sie selbst keine jüngeren Geschwister hatte; die so lange Chemie mit ihr übte, bis sie die Formeln ohne viel nachzudenken herleiten konnte; die das beste Abi-Zeugnis des ganzen Jahrgangs bekam und deren Pharmaziestudium eigentlich nichts im Weg gestanden hätte.

Janine war gerade dreieinhalb Monate in Kalifornien gewesen, als sie der Brief erreichte. Astrid hätte ursprünglich mitfahren sollen. Aber dann war ihr Vater so krank geworden, dass er seine Installationsfirma vorübergehend schließen musste. Janine versprach, mindestens einmal in der Woche zu schreiben und begann damit gleich im Flugzeug. Dafür sollte Astrid ihr berichten, was rechts und links der Hauptstraße und um den Marktplatz herum vor sich ging. »Was soll hier schon passieren?«, hatte sie sich zuerst gesträubt, dann aber doch zugestimmt. Ihre Briefe kamen unregelmäßig. Janine dachte sich nichts dabei. Sie klangen nicht mehr so wie früher. Janine glaubte, dass vor der pazifischen Palmenkulisse im Sonnenschein jeder Brief von zu Hause blass wirken musste. Und dann, ohne die leiseste Vorwarnung, der Umschlag mit der offiziellen Einladungskarte. Astrid Beck und Hartmut Röhricht. Standesamt. Kirchliche Trauung. Empfang. Das konnte doch nicht Astrids Idee gewesen sein. Warum hatte sie nichts gesagt, geschrieben? Bei ihrem letzten gemeinsamen Stadtbummel hatten sie noch über Mädchenträume in Weiß gelästert. Ausgerechnet Röhricht. Apotheker Röhricht. Der war ihnen doch immer uralt vorgekommen. Stammte nicht sogar der Spruch, dass niemand weit und breit Kondome benutzen würde, wenn sie nur wie früher in der Apotheke zu bekommen wären, von Astrid selbst?

Janine stieg vom Fahrrad. Langsam schob sie es am Schaufenster vorbei und sah dabei zwischen den überdimensionalen Medikamentenschachteln in den Verkaufsraum. Wenn Astrid immer noch Apothekerin werden wollte, war Röhricht vielleicht das Beste, was ihr passieren konnte. Er hatte genug Geld, um ihr das Studium zu finanzieren, und er interessierte sich genau wie sie für Heilkräuter und setzte allerlei Tinkturen selber an. Für ihre Fragen nahm er sich bestimmt viel Zeit, denn auch seinen Kunden hörte er aufmerksam zu und beriet sie nach dem neuesten Wissensstand. Sie verließen das Geschäft oft ohne wie beabsichtigt ein Schmerzmittel zu kaufen. Manche schwärmten geradezu von ihm, hielten ihn für verständnisvoller als ihren Arzt, den Friseur oder ihren eigenen Mann. Janine ging um das Haus herum, stellte das Rad ab und klingelte an der Tür. Sie hatte nicht einfliegen können zur Hochzeit, kannte nur den begeisterten Bericht ihrer Mutter und dieses eine Foto, aufgenommen vor dem Kirchenportal. Astrid, die fremde, blonde Braut, am Arm des Mannes, den sich Janine nicht anders als im gestärkten weißen Kittel vorstellen konnte. Sie klingelte noch einmal. Endlich waren Schritte von drinnen zu hören.

Sie standen sich einen Moment lang wortlos gegenüber, bevor sie sich in die Arme fielen. »Komm rein«, war alles, was Astrid dann sagte. Janine folgte ihr die Treppe hinauf. Vor der Küchentür zögerte Astrid, ging aber weiter zum Wohnzimmer. Poliertes Messing die Klinke, die Beschläge mit Ranken verziert. Janine blieb auf der Schwelle stehen. Ihr schien, als wären die Vorhänge zugezogen. Ein Blick zum Fenster zeigte Spitzengardinen. Die Samtstores darüber wurden von einem breiten Band mit aufgesteppter Bordüre zur Seite geraffte. Sie fragte sich, seit wann Astrid so etwas gefiel.

»Möchtest du Tee?«

Janine nickte.

»Setz dich doch.« Astrid wies auf das Biedermeiersofa.

Janine trat auf den Teppich, dessen Fransen wie gekämmt auf dem Parkettfußboden lagen. Astrid eilte an ihr vorbei, hinaus in die Küche. Das dunkle Holz der Schränke und Vitrinen schimmerte und Janine kam es wie ein sattes Grinsen vor. Die getönten Scheiben zierten sich kaum, den Blick auf Kristall und Porzellan oder auf Lederfolianten mit Goldschnitt freizugeben, geschmiedete Schlüssel verhinderten aber den direkten Zugriff. An der Schmalseite des Zimmers, dem Fenster gegenüber, hing ein Ölgemälde. Es zeigte den Urapotheker. Die schmalen Lippen und die gerade Nase bezeugten die Familienzugehörigkeit, nur diese blauen Augen waren ihr noch nie aufgefallen. Vielleicht hatte sich Astrid in Röhrichts Nachtaugen verliebt. Janine näherte sich dem Sofa, wagte sich aber nicht hinzusetzen.

Astrid kam mit einem Tablett ins Zimmer zurück. »Ich habe das Küchengeschirr genommen, ich hoffe, es macht dir nichts aus«, sagte sie. Sie legte Platzdeckchen hin und stellte die Teetassen darauf. Es war das Service, das Astrid zu ihrem sechzehnten Geburtstag geschenkt bekommen hatte. Janine dachte daran, wie viele Kilo Kandiszucker sie schon in den fernöstlich anmutenden Schälchen aufgelöst hatten. Sie ließ sich auf das Sofa sinken, während Astrid sich den Sessel zurechtrückte, sich aber nur auf die Kante setzte, als müsste sie jeden Moment wieder aufspringen.

»Was machst du nur für Sachen«, murmelte Janine.

Astrid trank ihren Tee, dann wollte sie wissen, wie es in Amerika war.

»Ich habe dir etwas mitgebracht.«

Das Geschenkpapier, vom Transport im Koffer zerdrückt, schien die Sorgenfalten auf Astrids Stirn zu spiegeln. Dann gab es eine dunkelblaue chinesische Seidenbluse mit zarten Stickereien vom offenen Stehkragen bis zu den Seitenschlitzen an den Hüften frei. »Dass du daran gedacht hast«, sagte Astrid. Sie schloss die Augen und strich mit der flachen Hand über den Stoff. Dann stand sie auf, zog ihren Pullover aus und die Seidenbluse an. Sie löste ihren Knoten, aus dem mehrere Strähnen heraushingen, schüttelte die Haare und lachte. Sie kam um den Tisch herum, setzte sich zu Janine auf die Couch, ein Bein untergeschlagen und mit dem Rücken zur Armlehne.

»Du hättest den Laden sehen sollen«, begann Janine zu erzählen, erleichtert darüber, dass es ihre alte Freundin Astrid doch noch gab.

Eine Teekanne später kam Janine auf die amerikanischen Jungen zu sprechen. Auf Rick, der sie zum Tanzen ausgeführt hatte und ins Kino, der ihre Hand hielt, bis er sich traute, sie zu umarmen. Nicht mal mit fünfzehn war es so schwierig gewesen, jemanden zu küssen. »Er war einfach süß«, schwärmte Janine. Sie dachte daran, wie Uwe damals unter der Autobahnbrücke auf sie gewartet hatte. Wie sie auf seinem Schlafsack saßen, den Rücken an die Graffiti auf dem Betonpfeiler gelehnt. Wie er zugegriffen hatte, nach den gierigen Küssen, und wie sie sich fragte, ob es ihr jeder ansehen würde. Astrid hatte es ihr jedenfalls nicht angesehen. Vielleicht lag es daran, dass sie sich als Schülerin nur für ihre Hausaufgaben interessierte und für ihren Job. Sie erledigte Botengänge für den Apotheker Röhricht. Janine wusste nicht, wie sie an diesen Job gekommen war. Es hieß, der Tipp stammte von ihrem Bruder Klaus. Klaus kannte zwar als Polizist jeden im Ort, wusste von allen Nöten und Geheimnissen, verriet aber nie etwas. Er würde niemandem Hinweise geben, nicht einmal versteckte, auch nicht seiner Schwester. Und Janine war zu beschäftigt gewesen, um die Freundin auszufragen, mit sich, ihrem Verlangen und mit Uwe.

»Komm schon«, drängte Janine, »jetzt du, erzähl mal, wie das so war, mit dir und – und …«

»Hartmut«, sagte Astrid leise.

»Ich meine, wie lange geht das schon mit euch?«

Astrid schwieg. Janine sah sie an. Ihre Züge verrieten nichts. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Astrid sich von Röhricht hatte anfassen lassen, damals schon, mit vierzehn. »Wie lange?«

»Eine Weile«, sagte Astrid nur.

Janine versuchte sich daran zu erinnern, wann ihre Freundin damit begonnen hatte, sich die Haare wachsen zu lassen und Röcke und Kleider zu tragen, auch im Winter. Sie wusste es nicht mehr.

»Bist du schwanger?«, fragte sie plötzlich.

Astrid schüttelte eilig den Kopf.

»So was kann selbst Apothekern passieren«, sagte Janine, »aber deshalb muss man sie nicht gleich heiraten, heute nicht mehr, auch nicht an diesem Ende der Welt.«

»Ach, es ist alles ganz anders.«

»Ja?« Janine wollte sie nicht drängen.

»Er ist so – so lieb und fürsorglich. Nicht so kindisch, so unerfahren wie Uwe und diese Jungen. Es war so romantisch, wie er mir den Antrag gemacht hat. Mir sind die Tränen gekommen.«

»Mir auch.«

Astrid sah sie verständnislos an.

»Als ich die Einladung bekommen habe. Wieso musstest du ihn gleich heiraten?«

»Warum nicht?«

»Du wolltest studieren«, sagte Janine und es klang, als hätte sie das »und nun wirfst du dich weg« verschluckt.

»Was hindert mich daran?«

Die Standuhr schlug sechsmal. Astrid sprang auf. Wie aus einem Traum gerissen, sah sie sich im Zimmer um. »Entschuldigung«, murmelte sie.

Janine trank ihren Tee aus und stand auf. »Ich werde mich mal auf den Weg machen.«

»Ich habe die Zeit ganz vergessen«, sagte Astrid.

»Ja, ich auch.« Sie öffnete die Tür. Astrid folgte ihr die Treppe hinab.

Röhricht schloss gerade den Durchgang zur Apotheke ab. Dann drehte er sich nach ihnen um. »Ich sehe, wir haben Besuch.« Er schüttelte Janine die Hand und fragte, ob sie zum Essen blieb.

»Danke, aber ich wollte nur kurz vorbeischauen. Ein anderes Mal gerne.« Sie sah, wie er neben Astrid trat, ihr eine Haarsträhne von der Schulter strich und den Arm um sie legte. »Wir sehen uns«, sagte Janine.

Astrid nickte. Röhricht öffnete die Haustür ohne seine Frau loszulassen. »Hat mich gefreut«, sagte er, nicht viel anders als zu einem guten Kunden.

»Mich auch.« Janine lächelte ihn an. Wenn Astrid ihn mochte … Sie ging hinaus auf die Straße. Vielleicht war er ein richtig netter Typ, wenn er den Kittel und die Krawatte erst mal abgelegt hatte. Hinter ihr wurde die Tür leise geschlossen. Sie ging zu ihrem Fahrrad, löste die Kette. Sie warf sie in den Korb am Lenker. Um sie herum lärmte der Feierabendverkehr am Markt. Sie schob ihr Rad dicht am Haus vorbei. Drinnen war es still. Sie stieg auf, hielt auf die Straße zu, sprang aber wieder ab, als sie Klaus sah.

»Schlechtes Gewissen?«, fragte er ernst.

»Fahren, fahren auf dem Bürgersteig«, stotterte Janine, »kostet ein Bußgeld von …« Wie oft hatte er sie schon dabei erwischt?

Er lachte sie an, sodass sie vergaß, dass er seine Uniform trug. »Du bist also wieder da.«

»Sieht so aus.«

»Zehn Monate sind eine lange Zeit«, sagte Klaus nachdenklich.

»Fand ich eigentlich nicht«, entgegnete Janine. »Mit dem Kind und all der Hausarbeit …«

»Nur ein Kind? Das muss doch die reinste Erholung gegen deine drei Geschwister gewesen sein!«

Sie überhörte den provozierenden Unterton. »Na ja, aber mit dem Pazifik vor der Haustür und San Francisco in der Nähe weiß ich was Besseres, als verstreutes Spielzeug einzusammeln. Hier versäumst du doch nichts, wenn du mal den Babysitter machst.«

»Verstehe«, sagte Klaus und wartete.

»San Franciso war schon immer meine Traumstadt. Ich habe mir so oft vorgestellt, wie es da wohl sein mag, dass ich fast Angst hatte hinzufahren. Und dann bin ich durch die Straßen gelaufen, konnte mich nicht satt sehen. Immer wieder den Kopf in den Nacken und hinaufsehen an spiegelnden Fassaden, die den Himmel anzukratzen scheinen.«

»Mich haben damals die völlig unterschiedlichen Wohnviertel am meisten beeindruckt«, schwärmte Klaus. »Die Häuser aus papierdünnen Holzschindeln im japanischen Viertel, zum Beispiel.«

»Oder die Läden in Chinatown, wie aus einer anderen Welt!«

»Überhaupt die Straßenschilder dort, die Aufschriften an den Bussen, Leuchtreklamen, ja sogar die Speisekarte bei MacDonald’s, alles auf Chinesisch.« Sie sahen sich an und lachten. Janine hatte gar nicht mehr daran gedacht, dass Klaus eine Westküstentour gemacht hatte. Das musste fünf, sechs Jahre her sein. Nach der Ausbildung war er gleich der Dienststelle seines Heimatortes zugeteilt worden. Astrid wusste nicht, ob sie es gut finden sollte, einen Polizisten zum Bruder zu haben und Janine war sich sicher gewesen, dass es das Schlimmste war, was einem passieren konnte. Als dann allerdings die Postkarte aus San Francisco kam, beneidete sie ihre Freundin doch ein wenig um diesen großen Bruder. Er hatte nicht etwa eine Ansicht der Brücke im Nebel geschickt oder die Bucht mit der Gefängnisinsel Alcatraz, er hatte Lombard Street als Motiv gewählt, das steile Stück der Straße, das nur aus S-Kurven bestand und aus Blumenbeeten.

»Tja«, sagte Klaus, »vielleicht sollten wir mal in Ruhe über Kalifornien reden. Ich muss noch bei Astrid und Hartmut vorbei, wegen der Großdemo morgen.«

Janine nahm plötzlich die Uniform wieder wahr und trat einen Schritt zurück. Klaus sah auf das Stück Straße, das jetzt zwischen seinen Dienst- und ihren Leinenschuhen lag. »Schade, dass du nicht zu ihrer Hochzeit kommen konntest.«

»Ja – nein. Ich stehe nicht auf solche Feste.« Sie hatte endgültig genug von diesem Gespräch.

Er sah sie wieder an. »Ich war Trauzeuge, ich hatte keine Wahl.«

Janine drehte mit dem Fuß das Pedal ihres Fahrrades zum Aufsteigen zurecht.

»Ich würde mit meiner Zukünftigen nach Dänemark durchbrennen«, sagte er leise. »Ich würde uns so ein Theater ersparen. Lieber ein paar Tage zu zweit in einem Dorfkrug verbringen, dann ins Rathaus gehen, sich trauen lassen, ohne dass irgendjemand davon weiß.«

»Na dann, viel Glück«, sagte Janine, stieg auf ihr Rad und fuhr los. Hinter der Kreuzung trat sie heftig in die Pedale. Sie wollte nicht über das Gespräch mit Klaus nachdenken, wollte nicht, dass seine Worte in ihrem Kopf nachhallten. Sie geriet aber nicht außer Atem vom Fahren, wie früher, auch nicht, als sie in einen anderen Gang schaltete, denn sie hatte mit Ausdauertraining begonnen, kurz nachdem Astrids Einladung bei ihr in Kalifornien gelandet war. Sonnenaufgangsläufe am Strand. Gegen Unverständnis, Einsamkeit, Frust und schlaflose Nächte. Anfangs nur die Beschäftigung mit dem Keuchen, das mal Atemrhythmus werden sollte, und mit den Schritten auf losem Sand. Bald aber Augen und Ohren für Himmel und Meer und Ruhe im Kopf. Sie musste auch hier laufen. Morgens. Durch den Wald vielleicht, um den Ort herum.

Sie fuhr langsamer, schaltete wieder zurück. Neben dem Radweg kam ihr jemand entgegen. Sie erkannte Uwe, überlegte, ob sie absteigen sollte. Sie hob die Hand zum Gruß. Er sah an ihr vorbei, reagierte auch nicht auf ihr »Hallo«. Janine wusste nicht, ob sie enttäuscht oder erleichtert sein sollte. Auf einmal fand sie ihn kindisch. Hatte Astrid nicht vorhin so etwas gesagt? Warum hatte sie das nicht eher bemerkt? Vor dem Abi, das ja auch Reifeprüfung hieß, oder auf der Reise mit dem Englischleistungskurs nach London. Volltrunken hatte Uwe sie aus dem Schlaf gerissen, damals auf der Kanalfähre, hatte von Liebe krakeelt und davon, dass sie mit ihm ins Rettungsboot steigen sollte. Dann war er auf die Reling geklettert. Janine gelang es, ihn herunterzuzerren, bevor ihr Lehrer Dr. Witt an Deck kam. Sie hätte es auch schon nach der Klassenfete in der zehnten wissen können, nach dieser Prügelei. Uwe war auf Frank losgegangen, weil der sich an sie herangetraut und sie zum Tanzen aufgefordert hatte. Feelings. Na schön, dieser Song war nicht harmlos, aber gleich so auszurasten … Und sie hatte sich noch geschmeichelt gefühlt, weil sich zwei Sechzehnjährige wegen ihr prügelten. Uwes Selbstsucht als Eifersucht zu deuten, kam ihr heute lächerlich vor.

Sie stieg vom Fahrrad und schob es aufs Grundstück. Durchs Fenster sah sie ihre Eltern und die drei Kleinen am Küchentisch sitzen und Abendbrot essen. Sie waren eine Familie, auch ohne Janine. Sie verdrängte den Gedanken schnell und ging hinein.

»Ich muss noch kurz zu Röhricht, wegen der Kundgebung morgen«, sagte Janines Vater, als sie gemeinsam den Tisch abräumten.

Die Mutter sortierte das Geschirr in die Spülmaschine. »Du weißt, dass heute mein Fitness-Tag ist.«

»Schon, aber vielleicht könntest du ein Stündchen später los?«

»Oder zwei? Kommt gar nicht in Frage. Ich sitze hier herum und warte, bis ihr euch die Köpfe heiß geredet habt, womöglich bis Mitternacht. Ich brauche Bewegung, mein Training.«

»Es dauert nicht lange, nur noch die letzten Absprachen«, versuchte es der Vater noch einmal, aber die Mutter gab nicht nach.

»Kein Problem«, mischte Janine sich ein, »ich bleibe sowieso zu Hause. Ich bringe die Kleinen ins Bett.«

»Danke.« Ihr Vater nahm seine Jacke vom Haken. »Bis später.« Er zog die Haustür hinter sich zu und ging zu Fuß Richtung Markt.

»Es geht ums Prinzip«, sagte Janines Mutter. »Ich gehe zweimal die Woche ins Fitness-Center, nein, dreimal. Montags, mittwochs, ja und freitags auch. Ich muss einfach etwas für mich tun, und zwar regelmäßig. Ist es heute die Besprechnung bei Röhricht, für die ich zurückstecken soll, ist es nächste Woche ein Essen mit Geschäftspartnern. Wir haben eine Vereinbarung. Ich bin schließlich keine Alleinerziehende.«

Janine nickte. Ihre Mutter schien aufgewacht zu sein, irgendwann in den vergangenen zehn Monaten. Sie hatte aufgehört zu studieren, als sie mit Janine schwanger geworden war, und hatte fast zehn Jahre für die Entscheidung gebraucht, ihre Ausbildung nicht wieder aufzunehmen, abzuschließen und kein eigenes Geld verdienen zu wollen. Sie waren hierher gezogen, in dieses Nest am Ende der Welt, vermutlich ohne vorher an die Wege zu denken, die jeden Tag zurückgelegt werden mussten, zum Einkaufen, zum Kindergarten, zur Schule, zum Schwimmbad, zum Arzt. Mit zehn Jahren konnte Janine allein in den Bus steigen oder in den Zug, aber niemand fragte sie, ob sie das lieber tat, als an der Seite der Mutter im Auto zu fahren. Und es hatte sie auch niemand gefragt, ob sie bereit war zu teilen, die Aufmerksamkeit der Mutter und des Vaters, wenn er da war, später zu dritteln und dann sogar zu vierteln. Aber sie war ja in den Augen der Eltern schon so groß und vernünftig, sah alles ein und nahm jederzeit Rücksicht auf die Kleinen, die Schreihälse, wie sie sie manchmal heimlich nannte. Sie konnte und wollte nicht glauben, dass die Mutter sie alle gleich lieb hatte. Janine verstand bis heute nicht, warum sich die Mutter vier Kinder aufgeladen hatte, die wie Schlingpflanzen alle Kraft und Eigenständigkeit aus ihr herauspressten. Sie würde so ein Leben nicht führen wollen.

»Lieb, dass du hier bleibst«, sagte die Mutter.

»Kein Problem«, sagte Janine und meinte es auch so. Sie hatte genug gehört und gesehen für den ersten Tag.

Sie gingen hinaus in den Flur. Die Sporttasche stand fertig gepackt neben der Garderobe. Die Mutter nahm sie auf und öffnete die Haustür.

»Viel Spaß!« Janine blieb auf der Schwelle stehen und sah zu, wie die Mutter das Garagentor aufschob, zu ihrem Auto zurückging und es hineinfuhr. Dann kam sie mit ihrem Fahrrad heraus. »Danke!«, rief sie zu Janine hinüber. Sie stieg auf und fuhr Richtung Ortsausgang davon.

Janine ging hinauf in ihr Zimmer. Der Koffer stand vor dem Schrank, aufgeklappt, aber nicht ausgepackt. Sie hatte nur die Mitbringsel herausgenommen. Der Rucksack lehnte in der Ecke. Auspacken hieß die Reise beenden. Sie legte sich aufs Bett. Hinter dem Kissen saß der große Teddy mit der blauen Schleife um den Hals, der ihren Schlaf von klein auf bewacht hatte. Sie streckte die Hand aus, berührte seine Tatze, um sich zu vergewissern, dass sein Fell wirklich so rau war, wie sie es erinnerte. Er war der alte. Mit seinem linken Ohr, das kahl war von all den Geheimnissen, die er für sie bewahrte. Vermutlich hatte die Mutter das Zimmer abgeschlossen, damit Lukas ihn nicht in die Finger bekam. Überhaupt war alles hier oben unverändert. Das Sofa mit dem Cordsamtbezug und den geblümten Kissen, die Schale auf dem Tischchen mit den getrockneten Blättern, die Steine auf dem Fensterbrett, die sie von verschiedenen Stränden mitgebracht hatte, ein Glas mit Muscheln und Sand, die Bücher auf ihrem Schreibtisch und die Briefe. Sie hätte ebenso gut nur zehn Tage weg gewesen sein können. Sogar ihre Lieblingsbettwäsche mit den stilisierten Marienkäfern war wieder aufgezogen. Ob das Zimmer auch so bleiben würde, wenn sie zum Studieren wegging, im Herbst, vielleicht nach Berlin? Oder ob es Laura beanspruchen würde, weil es größer war als ihres, weil sie dann endlich auch einen richtigen Schreibtisch haben könnte und nicht nur eine Klappe am Regal, auf der sie ihre Hausaufgaben erledigte? Mit elf Jahren musste sie so viel für die Schule tun und wenn Janine so selten kam … Sie hätte ja Recht, dachte Janine und überlegte, wie lange die Mutter Lauras Bitten widerstehen könnte.

»Janni!«

Janine sprang auf und lief hinaus. Lukas auf allen vieren, wimmerte nur noch. Lisa saß rittlings auf ihm, die Griffe ihres Springseils als Zügel in einer Hand. Mit der anderen stieß sie seinen Kopf nach vorn, damit das Seil, das sie ihm als Zaumzeug zwischen die Zähne geschoben hatte, an seinem Platz blieb. Dazu trat sie mit den Fersen gegen seine Oberschenkel und rief: »Hü, hü, du alter Ackergaul, lauf schon, na los!«

Janine trennte die beiden. Lukas blieb zusammengekrümmt auf dem Teppich liegen und schrie. Sie richtete ihn auf und strich ihm die Haare aus dem Gesicht. Seine Mundwinkel waren gerötet, aber nicht eingerissen, Knie und Handflächen wund gescheuert.

»Ihr vertragt euch wieder«, verlangte Janine.

»Du bist genauso fies wie Mama!« Lisa lief in ihr Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu.